Handbuch Literaturwissenschaft Gegenstände - Konzepte - Institutionen Handbuch Literaturwissenschaft Herausgegeben von Thomas Anz Band 2 Methoden und Theorien ■ ^---—-............................... Die Redaktionsarbeit wurde von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert. Redaktionsleitung: Kathrin Fehlberg Der Herausgeber . Thomas Anz (geb. 1948) ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Marburg, 2004-2007 Vorsitzender des Deutschen Germanistenverbandes; zahlreiche Veröffentlichungen zur Literaturgeschichte, Ästhetik, Literaturkritik und Literaturtheorie. Lizenzausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier Bestellnummer B 20926-2 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfflmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2007 J.B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Satz: Typomedia GmbH, Ostfildern Druck und Bindung: Kösel GmbH, Krugzell www.koeselbuch.de Printed in Germany November 2007 www.wbg-darmstadt.de Inhalt 1. Textkritik und Textbearbeitung....... 1 3. Textbewertung (Simone Winko). 233 1.1 Editionsphilologie (Rüdiger Nutt-Kofoth)............... 1 1.2 Computerphilologie (Fotis Jannidis)..................... 27 2. Textanalyse und Textinterpretation... 41 2.1 Erkenntnis-und wissenschaftstheoretische Grundlagen (Harald Fricke)..................... 41 2.2 Inhaltsanalyse (ThomasAnz)......... 55 2.3 Stilanalyse (UrsMeyer).............. 70 2.4 Versanalyse (Katja Meilmann)........ 81 2.5 Erzähltextanalyse (WolfSchmid)...... 98 2.6 Dramentextanalyse (Ralf Hertel)......121 2.7 Lyrikanalyse (Dieter Lamping)........139 2.8 Prosatextanalyse...................155 2.8.1 Sachbücher und -texte (Stephan Porombka).............. 155 2.8.2 Essay (Georg Stanitzek)........... 160 2.8.3 Brief (Jochen Strohe!)............. 166 2.8.4 Tagebuch (Lutz Hagestedt)......... 174 2.8.5 Autobiografie (Daniela Langer)..... 179 2.8.6 Biografie (Christian Klein)......... 187 2.8.7 Journalistische Formate (Stephan Porombka)..............194 2.9 Paratextanalyse (Georg Stanitzek).....198 2.10 Intertextualitätsanalyse (Andreas Böhn)....................204 2.11 Vergleichende Textanalysen (Dieter Lamping)..................216 2.12 Analyse von Text- und Kontextbeziehungen (Moritz Baßler)........225 3.1 Positionen der Wertungsforschung____234 3.2 Was sind Wertungen? Bestandteile von Wertungshandlungen...............235 3.3 Sprachliche und nicht-sprachliche Wertungen im Literatursystem.......238 3.4 Sprachliche Wertungen..............242 3.5 Typologie von Wertmaßstäben.......251 3.6 Kanonisierungsprozesse.............257 4. Literaturgeschichtsschreibung (Jörg Schönert)..........................267 4.1 Literaturgeschichte als Gegenstand und Gegenstandsdarstellung.............267 4.2 Ordnungsmuster, Verfahrensweisen, Konzepte, Voraussetzungen..........269 4.3 Theorien und Beschreibungsmöglichkeiten für den literarischen Wandel ... 274 4.4 Partialisierung und Kontextualisierung 278 4.5 Darstellungsformen in der Literaturgeschichtsschreibung ...............281 4.6 Relativismus und Normativität der Literaturgeschichtsschreibung........282 5. Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft (Tilmann Koppe und Simone Winko).......285 5.1' Begriffsklärungen..................285 5.2 Textorientierte Theorien und Methoden.........................289 5.2.1 Strukturalismus.................291 5.2.2 Dekonstruktion.................297 5.3 Autororientierte Theorien und Methoden.........................304 5.3.1 Hermeneutik...................305 284 Literaturqeschichtsschreibunq 285 (Hg.): Geschichte als Literatur. Formen und Grenzen der Repräsentation von Vergangenheit. Stuttgart 1990. Eibl, Karl: Kritisch-rationale Literaturwissenschaft. Grundlagen zur erklärenden Literaturgeschichte. München 1976. Eibl, Karl: Literaturgeschichte, Ideengeschichte, Gesellschaftsgeschichte - und das »Warum der Entwicklung. In: IASL 21. Jg., 2 (1996), 1-16. Fohrmann, Jürgen: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte: Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989. 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Analyse von Handlungen im Umgang mit Li- 5.1 Begriffsklärungen Ob es überhaupt sinnvoll ist, von Verfahrensweisen im Umgang mit Literatur als >Methoden< zu sprechen, ist in der Literaturwissenschaft umstritten. Impliziert dieser Begriff streng genommen doch wissenschaftliche Bedingungen, denen das Analysieren und Interpretieren von Literatur nicht genügen kann und will. Eine Methode im engeren Sinne etwa der naturwissenschaftlich experimentellen Verfahren oder des logisch-deduktiven Folgerns muss klare Anweisungen zur Abfolge festgelegter Schritte enthalten, die zu wiederholbaren Ergebnissen führen. Verfahren zur Analyse oder Interpreta-I km dagegen verfügen im Regelfall weder über sol-i'lie klaren Anweisungen noch über eine festgelegte Abfolge von Untersuchungsschritten, und ihre Erlebnisse, etwa die von Gedichtinterpretationen, teratur: soziologische und psychologische Theorien und Methoden 5. Erklärungen für das Phänomen >Literatur<: Evolutionsbiologische und anthropologische Theorien 6. Wertung von Literatur (vgl. II.3) In diesem Kapitel geht es um die Ziele (2), (4) und (5). Um diese Ziele zu erreichen, hat die Literaturwissenschaft diverse Theorien und Methoden entwickelt. Die unterschiedlich verwendeten Begriffe >Theorie< und >Methode< bedürfen allerdings der Klärung. sind nicht exakt reproduzierbar. Dennoch weisen auch diese Verfahren Regelmäßigkeiten auf, die es erlauben, sie als Methoden in einem schwächeren Sinne aufzufassen. Um von >Methode< sprechen zu können, müssen drei Bedingungen erfüllt sein: Es muss explizite oder post festum explizierbare Ziele und verfahrenstechnische Annahmen darüber geben, auf welchem Weg die Ziele am geeignetsten einzulösen sind, sowie eingeführte Begriffe, mit denen die Ergebnisse im wissenschaftlichen Text dokumentiert werden. Formuliert werden diese Ziele, Annahmen und Begriffe im Rahmen einer Literaturtheorie. Der Begriff >Theorie< kommt, als Kompositum mit >Literatur<, im Singular und im Plural vor und bezeichnet jeweils Unterschiedliches. Mit dem Be- griff >Literaturtheorie< wird ein Teilbereich der Literaturwissenschaft neben anderen Bereichen wie Literaturgeschichte oder Editionsphilologie bezeichnet. Die Literaturtheorie als disziplinarer Teilbereich befasst sich mit Grundlagenproblemen der Theoriebildung und Methodologie in der Literaturwissenschaft sowie mit den verschiedenen gegenstandsbezogenen Theorien, die über die Bedingungen der Produktion und Rezeption von Literatur sowie über ihre Beschaffenheit und ihre Funktionen aufgestellt worden sind. Diese werden >Literaturtheorien< genannt. >Literaturtheorie< im Singular bezeichnet also einen Bereich übergeordneter, reflexiver Tätigkeit, in dem u. a. die diversen einzelnen Literaturtheorien bzw. literaturtheoretischen Ansätze untersucht werden. In welchem Sinne diese Ansätze den Status von Theorien haben, ist im Fach umstritten. Wie im Falle von >Methode< gibt es, wissenschaftstheoretisch betrachtet, auch für Theorien im naturwissenschaftlichen oder philosophischen Sinne Bedingungen, die die >Literaturtheorien< genannten Konstruktionen nicht erfüllen. Daher wurde vorgeschlagen, anstatt von >Theorien< in einem unverbindlicheren Sinne von >Positionen< oder >Model-len< zu sprechen.1 Jedoch handelt es sich auch bei den hier in Frage stehenden Literaturtheorien um Theorien in einem präzisen Sinne, selbst wenn der Begriff in einem schwächeren Verständnis als in den Naturwissenschaften verwendet wird: Auch Literaturtheorien enthalten Sätze mit intersubjektivem Geltungsanspruch, die »vor allem der Zusammenfassung, Koordination, Reproduktion, Erklärung und Voraussage von Phänomenen« dienen2; sie grenzen wissenschaftliches Wissen von nicht-wissenschaftlichem Alltagswissen ab und gelten nur für einen bestimmten Gegenstandsbereich. Formal betrachtet, setzen sich Literaturtheorien aus verschiedenen Elementen zusammen. Sie bestehen (1) aus Axiomen, das sind Grundannahmen, und aus weitergehenden Annahmen. Die Grundannahmen bilden gewissermaßen das Fundament, 1 Vgl. z. B. David E. Wellbery (Hg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists »Das Erdbeben in Chili«. München 1985. 2 Joseph Speck (Hg.): Handbuch wissenschaftstheoretischer Grundbegriffe. Bd. 3. Göttingen 1980,636. auf dem komplexere Annahmen der Theorie aufbauen. Eine Grundannahme des Strukturalismus etwa lautet: >Bedeutung erhält ein Zeichen allein durch seinen Unterschied zu den anderen Zeichen des Systems<. Auf diese Annahme berufen sich z. B. methodische Vorgaben der Analyse literarischer Texte. Theorien enthalten (2) zudem Grundbegriffe, die sich auf Elemente des Gegenstandsbereichs der Theorie beziehen und die den Geltungsbereich der Theorie festlegen. In der Literaturtheorie gehören u. a. die Begriffe >Text<, >Leser<, >Autor<, >Bedeutung< und natürlich >Literatur< zu diesen Grundbegriffen. In einer wissenschaftlichen Theorie müssen diese Grundbegriffe möglichst klar definiert sein. Exakte Begriffsbildung ist eine Voraussetzung für die Wissenschaftlichkeit einer Disziplin.3 (3) Theorien enthalten weiterhin ein ausformuliertes Modell der gesetz- oder regelmäßigen Zusammenhänge zwischen einzelnen Elementen ihres Gegenstandsbereichs. Anders gesagt: Sie enthalten eine Darstellung davon, auf welche regelhafte Weise die Grundbegriffe sich aufeinander beziehen bzw. miteinander zusammenhängen. Ein Kommunikationsmodell, das eine Interaktion zwischen Autor, literarischem Text und Leser entwirft, ist ein Beispiel für eine solche Darstellung. Fragt man nach den inhaltlichen Bestandteilen von Literaturtheorien und damit nach den Typen von Axiomen oder weitergehenden Annahmen, die eine Literaturtheorie enthält, so ist es zweckmäßig, einige Differenzierungen vorzunehmen. Sie dienen dazu, die Zusammensetzung dieser Komplexe aus unterschiedlichen Annahmen transparenter zu machen, und werden die nachfolgenden Darstellungen verschiedener Literaturtheorien strukturieren. Von den Literaturtheorien sind die Gahmen-öder Bezugsfheorien< zu unterscheiden. Als Rahmen- oder Bezugstheorien werden hier solche Theorien bezeichnet, die in anderen Disziplinen entwickelt worden sind und deren Konzepte in eine Literaturtheorie übernommen werden. Literaturwissenschaftler importieren ihre Rahmentheorien am häufigsten aus der Soziologie, Psychologie, Philosophie und Linguistik. Sie finden sich in Literaturtheorien z.B. in der Form von Annahmen über 3 Vgl. Tadeusz Pawlowski: Begriffsbildung und Definition. Berlin 1980,52 f. die Funktionsweise von Sprache und Gesellschaft, über die menschliche Psyche oder die Verlaufsgesetze von Geschichte. Neben diesen stets zu findenden theoretischen Annahmen können in Literaturtheorien auch weltanschauliche Überzeugungen und Normen eine Rolle spielen, die nicht unbedingt theoretisch eingebunden zu sein brauchen. Beispiele hierfür sind etwa Auffassungen darüber, wie der Mensch in der Postmoderne denken oder schreiben könne, oder Überzeugungen von der generellen Überlegenheit der Literatur weißer Männer aus der Mittelklasse -oder ihrer moralischen Unterlegenheit. Diese beiden Typen von Annahmen bestimmen die Auffassungen mit, die als charakteristisch für eine Literaturtheorie gelten, nämlich die Auffassungen vom Gegenstand >Literatur<. Zu diesen gegenstandsspezifischen Annahmen zählen Antworten auf Fragen wie >Was ist Literatur?<, >Welche Funktionen hat Literatur und Annahmen über die Art und Weise, wie sich in literarischen Texten Bedeutung konstituiert. Zusammen mit den anderen angeführten Annahmen bestimmt diese Bedeutungskonzeption die Interpretationskonzeption, die in einer Literaturtheorie als die angemessene gilt. Sie bezieht sich auf das Ziel, literarische Texte zu interpretieren, und legt die Bedingungen fest, unter denen dieses Ziel -eben im Rahmen der jeweiligen Literaturtheorie -erreicht werden kann. Auch sie enthält unterschiedliche Typen von Annahmen: solche über die angemessene Methode, um Bedeutungen in Uterarischen Texten zu rekonstruieren, über die zugelassenen Fragestellungen in Interpretationen, terminologische Festlegungen sowie Annahmen über Argumentationsweisen, die als angemessen und zielführend angesehen werden. In Interpretationskonzeptionen wird üblicherweise zwischen der Analyse oder Beschreibung einerseits und der Interpretation literarischer Texte andererseits unterschieden. Diese Unterscheidung ist sinnvoll, da sie es erlaubt, eine komplexe literaturwissenschaftliche Tätigkeit nach bestimmten Kriterien zu differenzieren und damit klarer beschreibbar zu machen. Allerdings sind die Kriterien dieser Differenzierung nicht einheitlich bestimmt, so dass kein Konsens darüber besteht, woran genau der Unterschied zwischen Beschrei- ben/Analysieren und Interpretieren festgemacht werden soll. Vorgeschlagen wurde u. a. eine Unterscheidung anhand des einbezogenen Textmaterials (Beschreibungen beziehen sich vornehmlich auf syntaktische Aspekte des Textes, Interpretationen auf semantische), anhand des Geltungsanspruchs (Beschreibungen haben eher einen intersubjektiven Geltungsanspruch, Interpretationen eher nicht), anhand des Grades der Abhängigkeit von einer bestimmten Interpretationskonzeption (Beschreibungen sind eher neutral gegenüber einer Interpretationskonzeption, Interpretationen eher nicht), anhand des Handlungstyps, aus dem sie hervorgehen (Beschreibungen resultieren aus Beobachtungen, Interpretationen resultieren aus Beobachtungen und teils komplizierten Folgerungen), oder anhand des spezifischen Vokabulars, das Verwendung findet (etwa das der Metrik in der Gedichtanalyse und das der Psychoanalyse in der Interpretation).4 Die meisten dieser Kriterien erlauben graduelle Übergänge zwischen Beschreiben/Analysieren einerseits und Interpretieren andererseits, und es sind sowohl Mischfälle (Beschreibungen, die Interpretationen enthalten, und umgekehrt) als auch Grenzfälle denkbar, in denen nicht sinnvoll entschieden werden kann, ob eher eine Beschreibung oder eine Interpretation vorliegt. Die traditionell bedeutsame Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen ist im Rahmen interpretationstheoretischer Überlegungen dagegen kaum aussagekräftig: Jede Interpretation ist in der einen oder anderen Weise damit befasst, bestimmte Textbefunde zu erklären, und sie zielt darauf, (in Abhängigkeit von der jeweiligen Bedeutungstheorie) ein besseres Verständnis des Werkes zu befördern. Gruppieren lassen sich die gegenwärtig diskutierten literaturtheoretischen Ansätze, indem man text-, autor-, leser- und kontextorientierte Theorien und Methoden unterscheidet.5 Selbstverständ- 4 Vgl. Tom Kindt/Hans-Harald Müller: Wieviel Interpretation enthalten Beschreibungen? Überlegungen zu einer umstrittenen Unterscheidung am Beispiel der Narratologie. In: Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Berlin/New York 2003,286-304. 5 Vgl. Harald Fricke: Methoden? Prämissen? Argumentationsweisen! Überlegungen zur Konkurrenz wissenschaftlicher Standards in der Literaturwissenschaft. In: 288 TjTeorien und M Textorienti|rte 289 lieh spielen diese Instanzen in allen Literaturtheorien eine Rolle - zählen doch >Text<, >Autor<, >Leser< und >Kontext< zu den Grundbegriffen jeder Literaturtheorie. Dennoch unterscheiden sich die AnT sätze in dem Gewicht, das den einzelnen Instanzen beigemessen wird, bzw. in der Aufmerksamkeit, die ihnen geschenkt wird. Der Kategorie der textorientierten Theorien werden hier Strukturalismus und Dekonstruktion zugeordnet; beide Ansätze entwickeln Verfahren des Umgangs mit Texten, in denen der Instanz des Autors keine wichtige Rolle zuerkannt wird. Auch die Rolle des Lesers wird kaum theoretisch erfasst. Der Textbegriff selbst wird von beiden Ansätzen sehr unterschiedlich bestimmt und verwendet. Dem Bemühen um eine definitorisch exakte (semi-otische) Bestimmung von >Text< und die Entwicklung präziser (wissenschaftlicher) Analyseverfahren im Rahmen des Strukturalismus steht eine eher unpräzise Ausweitung des Begriffs auf Seiten der Dekonstruktion gegenüber. Für einige Dekonstruk-tivisten ist die >poststrukturalistische< Annahme einer >Entgrenzung< des Textes leitend: Es wird angenommen, dass kulturelle Phänomene allgemein eine semiotische Struktur haben (also >zeichenhaft< sind) und daher mit Verfahren der Textanalyse beschrieben werden können. Wird eine solche Annahme gemacht, so verschwindet die Trennung zwischen >Text< und >Kontext<. Autororientiert sind bestimmte Spielarten der Hermeneutik und der psychoanalytischen Literaturwissenschaft, insofern diese Ansätze Interpretationsverfahren entwickeln, in denen das, was der Autor eines literarischen Werkes bewusst oder unbewusst zu verstehen gibt, im Zentrum des Interesses steht. Entsprechend ist auch für die Bestimmung des Literaturbegriffs entscheidend, dass literarische Werke Artefakte sind, also Gegenstände, die von Personen mit bestimmten Absichten, Wünschen usw. hervorgebracht wurden. Über diese Absichten und Wünsche können sich die Personen durchaus auch im Unklaren befinden. Zu den leserorientierten Ansätzen zählen wir die Rezeptionsästhetik sowie die Empirische Literatur- wissenschaft und die Cognitive Poetics. Im Rahmen dieser Ansätze ist das Konzept des Lesers Ausgangspunkt der Entwicklung von Verfahren des Umgangs mit Literatur sowie gegenstandsbezogener Theorien. Wie die Instanz des Lesers bestimmt und welcher Stellenwert dem Textfaktor zugeschrieben wird, unterscheidet allerdings die drei Ansätze. Unter den Kategorien, die wir zur Gruppierung der Theorien heranziehen, ist die des Kontexts die offenste, und sie umfasst daher die meisten Ansätze. Von den Kontextarten, die prinzipiell unterschieden werden können6, spielen zwei für unseren Untersuchungsgegenstand eine besonders wichtige Rolle: extratextuelle Kontexte wie >die Geschichten >die Sprachen >die Gesellschaft und intertextuelle Kontexte, also andere Texte oder Textklassen. Das Spektrum der hier zuzurechnenden Ansätze reicht von der Sozialgeschichte über die Spielarten von Diskursanalyse und New Historicism bis hin zu den Gender Studies und Cultural Studies. Die Aussagekraft der Unterscheidung in text-, autor-, leser- und kontextorientierte Theorien und Methoden ist begrenzt. Sie erlaubt eine relativ übersichtliche Gruppierung der einzelnen Ansätze und verweist auf eine (inhaltliche) Nähe, die zwischen einzelnen Ansätzen besteht. Sie sollte jedoch nicht überschätzt werden: Verwandtschaften und Unterschiede zwischen den einzelnen Ansätzen bleiben ausgeblendet, und überdies liegt der Unterscheidung kein trennscharfes oder einheitliches Klassifikationskriterium zugrunde. Um die verschiedenen Theorien vergleichbar zu machen, sind die folgenden Darstellungen nach einem einheitlichen Muster aufgebaut: (1) Einleitende Kurzcharakteristik der Theorie, Vergleich mit anderen Ansätzen sowie Hinweise auf Varianten; (2) Bezugstheorien und Rahmenannahmen; (3) Grundbegriffe: Literatur, Autor, Text, Leser, Kontext, Sinn/Bedeutung, Interpretation; (4) Methode der Textinterpretation; (5) Literatur. Nicht erfasst in der am Kommunikationsmodell orientierten Klassifikation der Theorien sind die Ansätze, deren erstes Anliegen in der Erklärung des Lutz Danneberg u. a. (Hg.): Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der »Theoriedebatte«. Stuttgart 1992,211-227. 