» Robert Musil: Tonka http://www.litde.com/robert-musil/tonka.php Kommt man von der ,Grigia' zu der dritten der unter dem Titel ,Drei Frauen' zusammengefaßten Novellen, die nach der Mittelpunktsgestalt ,Tonka' benannt ist, so scheint diese gegenüber der anspruchsvollen ersten abzufallen. Alles ist unscheinbarer: die Sprache, die Charakterisierung der Personen, der Handlungsvorgang. Was immer man auch gegen die erste Novelle einwenden mag, Grigia, die Hauptgestalt, strahlt den Reichtum der südlichen Landschaft aus. Tonka dagegen lebt im Grau einer Großstadt, und zwar am Rande der bürgerlichen Welt; mehr in der Nähe des Proletariats angesiedelt als dort, wo soziale Sicherheit und Wohlstand das Leben erleichtern. Nach dem frühen Verlust ihrer Eltern wird sie von einer Tante großgezogen, die des öfteren von einer Cousine besucht wird, die in der Stadt als Dirne bekannt ist. Zu der Familie Tonkas gehört auch die Großmutter, die die Insassen der in der Nähe gelegenen, vor allem von Prostituierten belegten Strafanstalt zur Hausarbeit heranzuziehen pflegt. In diesem Milieu wächst das Mädchen auf. Anrüchig ist auch das Haus, in dem sie wohnt. Tonkas Tante lebt in einem Hinterhaus, dessen Vorderhaus dazu dient, Dirnen und leichtfertigen Kleinbürgersfrauen als Absteigequartier zur Verfügung zu stehen. Auch das erotische Klima des Dorfes, in dem Grigia lebt, ist labil; aber nicht in jener kommerziellen großstädtischen Dürftigkeit, wie es in der Umgebung Tonkas erscheint. Ihren Weg durchkreuzt die zweite, mit Namen nicht benannte Hauptgestalt der Novelle, als Sohn einer großbürgerlichen Familie vorgestellt, einer Familie, der die Fassade ihres sozialen Anspruches wichtiger ist als die moralische Verantwortung. Während die auf ihre großbürgerliche Sonderstellung pochende Mutter ein undurchsichtiges Verhältnis zu einem schriftstellernden Oheim unterhält, siecht der Mann, ein ehemaliger höherer Offizier, körperlich und geistig dahin. Der Unterschied zwischen beiden Frauen, Grigia und Tonka, ist deutlich genug. Von Grigia nimmt man, zunächst jedenfalls, den Eindruck vitaler Fülle und Sicherheit mit, während sich mit Tonka der gegensätzliche Eindruck der Unscheinbarkeit, ja der dürftigen und mangelnden Substanz verbindet. Aber eine solche Wertung erweist sich bald als oberflächlich und falsch. Es ist nicht erlaubt, von der Umgebung auf Tonkas Wesensart zu schließen. Schon die Sätze, mit denen die Novelle beginnt, sollten eines anderen belehren. Dann aber liest man anläßlich des ersten Zusammenseins mit dem, der ihr zum Schicksal werden soll, folgendes: 'sie ging mit zwei andern Mädchen, war größer als sie, und ihr Gesicht hatte, ohne schön zu sein, etwas Deutliches und Bestimmtes. Nichts darin hatte jenes Kleine, listig Weibliche, das nur durch die Anordnung wirkt; Mund, Nase, Augen standen deutlich für sich, vertrugen es auch, für sich betrachtet zu werden, ohne durch anderes zu entzücken als ihren Freimut und die über das Ganze gegossene Frische." Schon hier wird erkennbar, was den menschlichen Rang Tonkas ausmacht. Auch wenn sie nicht schön und anziehend erscheint, wirkt sie durch ihre Arglosigkeit, ihre Wahrhaftigkeit und ihren inneren Adel. Ihre Existenz ist nicht wie die Grigias von naturhafter Dichte, sondern getragen von einer Verläßlichkeit personaler Art; jedenfalls durch die schlichte Bereitschaft, unbeirrbar das Rechte zu tun. In ein engeres Verhältnis zu Tonka tritt der Mann, der von der ersten Stunde an durch diese Vorzüge angezogen ist. Noch Student der Chemie, entschließt er sich, sie als Pflegerin und als eine Art Gesellschafterin zu seiner Großmutter zu bringen; zunächst, wie es scheint, durch Mitleid mit ihrer Hilflosigkeit und Armut dazu veranlaßt, in Wirklichkeit aber von ihrem menschlichen Wert angezogen. Noch einmal gerät man an eine Stelle, die etwas Entscheidendes über Tonka aussagt. Es kommt zu gemeinsamen Spaziergängen und Gesprächen, in denen es schwierig scheint, zwischen den beiden jungen Menschen ein Verständnis zu ermöglichen. Tonka weicht den bohrenden und hartnäckigen Fragen ihres Gefährten aus; dazu fehlen ihr oft die Worte, um ihren Wert ins Bewußtsein zu heben. Dann aber kommt die Stelle, bei der man wieder aufmerksam wird. Aufgefordert, ein Lied zu singen, versucht sie es zunächst mit einem Schlager aus einer Operette. Was sie zu singen versucht, ist ihr indessen unangemessen, und so schweigt sie bald. 