6 Dazu Lutz Danneberg: Kontext. In: Harald Fricke (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II. Berlin/New York 2000,333-337. Phänomens >Literatur< liegt. Hierunter fallen anthropologische (u. a. psychologische sowie evolutionsbiologische) Modelle. Sie werden abschließend in einer fünften Gruppe zusammengefasst und skizziert. Die Fülle der vorhandenen literaturtheoretischen Ansätze macht eine Auswahl unumgänglich. Nicht mehr weiterentwickelte Ansätze werden nur in den einleitenden Passagen der fünf Gruppen skizziert. Überdies konzentriert sich die Darstellung auf typische Vertreter einer Theorie. Diese Be- schränkung stellt immer dann ein Problem dar, wenn Varianten dezidiert in Auseinandersetzung mit den typischen Vertretern der eigenen Richtung gebildet und diesen entgegengesetzt worden sind. In einigen solcher Fälle - etwa der Hermeneutik, der Psychoanalyse und der Diskursanalyse - werden Spielarten daher etwas ausführlicher dargestellt. Eine umfassende Kritik der Ansätze wird hier nicht versucht; kritische Bemerkungen zu einzelnen Aspekten sind in den jeweiligen Abschnitten 2 bis 4 zu finden. 5.2 Textorientierte Theorien und Methoden Die Bezeichnung >textorientiert< verweist auf die Zentralstellung, die dem literarischen Text im Rahmen der fraglichen Ansätze eingeräumt wird. Etwas genauer bestimmen lässt sich diese Aussage, indem man angibt, wodurch sich ein textorientierter Ansatz nicht auszeichnet - nämlich dadurch, in erster Linie die Produktions- oder Rezeptionsbedingungen literarischer Werke zu untersuchen oder das literarische Werk in (literaturgeschichtliche, gesellschaftliche, kulturelle) Kontexte einzuordnen. Das bedeutet nicht, dass Beobachtungen zum Kontext eines literarischen Werkes nicht Teil einer Interpretation sein könnten, die nach dem Muster textorientierter Ansätze verfährt. Entscheidend ist, dass solchen Beobachtungen gewissermaßen eine Hilfsfunktion zukommt: Sie bilden nicht das Ziel der Interpretation, sondern stellen mehr oder minder wichtige (und gegebenenfalls entbehrliche) Hilfsmittel zur Verfügung. Der im deutschen Sprachraum in den 1950er und 1960er Jahren populärste textzentrierte Ansatz ist die sogenannte >werkimmanente Interpretation^ im angloamerikanischen Sprachraum spielt diese Rolle der Ngw Criticism. Für beide Ansätze gilt, dass sie erstens in der Regel als programmatisch >geschlossen< wahrgenommen werden und zweitens aus heutiger Sicht als überholte, >historische< Positionen gelten. Der Eindruck programmatischer Einstimmigkeit resultiert unter anderem aus der Tatsache, dass innerhalb der Ansätze Abhandlungen hervorgebracht wurden, die zu bestimmten literaturtheoretischen Streitfragen Position beziehen und Manifestcharakter haben; dass beide Ansätze mit dem Werk herausragender Forscherpersönlichkeiten identifiziert werden; dass mit der Etablierung beider Ansätze der Anspruch der Absetzung vom Bestehenden sowie der grundsätzlichen theoretisch-methodischen Neuerung verbunden wurde; und dass beide Ansätze von anderen Ansätzen >abgelöst< wurden, die damit ähnliche Ansprüche verbanden. Die Wahrnehmung von werkimmanenter Interpretation und New Criti-cism als programmatisch geschlossenen, Ansätzen ist nützlich, insofern sie eine gewisse Übersichtlichkeit schafft; sie sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Vertreter der einzelnen Ansätze zum einen auch durchaus divergierende Ansichten vertreten haben und dass es zum anderen eine Divergenz zwischen theoretisch-methodologischer Bekundung und der literaturwissenschaftlichen Praxis gibt. Der Ansatz der werkimmanenten Interpretation (im Folgenden kurz: >Werkimmanenz<) wird insbesondere mit den Namen Emil Stajger sowie Wolfgang Kayser verbunden.7 Das literarische Werk gilt 7 Vgl. Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation [1951]. In: Ders.: Die Kunst der Interpretation. Zürich 1955,9- 290 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft HUH Tiactor^ 291 im Rahmen der Werkimmanenz als >Kunstwerk< im emphatischen Sinne: Seine Teile schließen sich zu einem >Ganzen< zusammen, das den Eindruck ästhetischer Vollkommenheit hervorruft und den eigentümlichen >Stil< des Kunstwerks ausmacht (Staiger). Der Interpret muss dementsprechend versuchen, den Stil des Kunstwerks aufzuweisen, und er tut dies, indem er den Eindruck der künstlerischen Vollkommenheit des Werks einzuholen und zu erklären versucht. Als Standard der Interpretation dient dabei ein Prinzip der >Maximie-rung<: Gelungen ist die Interpretation, in deren í Licht das Werk als »im höchsten Maße (zum Bei-; spiel) einheitlich, kohärent, bedeutungsträchtig, j gestalthaft« erscheint.8 Zugrunde liegt dieser Interpretationsnorm eine >klassizistische< Kunstauffassung, nach der >Form< und >Gehalt< eines Kunstwerks >zusammenstimmen<. Zu einem textzentrierten Ansatz wird die Werkimmanenz im Wesentlichen durch die folgenden zwei Momente: Erstens disianziejrj_sj£^cl^ als »positivistisch^ abgualifizierten Auffassung, man könne das literarische Kunstwerk erklären, indem man seine Ursprünge in der Biografie des Autors, der Kultur oder Geistesgeschichte untersucht.9 Zweitens kommt Informationen über den Kontext des Werkes - zu denken ist etwa an Aspekte der Biografie des Autors oder sprach-, literatur- und gattungsgeschichtliche Zusammenhänge - im Rahmen der Interpretation lediglich eine heuristische Funktion zu: Der Interpret kann und sollte sich solche Informationen aneignen, wenn sie ihm helfen, dem Kunstcharakter des Werkes auf die Spur zu kommen; da sich der Kunstcharakter als solcher indessen nicht auf Kontextinformationen zurückführen bzw. aus diesen rekonstruieren 33; Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft [1948]. Tübingen/Basel 201992. 8 Lutz Danneberg: Zur Theorie der werkimmanenten Interpretation. In: Wilfried Barner/Christoph König (Hg.): Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Frankfurt a.M. 1996, 313-342,Zit.316. 9 Vgl. Peter Rusterholz: Formen >textimmanenter< Analyse. In: Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München "2001,365-385, hier 369-375. lässt, ist die eigentliche Interpretation von ihnen unabhängig.* ' ~"~ "'*" Theoretisch ausgearbeitet wurde die These, Informationen über den Autor könne und dürfe im Rahmen der Literaturinterpretation keine privilegierte Rolle zukommen, von WiUian^K^JiVjmsatt und Monroe C. Beardsley. In einem Essay mit dem programmatischen Titel »The Intentional Fallacy«, einem der Gründungsdokumente des New Criti-cism, argumentieren sie, die Suche nach den Absichten (Intentionen) des Autors sei erstens fruchtlos, da Absichten private Zustände seien, zu denen Interpreten keinen Zugang hätten, und zweitens nutzlos, da Absichten entweder im Werk verwirklicht seien oder aber nicht: Im ersten Fall sei der Rekurs auf Absichten überflüssig, weil man sich gleich an das Werk selbst halten könne, im zweiten Fall hingegen irreführend, weil die Absichten offensichtlich nicht geeignet seien, das Werk zu beschreiben oder zu deuten.10 Die These vom >intentionalen Fehlschluss< avancierte, wenngleich sie nicht unumstritten blieb, zu einem außerordentlich erfolgreichen Schlagwort.11 An die Stelle einer autororientierten Interpretationspraxis setzen die New Cri-tics das Konzept des dose reading. Dem Text selbst hat die Aufmerksamkeit des Interpreten zu gelten; ein wichtiges Interpretationsziel liegt in der Erhebung des Bedeutungsspektrums (bzw. der Mehrdeutigkeit) einzelner Ausdrücke, vor allem durch mikrostilistische Analysen. Damit verbunden ist die Auffassung, literarische Texte ließen sich weder vollständig interpretieren noch paraphrasieren, d.h. unter Absehung von der je werkspezifischen Ausdrucksgestalt auf eine message reduzieren.12 10 Vgl. William K. Wimsatt/Monroe C. Beardsley: The Intentional Fallacy [1946]. In: William K. Wimsatt: The Verbal Icon. Studies in the Meaning of Poetry. Lexington 1967, 3-18. 11 Vgl. Lutz Danneberg/Hans-Harald Müller: Der >inten-tionale Fehlschluß< - ein Dogma? Systematischer Forschungsbericht zur Kontroverse um eine intentionalis-tische Konzeption in den Textwissenschaften. Teil I und II. In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 14. Jg., 1 (1983), 103-137 und 14. Jg., 2 (1983), 376-411. 12 Vgl. Cleanth Brooks: The Heresy of Paraphrase [1947]. In: Ders.: The Well Wrought Urn. Studies in the Structure of Poetry. London 21960,176-195. Die theoretischen Nachwirkungen von Werkimmanenz und New Criticism sind von Abgrenzungen, aber auch von Kontinuitäten geprägt. Struktundisti-sch£lnter|^ für das sgracMche Detail, verwenden jedoch eine vollständig eigene Besenreibungssprache und verwer-fen die (>unwissenscharaiche<) Aufwertung des interpretierenden Subjekts, das den Kunstcharakter des Werks >erfahren< müsse. Im Rahmen der De-konstruktion wird die These von der Unabschließ-"~Bärk"eit"der Interpretation sowie der Bedeutungsviel-~iah~vöiTTi5t5rr^ die These von der ^saffltnssqiheit des lfeja|foch,en, gegeji^abgelehnt. Im Unterschied zu Werkimmanenz und New Criticism werden Strukturalismus und Dekonstruktion in der gegenwärtigen Theoriedebatte diskutiert und fortentwickelt. 5.2.1 Strukturalismus Als >Strukturalismus< wird eine theoretisch-methodische Forschungsrichtung oder ein >Denktyp< in verschiedenen Geistes- bzw. Kulturwissenschaften, etwa der Ethnologie, der Psychologie, der Linguistik und den Literaturwissenschaften, bezeichnet (vgl. Titzmann 1993,12-16). Bei dem - hier allein in Rede stehenden - literaturwissenschaftlichen Strukturalismus (im Folgenden kurz: >Strukturalis-mus<) handelt es sich kaum um eine homogene Forschungsrichtung; es gibt vielmehr eine Reihe nebeneinander bestehender literaturwissenschaftlicher Ansätze, etwa in der Interpretationstheorie und -methodologie, deren gemeinsame Bezeichnung als >strukturalistisch< sich einer gemeinsamen Abstammung und (erst in zweiter Hinsicht) der Berufung auf bestimmte Forschungsannahmen und -prinzipien verdankt. Die Wurzeln des Strukturalismus hegen zum einen in der linguistisebgn The-orie Ferdinand de Saussures (1916/2001), zum anderen in den Arbeiten der rass^chen^gjnalisleA (u. a. Sklovskü, Tynjanoy).13 Beide Tendenzen wur- 13 Vgl. Rainer Grübel: Der Russische Formalismus. In: Roland Posner/Klaus Robering/Thomas A. Sebeok (Hg.): Semiotik/Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. Berlin/New York 1998,2. Teilbd., 2233-2248. den im Prager Cercle linguistique (Roman Jakobson und andere) aufgenommen und fanden von dort aus internationale Verbreitung, u. a. in Frankreich und USA. In Deutschland findet eine breitere Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus seit den 1960er Jahren statt (vgl. Albrecht 2000; Matthews 2001). Als eine Theorie, die den semiotischen (zeichenhaften) Charakter Uterarischer Texte analysiert, fällt der Strukturalismus mit weiten Teilen der sogenannten >Literatursemiotik< zusammen. >Litera-tursemiotikäst dann nur ein ftnjerer Natnq-% den Strukturalismus (vgl. Titzmann 2003). Es gibt je-doch auch andere Spielarten einer li|exajurwjss.en-schaftlichen Semiotik, die nicht auf Saussure, sondern beispielsweise auf den amerikanischen Philosophen Charles Sanders Peirce zurückgehen. Bezugstheorie und Rahmenannahmen Die wohl wichtigste Quelle des Strukturalismus ist Ferdinand de Saussures Cours de linguistique generale, eine erstmals 1916 erschienene Nachschrift verschiedener Vorlesungen, die Saussure zwischen 1906 und 1911 gehalten hatte (Saussure 2001). Der eigentliche Gegenstand sprachwissenschaftlicher Untersuchungen ist für Saussure die Sprache (lan-gue). Diese unterscheidet sich vom Sprechen {parole), das ein von einzelnen Personen vollzogener >psychophysischer< Akt ist, durch ihren überindividuellen und konventionellen (regelhaften) Charakter. Die Sprache bildet zu einem bestimmten Zeitpunkt (synchron) in zweierlei Hinsicht ein System: Erstens verfügt sie über ein bestimmtes Zeicheninventar und eine bestimmte »Gjammatik«, d. h. ein Ensemble von »Konstruktionsregeln« möglicher Verknüpfungen spracnlicher Einheiten >oberhalb< und >unterhalb< der Zeichenebene: Geregelt ist - bis zu einem bestimmten Grad - sowohl, wie einzelne Zeichen aufgebaut werden können, als auch ihre Verknüpfung zu größeren Einheiten. Zweitens herrschen zwischen den einzelnen Elementen des Sprachsystems Beziehungen, die für die Konturen der einzelnen Elemente konstitutiv sind. Wie beispielsweise die Lautgestalt eines Zeichens beschaffen ist und welchen begrifflichen Inhalt das Zeichen hat, hängt vom sonstigen Lautbestand und dem 292 IJ]g2S£S^ä,,,l!^,,^!HägII der Literaturwissenschaft Textorienti^ 293 sonstigen Begriffsrepertoire der Sprache ab (vgl. Saussure 2001,132-147; vgl. auch II.5.2.2). Saussure unterscheidet zwei verschiedene »Sphären«, auf denen sich die Beziehungen - insbesondere Ähnlichkeiten und Unterschiede - zwischen sprachlichen Einheiten manifestieren können (vgl. Saussure 2001, 147-159). Einerseits sind dieJBestandteile einer Äußerung bzw. eines Satzes nach- bzw. nebeneinan-deTäüigereihtlind bilden >Svntagmen< bzw., in einer späteren Formulierung, eine >syntagmatische Achse<. Andererseits steht jede sprachliche Einheit in verschiedenen Beziehungen zu anderen sprachlichen Einheiten, die nicht Bestandteil der Äußerung sind, mit denen sie jedoch z.B. inhaltliche, morphologische oder phonetische Aspekte gemeinsam hat. Saussure spricht hier von »assoziativen Beziehungen«: »So läßt das Wort Belehrung unbewußt vor dem Geist eine Menge anderer Wörter auftauchen (lehren, belehren usw., oder auch Bekehrung, Begleitung, Erschaffung usw., oder ferner Unterricht, Ausbildung, Erziehung usw.). Auf der einen oder andern Seite haben alle diese Wörter irgend etwas unter sich gemein.« (Ebd., 147) Später ist für diesen Typ von Beziehungen zwischen den Einheiten einer Sprache die Bezeichnung >Paradigma< bzw. >para-digmatische Achse< eingeführt worden. Das Hervorbringen sprachlicher Äußerungen besteht demnach aus der Selektion bestimmter Elemente auf der paradigmatischen Achse und deren Kombination auf der syntagmatischen Achse. Eine von Saussure inspirierte Grundidee der >strukturalistischen Tätigkeit besteht darin, einen Untersuchungsgegenstand in seine Bestandteile zu >zerlegen<, um das Arrangement seiner Zusammensetzung zu durchschauen (vgl. Barthes 1966). Sich einen Untersuchungsgegenstand verständlich zu machen, bedeutet, dessen einzelne Bestandteile als (aus einem bestimmten paradigmatischen Repertoire) ausgewählte und in bestimmter (syntagma-tischer) Weise arrangierte zu begreifen, wobei bestimmte Konstruktionsregeln zutage treten. Dass ein Kunstwerk Bedeutung hat, heißt nach struktu-ralistischem Verständnis,. dass es nicht zufällig, sondern regelhaft, strukturiert und konstruiert ist.14 Mit den Worten Barthes': Es geht nicht darum, »den Objekten [...] Bedeutungen zuzuweisen«, sondern vielmehr darum, zu >ierkennen,-wodurch die Bedeutung möglich ist zu ,welchem_Ereis,und auf welchem Weg« (Barthes 1966,195). Gegenüber der sprachwissenschaftlichen Theorie Saussures zeichnen sich diese Überlegungen durch eine erhebliche Ausweitung des Gegenstandsbereichs aus: Die Rede ist nun nicht mehr von (einzelnen) sprachlichen Zeichen, deren Bestandteilen und deren Grammatik, sondern von den Konstruktionsprinzipien größerer textueller Einheiten oder ganzer Texte. So konstituiert sich beispielsweise auch eine bestimmte Strophenform durch (paradigmatische) Abgrenzung von anderen Strophenformen, und ihre Auswahl und (syntagmatische) Anordnung - isoliert oder wiederkehrend (rekurrent), d.h. in bestimmten Äquivalenz- oder Oppositionsbeziehungen - kann ein wichtiges Bedeutung tragendes Element eines Gedichts sein. Literarische Kunstwerke sind insofern sekundäre sejrniQtisehe Systeme, die »nach dem Typ der Sprache gebaut sind« und mit den Mitteln einer natürlichen Sprache und nach deren Konstruktionsprinzipien eigene Bedeutungen aufbauen (Lotman 1993, 23). Der Strukturalist rekonstruiert, wenn er diesen Bedeutungen auf der Spur ist, mithin eine »Linguistik des Diskurses«, nicht nur die eines Wortes oder Satzes einer natürlichen Sprache (Genette 1972, 77).15 Ein alternatives semiotisches Textmodell hat, im Anschluss an Überlegungen des amerikanischen Philosophen Charles Sanders Peirce (1839-1914), Umberto Eco entwickelt. Grundlegend ist hier die Einsicht, dass sich nicht erklären lässt, was es mit einem Text als einer zusammenhängenden, interpretier- und verstehbaren Einheit auf sich hat, wenn man nicht berücksichtigt, dass der Textsinn zwar im Text angelegt ist, jedoch zugleich erst aus der aktiven, interpretativen Mitarbeit des Lesers hervorgeht. Ein einfaches Beispiel kann illustrieren, was damit gemeint ist (vgl. Eco 1998,62 f.). Um die Sätze »Giovanni trat in das Zimmer. >Du bist ja wieder zurück! < rief Maria freudestrahlend« verstehen 14 Zum Strukturbegriff vgl. Michael Titzmann: Struktur. In: Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. III. Berlin/New York 2003, 532-535. 15 Vgl. (dagegen) Stein H. Olsen: The Structure of Literary Understanding. Cambridge u. a. 1978,17-23. zu können, müssen wir eine Reihe verschiedener Operationen ausführen. So muss der Leser unter anderem Koreferenzen erkennen, d. h. er muss bemerken, dass sich »Du« auf dieselbe Person bezieht wie »Giovanni«. Gestützt wird dieser Erkenntnisakt durch die Konversationsregel, dass sich ein Sprecher in Anwesenheit nur einer anderen Person normalerweise an eben diese wendet. Weiterhin führt der Leser eine >e^nsionale Operation< aus, indem er annimmt, dass es sich bei Maria und Giovanni um zwei Personen handelt, die in ein und demselben Zimmer sind. Außerdem wird der Leser das Gesagte mit Hintergrundwissen verbinden, das er beispielsweise aus vorangegangenen Textausschnitten gewonnen haben kann, und er wird Erwartungen in Bezug auf das zukünftige Geschehen entwickeln: Nicht zuletzt lässt das Wort »zurückkehren« darauf schließen, dass sich Giovanni zuvor entfernt hatte, während »ja« und »freudestrahlend« erkennen lassen, dass Maria die Rückkehr freudig, wenngleich auch (noch) nicht zum fraglichen Zeitpunkt, erwartet hatte. Analysen wie diese legen die Einsicht nahe, dass es zum Verstehen einer sprachlichen Einheit nicht ausreicht, einen sprachlichen Code - wir können hier an Saussures >Konstruktionsregeln sprachlicher Elemente< denken - zu beherrschen (vgl. ebd., 65). Um einen Text zu verstehen, müssen wir vielmehr eine Vielzahl inferenzieller Operationen ausführen, die ihrerseits die Beherrschung eines oftmals umfassenden situationsbezogenen (enzyklopädischen) Wissens voraussetzen. Dieser Tatsache muss Eco zufolge in einem angemessen Textmodell Rechnung getragen werden. Die einzelnen Elemente des Textes tragen demnach eine >virtu-elle< Aktualisierungsmöglichkeit in sich, und der Text wird als ein Produkt verstanden, das notwendig auf die Interpretationsakte eines Lesers bezogen ist - oder anders gesagt: Einen Text hervorzubringen bedeutet, »eine Strategie zu verfolgen, in der die vorhergesehenen Züge eines Anderen miteinbezogen werden« (ebd., 65 f.). Eco versucht, diese Einsicht auch für kleinere sprachliche Einheiten, also einzelne Zeichen, fruchtbar zu machen. Zeichen tragen einen >virtuellen Text< in sich, der als Gesamtheit ihrer Aktualisierungsmöglichkeiten verstanden wird. Die Aufgabe einer Theorie der Interpretation besteht u. a. darin anzugeFenTwie- es mögüch ist, dass Texte dennoch zur Kommunikation bestimmter Aussagen verwendet werden können und sich ihr Sinn nicht - in einer >unbegrenz-ten Semiose< - verliert (vgl. ebd., 57). Zentral für strukturalistische/literatursemio-tische Untersuchungen ist die Idee der Wissenschaftlichkeit, d.h. der Anspruch, allgemeinen wissenschaftstheoretischen Standards - etwa der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit, der Widerspruchsfreiheit und der empirischen Überprüfbarkeit von Aussagen - in besonderem Maße gerecht zu werden. Ausgangspunkt ist dabei nicht zuletzt die Abgrenzung von einer traditionellen Jöfcrjne,-neutik etwa Dilthey'scher Prägung, die mit als zu unklar empfundenen Konzepten wie dem >Sinnver-stehen<, der >Einfühlung< oder dem >hermeneu-tischen Zirkel< in Verbindung gebracht wird (vgl. Titzmann 1993, 15-44; Titzmann 2003, insbes. 3036-3039). Der Strukturalismus hat es dagegen in erster Linie mit manifesten sprachlichen Daten zu tun, die gemäß allgemeinen Regeln und auf der Grundlage einer allgemeinen semiotischen Theorie untersucht werden. Zu den einschlägigen wissenschaftlichen Standards gehört weiterhin insbesondere die Forderung nach terminologischer Präzision, weshalb im Rahmen des Strukturalismus eine (von Kritikern gern als übertrieben abqualifizierte) Ejille neuer Begrifflichkeiten eingeführt worden ist. Grundbegriffe: Literarischer Text, Autor, Analyse/Interpretation, Kontext Im Bereich der strukturalistischen Literaturtheorie sind folgende Auffassungen (1) zum Literaturbegriff, (2) zur Rolle des Autors sowie (3) zur Theorie der Interpretation/Analyse charakteristisch. 1. Im Rahmen des Strukturalismus sind verschiedene Versuche unternommen worden, den Literaturbegriff zu definieren. Gesucht wurde dabei nach einem sprachlichen Merkmal der >Literarizi-tät< bzw. >Ppetizität<, das allen literarischen Texten und nur diesen zukommen soll. Das Literarische an der Literatur sollte, mit anderen Worten, ein besonderer Modus der Sprachverwendung,sein, der sich mit linguistischen Mitteln feststellen lässt. Der vielleicht populärste Bestimmungsversuch stammt von 294 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft Mije)to^ 295 Roman Jakobson. In sprachlichen Äußerungen kommen nach Jakobson verschiedene »Funktionen« zur Geltung; so kann beispielsweise ein Sprecher seine emotionale Einstellung gegenüber seiner Nachricht ausdrücken (»emotive« Funktion), dem Empfänger etwas über die Wirklichkeit zu verstehen geben (»referentielle« Funktion) oder ihn zu einer Handlung bewegen wollen (»konative« Funktion; Jakobson 1989,88-95). Für poetische Texte ist nun charakteristisch, dass in ihnen die »poetische« Funktion dominiert. Diese besteht darin, die Aufmerksamkeit des Empfängers auf die sprachliche Struktur der Nachricht selbst zu lenken. Auf die Frage, wodurch sich Poetizität manifestiere, antwortet Jakobson: »Dadurch, daß das Wort als Wort, und nicht als bloßer Repräsentant des benachbarten Objekts oder als Gefühlsausbruch empfunden wird. Dadurch, daß die Wörter und ihre Zusammensetzung, ihre BedeuturigTihre äußere und innere Form nicht nur indifferenter Hinweis auf die Wirklichkeit sind, sondern eigenes Gewicht und selbständigen Wert erlangen.«10 Erreicht wird dies durch den Einsatz sprachlicher Besoiidexheiten, die sich nach strukturalistischem Verständnis als regel-f hafte und gegenüber denjenigen der natürlichen : Ausgangssprache >sekundäre< Beziehungen zwi-:, sehen sprachlichen Elementen beschreiben lassen. Einschlägig sind insbesondere Äquivalenzbeziehungen, die auf mehreren sprachlichen Ebenen auftauchen und sich etwa (phonetisch) als Assonanzen und Reime, (syntaktisch) als Parallelismen oder (semantisch) als Mehrdeutigkeit äußern können. In Jakobsons Worten: »Die poetische Funktion projiziert das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination.« (Jakobson 1989, 94) Das heißt: Äquivalenzbeziehungen finden sich nicht nur auf der Achse des Paradigmas, sondern auch auf der syntagmatischen Achse. Es handelt sich hier um die linguistische Basis der (bereits von Sklovskij postulierten) >Entau-tomatisierung der Wahrnehmung<: Sprachliche Äußerungen werden nicht als bloße Kommunikati- 16 Roman Jakobson: Was ist Poesie? (tschech. 1934). In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Hg. von Elmar Holenstein/Tarcisius Schelbert. Frankfurt a.M.21989,67-82, Zit. 79. onsmittel angesehen, sondern vielmehr als Gegenstand geschärfter Aufmerksamkeit. WáJy^ejr^]akobsQn >Poetizität< am Beispiel ly-rischerTexte erläutert, haben andere Vertreter des Strukturalismusjiac.h^ tation des Literarischen auch in anderen.Gattungen gesucht und dabei strukturale Beziehungen etwa auf der Ebene narrativer Einheiten identifiziert.17 Entsprechende Bestimmungsversuche von Litera-rizität sind indessen recht grundsätzlichen Einwänden ausgesetzt. So ist beispielsweise nicht eindeutig geregelt, was (alles) als strukturale Besonderheit eines Textes gelten kann; irgendwelche linguistischen Strukturen, beispielsweise Äquivalenzen, kann man in so gut wie jedem Text in (fast) beliebiger Anzahl ausmachen. Damit ist zugleich die mit dem Postulat der empirischen Überprüfbarkeit verbundene Idee der Wissenschaftlichkeit in Frage gestellt. Außerdem kann man bezweifeln, dass Äquivalenzen (oder sonstige linguistisch manifeste sprachliche Besonderheiten) notwendige oder hinreichende Kriterien für Literarizität sind. Es gibt sowohl Texte, die wir als literarische bezeichnen würden, obwohl sie entsprechende Merkmale kaum aufweisen (z.B. Dokumentartheater), als auch Texte, die wir nicht als literarische bezeichnen würden, obwohl sie zahlreiche Merkmale der genannten Art aufweisen (z. B. Werbetexte). Die struktura-listische Suche nach einer spezifisch literarischen Sprachverwendung gilt daher heute im Allgemeinen als gescheitert. Die strukturalistischen Textbeschreibungskategorien sind damit natürlich nicht obsolet geworden; ihr Ort wird nur eher in der Textanalyse bzw. -interpretation gesehen und nicht in theoretischen Bestimmungen des Literaturbegriffs (vgl. 1.1.1). í 2. Der Begriff des Autors spielt im Strukturalismus eine untergeordnete Rolle. Dass jeder Text von. mindestens einer Person verfasst wurde, ist ein Gemeinplatz, der nicht bestritten wird. Auch Struktu-ralisten nutzen die Minimalfunktion der Autorzu-schreibung, nämlich die raum-zeitliche Fixierung des Textes, für ihre Analysen: Wann und wo ein Text geschrieben wurde, muss bei der Identifika- 17 Vgl. Tzvetan Todorov: Sprache und Literatur (frz. 1966). In: Ders.: Poetik der Prosa. Frankfurt a. M. 1972, 32-40. tion des sprachlichen Primärcodes, also der Sprache, in der der Text verfasst ist, sowie bei der Selektion relevanter Kontexte berücksichtigt werden. Entscheidend ist gleichwohl, dass die Operationen der Textanalyse den textuellen Aspekten gelten, die sich nach strukturaüstischem Verständnis beschreiben lassen, ohne dass man den Autor erwähnen müsste; Es interessieren die linguistisch manifesten Strukturen, die ein Text aufweist, daraus ableitbare Ordnungsprinzipien, die Rekonstruktion von > Auswahlprozessen* aus einem paradigmatischen Inventar usw. Wer diese Auswahl bei der Konstitution des Textes vorgenommen hat und warum, gilt dagegen nicht als zulässige Fragestellung und wird (als >hermeneutische Altlast<, als unmöglich zu beantworten oder >unwissenschaftlich<) zurückgewiesen (vgl. Genette 1972, 77 f. und 81 f.; Titzmann 2003,3037 und 3090). (' 3./Interpretation* kann im Rahmen des Strukturalismus im Einzelnen recht Verschiedenes heißen - je nachdem, mit welcher Textgattung man es zu tun hat und welchem >Zweig< des sich spätestens in den 1960er Jahren ausdifferenzierenden Strukturalismus man folgt. Eines dieser Verfahren, das am ausführlichsteh von Michael Titzmann beschrieben wurde, wird im folgenden Abschnitt skizziert. Verwiesen sei hier lediglich auf ein weiteres theoretisch-methodisches Interpretationsmodell, nämlich Jurij M. Lotmans Theorie des >(semantischen) Raumes* bzw. des Ereignisses*. Nach Lotman ist 3Te dargestellte Welt eines Textes auf bestimmte Weise organisiert: Bestimmte Dinge - Normen und Sachverhalte - gelten als gewöhnlich und andere nicht. Ein >Ereignis< ist definiert als ein Geschehen, das eine solche textinterne Normalitätsannahme verletzt; es liegt etwa vor, wenn ein Mord geschieht oder eine bislang sesshafte Figur auswandert. Entscheidend ist, dass sich ein Element der Geschichte stets nur relativ zu dem spezifischen semantischen Strukturfeld eines Textes bestimmen lässt: Ein Mord ist nur dann ein Ereignis, wenn man dergleichen im Allgemeinen nicht tut. Lotman zufolge werden Erdgiussje_eme£seits zumeist durch räumliche Vorstellungen angezeigt (z.B. ist die Normverletzung mit einer Ortsveränderung verbunden oder die Ortsveränderung stellt eine Normverletzung dar). Andererseits werden Normverletzungen oder Statusänderungen vermittels räumlicher Me- taphern zum Ausdruck gebracht; entsprechend definiert Lotman »Ereignis« als »die Versetzung einer Figur über die Grenze eines semantischen Feldes« '(Lotman l&t'i, äii). Ďie KeEôňs&ulčBon von >Er- / eignissen< ist nach Lotman eine der Hauptaufgaben j der Interpretation. Das Verhältnis von^Anályšé und Interpretation kann im Rahmen des Strukturalismus unterschiedlich bestimmt werden. So können beide Ausdrücke gleichbedeutend gebraucht werden: Eine Interpretation^ ist dann nichts anderes als eine >strukturale Textanalyse* (Titzmann). Eine andere Möglichkeit besteht darin, den Analysebegriff für Beschreibungen linguistischer Daten zu reservieren und > von Interpretationen abzugrenzen, die Bedeutungszuweisungen vornehmen und sich von der Untersuchung textinterner Strukturen entfernen. Eine solche Abgrenzung ist dann oft mit einer Aufwertung der Textanalyse (als wissenschaftlich, exakt, objektiv) bei gleichzeitiger Abwertung der Interpretation verbunden; die Ergebnisse der Analyse können jedoch auch als Basis einer Interpretation konzipiert werden (vgl. II.5.1). Als besonders fruchtbar können hier erzähltheoretische Analysen gelten: Für die literaturwissenschafüiche Erzähltheorie (Narratplogie) grundlegend sind die Arbeiten von Gérard Genette, der die Ergebnisse struk-turalistischer Erzählforschung zu einem differenzierten Modell ausgearbeitet hat (Genette 1994; vgl. II.2.5). Strukturalistisch untersuchen kann man ferner nicht nur Einzeltexte, sondern auch größere Textkorpora, beispielsweise literarische Gattungen. In solchen Studien wird der Begriff der >]iterarisj:hgn, Reihe< zugrunde gelegt, der aus dem Russischen Formalismus stammt und auf den literaturgeschichtlichen Zusammenhang zielt, in dem einzelne Werke stehen: Einzelne Texte werden durch eine >interne Funktion* in ihren Elementen zusam-» mengehalten, während eine >externe, literarische Funktion* sie mit den ihnen vorangehenden und nachfolgenden Texten verbindet.18 Die entsprechenden Untersuchungen können nicht nur syn- 18 Vgl. Jurij Tynjanov: Über die literarische Evolution [1927]. In: Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1971,433-461. 296 Theorien Textorientierte Theorien und Methoden 297 chron, sondern auch diachron angelegt sein: Im letzteren Falle wird der literarische Strukturwandel, etwa die Transformationen einer Gattung innerhalb einer bestimmten Zeitspanne, analysiert.19 Methode des Interpretierens Im Rahmen des Strukturalismus sind ausführlich dargestellte Methoden der Textanalyse und -interpretation entwickelt worden, in denen das oben vorgezeichnete literaturtheoretische Beschreibungsinventar zur praktischen Anwendung kommt. Eine solche Methodologie kann die Form expliziter Interpretationsregeln annehmen und erfüllt dann eine zweifache Funktion: Einerseits werden auszuführende Analyse- bzw. Interpretationsoperalionen benannt, d.h. es~wlr3 angegeben, was man tun muss, wenn man analysiert bzw. interpretiert (vgl. etwa Lotman 1993, 141 f.); andererseits formulieren Interpretationsregeln Standards des gelungenen Analysierens/Interpretierens, d.h. sie geben an, wann eine Analyse/Interpretation als erfolgreich gelten kann und wann nicht. In Michael Titzmanns grundlegendem Buch Strukturale Textanalyse (1977/1993) werden nicht weniger als 114_s.olcb.er Regeln benannt und diskutiert. Hier kann es lediglich darum gehen, wesentliche Bestandteile einer typischen strukturalen Textanalyse und -interpretation zu skizzieren. Das Ziel der strukturalen Textanalyse besteht in der Ermittlung der »semantische[n] Organisation des Textes als eines sekundären Bedeutungssystems« (ebd., 404). In einem ersten Schritt kann der Interpret eine erste Gliederung seines Textes in syntaktische Einheiten (etwa Strophen, Kapitel, Abschnitte) und semantische Segmente (etwa Orte, Figuren, Figurencharakteristika, Handlungselemente) vornehmen. Sodann muss er nach deren (syntagmatischer) Verteilung und (paradigmatischen) >Selektionsmechanismen< Ausschau halten und Beziehungsmuster auf beiden Ebenen sowie 19 Vgl. Michael Titzmann: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft. In: Ders:. (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, 395-438. zwischen ihnen identifizieren. Im Einzelnen heißt das u.a.: Die >Textwelt< eines literarischen Textes kann auf unterschiedliche Weise >strukturiert< sein; typischerweise lassen sich Äquivalenzen oder Oppositionen, beispielsweise auf der Ebene der Figuren ausmachen (d. h. die Charakteristiken der Figuren stehen in verschiedenen Hinsichten in Einklang miteinander oder eben nicht). Um diese Beziehungen herauszufinden, muss der Interpret beachten, mit welchen Ausdrücken eine Figur geschildert ist und mit welchen nicht und welche Aspekte der Figur beschrieben sind und welche nicht. Der Text repräsentiert eine >Wahl aus Alternativem aus dem Repertoire der Ausgangssprache, aber auch aus poe-tologischen, ideologischen oder sonstigen durch Zeichen vermittelten Systemen (vgl. Titzmann 2003, 3045-3047). An dieser Stelle treten zwei unterschiedliche Probleme auf: dasjenige interpretationsrelevanter Kontexte und dasjenige relevanter >Textentscheidungen<. In Bezug auf das Kontextproblem muss sich der Interpret einerseits im paradigmatischen Repertoire der (natürlichen) Ausgangssprache auskennen, in der sein Untersuchungsobjekt verfasst ist (vgl. 1.9.1 und II.2.12), und andererseits über kulturelles Wissen verfügen. Letzteres ist eine Voraussetzung dafür, dass man über die >Signifikanz< der vorliegenden >Wahl aus Alternativem entscheiden und die mit einem bestimmten Ausdruck oder einer bestimmten Charakterisierung verbundenen Konnotationen erschließen kann. Das Problem der Relevanz ist oben bereits angesprochen worden: Sprachliche Daten kann man meist in Hülle und Fülle erheben, aber nicht alles, was man erheben kann, ist auch einschlägig. Titzmann versucht, diesem Problem zu begegnen, indem er verschiedene Grade der Signifikanz von Daten unterscheidet: Besonders signifikant sind einerseits Abweichungen, von denen man spricht, wenn ein Text gegen eine textintern etablierte oder textexterne Norm verstößt, sowie andererseits, das wiederholte Auftreten eines Textelements (Rekur-, renzen). Neben der Auswahl der Elemente, aus denen ein Text besteht, ist deren syntaktische Distribution (Verteilung) signifikant (vgl. ebd., 3053 f.). Potenziell bedeutsam ist, an welcher Stelle im Text und in welchem Kontext ein bestimmtes Element auf- taucht, wie oft es auftaucht und dergleichen mehr. Grundsätzlich gilt, dass die (paradigmatische) >WahJ.aus Alternativem und die syntaktische Distribution aufeinander bezogen werden sollen, wobei besonders Homologien (traditionell oft als Entsprechungen von >Form< und >Inhalt< beschrieben) signifikant sind (vgl. ebd., 3054 f.). Vereinfachend kann man sagen: Die Beschreibung einer semantischen Ebene eines Werkes, beispielsweise der Figurenebene, sollte von möglichst vielen (signifikanten) sprachlichen Daten gestützt werden, die etwa von einer gattungstypologischen, narratolo-gischen oder metrischen Analyse zutage gefördert werden können. Eine vollständige Analyse dieser Art würde sämtliche Textebenen einbeziehen und ein komplettes Modell des Textes - d.h. die Darstellung sämtlicher Textelemente und -relationen sowie Bedeutung generierende Selektions- und Distributionsmechanismen - zum Ergebnis haben. Der Text wäre dann im Sinne eines »sekundären Bedeutungssystems« verstanden: als ein System, das auf nachvollziehbare Weise Bedeutungen schafft, die über diejenigen des primären Bedeutungssystems (der natürlichen Ausgangssprache) hinausgehen. Literatur Albrecht, Jörn: Europäischer Strukturalismus. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick [1988]. Tübingen/ Basel 22000. Barthes, Roland: Die strukturalistische Tätigkeit (frz. 1963). In: Hans Magnus Enzensberger (Hg.): Kursbuch 5 (1966), 190-196. Eco, Umberto: Lector in Fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München 31998. Genette, Gerard: Strukturalismus und Literaturwissenschaft (frz. 1966). In: Heinz Blumensath (Hg.): Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln 1972,71-88. Genette, Gerard: Die Erzählung. München 1994 (frz. 1972). Jakobson, Roman: Linguistik und Poetik (engl. 1960). In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921-1971. Hg. von Elmar Holenstein/Tarcisius Schelbert. Frankfurt a.M.21989,83-121. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München 41993 (russ. 1970). Matthews, Peter H.: A Short History of Structural Linguistics. Cambridge 2001. Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Hg. von Charles Bally/Albert Se-chehaye unter Mitwirkung von Albert Riedlinger. Berlin/New York 32001 (frz. 1916). Titzmann, Michael: Strukturale Textanalyse. Theorie und Praxis der Interpretation [1977]. München 31993. Titzmann, Michael: Semiotische Aspekte der Literaturwissenschaft: Literatursemiotik. In: Roland Posner/ Klaus Robering/Thomas A. Sebeok (Hg.): Semiotikl Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. Berlin/New York 2003,3. Teilbd., 3028-3103. 