'Da brach Tonka jäh ab; ... und sagte: 'Das ist es gar nicht, was ich mit dem Singen meinte." Und da in seinen Augen ein kleines Zeichen der Güte antwortete, begann sie abermals leise zu singen, aber diesmal waren es Volkslieder ihrer Heimat. Sie schritten dahin, und diese einfachen Weisen machten so traurig wie Kohlweißlinge im Sonnenschein. Aber da hatte nun mit einemmal natürlich Tonka Recht." Aufs neue ist der Mann ergriffen von der Natürlichkeit des Gesanges, und der Erzähler fügt hinzu: 'Nun war er es, der nicht ausdrücken konnte, was mit ihm geschah, und Tonka, weil sie die gewöhnliche Sprache nicht sprach, sondern irgendeine Sprache des Ganzen, hatte leiden müssen, daß man sie für dumm und unempfindlich hielt." Dabei ist der Hinweis wichtig, daß alles, was Tonka tut, aus dem 'Ganzen" komme, offenbar zu verstehen als ein Wort für jene personale Mitte, in der Natur und Geist eines sind. Neue Phase in der Handlung: der Tod der Großmutter, für die Tonka gesorgt hatte. Obwohl man Tonka eine Versorgung versprochen hatte, wird sie, da ihr Anspruch juristisch nicht gesichert wurde, von der Verwandtschaft, vor allem der Mutter des Studenten, mit einem beschämend geringen Betrag abgefertigt. Daraufhin entschließt er sich, sie zu sich zu nehmen. In dieser Situation wird sie in den Gedanken ihres Freundes mit seiner Familie konfrontiert. Dabei wird er sich bewußt, wie scheinhaft und leer einem Wesen wie Tonka gegenüber die Existenz dieser Familie ist. Es folgt noch einmal ein Satz, der seine Liebe zu Tonka begründet: 'Es lag eine edle Natürlichkeit darin, wie hilflos sie in der Abwehr des Wertlosen war, aber ahnend es sich nicht zu eigen machte. Diese Sicherheit, mit der sie alles Rohe, Ungeistige und Unvornehme auch in Verkleidungen ablehnte, ohne sagen zu können warum, war staunenswert, aber ebensosehr fehlte ihr jedes Streben, aus ihrem Kreis in einen höheren zu gelangen; sie blieb wie die Natur rein und unbehauen." Auch hier erscheint die Natürlichkeit als Basis der Existenz, aber Natur und Natürlichkeit nicht wie bei Grigia als Vitalität und Anziehung des Geschlechtes, sondern erhellt durch den Geist. In diesem Sinn sind auch die Sätze zu verstehen, die der Erzähler später hinzufügt: 'Es war gar nicht so einfach, die Einfache zu lieben. Und zuweilen überraschte sie ihn durch Kenntnisse von Gedanken, die ihr ganz fern liegen mußten . . . Sie war Natur, die sich zum Geist ordnet; nicht Geist werden will, aber ihn liebt und unergründlich sich ihm anschloß . . ." . So kommt es zu einer engen Vereinigung. Jahrelang leben sie miteinander, bis Tonka ein Kind erwartet. Von Anfang an steht fest, daß sie diese Schwangerschaft mit dem Leben bezahlen muß, denn gleichzeitig damit wird sie von einer unheilbaren Krankheit ergriffen. Stand bis dahin das Mädchen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, so wird im folgenden der Akzent auf den Mann und sein Verhalten verlegt. Mit der Schwangerschaft gerät die Beziehung der beiden in eine schwere Krise. Sie ist darin begründet, daß Tonkas Geliebter daran zweifelt, obdieses Kind wirklich sein eigenes ist. Das bis dahin selbstverständliche Vertrauen zu ihr und ihrer Treue gerät in Gefahr, zertört zu werden. Eine gewisse Unbestimmtheit in bezug auf die Zeit des Empfangens, aber auch die unerklärliche Krankheit lösen den Zweifel aus. An diesem Punkt verdichtet sich das eigentlich Novellistische: das Überraschungsmoment dieser Novelle ist, wie oft bei Kleist, die fast paradoxe Spannung zwischen Mißtrauen und Vertrauen, zwischen Zweifel und Glaube; der Umstand, daß der Mann von tiefem Unglauben heimgesucht ist, aber trotzdem der Glaube an die Geliebte in ihm nicht erstirbt. Durch nichts läßt er sich erschüttern, auch nicht durch den Druck der eigenen Familie, die ihn bewegen möchte, seine Verpflichtung Tonka gegenüber durch eine Geldsumme abzugelten. Er hält stand, obwohl alles, was zuvor seine Liebe zu dem Mädchen begründet hat, immer mehr an Wirklichkeit verliert. Zusehends geht die Anmut verloren, die ihn angezogen hat. 