5.2.2 Dekonstruktion Die Dekonstruktion gilt allgemein als eine post-strukturalistische Theorie. >Poststrukturalismus< ist die nicht sehr klar bestimmte Bezeichnung für eine Gruppe philosophischer, semiotisch ausgerichteter Theorien und deren Anwendungen in verschiedenen, in aller Regel kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Mit dem Strukturalismus benennt diese Bezeichnung eine wichtige Bezugstheorie, an die die Vertreter dieser Richtung anschließen und von der sie sich zugleich abgrenzen. Ein zweiter, nicht minder kritisierter Bezugspunkt ist die Hermeneutik. Zu den >poststrukturalistisch< genannten Ansätzen zählen vor allem die Diskursanalyse Michel Foucaults, die^trukturale Psychoanalyse Jacques Lacans sowie die auf Jacques Der-rida zurückgehende Dekonstruktion. Im - teilweise durchaus kritischen - Anschluss an diese >Meisterdenker< sind mehrere Varianten post-strukturalistischer Ansätze erarbeitet worden, etwa im Rahmen der Gender Studies und der Cul-tural Studies, und in der literaturwissenschaftlichen Praxis finden sich zahlreiche Bezugnahmen auf poststrukturalistische Annahmen, die nicht immer in einen kohärenten Theorierahmen eingebettet sind. Der gemeinsame Nenner poststruktu-ralistischer Ansätze liegt in der Verwendung eines bestimmten Zeichenkonzepts, das die Annahme einer festen Verbindung von Signifikant und Signifikat und damit die Möglichkeit der Rekonstruktion einer stabilen Bedeutung verneint. Von diesem Zeichenkonzept werden, auf unterschied- 298 Theonen und M Textorientierte Theorien und Methoden 299 liehe Weise, erkenntnis- wie auch subjektkritische Positionen abgeleitet.20 Die literaturwissenschaftliche Dekonstruktion geht auf das Werk des französischen Philosophen Jacques Derrida zurück. Dessen Philosophie steht in der Tradition Nietzsches und Heideggers, insofern auch Derrida die metaphysischen Annahmen aufzudecken sucht, die unseren alltäglichen, philosophischen und wissenschaftlichen Auffassungen zugrunde liegen. Das Kunstwort >Dekonstruktion< (frz. deconstruetiori) soll eben dies zum Ausdruck bringen: Es meint nichts weniger als »ein Niederreißen des Mauerwerks abendländischen Geistes nicht in der Absicht, es zu zerstören, sondern die Baupläne desselben freizulegen und angesichts seiner Krise eventuell neu und anders wieder aufzubauen (re-fconstruieren)«.21 JJr_sjOTnjdjch_ ist die Dekonstruktion also kein literaturwissenschaftlichesi Vej&hrej^ Obwohl Defrl3ä~'seTbst auch literarische Texte der Dekonstruktion unterzogen hat, sind es vor allem amerikanische Literaturwissenschaftler gewesen - namentlich die Yale Critics der ersten Stunde, J. Jäillis Miller, Geoffrey Hartman und Pj(ul.de,Man -, die in den 1970er und 1980er Jahren für eine Popularisierung der Philosophie Derridas in der Literaturwissenschaft gesorgt haben. Ihnen ging es fortan nicht so sehr darum, die fundamentalen Strukturen >des abendländischen Geistes< freizulegen und zu rekonstruieren, sondern Strukturen literarischer Texte. Wie nicht anders zu erwarten, ging und geht mit dieser Popularisierung eine Veränderung des philosophischen Gehalts der Dekonstruktion einher: Nicht alles, was zum etablierten Repertoire der literaturwissenschaftlichen Dekonstruktion gezählt werden kann, kann tatsächlich in Derridas Werk belegt werden. 20 Vgl. Johanna Bossinade: Poststrukturalistische Literaturtheorie. Stuttgart u. a. 2000, Kap. II.2. 21 Manfred Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer >postmodernen< Toterklärung. Frankfurt a.M. 1986,8. Bezugstheorie und Rahmenannahmen Die wichtigste philosophische Rahmenannahme der Dekonstruktion besteht (1) in einem bestimmten Sprach- bzw. Zeichenverständnis, das (2) mit spezifischen erkenntnistheoretischen Annahmen einhergeht. Aus ihnen ergeben sich (3) bestimmte Annahmen zum Status der Dekonstruktion als >Theorie< bzw. >Mefhode<. 1. Das dekonstruktivistische Zeichenverständnis beruht auf Überlegungen des schweizerischen Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure (2001; vgl. II.5.2.1). Nach Saussure bestehen sprachliche Zeichen aus zwei Bestandteilen: einer _>Aus-drucks-< und einerjInhaltsseite«, d.h. einer Phonem- oder Graphemfolge und einem Vorstellungsbzw. Bedeutungskomplex. Der Zusammenhang zwischen Phonem- oder Graphemfolge und Bedeutung ist dabei in zwei Hinsichten arbiträr: Zum einen ist nicht von Natur aus festgelegt, was für eine Phonem- bzw. Graphemfolge in einer Sprache verwendet wird, um eine bestimmte Bedeutung zu bezeichnen; so wird beispielsweise im Deutschen das Wort »Junggeselle« und im Englischen das Wort »bachelor« verwendet, um den Bedeutungskomplex >unverheirateter Mann im heiratsfähigen Alten zu bezeichnen. Zum anderen ist nicht von Natur aus festgelegt, in welcher Weise das Begriffsrepertoire einer Sprache die Wirklichkeit aufteilt. Um es lax auszudrücken: Die Natur sagt uns nicht, dass wir bestimmte Gegenstände in einer Klasse zusammenfassen und beispielsweise als >Junggeselle< bezeichnen sollen. Ob eine solche Klasse gebildet wird, hat vielmehr etwas mit den sonstigen Begriffen zu tun, über die die Sprache verfügt, und ist insofern abhängig vom Sprachsystem, das als Ganzes eine begriffliche Aufteilung der Wirklichkeit leistet. jEin einzelner Begriff, so Saussures Idee, konstituiert sich in Abgrenzung zu anderen Begriffe^, die auf andere Wirklichkeitsbereiche zutreffen (vgl. ebd., 132-146). Entsprechend können unterschiedliche Sprachen die Welt in unterschiedlicher Weise begrifflich >aufteilen<. Wenn man die >Inhaltsseite< eines Zeichens als dessen >Bedeutung< ansieht, so kann man sagen, dass die Bedeutung eines Zeichens nach Saussure in zweierlei Hinsicht arbiträr ist: Weder ist naturgegeben, welche Bedeutung mit welcher Phonem- oder Graphemfolge verbunden ist, noch ist naturgegeben, wie die Binnenauftei-f hing des Begriffsrepertoires einer Sprache aussieht. In der Dekonstruktion wird der Begriff der >Ab-xgrenzung< zwischen verschiedenen Begriffen nun" auTvöÜigneue Weise verstanden. Auch Derrida argumentiert, dass sich die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens erst durch die »Differenz« zu anderen Zeichen ergebe. Damit meint er jedoch etwas anderes als Saussure (vgl. Derrida 1974, 49-129). Derrida versteht die Differenz zwischen Begriffen als »Aufschub«, wobei sowohl räumliche als auch zeitliche Metaphern eine Rolle spielen: Erstens ist uns die B^eutum^ein^sZeichens nie gegeben«, da sie stets >anderswo<, d. h. in Abgrenzung zur Bedeutung anderer Zeichen, entstehe. So etwas wie die »Präsenz« der Bedeutung eines Zeichens - eine Bedeutung, die mir als fest umrissene vor dem geistigen Auge< steht und über die ich sozusagen hier und jetzt verfügen kann - gibt es demnach nicht (vgl. Derrida 1986,56; vgl. auch Derrida 1988,299-301). Zweitens kommen wir bei dem Versuch, die Bedeutung eines Zeichens festzustellen, nie an ein Ende, da wir stets neue Begriffe zur >Abgrenzung< heranziehen können. Statt auf wohl bestimmte Be-lleufungen stoßen wir bei dem Versuch, die >Gren-zen< eines Begriffs zu bestimmen, auf ein endloses »Spiel« bzw. die unendliche »Spur«; einer Bedeutung, die wir nie einholen können und die sich überdies auch nicht durch den Verweis auf eine nicht-sprachliche Wirklichkeit festschreiben lässt (vgl. Derrida 1986, 56 und 67 f.; Derrida 1988, 29-52). Die dekonstruktivistische Bedeutungstheorie ist >anti-essentialistisch<, insofern sie bestreitet, dass sich Begriffe (durch ein bestimmtes Set anderer Begriffe) klar definieren lassen, und sie ist keine sprachliche >Abbildtheorie<, insofern sie bestreitet, dass es ein naturgegebenes Abbildungsverhältnis zwischen sprachlichen Zeichen und der Welt gibt. Mit beiden Konzepten wendet sich die dekonstruktivistische Sprachtheorie gegen den.yon Derrida so genannten abendländischen >Logozentrismus<: die Vorstellung, dass bestimmte Ausdrücke die Wirklichkeit unmittelbar >präsent< machen und die Wirklichkeit genau und umfassend repräsentieren (vgl. Ellis 1989, 36 f.). Die Kritik am >Logozentris-mus< ist insofern keine rein sprachphilosophische Angelegenheit; sie betrifft ebenso die Frage, was wir über die Welt wissen können bzw. für wahr halten, und hat insofern erkenntnistheoretische Implikationen. 2. Einer - nicht nur unter Dekonstruktivisten -verbreiteten Vorstellung zufolge ist uns die Welt nicht unmittelbar >gegeben<, sondern die Weisen, auf die wijjdiefWelt wahrnehmen und uns verständlich machen, sind in weiten Teilen von den Konturen unserer begrifflichen Ressourcen abhängig. Es ist demzufolge beispielsweise sinnlos, so zu tun, als könnten wir gleichsam unvoreingenommen >in der Welt nachsehen«, was es mit >der Natur< auf sich habe, denn wir sind stets in dem, was wir für Natur halten, durch bestimmte Vorannahmen geleitet, die der Struktur unserer Sprache und unseres Denkens innewohnen (vgl. Derrida 1986,55). Diese yörannahme'n^aben nach dekonstruktivistischem Verständnis die logische Form von Oppositionen, denen zudem eine wertende Hierarchie innewohnt: >Natur< verstehen wir als das, was der >Kultur< entgegengesetzt und beispielsweise >primi-tiv< und >ursprünglich< ist (vgl. Derrida 1988, 313 f.).22 Solche Vorannahmen basieren nicht auf >natürlichen< Fakten; sie sind >metaphysisch< in dem Sinne, dass sie jeder Erfahrung prinzipiell vorausliegen und diese strukturieren. Wir übernehmen sie, indem wir das begriffliche Inventar einer Sprache erlernen und sind fortan sozusagen von einer bestimmten (eben Hogozentristischem) Sicht der Dinge gefangen. Folgt man Derrida, so finden sich metaphysische Vorannahmen (problematische Oppositionen und Hierarchien) überall in unserer Sprache. Deshalb können wir ihnen auch nicht entkommen: Der Versuch, einen Fixpunkt zu finden, einen Bereich, der gleichsam außerhalb des >diffe-renziellen Spiels< der Sprache liegt und von dem aus wir unsere Sprache neu und sozusagen unverfänglich strukturieren könnten, muss notwendig scheitern (vgl. etwa Derrida 1986, 50).Jedet_Ver-such, gegen die Sprache vorzugehen, bedient sich der Sprache und wiederholt das Problem, das es zu beheben galt, und ist überdies Ausdruck der(>Metax physik der Präsenz?; 22 Vgl. Jonathan Culler: Introduction. In: Ders.: (Hg.): Deconstruction. Critical Concepts in Literary and Cultural Studies. London/New York 2003, Bd. 1, 1-19, hier 5. 300 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft Textorientierte Theorien und Methoden 301 3. Aus dem Gesagten kann man ableiten, weshalb die Dekonstruktion von ihren Anhängern weder als Theorie noch als Methode verstanden wird. Mit dem Ausdruck >Theorie< ist die Vorstellung einer klaren Bestimmung von Begriffen verbunden: Eine Interpretationstheorie klärt beispielsweise den Begriff der Bedeutung, eine Literaturtheorie den des literarischen Werks. Doch die Möglichkeit klarer Definitionen wird von.Djekonstiffilvisten ja gerade bestritten (vgl. Ellis 1989, 29 und 142). Überdies lässt sich der Ausdruck^TheOTJe< im Rahmen einer dekonstruktivistischen Argumentation leicht kritisieren: Der Ausdruck suggeriert, dass es eine klare Trennung zwischen dem Gegenstandsbereich der Theorie (der >Objektebene<) und der Theorie selber (der >Metaebene<) gebe - Letzterer ist demnach ein System von Aussagen über Erste-ren und daher von diesem verschieden (vgl. Spree 1995, 141 f.). Eben diese Voraussetzung zieht die Dekonstruktion allerdings gerade in Zweifel. Die Sprache der Theorie ist (auch) Gegenstandsbereich der Theorie - oder um es dekonstruktivistisch zu sagen: Die als hierarchisch aufgefasste Opposition zwischen Theorie und Gegenstandsbereich (als >nicht-Theorie<) ist Resultat bestimmter (theoretischer) Annahmen, die man keinesfalls teilen muss. Das Konzept einer >Methode< kommt kaum besser weg. Auch hier handelt es sich nach dekonstruktivistischer Auffassung um einen Ausdruck, der suggeriert, wir könnten der begrifflichen Ordnung der Sprache >methodisch< gesichert zu Leibe rücken, indem wir uns mit dem, was wir eigentlich meinen, der Sprache gegenüberstellen und sie untersuchen. Nach dekonstruktivistischer Auffassung ist das nicht möglich. Statt von einer >theoretisch< bestimmbaren >Methode< zu sprechen, scheint es vielen Dekonstruktivisten daher unverfänglicher zu sein, die Dekonstruktion als >Praxis< zu begreifen. Derrida selbst geht freilich auch dies nicht weit genug: »Deconstruction takes place, it is an event that does not await the deliberation, consciousness, or Organization of a subject, or even of modernity. It deconstructs it-self.« (Derrida 2003,26) Welchen Zweck jedoch soll der Versuch einer Darstellung theorie- und methodenbezogener Annahmen eines Ansatzes haben, der sich als dezi-diert anüxtheoretisch und anti-methodisch versteht? Auf diese Frage gibt es eine rnterhe und eine externe Antwort: Wenn man die skizzierten dekonstruktivistischen Rahmenannahmen für richtig hält, dann muss man das Programm einer rationalen Rekonstruktion der Dekonstruktion vielleicht tatsächlich für verfehlt halten. Das heißt jedoch noch nicht, dass man diese Rahmenannahmen nicht von außen, d.h. als jemand, der die Rahmenannahmen nicht bereits teilt, rekonstruieren und beurteilen kann. Aus dieser Perspektive sind die skizzierten Annahmen über die Struktur der Sprache, die Grenzen unserer Erkenntnis oder die Möglichkeit der Trennung von Objekt- und Metaebene keinesfalls von vornherein richtig und unantastbar, sondern es handelt sich um Annahmen, die - wie andere Annahmen auch - der Rekonstruktion und Kritik zugänglich sind. Wer die Möglichkeit einer solchen kritischen Außenperspektive bestreitet, immunisiert die Dekonstruktion nicht nur gegen Kritik; er verabschiedet sie zugleich aus dem rationalen Diskurs der Wissenschaft und verleiht ihr den Status einer quasi-religiösen, dogmatischen Doktrin, deren fundamentale Glaubensüberzeugungen von der Forderung nach rationaler Begründung ausgenommen sind.23 Grundbegriffe: Literarischer Text, Interpretation, Bedeutung, Autor Die Rahmenannahmen der Dekonstruktion haben erhebliche Auswirkungen auf ihre Konzeptionen der literaturwissenschaftlichen Kernbegriffe (1) >Literatur<, (2) > Interpretation und >Bedeutung< sowie (3) >Autor<. Dabei findet man, wie nicht anders zu erwarten, in dekonstruktivistischen Texten kaum klare Begriffsbestimmungen. Vielmehr konzentriert sich das dekonstruktivistische Bemühen oft auf den Nachweis, dass vorgeschlagene Definiti-, onen zu kurz greifen (bzw. dekonstruiert werden können), oder auf die Behauptung, dass der Versuch einer Definition schwierig oder unmöglich ist (in Bezug auf den Literaturbegriff vgl. Derrida 2006, besonders 96-100). Dennoch kann man eine Reihe von Beobachtungen über dekonstruktivistische Konzeptionen der fraglichen Begriffe machen: 23 Vgl. Franz von Kutschera: Vernunft und Glaube. Berlin/New York 1991, besonders 4f. und 10f. (j^Xn Bezug auf den Literaturbegriff fällt auf, dass die Unteracheidang zwischen literarischen und nicht-literarischen^ ebd. sowie bereits Derrida 1986, 30). In Texten, die als >literarisch< bezeichnet werden, sind demnach dieselben sprachlichen >Kräfte< oder >Mechanismen< am Werk wie in nicht-literarischen Texten. Abgelehnt wird ferner das Konzept eines literaris3iiri WArWjitiri Sjffln«» (harmnnisrh) gpsrhinssgnpn Ganzheit, die Gegenstand einer kohärenten Interpretation sein kann. Weder gelten die Identitätsbedingungen literarischer Werke als klar bestimmbar (d.h., es lässt sich nicht angeben, was zu einem Werk gehört und was nicht), noch werden sie als Träger einer klar umrissenen Bedeutung oder als interpretierbar angesehen. Der Begriff des literarischen >Werkes< wird im Rahmen der Dekonstruktion, wie~äücK schon in )C Varianten des Strukturalismus, daher oft durch den des >Tj2xte.§< ersetzt. Einschlägig ist hier eine Formulierung Roland Barthes', der sich in Bezug auf das Jextverständnis mit den Dekonstruktivisten trifft: Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefasst hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe - dieser Textur - verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge. (Barthes 1974,94; vgl. Spree 1995,163-167) Die Beschreibung der Auflösung der Identitätsbedingungen von Texten wird hier u. a. dadurch ermöglicht, dass in die Bestimmung des Textbegriffs der dekonstruktivistische Zeichen- und Bedeutungsbegriff einbezogen werden: Weil die Bedeutung sprachlicher Zeichen weder durch den Autor des Textes noch auf irgendeine sonstige Weise festgelegt werden kann, kann auch die Identität des Textes nicht kontrolliert werden. In Derridas Terminologie: Das >differenzielle Spiel der Zeichen< endet nicht an vermeintlichen Textgrenzen, sondern setzt sich mit jeder neuen Kontextualisierung eines Zeichens fort. (_2/Der Begriff der Interpretation wird im Rahmen der Dekonstruktion zumeist als mit dem Be- griff des literarischen Werkes verbunden aufgefasst und ebenfalls abgelehnt: Wenn ein Text keine klar umrissene Bedeutung hat, dann kann man diese Bedeutung auch nicht in einem Akt der Interpretation ans Licht fördern. An die Stelle: der Interpreta-tiffitLtritt daher die Dekonstruktion - verstanden als Vorgang oder Tätigkeit - bzw. die (dekonstrük-trvistische) >Lektüre< eines Textes.24 Auch für das Konzept der Lektüre ist die dekonstruktivistische Zeichen- bzw. Bedeutungstheorie wichtig. Was Derrida über die Bedeutung (einzelner) sprachlicher Zeichen gesagt hat, wird nunmehr auf Texte - verstanden entweder als Zeichenketten oder aber als komplexe Zeichen - übertragen. 3. Wenn ein Autor einen Text produziert, so kann er dessen Bedeutung nicht kontrollieren. Entsprechend können sich Versuche, einen Text zu verstehen, nicht auf die Absichten oder Intentionen des Autors beziehen: Weder ist es ein legitimes Ziel, herausfinden zu wollen, was ein Autor mit dem Einsatz "eines bestimmten Textelements bezweckt hat, noch kann man Interpretationshypothesen begründen, indem man darauf hinweist, dass es sich um eine plausible Hypothese über kommunikative (ästhetische oder sonstige) Wirkungsabsichten eines Autors handelt. Insofern stimmen dekonstruktivistische Auffassungen über die Nicht-Inter-pretierbarkeit von Texten mit der poststrukturalis-tischen These vom >Tod des Subjekts< überein, die im Rahmen der Literaturwissenschaft insbesondere mit Autor-kritischen Abhandlungen Michel Foucaults und Roland Barthes' in Verbindung gebracht worden sind (vgl. II.5.5.2).25 Methode des wissenschaftlichen Umgangs mit Literatur Auch wenn sich dekonstruktivistische Lektüren als anti-methodisch verstehen, kann man - in der Position des Beobachters - nach Regelmäßigkeiten 24 Vgl. Simone Winko: Lektüre oder Interpretation? In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49. Jg., 2 (2002), 128-141. 25 Vgl. Peter Lamarque: The Death of the Author: An Analytical Autopsy. In: British Journal of Aesthetics 30. Jg., 4 (1990), 319-331. 300 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft Jextorjentierte Theorien und Methoden 301 3. Aus dem Gesagten kann man ableiten, weshalb die Dekonstruktion von ihren Anhängern weder als Theorie noch als Methode verstanden wird. Mit dem Ausdruck >Theorie< ist die Vorstellung einer klaren Bestimmung von Begriffen verbunden: Eine Interpretationstheorie klärt beispielsweise den Begriff der Bedeutung, eine Literaturtheorie den des literarischen Werks. Doch die Möglichkeit klarer Definitionen wird von Detenstrülitivisteri ja gerade bestritten (vgl. Ellis 1989, 29 und 142). Überdies lässt sich der Ausdruck >Theorie< im Rah-men einer dekonstruktivistischen Argumentation leicht kritisieren: Der Ausdruck suggeriert, dass es eine Warfi^erminig zwischen dem Gegenstandsbereich jder Theorie,„(der >Objektebene<) und der Theorie selber (der >Metaebene<) gebe - Letzterer ist demnach ein System von Aussagen über Erste-ren und daher von diesem verschieden (vgl. Spree 1*1995, 141 f.). Eben diese Voraussetzung zieht die ' Dekonstruktion allerdings gerade in Zweifel. Die Sprache der Theorie ist (auch) Gegenstandsbereich der Theorie - oder um es dekonstruktivistisch zu sagen: Die als hierarchisch aufgefasste Opposition zwischen Theorie und Gegenstandsbereich (als >nicht-Theorie<) ist Resultat bestimmter (theoretischer) Annahmen, die man keinesfalls teilen muss. Das Konzept einer >Methode< kommt kaum besser weg. Auch hier handelt es sich nach dekonstruktivistischer Auffassung um einen Ausdruck, der suggeriert, wir könnten der begrifflichen Ordnung der Sprache >methodisch< gesichert zu Leibe rücken, indem wir uns mit dem, was wir eigentlich meinen, der Sprache gegenüberstellen und sie untersuchen. Nach dekonstruktivistischer Auffassung ist das nicht möglich. Statt von einer >theoretisch< bestimmbaren >Methode< zu sprechen, scheint es vielen Dekonstruktivisten daher unverfänglicher zu sein, die Dekonstruktion als >Praxis< zu begreifen. Derrida selbst geht freilich auch dies nicht weit genug: »Deconstruction takes place, it is an event that does not await the deliberation, consciousness, or Organization of a subject, or even of modernity. It deconstructs it-self.« (Derrida 2003,26) Welchen Zweck jedoch soll der Versuch einer Darstellung theorie- und methodenbezogener Annahmen eines Ansatzes haben, der sich als dezi-diert anti-theoretisch und anti^methodisch versteht? Auf diese Frage gibt es eme~M"erne und eine externe Antwort: Wenn man die skizzierten dekonstruktivistischen Rahmenannahmen für richtig hält, dann muss man das Programm einer rationalen Rekonstruktion der Dekonstruktion vielleicht tatsächlich für verfehlt halten. Das heißt jedoch noch nicht, dass man diese Rahmenannahmen nicht von außen, d.h. als jemand, der die Rahmenannahmen nicht bereits teilt, rekonstruieren und beurteilen kann. Aus dieser Perspektive sind die skizzierten Annahmen über die Struktur der Sprache, die Grenzen unserer Erkenntnis oder die Möglichkeit der Trennung von Objekt- und Metaebene keinesfalls von vornherein richtig und unantastbar, sondern es handelt sich um Annahmen, die - wie andere Annahmen auch - der Rekonstruktion und Kritik zugänglich sind. Wer die Möglichkeit einer solchen kritischen Außenperspektive bestreitet, immunisiert die Dekonstruktion nicht nur gegen Kritik; er verabschiedet sie zugleich aus dem rationalen Diskurs der Wissenschaft und verleiht ihr den Status einer quasi-religiösen, dogmatischen Doktrin, deren fundamentale Glaubensüberzeugungen von der Forderung nach rationaler Begründung ausgenommen sind.23 Grundbegriffe: Literarischer Text, Interpretation, Bedeutung, Autor Die Rahmenannahmen der Dekonstruktion haben erhebliche Auswirkungen auf ihre Konzeptionen der literaturwissenschaftlichen Kernbegriffe (1) >Literatur<, (2) >Interpretation< und >Bedeutung< sowie (3) >Autor<. Dabei findet man, wie nicht anders zu erwarten, in dekonstruktivistischen Texten kaum klare Begriffsbestimmungen. Vielmehr konzentriert sich das dekonstruktivistische Bemühen oft auf den Nachweis, dass vorgeschlagene Definitionen zu kurz greifen (bzw. dekonstruiert werden können), oder auf die Behauptung, dass der Versuch einer Definition schwierig oder unmöglich ist (in Bezug auf den Literaturbegriff vgl. Derrida 2006, besonders 96-100). Dennoch kann man eine Reihe von Beobachtungen über dekonstruktivistische Konzeptionen der fraglichen Begriffe machen: 23 Vgl. Franz von Kutschera: Vernunft und Glaube. Berlin/New York 1991, besonders 4 f. und 10 f. {jiÜn Bezug auf den Literaturbegriff fällt auf, dass die Unterscheidung zwischen literarischen und nicht-uterarischen Tertej,i^eje£iäjüwirä (vgl e6d. sowie bereits Derrida 1986, 30). In Texten, die als >literarisch< bezeichnet werden, sind demnach dieselben sprachlichen >Kräfte< oder >Mechanismen< am Werk wie in nicht-Uterarischen Texten. Abgelehnt wird ferner das Konzept eines UterarisdKen Werkes mi Sinne einer (harmonisch) geschlossenen Ganzheit, die Gegenstand einer kohärenten Interpretation sein kann. Weder gelten die Identitätsbedingungen literarischer Werke als klar bestimmbar (d.h., es lässt sich nicht angeben, was zu einem Werk gehört und was nicht), noch werden sie als Träger einer klar umrissenen Bedeutung oder als interpretierbar angesehen. Der Begriff des literarischen >Werkes< wird im Rahmen der Dekonstruktion, wieäücTTschon in ^C. Varianten des Strukturalismus, daher oft durch den des >Textes< ersetzt. Einschlägig ist hier eine Formulierung Roland Barfhes', der sich in Bezug auf das Textverständnis mit den Dekonstruktivisten trifft: Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefasst hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe - dieser Textur - verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge. (Bar-thes 1974,94; vgl. Spree 1995,163-167) Die Beschreibung der Auflösung der Identitätsbedingungen von Texten wird hier u. a. dadurch ermöglicht, dass in die Bestimmung des Textbegriffs der dekonstruktivistische Zeichen- und Bedeutungsbegriff einbezogen werden: Weil die Bedeutung sprachlicher Zeichen weder durch den Autor des Textes noch auf irgendeine sonstige Weise festgelegt werden kann, kann auch die Identität des Textes nicht kontrolliert werden. In Derridas Terminologie: Das >differenzielle Spiel der Zeichen< endet nicht an vermeintlichen Textgrenzen, sondern setzt sich mit jeder neuen Kontextualisierung eines Zeichens fort. iJL Der Begriff der Interpretation wird im Rahmen der Dekonstruktion zumeist als mit dem Be- griff des literarischen Werkes verbunden aufgefasst und ebenfalls abgelehnt: Wenn ein Text keine klar umrissene Bedeutung hat, dann kann man diese Bedeutung auch nicht in einem Akt der Interpretation ans Licht fördern. An die Stelle der Interpretation tritt daher die Dekonstruktion - verstanden als Vorgang oder Tätigkeit - bzw. die (dekonstruktivistische) >Lektüre< eines Textes.24 Auch für das Konzept der Lektüre ist die dekonstruktivistische Zeichen- bzw. Bedeutungsfheorie wichtig. Was Derrida über die Bedeutung (einzelner) sprachlicher Zeichen gesagt hat, wird nunmehr auf Texte - verstanden entweder als Zeichenketten oder aber als komplexe Zeichen - übertragen. 3. Wenn ein Autor einen Text produziert, so kann er dessen Bedeutung nicht kontrollieren. Entsprechend können sich Versuche, einen Text zu verstehen, nicht auf die Absichten oder Intentionen des Autors beziehen: Weder ist es ein legitimes Ziel, herausfinden zu wollen, was ein Autor mit dem Einsatz "eines bestimmten Textelements bezweckt hat, noch kann man Interpretationshypothesen begründen, indem man darauf hinweist, dass es sich um eine plausible Hypothese über kommunikative (ästhetische oder sonstige) Wirkungsabsichten eines Autors handelt. Insofern stimmen dekonstruktivistische Auffassungen über die Nicht-Inter-pretierbarkeit von Texten mit der poststrukturalis-tischen These vom >Tod des Subjekts< überein, die im Rahmen der Literaturwissenschaft insbesondere mit Autor-kritischen Abhandlungen Michel Foucaults und Roland Barthes' in Verbindung gebracht worden sind (vgl. II.5.5.2).25 Methode des wissenschaftlichen Umgangs mit Literatur Auch wenn sich dekonstruktivistische Lektüren als anti-methodisch verstehen, kann man - in der Position des Beobachters - nach Regelmäßigkeiten 24 Vgl. Simone Winko: Lektüre oder Interpretation? In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49. Jg., 2 (2002), 128-141. 25 Vgl. Peter Lamarque: The Death of the Author: An Analytical Autopsy. In: British Journal of Aesthetics 30. Jg., 4 (1990), 319-331. 302 TJ]JPrjgDJ£jit^ Textorientierte Thec^ 303 ihrer Verfahrensweisen Ausschau halten und dabei (1) Ziele, (2) Methoden sowie (3) Standards von >Lektüren< rekonstruieren. Q,-Zu den wichtigsten Zielen dekonstruktivistischer Lektüren gehören der Nachweis, dass ein Text über kejne kohärente Bedeutung verfugt, sowie eine in der Regel textnahe Begründung, weshalb dies so ist. Dabei kann sich eine Lektüre an bereits existierenden Interpretationen orientieren; die De-konstruktion des Primärtextes geht dann mit der Dekonstruktion eines Sekundärtextes einher. Typisch wäre in diesem Sinne die Argumentation, dass der (>traditionelle<) Interpret bei dem Versuch, dem Text eine einheitliche Aussageabsicht zu unterstellen, widerspenstige* Textelemente ignoriert oder ausgeblendet hat. Die traditionelle Interpretation wird insofern als. ein Harmonisierungsversuch verstanden, der sich den >Kräften der Sprache* gegenüber als blind erweist: Was immer der Autor hat sagen wollen, sein Text bedeutet etwas anderes, weil beispielsweise einzelne Metaphern, sprachliche Bildkomplexe, ironische Formulierungen oder Inkongruenzen zwischen lautlicher Ebene und einzelnen Begriffen zu einer Verschiebung* der Bedeutung führen. Die dekonstruktivistische »Lek-türe* hat insofern nicht eigentlich das Ziel herauszufinden, was ein Text bedeutet; sie will vielmehr herausbekommen, wie sich ein Text gegen bestimmte Bedeutungszuweisungen sperrt, d.h. wie sich einzelne Elemente der verschiedenen Ebenen eines Textes (einzelne Begriffe, sprachliche Bilder, Laute, Grapheme, stilistische Eigenheiten usw.) erstens als Bedeutung tragend verstehen und zweitens so aufeinander beziehen lassen, dass Inkongruenzen entstehen. Solche Inkongruenzen werden oft nach dem oben erläuterten Muster als hierarchisch verstanden: Auf der Textoberfläche bedeutet der Text A, und er unterdrückt damit eine Bedeutung B, die es ans Licht zu bringen gilt. Die anthro-pomorphisierende Ausdrucksweise (»Unterdrü-ckung*) ist dabei typisch: Es ist nicht der Interpret, der. die fraglichen Beziehungen herstellt, sondern der Text selbst (bzw. >die Sprache*) verfugt bereits über sie; der Text »dekonstruiert sich selbst* und der Dekonstruktivist ist ein Protokollant von »Signifikationsprozessen*. r2rUm das genannte Ziel zu erreichen, wird der Dekonstruktivist verschiedene Textelemente aus- zumachen versuchen, die als »marginalisiert* oder »verdrängt* angesehen werden können.26 Diese Elemente werden sodann in ihrem Bedeutungsreichtum ausgelotet, wobei beispielsweise Anspielungen, Konnotationen einzelner Ausdrücke oder Intertex tualitätsrelationen herausgearbeitet werden können. Die Auffassung, dass grundsätzlich jedes Textelement als Bedeutung tragend angesehen werden kann, findet sich auch im Rahmen traditioneller Interpretationsverfahren, insbesondere im closc reading der New Critics.27 Neu im Rahmen der Dekonstruktion ist die Einordnung solcher Textelemente in bestimmte Argumentationszusammenhänge. Es geht nicht mehr darum zu zeigen, wie die Elemente zum Eindruck ästhetischer Geschlossenheit beitragen oder eine bestimmte Aussageabsicht oder Interpretationshypothese unterstützen können, sondern um den Nachvollzug der Weise, auf die sie als »Marginalisierte* die »Subversion* vermeintlich eindeutiger Textbedeutungen betreiben. Während eine traditionell-hermeneutische methodische Heuristik lauten könnte: »Suche Textele-j mente, mit denen sich eine möglichst umfassende! Interpretationshypothese stützen lässt*, könnte einej dekonstruktivistische Heuristik lauten: »Suche Textelemente, die eine Interpretationshypothese unter-; graben können*. Auch die Dekonstruktion verwen-j det insofern in der Praxis das (hermeneutische) Konzept von Interpretationshypothesen, die sich auf die Bedeutung eines Textes beziehen. Entscheidend ist jedoch, dass zugleich bestimmte Rahmenannahmen fallen gelassen werden, die den Gehalt von Interpretationshypothesen beschränken. Um diesen Gedanken verständlich zu machen, ist zunächst eine allgemeine Überlegung erforderlich: Texten können, wie anderen Gegenständen auch, eine unendliche Menge von Eigenschaften oder Aspekten zugeschrieben werden und sie stehen in beliebig vielen Beziehungen zu anderen Dingen. Welche Eigenschaften wir ausmachen und im Rahmen 26 Vgl. Barbara Johnson: Teaching Deconstructively. In: Jonathan Culler (Hg.): Deconstruction. Critical Concepts in Literary and Cultural Studies. London/New York 2003, Bd.2,204-212. 27 Vgl. Peter Wenzel: »Dekonstruktion, danke!« Eine Stellungnahme zur Debatte um den amerikanischen Poststrukturalismus. In: Kodikas/Code 10 (1987), 213-228. einer Interpretation verwenden, hängt von unserer Beschreibungssprache und unserer Suchoptik ab. Entscheidend ist dabei der Gedanke dir Relevanz: Auch wenn man eingesteht, dass ein Text über unendlich viele (und im Wortsinne diverse) Aspekte verfügt, muss man nicht zugleich der Meinung sein, dass alle diese Aspekte relevant sind und im Rahmen einer Interpretation berücksichtigt werden sollten. Erst die Zusatzannahme, (beispielsweise) dass einem Text eine kommunikative Absicht zugrunde liegt - dass also jemand mit dem Text etwas Bestimmtes hat zu verstehen geben wollen -, oder dass der Text bestimmten ästhetischen Konventionen gemäß als »geschlossen* oder harmonisch angesehen werden soll, erlaubt die zielgerichtete Auswahl von Elementen bzw. Aspekten eines Textes: Relevant ist, was zur Stützung oder Widerlegung einer Interpretationshypothese, beispielsweise über eine kommunikative Absicht oder die »Geschlossenheit* eines Werkes, dient. Betrachtet man solche Zusatzannahmen - wie das im Rahmen der Dekonstruktion der Fall ist - nicht als bindend, so kann man erstens jedes beliebige Textelement herausgreifen und ihm zweitens unter Absehung von seinem konkreten kommunikativen Kontext eine Bedeutung zuweisen. Und in der Tat: Wenn eine auf bestimmte Relevanzen ausgerichtete, an kommunikativen oder sonstigen ästhetischen Konventionen ausgerichtete Suchoptik fehlt, dann kann jeder Aspekt eines Textes als mit nahezu behebig vielen Bedeutungen verbunden aufgefasst werden. Die Textbedeutung »disseminiert*. " jJpEine erfolgreiche Lektüre erkennt man daher nicht anhand der Kriterien, die traditionelle Interpretationen als gelungen ausweisen - etwa die Reichweite, Kohärenz oder Fruchtbarkeit von Interpretationshypothesen (vgl. II.5.3.1). Solche Kriterien sind nur vor dem Hintergrund eines hinreichend klar bestimmten, traditionellen Interpretationsziels sinnvoll, und sie können allenfalls »von außen* an die Dekonstruktion eines Textes herangetragen werden. Dem Selbstverständnis dekonstruktivistischer Lektüren entsprechen eher Kriterien wie Originalität (»Hat die Lektüre Aspekte zu Tage gefördert, die zuvor unbeachtet blieben bzw. marginalisiert wurden?*), Subtilität (»Wie genau hat die Lektüre die Marginalisierungsstrategien des Textes durchschaut?*) oder Subversivität/Radikali- tät (»Wie gründlich wurden traditionelle Bedeutungszuweisungen entlarvt, d.h. auf den Kopf gestellt?*). Grundsätzlich gilt, dass dekonstruktivistische Lektüren nicht abgeschlossen werden können: Da es kein positiv bestimmtes Interpretationsziel gibt (etwa: »Finde heraus, was jemand mit dem Text hat zu verstehen geben wollen*), kann man stets nach neuen Textelementen suchen und das dekonstruktive Geschäft fortsetzen. Dies gilt umso mehr, als dank des Wegfalls der Trennung von Objekt-und Metaebene jede dekonstruktive Lektüre selbst der Dekonstruktion offen steht. Vertretern der Dekonstruktion ist oft vorgeworfen worden, dass ihre Thesen - etwa zur Natur von Sprache und Kommunikation, zu den Grenzen unserer Erkenntnis, zur literaturwissenschaftlichen Interpretation - entweder nicht neu oder falsch sind (vgl. Ellis 1989; Searle 1994). Bemerkenswert ist, dass das viele Dekonstruktivisten nicht zu kümmern scheint. Statt in eine argumentative Auseinandersetzung einzutreten, in deren Verlauf Thesen klar bestimmt und auf ihre Begründbarkeit überprüft werden, besteht eine dekonstruktivistische Strategie des Umgangs mit Kritik darin, die Äußerungen der Kritiker zu dekonstruieren. Das ist insofern problematisch, als ein solches Verfahren erstens einer am Prinzip der rationalen Überzeugungsbildung orientierten Wissenschaftspraxis entgegensteht und zweitens die Chance einer Fortentwicklung vergibt: Fortschritt geschieht auch in den Geisteswissenschaften u. a. durch Falsifikation, d.h. auf der Basis einer geduldigen Analyse und Kritik von Thesen, die es zu begründen und gegebenenfalls zu modifizieren und/oder zu verwerfen gilt. Der poststrukturalistische Denk- und Schreibstil mit seinen oftmals hyperbolischen, spielerisch ins Poetische oder aber Technische hineinreichenden Ausdruckweisen ist damit kaum vereinbar.28 Die sachlichen Auseinandersetzungen zwischen Vertretern einer literaturwissenschaftlichen Dekonstruktion und ihren Kritikern gelangen denn j auch stets sehr schnell zu den erkenntnistheoretischen Grundlagen und brechen in aller Regel mit dem Feststellen fundamentaler Unterschiede ab. Die Gründe für die Erfolge, die der Dekonstruktion 28 Vgl. Mark Bauerlein: Bad Writing's Back. In: Philosophy and Literature 28. Jg., 1 (2004), 180-191. 304 Theorien und Methoden der Literaturwissen Autororientierte Theorien und Methoden 305 in der Literaturwissenschaft insbesondere der 1980er und 1990er Jahre beschieden waren, dürften daher kaum in der wissenschaftlichen Attraktivität des dekonstruktivistischen Theorien- und Methodenrepertoires liegen; Erklärungen müssen hier wohl eher wissenschaftssoziologische, politische oder allgemein kulturelle Faktoren berücksichtigen.29 Literatur Barthes, Roland: Die Lust am Text. Frankfurt a. M. 1974 (frz. 1973). Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt a.M. 1974 (frz. 1967). Derrida, Jacques: Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetta. Graz/Wien 1986 (frz. 1972). Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie. Hg. von Peter Engelmann. Wien 1988 (frz. 1972). Derrida, Jacques: Letter to a Japanese Friend [1988]. Jn: Jonathan Culler (Hg.): Deconstruction. Critical Concepts in Literary and Cultural Studies. London/New York 2003, Bd. 1,23-27. Derrida, Jacques: »Diese merkwürdige Institution na mens Literatur« [1992]. In: Jürn Gottschalk/Tilmann Koppe (Hg.j: Was ist Literatur? Paderborn 2006, 91-107. Ellis, John M.: Against Deconstruction. Princeton, N.J. 1989. Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Hg. von Charles Bally/Albert Se~ chehaye unter Mitwirkung von Albert Riedlinger. Berlin/New York 32001 (frz. 1916). Searle, John R.: Literary Theory and Its Discontents. In: New Literary History 25. Jg. (1994), 637-667. Spree, Axel: Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien. Paderborn u. a. 1995. 