'Tonka war bei diesem Leben ohne Licht und voll Sorgen hingewelkt und sie verblühte natürlich nicht schön wie manche Frauen, die Berauschendes ausströmen, wenn sie verfallen, sondern sie welkte unscheinbar wie ein kleines Küchenkraut, das gilbt und häßlich wird, sobald die Frische seines Grüns verloren ist. Ihre Wangen blaßten und fielen ein, dadurch sprang die Nase groß aus dem Gesicht, der Mund erschien breit und sogar die Ohren standen etwas weg; auch der Körper magerte ab, und wo früher biegsame Fülle des Fleisches gewesen war, blickte jetzt ein ländlicher Knochenbau durch." Der Zweifel an ihrer Treue erreicht den Grad der Unerträglichkeit. Er versucht, sich Gewißheit zu verschaffen, indem er die Todgeweihte mit Fragen quält. Zu den inneren Schwierigkeiten kommen äußere, denn durch die Schwangerschaft verliert Tonka ihre Stellung. Die Lage der beiden wird immer ärmlicher, zumal auch der Mann keine Gelegenheit findet, Geld zu verdienen. Sie müssen in kleinen Speisewirtschaften ihre Mahlzeiten einnehmen. Dabei wird das soziale Mißverhältnis zwischen beiden noch stärker offenbar als zuvor: er aus vornehmen Verhältnissen, sie in ihrer Armut und Häßlichkeit. 'Er machte eine sonderbare Figur in seinen vornehmen Kleidern zwischen den Gehilfen und Geschäftsdienern, ernst, schweigsam, treu zur Seite seiner schwangeren Gefährtin und unzertrennlich. Viele spöttische Blicke flogen ihm zu, und manche anerkennende, die nicht weniger brannten." Dann aber muß Tonka ins Spital. Aber was immer geschieht, er hält zu ihr, nach wie vor von Mißtrauen zerquält und doch im letzten, gegen alle Zweifel, an sie und ihre Treue glaubend. 'So saß er an ihrem Bett, war lieb und gut zu ihr, aber er sprach nie das Wort aus: Ich glaube dir. Obgleich er längst an sie glaubte. Denn er glaubte ihr bloß so, daß er nicht länger ungläubig und böse gegen sie sein konnte, aber nicht so, daß er für alle Folgen daraus auch vor seinem Verstand einstehen wollte. Es hielt ihn heil und an der Erde fest, daß er das nicht tat." Dieses Vertrauen wird immer inniger, je mehr sich das Leben Tonkas dem Ende nähert. Am Schluß des 14. Abschnittes liest man Sätze, die andeuten, daß kurz vor dem Tode des Mädchens in beiden eine Wandlung vor sich gegangen ist. Da ist noch einmal rückblickend die Rede von dem armseligen Milieu, in dem sie Jahre hindurch ihre Arbeit verrichten mußte. Dann heißt es von ihr: 'Aber sie fühlt, wohin das nicht reicht in ihr, dort ist sie überdies groß, edel und gut; kein Geschäftsmädel ist sie dort, sondern ebenbürtig und verdient ein großes Schicksal. Darum glaubte sie auch, trotz allen Unterschieds, ein Recht auf ihn zu haben; von dem, was er trieb, verstand sie nichts, das ging sie nicht an, sondern weil er im Grunde gut war, gehörte er ihr; denn auch sie war gut, und irgendwo mußte doch der Palast der Güte stehen, wo sie vereint leben sollten und sich niemals trennen." Aber auch er, der zu ihr gehalten hat, findet den Lohn dafür, daß sich in ihm das Vertrauen gegen alles Mißtrauen behauptet hat. Er wird Tonka verlieren. Aber das Zusammensein mit ihr hat sein Leben zum Guten gewandelt. 'Alles, was er niemals gewußt hatte, stand in diesem Augenblick vor ihm . . . Und vieles fiel ihm seither ein, das ihn etwas besser machte als andere, weil auf seinem glänzenden Leben ein kleiner warmer Schatten lag. Das half Tonka nichts mehr. Aber ihm half es. Wenn auch das menschliche Leben zu schnell fließt, als daß man jede seiner Stimmen recht hören und die Antwort auf sie finden könnte." Noch einmal sei an Benno von Wieses Hinweis erinnert, nach dem die drei Novellen Musils 'verrätselte Phänomene möglicher Untreue" gestalten. Daß diese Thematik in den beiden interpretierten Novellen allerdings so gegensätzlich wie möglich gestaltet ist, ergab sich aus der Gegenüberstellung. Gerät die Novelle ,Grigia' in der vorausgegangenen Interpretation in die Nähe der Romantik, so denkt man bei der Lektüre der letzten an Kleists ,Verlobung in St. Domingo'. Auch dort kreist das Geschehen um das Vertrauen im Sinne personal-existentieller Verbindlichkeit, selbst wenn der Partner Tonis in dem entscheidenden Augenblick nicht die Unbeirrbarkeit besitzt, danach zu handeln. Das Nebeneinander beider Novellen gibt eine Ahnung davon, welch reiche Möglichkeiten im Schaffen Musils verborgen sind. Ob sie in einer Synthese zusammengefaßt werden können, wird die künftige Musil-Forschung zeigen müssen.