5.3 Autororientierte Theorien und Methoden Zu den >autororientierten< Ansätze werden hier der hermeneutische Intentionalismus sowie die jpsy-choanalytische Literaturwissenschaft gerechnet. Diese Zuordnung erklärt sich durch die große konzeptionelle Bedeutung, die Vertreter dieser Ansätze dem Autor des literarischen Werkes im Rahmen von Interpretationen zuschreiben. Das Ziel herme-neutisch-intentionalistischer Interpretationen besteht darin herauszufinden, was ein Autor mit einem bestimmten Text oder Textelement zu verstehen geben wollte; die Intentionen oder Absichten des Autors sind daher zentraler (konstitutiver) Bestandteil der Bedeutungskonzeption. Allerdings wurde und wird die Hermeneutik keineswegs immer intentionalistisch konzipiert. Ein in der Literaturwissenschaft besonders einflussreiches Beispiel dafür ist Gadamers Theorie einer Philosophischen 29 Vgl. Terry Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart/Weimar "1997 (engl. 1983), 126-137. Hermeneutik. Intentionalistische und nicht-in-tenfiönälistische Komponenten vereint die Philologische Hermeneutik< Schleiermachers (vgl. II.5.3.1). Die Psychoanalyse ist bekanntermaßen ursprünglich eine psychologische und keine literaturwissenschaftliche Forschungsrichtung; als solche ist sie mit dem Seelenleben von Personen befasst. Diese Personenbezogenheit spielt auch in verschiedenen Modellen und Methoden der literaturwissenschaftlichen Psychoanalyse eine Rolle - etwa, wenn die Gestalt literarischer Texte im Rahmen genetischer Erklärungen auf bestimmte Dispositionen des Autors zurückgeführt wird, oder in der Bestimmung literaturtheoretischer Grundbegriffe, insbesondere der des Literaturbegriffs. Ungeachtet dessen sind im Rahmen der psychoanalytischen Literaturwissenschaft auch Verfahren der Textdeu-tung entwickelt worden, in denen der Autor eine weniger prominente Rolle spielt. Die genannten Spielarten der Hermeneutik und die literaturwissenschaftliche Psychoanalyse sind nicht die einzigen Ansätze, für die das Konzept des Autors eine wichtige Rolle spielt. Der Autor eines literarischen Werkes ist, allgemein gesprochen, stets ein Bestandteil des Werkkontextes. Aus diesem Grund sind alle kontextorientierten Ansätze mehr oder minder stark mit dem Autor befasst. Das gilt insbesondere für bestimmte Spielarten des literaturwissenschaftlichen Feminismus. Die Ausgliederung und gesonderte Abhandlung der kontextzentrierten Ansätze ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass diese Ansätze über einen weiteren Kontextbegriff verfügen, der nicht primär den Autor eines Werkes umfasst, und dass ein Interesse am Autor eines Werkes zwar besteht, nicht jedoch integraler Bestandteil einer Interpretationskonzeption sein muss. 5.3.1 Hermeneutik Das Wort »Hermeneutik« geht auf das griechische Verb hermeneuein zurück, das »erklären«, »auslegen«, »übersetzen« bedeutet.30 Als Bezeichnung für die Theorie des Verstehens oder Interpretierens von Texten ist »hermeneutica«/»Hermeneutik« seit dem 17. Jh. nachgewiesen.31 Sowohl das regelgeleitete Auslegen von Texten als auch die theoretische Erörterung solcher Regeln sind allerdings bedeutend älter; beides lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Zu den historischen Marksteinen in der Entwicklung derHermeneutik zählen Qngejies und Augustinus in der Spätantike, Luther im 16. Jh., Schleiermacher zu Beginn des 19. Jh.s, Dilthey um 1900 sowie Heidegger und Gadamer im 20. Jh. Von einer Entwicklung der Hermeneutik< zu sprechen, ist allerdings nicht unproblematisch. Die jeweiligen Hermeneutiken sind nicht nur in sehr unterschiedlichen Kontexten und vor dem Hintergrund entsprechend unterschiedlicher Vorausset- zungen und Bedürfnislagen institutioneller (u.a. religiöser, philosophischer oder philologischer) Art entstanden. Es finden sich darüber hinaus auch durchaus unterschiedliche Auffassungen etwa bezüglich des Gegenstandsbereichs, der Anliegen und der Reichweite hermeneutischer Theorien. Die vielleicht wichtigste Binnendifferenzierung unterscheidet Hermeneutiken, die Methodenlehren des Interpretierens darstellen, von der Philosophischen Hermeneutik< (Heidegger, Gadamer), die Aspekte der menschlichen Welt- und Selbsterfahrung beschreibt und über die Darstellung, Erläuterung und Begründung interpretationsbezogener Methodologien hinauszugehen beansprucht. Auf ausführliche Rekonstruktionen historischer Hermeneutiken muss hier weitestgehend verzichtet werden.32 Vielmehr werden exemplarisch drei Richtungen vorgestellt, die die Bandbreite der unter dem Namen »Hermeneutik« versammelten Ansätze verdeutlichen und die für die neueren literaturtheoretischen Diskussionen wichtig sind. Dazu zählt zum einen die Philosophische Hermeneutik , Hans-Georg Gadamers, die für das Selbstverständnis der deutschsprachigen Literaturwissenschaft bis in die 1980er Jahre von Bedeutung gewesen ist und für hermeneutikkritische Positionen als negativer Bezugspunkt gedient hat. Zum anderen ist hier die Variante einer Philologischen Hermeneu- _? , tik Friedrich Schleiermachers zu nennen, die in den 1980er Jahren als bessere Alternative zu Hermeneutikkonzepten im Anschluss an Gadamer gehandelt wurde und die weite Teile der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis am besten wiedergibt. Drittens ist mit dem hermeneutischen -; 4, Intentionalismus ein methodologischer hermeneu- / tischer Ansatz vorzustellen, der in der gegenwärtigen Theoriebildung viel Aufmerksamkeit erfahren hat, entsprechend differenziert ausgearbeitet wurde und als literaturwissenschaftlich besonders fruchtbar gelten kann. 30 Zum Wortfeld vgl. Jean Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik. Darmstadt 22001,36-40. 31 Vgl. Klaus Weimar: Hermeneutik. In: Harald Fricke (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II. Berlin/New York 2000,25-33, Zit. 26. 32 Vgl. einführend Seiffert 1992, 17-36; Axel Bühler/ Luigi Cataldi Madonna: Einleitung. In: Georg Friedrich Meier: Versuch einer Allgemeinen Auslegungskunst. Hg. von Axel Bühler/Luigi Cataldi Madonna. Hamburg 1996, VTI-CII, besonders XXI-LIII. 304 Thegrten^^ Autororientierte Theorien und Methoden 305 in der Literaturwissenschaft insbesondere der 1980er und 1990er Jahre beschieden waren, dürften daher kaum in der wissenschaftlichen Attraktivität des dekonstruktivistischen Theorien- und Methodenrepertoires liegen; Erklärungen müssen hier wohl eher wissenschaftssoziologische, politische oder allgemein kulturelle Faktoren berücksichtigen.29 Literatur Barthes, Roland: Die Lust am Text. Frankfurt a.M. 1974 (frz. 1973). Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt a.M. 1974 (frz. 1967). Derrida, Jacques: Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Louis Houdebine, Guy Scarpetta. Graz/Wien 1986 (frz. 1972). Derrida, Jacques: Randgänge der Philosophie. Hg. von Peter Engelmann. Wien 1988 (frz. 1972). Derrida, Jacques: Letter to a Japanese Friend [1988]. In: Jonathan Culler (Hg.): Deconstruction. Critical Concepts in Literary and Cultural Studies. London/New York 2003, Bd. 1,23-27. Derrida, Jacques: »Diese merkwürdige Institution namens Literatur« [1992]. In: Jürn Gottschalk/Tilmann Koppe (HgJ: Was ist Literatur? Paderborn 2006, 91-107. Ellis, John M.: Against Deconstruction. Princeton, N.J. 1989. Saussure, Ferdinand de: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Hg. von Charles Bally/Albert Se-chehaye unter Mitwirkung von Albert Riedlinger. Berlin/New York 32001 (frz. 1916). Searle, John R.: Literary Theory and Its Discontents. In: New Literary History 25. Jg. (1994), 637-667. Spree, Axel: Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien. Paderborn u. a. 1995. 5.3 Autororientierte Theorien und Methoden Zu den >autororientierten< Ansätze werden hier der hermeneutische Intentionalismus sowie die psychoanalytische Literaturwissenschaft gerechnet. Diese Zuordnung erklärt sich durch die große konzeptionelle Bedeutung, die Vertreter dieser Ansätze dem Autor des literarischen Werkes im Rahmen von Interpretationen zuschreiben. Das Ziel herme-neutisch-intentionalistischer Interpretationen besteht darin herauszufinden, was ein Autor mit einem bestimmten Text oder Textelement zu verstehen geben wollte; die Intentionen oder Absichten des Autors sind daher zentraler (konstitutiver) Bestandteil der Bedeutungskonzeption. Allerdings wurde und wird die Hermeneutik keineswegs immer intentionalistisch konzipiert. Ein in der Literaturwissenschaft besonders einflussreiches Beispiel dafür ist Gadamers Theorie einer Philosophischen 29 Vgl. Terry Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie. Stuttgart/Weimar "1997 (engl. 1983), 126-137. Hermeneutik<. Intentionalistische und nicht-in-tentionalistische Komponenten vereint die Philologische Hermeneutikx Schleiermachers (vgl. IL5.3.1). Die Psychoanalyse ist bekanntermaßen ursprünglich eine psychologische und keine literaturwissenschaftliche Forschungsrichtung; als solche ist sie mit dem Seelenleben von Personen befasst. Diese Personenbezogenheit spielt auch in verschiedenen Modellen und Methoden der literaturwissenschaftlichen Psychoanalyse eine Rolle - etwa, wenn die Gestalt literarischer Texte im Rahmen genetischer Erklärungen auf bestimmte Dispositionen des Autors zurückgeführt wird, oder in der Bestimmung literaturtheoretischer Grundbegriffe, insbesondere der des Literaturbegriffs. Ungeachtet dessen sind im Rahmen der psychoanalytischen Literaturwissenschaft auch Verfahren der Textdeutung entwickelt worden, in denen der Autor eine weniger prominente Rolle spielt. Die genannten Spielarten der Hermeneutik und die literaturwissenschaftliche Psychoanalyse sind nicht die einzigen Ansätze, für die das Konzept des Autors eine wichtige Rolle spielt. Der Autor eines literarischen Werkes ist, allgemein gesprochen, stets ein Bestandteil des Werkkontextes. Aus diesem Grund sind alle kontextorientierten Ansätze mehr oder minder stark mit dem Autor befasst. Das gilt insbesondere für bestimmte Spielarten des literaturwissenschaftlichen Feminismus. Die Ausgliederung und gesonderte Abhandlung der kontextzentrierten Ansätze ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass diese Ansätze über einen weiteren Kontextbegriff verfügen, der nicht primär den Autor eines Werkes umfasst, und dass ein Interesse am Autor eines Werkes zwar besteht, nicht jedoch integraler Bestandteil einer Interpretationskonzeption sein muss. 5.3.1 Hermeneutik Das Wort »Hermeneutik« geht auf das griechische Verb hermeneuein zurück, das »erklären«, »auslegen«, »übersetzen« bedeutet.30 Als Bezeichnung für die Theorie des Verstehens oder Interpretierens von Texten ist »hermeneutica«/»Hermeneutik« seit dem 17. Jh. nachgewiesen.31 Sowohl das regelgeleitete Auslegen von Texten als auch die theoretische Erörterung solcher Regeln sind allerdings bedeutend älter; beides lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Zu den historischen Marksteinen in der Entwicklung der Hermeneutik zählen Origenes und Augustinus in der Spätantike, Luther im 16. Jh., Schleiermacher zu Beginn des 19. Jh.s, Dilthey um 1900 sowie Heidegger und Gadamer im 20. Jh. Von einer Entwicklung der Hermeneutik< zu sprechen, ist allerdings nicht unproblematisch. Die jeweiligen Hermeneutiken sind nicht nur in sehr unterschiedlichen Kontexten und vor dem Hintergrund entsprechend unterschiedlicher Vorausset- zungen und Bedürfnislagen institutioneller (u.a. religiöser, philosophischer oder philologischer) Art entstanden. Es finden sich darüber hinaus auch durchaus unterschiedliche Auffassungen etwa bezüglich des Gegenstandsbereichs, der Anliegen und der Reichweite hermeneutischer Theorien. Die vielleicht wichtigste Binnendifferenzierung unterscheidet Hermeneutiken, die Methodenlehren des Interpretierens darstellen, von der Philosophischen Hermeneutik< (Heidegger, Gadamer), die Aspekte der menschlichen Welt- und Selbsterfahrung beschreibt und über die Darstellung, Erläuterung und Begründung interpretationsbezogener Methodologien hinauszugehen beansprucht. Auf ausführliche Rekonstruktionen historischer Hermeneutiken muss hier weitestgehend verzichtet werden.32 Vielmehr werden exemplarisch drei Richtungen vorgestellt, die die Bandbreite der unter dem Namen »Hermeneutik« versammelten Ansätze verdeutlichen und die für die neueren literaturtheoretischen Diskussionen wichtig sind. Dazu zählt zum einen die Philosophische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, die für das Selbstverständnis der deutschsprachigen Literaturwissenschaft bis in die 1980er Jahre von Bedeutung gewesen ist und für hermeneutikkritische Positionen als negativer Bezugspunkt gedient hat. Zum anderen ist hier die Variante einer Philologischen Hermeneutik Friedrich Schleiermachers zu nennen, die in den 1980er Jahren als bessere Alternative zu Hermeneutikkonzepten im Anschluss an Gadamer gehandelt wurde und die weite Teile der literaturwissenschaftlichen Interpretationspraxis am besten wiedergibt. Drittens ist mit dem hermeneutischen -? Intentionalismus ein methodologischer hermeneutischer Ansatz vorzustellen, der in der gegenwärtigen Theoriebildung viel Aufmerksamkeit erfahren hat, entsprechend differenziert ausgearbeitet wurde und als literaturwissenschaftlich besonders fruchtbar gelten kann. 30 Zum Wortfeld vgl. Jean Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik. Darmstadt 22001,36-40. 31 Vgl. Klaus Weimar: Hermeneutik. In: Harald Fricke (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. II. Berlin/New York 2000,25-33, Zit. 26. 32 Vgl. einführend Seiffert 1992, 17-36; Axel Bühler/ Luigi Cataldi Madonna: Einleitung. In: Georg Friedrich Meier: Versuch einer Allgemeinen Auslegungskunst. Hg. von Axel Bühler/Luigi Cataldi Madonna. Hamburg 1996, VII-CII, besonders XXI-LIII. 306 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft _ _ _ __ „.^oi^IPrigQÍJěŮě.Jllg^nglLHIlJi^í!]"^ 307 Literaturwissenschaftliche Adaptionen der Philosophischen Hermeneutik Gadamers Im 20. Jh. wird die Reichweite des Verstehens-konzepts, mit dem Hermeneutiken bis dato gearbeitet haben, ausgedehnt: Es geht nicht mehr allein um das angemessene Verständnis von mündlichen und schriftlichen Texten, sondern das Verstehen bezieht sich auf Lebenszusammenhänge insgesamt.33 Martin Heidegger gibt der Hermeneutik eine ontologische Wendung, indem er eine ^Hermeneutik des Daseins< formuliert; Hans-Georg Ga-damer bestimmt in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode (1960) im Anschluss an Heidegger das Verstehen als »die Seinsweise des Daseins selber« (Vorwort zur 2. Auflage 1965, Gadamer 1990, Bd. 2, 440). Er entwirft eine philosophische Hermeneutik in dezidierter Abgrenzung zu den »Kunstlehre[n] des Verstehens« (Gadamer 1990, Bd. 1,3), zur Hermeneutik als Hilfswissenschaft für die Religions-, Rechts- und Geschichtswissenschaften. Schon wegen dieser Zielsetzung scheint seine Hermeneutik für die Belange der Literaturwissenschaft von geringerer Bedeutung zu sein. Dennoch ist sie in diesem Fach lebhaft rezipiert worden und hat Konsequenzen für die Auffassung des Gegenstandes >Literatur< und die Wissenschaftskonzeption des Faches gehabt. Darüber hinaus wurden einige Thesen Gadamers in Theorien integriert, die für eine nicht-autorintentional ausgerichtete Hermeneutik stehen. Bezugstheorie und Rahmenannahmen In Wahrheit und Methode geht es Gadamer um die Fundierung des Verstehens als einer Grundbedingung menschlicher Existenz und nicht darum, eine allgemeine Theorie der Interpretation und der Methoden zu entwerfen, die geisteswissenschaftliche Verfahren leiten können. Ziel ist, »das allen Verste-hensweisen Gemeinsame aufzusuchen und zu zeigen, daß Verstehen niemals ein subjektives Verhalten zu einem gegebenen >Gegenstande< ist, sondern [...] zum Sein dessen gehört, was verstanden wird« (ebd., 441). >Verstehen< ist für Gadamer also nicht 33 Vgl. Grondin 2001 (s. Anm. 30), Kap. V-VII. in erster Linie eine Leistung, die man erbringen kann, indem man bestimmte, im Rahmen einer Methodenlehre beschreibbare und regelgeleitetc Operationen ausführt. Vielmehr handelt es sich um ein wesentliches Moment der menschlichen Ver fassung, dessen Analyse Aufschluss über die Exis tenz des Menschen und ihre besonderen Bedin gungen geben soll. Für den auf eine universale Hermeneutik zielenden Argumentationszusammenhang in Wahrheit und Methode spielt die Kunst und damit auch die Literatur insofern eine Rolle, als Gadamer die Er fahrung von Kunst zum Ausgangspunkt nimmt, um seine Frage nach Status und Zugänglichkeit der Wahrheit zu beantworten. Unter dem Aspekt ihrer zunehmenden Subjektivierung arbeitet Gadamer die ästhetische Tradition seit Kant auf. Sie begrün det die Ästhetik nicht mehr aus primär philosophischer Perspektive, sondern, so Gadamer, vom »Standpunkt der Kunst« (Gadamer 1990, Bd. 1,61) aus. Vertreter dieser Position stellen die These von der »ästhetischen Unterscheidung« (ebd., 91) auf, d.h. sie unterscheiden zwischen dem Kunstwerk auf der einen Seite und der Welt oder der Wirklichkeit, in der das Kunstwerk entstanden ist - also seinem »ursprünglichen Lebens- und Funktionszusammenhang« (Lang 1981, 9) -, auf der anderen Seite. Sie nehmen damit eine Trennung von Kunstwerk und Welt an und zugleich eine Reflexionsform, das »ästhetische Bewusstsein« (Gadamer 1990, Bd. 1, 90 ff.), das sich auf das der Kunst Wesentliche, das Werk, richtet. Gegen diese Auffassung setzt Gadamer seine >Ontologie des Kunstwerks^ Als Modell dient Gadamer ein besonderer Typ des Spiels, das >Etwas-Spielen<: In ihm sei zum einen die Subjektivität der Spieler aufgehoben, da im Spielen nicht das spielende Individuum, sondern das Spiel zur Darstellung komme; zum anderen sei auch der Objektbezug aufgehoben: Das, was im Spiel nachgeahmt werden soll, sei ein Element des Spiels selbst und nichts Externes. Beide Charakteristika treffen, so Gadamer, auch für die Kunst zu, die allerdings den Adressatenbezug als ein zusätzliches Bestimmungsmerkmal enthält. Kunst ist spielerische Darstellung für jemanden - für Zuschauer, Leser oder Betrachter -, der allein das Spiel in seiner Ganzheit sehen und »erfahren« kann. Dieses dritte Bestimmungsmerkmal macht das künstlerische Spiel zum Werk: Als Kunst wird das Spiel »ins Gebilde« verwandelt (ebd., 116 ff.), erhält eine andere »Seinsweise« als ein nicht-künstlerisches Spiel. Kunst ais die höchste Form des Spiels ist also einerseits Werk - nach Gadamer ein einheitliches, in sich geschlossenes Ganzes -, andererseits aber insoweit noch Spiel, als sie auf Darstellung angewiesen ist. Auf der Grundlage dieser Überlegungen setzt Gadamer gegen die These von der »ästhetischen Unterscheidung« seine Auffassung von der »ästhetischejn] Nichtunterscheidung« (ebd., 122). Sie bj^gk-das&_es die behauptete Trennung von Künstwerk und Welt (von Abbild und Urbild, Darstellung und Dargestelltem usw.) im Bereich der Kunst nicht gibt: Wesentlich für das Kunstwerk als Gebilde ist, so Gadamers These, gerade die Vermittlung dieser vermeintlich getrennten Bereiche. Auf diese Weise bestimmte Kunst enthält im Moment ihrer Erschaffung »Sinn«, der sich im Laufe der Geschichte, wenn nur noch der materiále Träger des Kunstwerks tradiert wird, in eine »Spur« von Sinn verwandelt. Erst im Akt des Verstehens kann »die Rückverwandlung toter Sinnspur in lebendigen Sinn« (ebd., 169) gelingen. Diese >Sinn wiederherstellende< Art des Verstehens bedarf einer besonderen, hermeneutischen Zugangsweise zum Artefakt. Sie verbindet die historische Rekonstruktion mit einer Integration der geschichtlichen Situation des Verstehenden. Grundbegriffe: Literatur, Verstehen/ Interpretieren, Bedeutung Gadamers Theorie hat Folgen für die Auffassung literaturwissenschaftlicher Grundbegriffe. 1. Kunst erhält in seinem Ansatz einen besonders hohen Status unter den wissenschaftlich zu untersuchenden Gegenständen. Diese >Dignität< des Kunstwerks gilt auch für Literatur. Sie ermöglicht die Vermittlung von Wahrheit. Gadamers Auffassung vom Kunstwerk unterstützt einen starken Begriff des literarischen Werks: Ein literarisches Werk ist gekennzeichnet durch die Merkmale >Stimmigkeit<, >Ganzheit< und >Einheit<. Zudem hängen in ihm Form und Inhalt auf unlösliche Weise miteinander zusammen. Diese im Fach lange Zeit verbreiteten Annahmen sind keineswegs selbstverständlich, sondern gelten nur mit Bezug auf Rahmenannahmen, wie sie u. a. die oben skizzierte philosophische Hermeneutik zur Verfügung stellt. Sie beeinflussen 2. auch den interpretierenden Umgang mit Literatur; denn einem solcherart bestimmten literarischen Werk wird eine besondere Art des Zugangs als angemessen zugeordnet: das Verstehen und das sich an ihm orientierende hermeneutische Interpretieren. Gadamers Formulierung des hermeneutischen Zirkels< ist hierfür repräsentativ: »Wer eP~l nen Text verstehen will, [...] wirft sich einen Sinn ]sU' des Ganzen voraus, sobald sich ein erster Sinn im !{..,,;,% Text zeigt. [...] Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich bei weiterem Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was dasteht.« (Gadamer 1990, Bd. 1,271) J Der Vorgang des Verstehens selbst ist für Gadamer durch das geprägt, was er den »Vorentwurf« und den »Vorgriff der Vollkommenheit« nennt: Man unterstellt dem Text bereits zu Beginn der Lektüre u. a., dass dessen Worte in einem gewöhnlichen, vertrauten Sinn verwendet sind und dass er »eine vollkommene Einheit von Sinn« (ebd., 299) darstellt, d. h. sowohl formal konsistent als auch inhaltlich stimmig und wahr ist. Im Verstehenspro-zess selbst ist der Interpret dann gezwungen, solche >Vormeinungen< mit dem Text abzugleichen und gegebenenfalls zu modifizieren. Dieses Modell des Verstehens von Texten, das sich in ähnlicher Form bereits in zahlreichen hermeneutischen Entwürfen vor Gadamer findet, hat in einer normativen Variante die Literaturwissenschaft besonders stark geprägt. Um einem Text gerecht zu werden, muss ein Leser demnach seine, z. B. sozialisationsbedingten, »Vormeinungen« bzw. »Vorurteile«, die er an den i Text heranträgt, auf ihre »Legitimation« hin überprüfen (ebd.). Verstehensprobleme, die sich aus un- « angemessenen sprachlichen und inhaltlichen »Vormeinungen« des Lesers ergeben - etwa solchen, die aus dem historischen Abstand zum Text resultieren -, sind Anlass, über die Differenz zwischen der eigenen Sprache und der Sprache des Textes nachzudenken, d. h. erst aufgrund dieser Probleme wird Interpretation erforderlich. Von dem Auslegenden 308 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft Autororientierte Theorien und Methoden 309 wird gefordert, dem Text gegenüber »offen« zu sein und sich die eigenen Vorurteile bewusst zu machen bzw. sie zu korrigieren. Das Korrektiv liegt für Ga-damer im Text selbst: Irgendwann wird »die Meinung des Textes« (zumindest für den >gesprächsbe-reiten< und den »hermeneutisch geschulten« Leser) »unüberhörbar« und nötigt den Leser zur Revision seiner Vormeinungen (ebd., 272). Textinterpretation hat damit Dialogcharakter, wobei einer der >Gesprächspartner< der Text ist. 3. Aus Gadamers Annahme, dass Verstehen nichts Willkürliches ist, sondern dass es etwas gibt, was verstanden werden kann, folgt, dass Texte Bedeutungen haben und dass wir sie unter bestimmten Bedingungen verstehen können. Diese Bedeutung ist keine objektive, vollständig erkennbare Größe, sondern eine erfahrbare, zukunftsoffene Größe. Sie ist immer Bedeutung eines Objektes für ein Subjekt in einer geschichtlichen Situation. Sie setzt sich also aus objektiven und subjektiven Komponenten zusammen und resultiert aus der Vermittlung beider Komponenten im Akt des Verste-hens. Die Deutung literarischer KunsIwerMist für Gadamer prinzipiell unabschließbar. Jeder Versuch, die Bedeutung eines Textes festzustellen, läuft darauf hinaus, dass der Interpret den Text unter den Bedingungen seiner eigenen historischen Situation - d.h. in der ihm zur Verfügung stehenden Sprache und vor dem Hintergrund seiner eigenen Überzeugungen - beschreibt: »Jede Begegnung mit der Überlieferung, die mit historischem Bewußtsein vollzogen wird, erfährt an sich das Spannungsverhältnis zwischen Text und Gegenwart.« (Ebd., 311) Dabei erfordert das Verstehen als wissenschaftliche Aufgabe, so Gadamer, den »Horizont« dessen, der verstehen will, von dem »Horizont« dessen, was verstanden werden soll, zu unterscheiden. Dazu ist zunächst ein »historischer Horizont« zu entwerfen; die Distanz, die zu dieser rekonstruktiven Leistung erforderlich ist, muss aber im Prozess des Verstehens reflexiv überwunden werden: »Im Vollzug des Verstehens geschieht eine wirkliche Horizontverschmelzung, die mit dem Entwurf des historischen Horizonts zugleich dessen Aufhebung vollbringt.« (Ebd., 312) Diese »Verschmelzung« soll in einem »kontrollierten« Akt vollzogen werden (ebd.). Man kann demnach nicht verhindern, einen Text vor dem Hintergrund der eigenen historischen Situation zu lesen; aber man kann sich der Historizität des eigenen Verstehens bewusst werden, sich reflektierend dazu verhalten und die eigenen Vorurteile infrage zu stellen versuchen. Gelungen ist die Interpretation, wenn ein Interpret die rekonstruierte geschichtliche Überlieferung und die »Gegenwart seines eigenen Lebens« (ebd., 346) miteinander vermitteln kann. Zu Recht ist gegen diese hermeneutische Position eingewandt worden, dass wichtige Konzepte ebenso vage bleiben wie die Auffassung vom Vorgang des Verstehens und dass sie Termini verwendet, die metaphorisch und unklar sind, allen voran das Konzept der »Horizontverschmelzung«. Obwohl Gadamer sich gegen Interpretationsverfahren ausspricht, die den Interpreten klare Handlungsanweisungen geben - vor allem historistische Verfahren -, scheint er eine distinkte Vorstellung vom angemessenen hermeneutischen Interpretieren zu haben, die er auch in seinen eigenen Deutungen literarischer Texte umsetzt. Was die Kriterien zur Beurteilung von Interpretationen sein können, bleibt aber unklar. Nach Gadamer entfaltet sich die >vollständige< Bedeutung eines Textes erst im Laufe der Zeit, im Rahmen der >Wirkungsgeschichte< bzw. des >Überlieferungsgeschehens<. Aus diesem Grund kann selbst der Autor eines Textes dessen Bedeutung nicht abschließend bestimmen: »Nicht nur gelegentlich, sondern immer übertrifft der Sinn eines Textes seinen Autor.« (Ebd., 301) Die Intention des Autors ist folglich kein brauchbarer Standard zur Evaluation von Deutungshypothesen. Offen bleibt, ob bei Gadamer ein anderer Standard diese Funktion übernehmen kann.34 Zur Interpretationsmethode Die Philosophische Hermeneutik ist ihrem Anspruch nach keine Methodenlehre des Verstehens. Dennoch enthalten Gadamers Ausführungen über das Verstehen und Interpretieren Aussagen, die in methodische Anweisungen des Umgangs mit literarischen Texten (wie vage auch immer) umgesetzt worden sind. Ein Beispiel für ein literaturwissenschaftliches Verfahren, das sich auf das Verstehens- 34 Vgl. Hirsch 1967,245-264. modell philosophischer Hermeneutik stützt, hat Hans Robert Jauß (1982) vorgelegt. Er hält aus Gründen methodischer Klarheit drei Bestandteile philologischer Auslegepraxis auseinander, die in der Praxis meist nicht getrennt, sondern miteinander verbunden sind: 1. Der erste Schritt besteht im »unmittelbare[n] Aufnehmen« des Textes. Dieses noch nicht >ausle-gende< Verstehen wird im Akt fortlaufender Lektüre vollzogen und besteht in einer Art des Freisetzens eines noch offenen Potenzials an Bedeutungen, die Leser mit den Lauten, Worten und Bildern des Textes verbinden. Mit fortschreitender Lektüre wird dieses Potenzial immer weiter eingeschränkt. In diesem ersten Stadium des Umgangs mit dem Text siedelt Jauß auch »ästhetisches Verstehen« an, das für ihn hermeneutisch auf den »Erfahrungshorizont der ersten Lektüre« (oder der ersten Lektüren) bezogen ist (ebd., 816). 2. Erst an die zweite Stelle setzt Jauß das Interpretieren als »reflektierendes Auslegen«. Es grenzt das Bedeutungspotenzial durch begriffliche Fixierung und Fokussierung auf Textstrukturen ein. Selektionskriterien sind Kohärenz, Textganzes und Stimmigkeit. In dieser interpretierenden, auslegenden Lektüre versucht der Interpret, »einen bestimmten Bedeutungszusammenhang aus dem Sinnhorizont [eines] Textes zu konkretisieren« (ebd., 816). 3. Der dritte Schritt besteht in der Anwendung des verstandenen und interpretierten Textes, die Jauß als historische Rekonstruktion seiner Rezepti- ,,onsgeschichte bestimmt. Hier hat der Interpret den \ »&wartungshorizgnt« der Zeitgenossen zu rekon-> struieren, in dem der Text gelesen wurde, und seine »Wirkungsgeschichte« bis zur Gegenwart des Interpreten hin zu skizzieren. Die ersten beiden Schritte philologischer Auslegungspraxis - auch wenn sie im Einzelnen unterschiedlich beschrieben werden können - nehmen die meisten literaturwissenschaftlichen Interpretationstheorien an, die von einem hermeneutischen Grundmodell ausgehen. >Hermeneutisch< heißt hier so viel wie >auf eine Rekonstruktion der Bedeutung(en) eines Textes bezogenes Auslegen<; Verstehen gilt als grundlegende Operation und Interpretation als auf dem primären Verstehen aufbauendes, reflektiertes Verstehen nach bestimmten disziplinaren Regeln. Der dritte Schritt kann je nach Ansatz variieren. Jauß' Auffassung von der Rekonstruktion des »Erwartungshorizonts« und der Geschichte der unterschiedlichen Auslegungen eines Textes im Verlauf seiner Tradierung ist spezifisch für einen rezeptionsgeschichtlichen Ansatz (vgl. II.5.4.1). Philologische Hermeneutik Schleiermachers In der langen Hermeneutiktradition sind zum einen zahlreiche allgemeine und spezielle Auslegungslehren vorgelegt worden, die fächerübergreifende oder disziplininterne Regeln richtigen Auslegens formulieren (z.B. Bibelexegese), und zum anderen einige allgemeine Verstehenslehren von grundlegenderem Anspruch.35 Philologische Hermeneutiken zählen zur ersten Gruppe und zielen auf das Verstehen von Schrifttexten sowie ihre regelgeleitete Interpretation. Einer der einflussreichsten Entwürfe für eine allgemeine Hermeneutik, die mit Bezug auf traditionelle Regeln der Auslegung dennoch auf eine universale Theorie des Verstehens zielt und somit ein philologisches Anliegen mit einer philosophischen Fragestellung verbindet, stammt von dem Theologen und Philosophen Friedrich D.E. Schleiermacher. Obwohl seine Hermeneutik nur in Form von Vorlesungsmitschriften und Nachlassfragmenten überliefert ist und erst 1838 postum erschien, wurde sie breit rezipiert und beeinflusste alle Texte auslegenden Disziplinen. So versuchte sein Schüler August Boeckh, eine gemeinsame methodologische Grundlage für die -weit gefassten - philologischen Fächer zu sichern. Er bestimmte ihre Aufgabe als »Erkennen des vom menschlichen Geist Producirten, d.h. des Erkannten«.36 Noch grundsätzlicher argumentierte Wilhelm Dilthey, indem er das Verstehen als angemessene Zugangsweise nicht allein zu den Gegen- 35 Vgl. dazu Werner Alexander: Hermeneutica Generalis. Zur Konzeption und Entwicklung der allgemeinen Ver-stehenslehre im 17. und 18. Jahrhundert. Stuttgart 1993. 36 August Boeckh: Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe von 1886. Darmstadt 1977,10. 310 Jheg)rien und Methoden der Literaturwissenschaft Autororientierte Theorien und Methoden 311 ständen der Philologien, sondern der Geisteswissenschaften insgesamt etablierte und damit ihre Eigenständigkeit gegenüber den >erklärenden< Naturwissenschaften behauptete.37 In den 1960er Jahren wurden weitere hermeneutische Entwürfe vorgelegt, die von der Spezifizität des geisteswissenschaftlichen Verstehens im Allgemeinen38 oder des literaturwissenschaftlichen Interpretierens im Besonderen39 ausgingen. Ende der 1960er Jahre wurde auch Schleiermachers hermeneutisches Modell in der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung erneut >entdeckt< und als ein Ansatz begrüßt, den eine spezifisch »literarische Hermeneutik« fruchtbar machen könne (z.B. Szondi 1975, 12 und 155-191).40 Weitergeführt wurde die Renaissance Schleiermachers durch Manfred Frank, der dessen Hermeneutik im »unfruchtbaren Mefhodenstreitf] zwischen struk-turalistischen und hermeneutisch-sprachanaly-tischen Interpretationstheorien« (Frank 1977, 63) als eine attraktive Option betrachtete. Die bis heute vorherrschende, am Autor als Bezugsinstanz orientierte literaturwissenschaftliche Interpretationspraxis bezieht sich zwar nicht explizit auf Schleiermachers Hermeneutik; dennoch finden verschiedene ihrer Interpretationsoperationen ein methodisches Fundament in Schleiermachers hermeneutischem Modell, dessen Hauptthesen - vermittelt z. B. durch Dilthey41 - zum stillschweigend akzeptierten >Pra-xiswissen< im Fach zählen. 37 Vgl. z. B. Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften [1910]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Stuttgart u. a.21958. 38 Vgl. z. B. Emilio Betti: Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften. Tübingen 1962. 39 Vgl. z. B. Paul Ricceur: Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I [1969]. München 1973 und ders.: Hermeneutik und Psychoanalyse. Der Konflikt der Interpretationen II [1969]. München 1974. 40 Vgl. dazu auch Uwe Japp: Hermeneutik. Der theoretische Diskurs, die Literatur und die Konstruktion ihres Zusammenhangs in den philologischen Wissenschaften. München 1977. 41 Etwa in Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik [1900]. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 5. Die geistige Welt: Einleitung in die Philosophie des Lebens, Hälfte 1. Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften. Stuttgart u. a. 21957,317-331. Bezugstheorie und Rahmenannahmen Schleiermacher entwirft das Modell einer Hermeneutik als »Kunst des Verstehens« (Schleiermacher 1977, 75) mit universalem Geltungsbereich. »Kunst« meint hier keine ästhetische Operation, sondern eine Verbindung von Technik bzw. Regelwissen und dem Talent des Interpreten in der Anwendung dieser Regeln (vgl. ebd., 80 f.). Zwei grundlegende Annahmen bilden Schleiermachers Ausgangspunkt|£)ie erste liegt in der Überzeugung, dass nicht das-Verstehen der Regelfall menscjbjicher Kommunikation sei, sondern das Missverstehen. Um gezielt Verstehen herzustellen, sind bestimmte Mittel einzusetzen^Die zweite Grundannahme besagt, dass sich jede sprachliche Kommunikation als »Rede« einerseits auf »die Gesamtheit der Sprache« und andererseits »auf das gesamte Denken ihres Urhebers« beziehe (ebd., 77). Entsprechend unterscheidet Schleiermacher zwei Arten des Verstehens und damit auch der Interpretation: die auf Sprache gerichtete »grammatische Interpretation« und die auf das Denken des Einzelnen gerichtete »psychologische Interpretation« (ebd., 79). Beide Arten der Interpretation sind gleich wichtig und gehören zusammen. Will man das Auslegen als Kunstlehre betreiben und Verstehen herbeiführen, genügt es, so Schlei-ermacher, nicht, diese Auslegungsweisen gewissermaßen mechanisch anzuwenden (vgl. ebd., z.B. 81). Vielmehr müssen Interpreten einer »positiven Formel« folgen, die Schleiermachers Auffassung der hermeneutischen Tätigkeit kondensiert. Die »Kunst des Verstehens« bestimmt er als »das geschichtliche und divinatorische (profetische) objektive und subjektive Nachkonstruieren der gegebenen Rede« (ebd., 93). Daraus ergeben sich vier Aufgaben der >Nachkonstruktion< eines Textes. Die Attribute >objektiv< und >subjektiv< beziehen sich auf den Status der zu verstehenden Rede bzw. des zu verstehenden Textes als manifestes sprachliches Objekt einerseits und als gedankliche, in einem Subjekt präsente Größe andererseits. >Geschicht-lich< meint die historisch-rekonstruktive Perspektive des Interpreten, die sich auf das Erkennen von Sachverhalten und deren Entstehung richtet; mit >divinatorisch< oder >prophetisch< ist dagegen ein Modus des Vermutens (»ahnden«; ebd., 94) ge- meint, der weniger den Status des Wissens als vielmehr den schwächerer Hypothesen hat. Als »objektiv divinatorische« Tätigkeit zielt sie auf eine in die Zukunft orientierte, prospektive Sichtweise, die sich auf das historische Entwicklungspotenzial des Textes für die Sprache richtet, also auf seine verändernd wirkende Rückkopplung an die Sprache, aus der er entstanden ist. Als »subjektiv divinatorische« Tätigkeit bezieht sie sich in demselben Modus und mit derselben Fragestellung auf die dem Text zugrunde liegenden Gedanken. Die vier Auslegungstätigkeiten führen nur gemeinsam zum Ziel, und dieses Gesamtziel der hermeneutischen Arbeit liegt darin, »>die Rede zuerst ebenso gut und dann besser zu verstehen als ihr Urheber«< (ebd., 94). Dabei geht auch Schleiermacher von einer Variante des >hermeneutischen Zirkels< aus, nach dem das Besondere eines Textes sich nur mit Bezug auf das Allgemeine (Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt und Geschichte) verstehen ließe, während zugleich das Allgemeine nur aus dem einzelnen Text erschlossen werden könne. Dasselbe Verhältnis gilt textintern für die Beziehung zwischen Textganzem und einzelner Textpassage. Grundbegriffe: Werk, Autor, Verstehen/ Auslegen Besonders wichtig sind im Rahmen dieses Ansatzes die Begriffe (1) >Werk<, (2) >Autor< und (3) >Verste-hen< bzw. >Auslegen<. 1. Den Werkbegriff reserviert Schleiermacher nicht füx literarische Texte, sondern bestimmt ihn weiter und ordnet ihn auch z. B. religiösen und juristischen Texten zu. Hauptmerkmale eines Werks sind seine »Einheit«, die in der Regel thematisch bestimmt wird, und seine »Komposition« (ebd., 167). Formal betrachtet sind Werke abgeschlossene Gebilde, innerhalb derer die einzelnen sprachlichen Elemente in einer signifikanten - wie man sie nennen kann - syntagmatischen Beziehung zueinander stehen. Zugleich wird aber diese geschlossene Einheit auch durch externe Bezüge bestimmt, insofern ihre sprachlichen Elemente mit dem Sprachsystem insgesamt und dem >Geist< ihres Urhebers verbunden sind. Der allgemein auf die Besonderheiten der Rede zielenden Rahmentheorie entspre- chend sind also bei jedem Werk sprachliche und autorbezogene Komponenten zu unterscheiden, die in entsprechenden Verfahrensweisen erschlossen werden müssen. Für die psychologische Auslegung liegt die thematische Einheit eines Werks in dem »den Schreibenden bewegende[n] Prinzip« (ebd., 167), das es zu verstehen gilt. Die besondere Komposition des Werks ist über die stilistischen Eigenheiten des jeweiligen Autors zugänglich. (1. Der Autor als Urheber der zu verstehenden Rede oder des zu interpretierenden Werks bildet also neben der Sprache die zweite Bezugsgröße zum Verständnis eines Texts. Auf ihn richtet sich die psychologische Interpretation. Sie erkennt - näherungsweise - den »Stil« (ebd., 168), in dem ein Autor seinen Gegenstand betrachtet und mit dem er ihn sprachlich gestaltet. Das Konzept des »Stils« fasst Schleiermacher also sehr weit. Der Autor steht in einem Geflecht aus sprachlichen, themen- und gattungsbezogenen Konventionen und Traditionen, so dass er kein völlig autonomer Schöpfen ist, sondern eben Vorgefundenes einsetzt. Allerdings kommt ihm beim Verfassen des Textes eine individualisierende Funktion insofern zu, als sich sowohl seine persönlichen Einstellungen zu diesen Traditionen und Konventionen als auch seine spezifischen sprachlichen Kompetenzen beim Schreiben niederschlagen und dem Text seine besondere thematische Ausrichtung und seine Form geben. Die Rekonstruktion biografischer Daten ist also eine wichtige Komponente für das Verstehen von Texten. Allerdings stellt sich im Fall sprachlicher Kunstwerke, so Schleiermacher, die Frage nach dem Wert, den der Entschluss zu einem bestimmten Werk im Leben seines Verfassers hat, als Frage nach der Beziehung von »Stoff und Form« (ebd., 186). Das heißt in literarischen Werken ist es nicht die biografische Perspektive, die dominiert, sondern die Perspektive der Integration von Intention und Werkgestalt. 3. Kunstgerechtes Auslegen ist die einzige Möglichkeit, einen verstehenden Zugang zu einem Text zu erlangen. Es zielt der oben zitierten »positiven Formel« entsprechend auf allgemeine und individuelle Aspekte des Textes und verbindet rekonstruktive und hypothetische Verfahren. Wenn Schleiermacher das Ziel dieser Auslegung im >Bes-serverstehen< des Textes sieht, so macht er zum ei- 312 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft Autororientierte Theorien und Methoden 313 nen deutlich, dass Kenntnisse über den Autor und seine spezifischen Bedingungen zwar eine notwendige Stufe im Prozess des Verstehens bilden, dass der Interpret aber über darüber hinausgehende Informationen verfügen kann, die dem Autor selbst nicht zugänglich gewesen sind. Zum anderen verweist diese Zielformulierung auf Schleiermachers Auffassung, dass das Auslegen eine nicht abschließbare Tätigkeit (vgl. ebd., 94 und 101) ist. Ein Grund für die Offenheit des Auslegungsgeschäfts liegt darin, dass das einzubeziehende, die Perspektive des Autors übersteigende Wissen im Laufe der Geschichte anwachsen bzw. sich wandeln kann. Zur Interpretationsmethode Schleiermachers Modell des Interpretierens postuliert das Ineinandergreifen von grammatischer und psychologischer Auslegung. Die grammatische Auslegung zielt auf das sprachlich Allgemeine, auf die vom Autor und seinen Zeitgenossen geteilte Sprachgemeinschaft und ihre Regeln, die den Text mit allen anderen Texten seiner Zeit verbinden. Zudem untersucht sie den Zusammenhang der Zeichen im Text. Als Hilfsmittel der Rekonstruktion sind Wörterbücher und Grammatiken heranzuziehen, zur Rekonstruktion des historischen Wissens entsprechende geschichtliche Darstellungen. Unter der Prämisse, dass »jede Rede immer nur zu verstehen [ist] aus dem ganzen Leben, dem sie angehört« (ebd. 78), zielt die psychologische Auslegung dagegen auf die Besonderheit des einzelnen Autors, der den Spielraum der Sprachverwendung auf seine spezifische Weise nutzt, bestimmte idio-synkratische Wendungen ausbildet, eigene Bilder verwendet etc. Zu rekonstruieren sind daher nicht allein die geschichtliche Situation, in der der Autor geschrieben hat, die Sprache, über die er verfügen konnte, und die Art und Weise, auf die ihm sein Gegenstand - Thema, Gattung, literarische Tradition - gegeben war, als er zu schreiben begann. Darüber hinaus sind die Lebensumstände des Autors zu berücksichtigen, soweit sie im Zusammenhang mit der zu rekonstruierenden >Eigentümlich-keit< seines Schreibens stehen. Diese lässt sich nun nicht nur aus einer Ansammlung historischer Kenntnisse der genannten Art erschließen. Viel- mehr muss zu dieser rekonstruktiven noch eine zweite »Methode« dazu treten, die »divinatorische« (ebd. 169). Mit Hilfe der ersten, rekonstruktiven, die Schleiermacher auch die »komparative« Methode nennt, gewinnen Interpreten zwar die Vergleichsbasis, die ihnen die Besonderheit des Textes vor der Folie früherer oder zeitgenössischer anderer Texte vor Augen führt; damit haben sie aber den Text noch nicht verstanden. Es fehlt der »unmit-telbarfe]« (ebd.) Zugang zum Text, den erst die divinatorische Methode bringt. Was genau unter diesem Verfahren zu verstehen ist, ist umstritten und wird aus Schleiermachers Ausführungen nicht völlig klar. In der Rezeption seiner Hermeneutik wurde unter »Divination« die Fähigkeit des Interpreten zur Nachschöpfung, ein Einfühlüngsmodus oder eine korrespondierende Bewusstseinshaltung verstanden, die »der stilistischen Produktivität des Autors« entspricht (Frank 1977, 47). Weniger voraussetzungsreich ist es, die »Divination« als bestimmten Typus eines Schlusses aufzufassen: Er beruht auf der Annahme der Gleichartigkeit aller Menschen und ihrer allgemeinen Empathiefähig-keit, die es ihnen ermöglicht, ausgehend von menschlichen Äußerungen Sinnhypothesen zu bilden. Die Funktion der divinatorischen Methode liegt darin, die im vergleichenden grammatischen und psychologischen Zugriff auf den Text rekonstruierten Interpretationsergebnisse zu verbinden: Ohne divinatorische Auslegung stehen die Ergebnisse unvermittelt nebeneinander; erst sie integriert das ansonsten Separierte. Hermeneutischer Intentionalismus Unter dem Einfluss dominierender textorientierter Interpretationsverfahren (vgl. II.5.2) ist die Bezugnahme auf den Autor in der Theorie und Praxis der Literaturinterpretation im 20. Jh. lange Zeit geradezu verpönt gewesen. Dennoch gab es engagierte und differenzierte Plädoyers für intentionalistische Interpretationsprogramme (vgl. Hirsch 1967). In neuerer Zeit kann von einer > Rückkehr des Autors< in die Literaturtheorie gesprochen werden (Janni-dis u.a. 1999). Im Zuge dieser >Rückkehr< ist der hermeneutische Intentionalismus von philosophischer und literaturwissenschaftlicher Seite auf- gegriffen und systematisch ausgearbeitet worden. Insbesondere ist dies im Rahmen der analytischen Literaturwissenschaft* geschehen, einem Ansatz, der seinen Namen und sein Profil der Integration von Methoden und Einsichten der analytischen Philosophie in die Literaturwissenschaft verdankt (vgl. Finke/Schmidt 1984; Lamarque/Olsen 2004). Bezugstheorie und Rahmenannahmen Obwohl man verschiedene Spielarten eines herme-neutischen Intentionalismus unterscheiden kann, gibt es eine Reihe von Rahmenannahmen, die in-tentionalistischen Interpretationsprogrammen gemeinsam sind. Diese allgemeinen Annahmen sind vor allem sprachphilosophischer Natur und betreffen die Struktur und Funktion von Intentionen. Literarische Werke sind nach hermeneutisch-inten-tionalistischer Auffassung Artefakte. Sie unterscheiden sich von Naturgegenständen u. a. dadurch, dass sie nicht >einfach da< sind, sondern von Menschen in einem (mitunter langwierigen) Schaffensakt hervorgebracht wurden. Ein literarisches Werk beruht auf sprachlichen Äußerungen, es ist eine Komposition, insofern seine einzelnen Bestandteile in Art und Anordnung nicht dem Zufall überlassen wurden. Da >hervorbringen<, >äußern< und komponieren Handlungsverben sind, bezeichnen sie per definitionem absichtliche Tätigkeiten. Dabei kann und muss man verschiedene Typen von Absichten unterscheiden, die jeweils unterschiedliche Aspekte eines literarischen Werks betreffen (zu verschiedenen Klassifikationsmöglichkeiten vgl. Bühler 1993a, 513; Hermeren 2003). Ein erster Typ, von Absichten betrifft die Art und Weise, in der ein bestimmter Text als Ganzer aufgenommen werden soll - etwa als Roman oder historische Abhandlung, als Detektivgeschichte oder Polizeireport. Je nachdem, ob ein Text als Kunstwerk oder Sachtext gemeint ist, werden wir ein bestimmtes Set von Verhaltensweisen dem Text gegenüber für angemessen halten oder nicht: So wird man vom Autor des Textes beispielsweise Aufrichtigkeit in Bezug auf die Gegenstände seiner Mitteilung verlangen (Sachtext) oder nicht (Kunstwerk). Entsprechende Absichten, die die Aufnahme eines Textes betreffen, werden als >kategoriale Intentionen< bezeich- net (vgl. Levinson 1996,64 f.). Ein anderer Typ von Intentionen betrifft konkrete Inhalte, die ein Sprecher mit den von ihm eingesetzten sprachlichen Mitteln zu verstehen geben will. Mit der Äußerung »Das Wetter ist so schön!« kann man beispielsweise zu verstehen geben, dass man das Wetter tatsächlich schön findet, oder aber ironisch anmerken, dass man die Wetterlage gar nicht schätzt, oder aber, unter bestimmten Umständen, dass man es vorziehen würde, wenn ein Fenster geöffnet würde. Solche Intentionen, die den Inhalt des Mitgeteilten betreffen, kann man semantische Intentionen< nennen. Neben weiteren Intentionstypen, die hier nicht im Detail von Belang sind, kann man eine große Sammelklasse von nicht-sprachbezogenen Intentionen abgrenzen, die sonstige Dinge betreffen, die man mit einer Äußerung bezwecken kann: Man kann jemandem eine Freude machen, Geld verdienen, ein drohendes Unheil abwenden wollen. Für alle der hier genannten Intentionen gilt unter anderem, dass sie (1) zugleich vorliegen können, (2) dem Sprecher nicht immer bewusst sein müssen und (3) von >außen<, d.h. aus der Perspektive der dritten Person, zugänglich sind. Grundbegriffe: Literatur, Autor, Leser, Interpretation Literarische Werke sind nach hermeneutisch-in-tentionalistischer Auffassung Bedeutung tragende sprachliche Gebilde, die der Interpretation bedürfen, um verstanden zu werden. Im Rahmen eines hermeneutisch-intentionalistischen Programms lässt sich der oft ungenau gebrauchten Rede von literarischer Kommunikation< insofern ein präziser Sinn abgewinnen: Autoren produzieren literarische Werke, um bestimmte Dinge zum Ausdruck zu bringen, und sie tun dies im Blick auf Leser, die über die zum Verständnis des Werkes erforderlichen Ressourcen verfügen. (Dies schließt nicht aus, dass der angesprochene Leserkreis sehr klein sein kann.) Leser wiederum können erkennen, welche kategorialen Intentionen einem bestimmten Text zugrunde liegen, und den damit verbundenen Appell auffassen, den Text aus diesem Grund auf bestimmte Weise zu behandeln. Man hat die literarische Kommunikation als institutionelle Praxis< 314 Theorien undJMe^ beschrieben, um das hohe Maß an regelgeleiteter kommunikativer Übereinkunft zu charakterisieren, das zwischen Autoren und Lesern besteht: Ein fik-tionales literarisches Werk kann überhaupt nur dann geschrieben werden, wenn es die Institutionen der Fiktionalität und der Literatur gibt - das heißt, wenn Autoren und Leser Angehörige einer gemeinsamen institutionellen Praxis sind, in der geregelt ist, wie man mit fiktionalen im Unterschied zu nicht-fiktionalen und literarischen im Unterschied zu nicht-literarischen Texten umgeht.42 Vorgeworfen wird Vertretern des hermeneutischen Intentionalismus, dass sie die literarische Kommunikation als zu nahe an der Alltagskommunikation konzipieren und folglich die Autonomie literarischer Werke nicht ernst (genug) nehmen. In der Tat zeichnet sich die literarische Kommunikation gegenüber der Alltagskommunikation u.a. durch eine zerdehnte Kommunikationssituation aus. Autoren und Leser sind oft räumlich und auch zeitlich voneinander getrennt. Was daraus im Einzelnen folgt, ist jedoch umstritten (vgl. Nathan 2006,288-293). Welche Rolle das Konzept der semantischen Intentionen im Falle der literarischen Kommunikation spielt, kann erst auf der Basis einer Unterscheidung zweier verschiedener Ausprägungen des hermeneutischen Intentionalismus genauer erläutert werden: Es handelt sich um (1) den Hypothetischen Intentionalismus (hypothetical intentionalism) und (2) den Starken Intentionalismus (actual intentionalism; vgl. Carroll 2001; Levinson 2002; Stecker 2006). Die Unterscheidung basiert auf zwei verschiedenen Weisen, die Bedeutung sprachlicher Äußerungen zu bestimmen - nämlich einerseits als das, was ein kompetenter Hörer (in einer gegebenen Situation und angesichts der verwendeten sprachlichen Mittel) dem Sprecher als intendierte Bedeutung vernünftigerweise zuschreiben würde (>Äußerungsbedeutung<), und andererseits als das, was ein Sprecher (in einer gegebenen Situation und in Übereinstimmung mit den sprachlichen Konventionen) zu verstehen geben will (>Sprecherbe- deutung<).43 Entsprechend sehen die Ausprägungen des hermeneutischen Intentionalismus folgendermaßen aus: 1. Dem Hypothetischen Intentionalismus zufolge sollte ein literarischer Text nach dem Modell der Äußerungsbedeutung interpretiert werden: Wenn man interpretiert, versucht man herauszufinden, was jemand, der einen Text verfasst hat, seinen Lesern vermutlich - das heißt auf der Basis des Textes selber sowie relevanter Informationen über den historischen Entstehungskontext, etwa zur Themengeschichte oder Gattungstradition - hat zu verstehen geben wollen. Als Ergebnis der Interpretation wird das Ergebnis dieses Zuschreibungspro-zesses angesehen - und zwar auch dann, wenn der Autor de facto etwas anderes zu verstehen geben wollte. 2. Dem Starken Intentionalismus zufolge sollte ein literarischer Text nach dem Modell der Sprecherbedeutung interpretiert werden: Wenn man interpretiert, versucht man herauszufinden, was der Autor mit dem vorliegenden Text tatsächlich zu verstehen geben wollte. Wohlbegründete Hypothesen über Mitteilungsabsichten, die für den Hypothetischen Intentionalismus das Ziel von Interpretationen darstellen, sind für den Starken Intentionalismus lediglich unvermeidbare Schritte auf dem Weg zum eigentlichen Ziel der Interpretation: der Ermittlung der tatsächlichen semantischen Intentionen des Autors. Hypothetischer Intentionalismus und Starker Intentionalismus verfügen über eine Reihe von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, die hier noch einmal herausgestellt werden sollen. Beide Ansätze verstehen die Grundaufgabe des Interpretierens in derselben Weise. Wenn man sich ein Textelement (etwa die Figur des russischen Freundes in Kafkas Das Urteil) verständlich machen möchte, so fragt man nach dessen Zweck. (Man fragt beispielsweise: >Weshalb wird über die Figur in dieser und jener Weise gesprochen?< oder >Weshalb dominiert die interne Fokalisierung?<) Die Frage nach dem Zweck ist für den Intentionalisten eine Frage danach, was jemand mit bestimmten Textelementen oder einem 42 Vgl. Peter Lamarque/Stein H. Olsen: Truth, Fiction, and Literature. A Philosophical Perspective. Oxford 1994, insbesondere Kapitel 2 und 10. 43 Vgl. William Tolhurst: On What a Text Is and How It Means, la: British Journal of Aesthetics 19. Jg„ 1 (1979), 3-14. Text als Ganzem bezweckt hat - oder, anders gesagt, was jemand mit der Auswahl, Anordnung und Kommunikation der Elemente zu verstehen geben wollte. Unterschiede zwischen Hypothetischem Intentionalismus und Starkem Intentionalismus gibt es nun vor allem in Bezug auf die mit dieser Frage verbundene Autorkonzeption und die Kontextwahl. Für den Starken Intentionalismus markieren die tatsächlichen semantischen Intentionen des (historischen) Autors das Ziel der Interpretation. Es geht also darum herauszufinden, was der Autor bezweckt hat. Entsprechend muss man bei der Interpretation neben dem literarischen Text alles heranziehen, was ein besseres Verständnis der semantischen Intentionen des Autors befördern kann. Neben dem veröffentlichten Gesamtwerk kommen beispielsweise auch private Tagebuchaufzeichnungen oder sonstige Äußerungen in Frage. Der Hypothetische Intentionalismus beschränkt dagegen den Bereich zulässiger Kontextinformationen. Was ein literarisches Werk zu verstehen gibt, muss aus dem Werk selbst sowie weiteren öffentlich zugänglichen Informationen erschlossen werden. Im Einzelnen ist die Abgrenzung zulässiger von nicht-zulässigen Kontextinformationen allerdings kaum stringent bestimmt. Entscheidend für den Vertreter des Hypothetischen Intentionalismus ist denn auch, dass die Suche nach literarischer Bedeutung nicht eine Suche nach den semantischen Intentionen ist, die der Autor de facto gehabt hat, sondern eine Suche nach semantischen Intentionen, die die Elemente des Werkes >im besten Licht< - d. h. als in möglichst sinnvoller Weise arrangiert - erscheinen lassen. Diese Suche sollte, so der Hypothetische Intentio-nalist, an ihr Ziel kommen, auch ohne dass private Aufzeichnungen des Autors konsultiert würden: Es geht sozusagen darum, die semantischen Intentionen eines hypothetischen historischen Autors zu erschließen, d.h. eines Autors, von dem man annimmt, dass er die semantischen Intentionen, die sich auf der Basis von Werk und (öffentlichem) Kontext erschließen lassen, vernünftigerweise hätte haben können. Verglichen mit dem Starken Intentionalismus kommt dem literarischen Werk in der Konzeption des Hypothetischen Intentionalismus eine größere Autonomie zu. Man kann sich fragen, inwiefern dessen Programm überhaupt noch im eigentlichen Sinne >intentionalistisch< zu nennen ist. Fällt nicht ein so konzipierter hermeneutischer Intentionalismus mit einer anti-intentionalistischen Position zusammen, die semantische Intentionen für schlichtweg irrelevant erklärt? Der Hypothetische Intentionalist wird hier antworten, dass der Rekurs auf semantische Intentionen schon aus begrifflichen Gründen erforderlich ist, da sich die Idee komplexer Bedeutungen kaum anders verständlich machen lasse (vgl. Juhl 1978; Searle 1994). Das Problem steht in einer Reihe mit weiteren Problemen, denen sich der hermeneutische Intentionalismus stellen muss und gestellt hat. So kann man u.a. folgende Fragen aufwerfen: Was ist ein optimal informierter Leser? Wie ist mit Mehrdeutigkeit umzugehen? Wie ist mit offensichtlich inakzeptablen Absichtsbekundungen von Autoren umzugehen? Sind die Konzepte geeignet, Interpretationskonflikte zu entscheiden? Macht es auch in Bezug auf lange und komplexe literarische Werke Sinn, von intendierten Bedeutungen auszugehen? Können literarische Werke auch nicht intendierte (>symptomatische<) Bedeutungen zum Ausdruck bringen? (Vgl. Carroll 2001 und Stecker 2006; für ein interpretationspraktisches Beispiel vgl. Müller 1993) Zur Interpretationsmethode des hermeneutischen Intentionalismus Das Ziel einer hermeneutisch-intentionalistischen Interpretation besteht darin, sich die Elemente eines Uterarischen Textes verständlich zu machen. Was damit im Einzelnen gemeint sein kann, wurde im vorhergehenden Abschnitt erläutert. Hier geht es darum, das hermeneutisch-intentionalistische Interpretationsver/ö/iren als solches zu präzisieren. Hermeneutische Operationen beginnen mit einer Problemstellung, in der möglichst klar bezeichnet wird, welcher Aspekt des Textes erklärt werden soll. Das kann geschehen, indem man eine Frage formuliert, etwa >Welches Thema hat Goethes Erlkönige oder >Welche Funktion hat die Shakespeare-Anspielung in C. F. Meyers Der Marmorknabel< Anschließend analysiert man den Text, untersucht (zulässige und relevante) Kontextinformationen 316 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft Autororientierte Theorien und Methoden 317 und stellt Antworthypothesen auf, die anhand verschiedener Kriterien auf ihre Angemessenheit geprüft werden. Die Standards, die hier zur Anwendung kommen können, sind u.a. im Rahmen der allgemeinen Wissenschaftstheorie ausführlich diskutiert worden, und sie sind nicht nur im Rahmen der Hermeneutik einschlägig (vgl. Quine/Ullian 1978; Strube 1992). Zu den wichtigsten gehören (1) Korrektheit, (2) Widerspruchsfreiheit, (3) Umfassendheit, (4) historische Angemessenheit und (5) Einfachheit. Prüft man seine Hypothesen anhand solcher Kriterien, so kann man zu dem Ergebnis kommen, dass bestimmte Hypothesen als unangemessen aussortiert und andere modifiziert (und dann erneut geprüft) werden müssen. Das wiederholte Prüfen und Modifizieren kann man als >her-meneutischen Zirkeh bezeichnen: Man trägt ein bestimmtes Set von Hypothesen an seinen Gegenstand heran, betrachtet diesen sozusagen >im Licht der Hypothesen< und versucht im nachfolgenden Prüfungs- und Modifikationsprozess, seine Hypothesen angesichts vorliegender Daten und anhand der genannten Kriterien so gut wie möglich zu schärfen. Resultat eines solchen Prozesses sind Hypothesen, die man als begründete Antwort auf die hermeneutische Ausgangsfrage akzeptieren kann. Dabei ist die Begründung in aller Regel fallibel, d. h. sie kann auf der Basis neuer Evidenzen außer Kraft gesetzt werden, und pro tanto, d.h. sie berechtigt uns nur zu einem gewissen Grad dazu, eine Hypothese zu akzeptieren. Hermeneutische Operationen können ein breites Spektrum mehr oder weniger gut begründeter Auffassungen über ihren Gegenstand ergeben. Es ist ebenso falsch zu sagen, das alleinige Ziel hermeneutischer Bemühungen sei die Gewissheit der Wahrheit bestimmter Annahmen, wie es falsch ist zu sagen, hermeneutische Operationen bestünden im >dezisionistischen< Erwerb von Meinungen, für die sich keine Gründe beibringen ließen. Diese Skizze einer hermeneutisch-intentionalis-tischen Methodenlehre lässt viele Fragen offen. Einige dieser Fragen betreffen das skizzierte Verfahren als solches: So sind die einzelnen Kriterien genauer zu explizieren, und es muss geklärt werden, in welcher Weise sie miteinander zusammenhängen und was zu tun ist, wenn sie in Konflikt geraten (d.h. wenn zwei Kriterien zwei unterschiedliche Hypothesen auszeichnen). Andere Desiderate sind eher grundsätzlicher Art. So setzt das hier vorgestellte Modell ein bestimmtes, präzisionsbedürftiges Bild von Rationalität voraus, d.h. es basiert auf der Annahme, dass man bestimmte Auffassungen mit guten Gründen vertreten kann und sollte. Von einer (umfassenderen) Hermeneutik kann man ferner erwarten, dass sie den Verstehens-begriff als solchen genauer charakterisiert (vgl. Rosenberg 1981; Scholz 1999). Insofern das Textverstehen durch Operationen befördert werden kann, die methodisch angeleitet werden können, hängen die Begriffe des Verstehens und Erklärens eng miteinander zusammen. Von jemandem, der etwas zu verstehen versucht, kann man oft auch sagen, er versuche, es sich zu erklären. In mehr oder minder expliziter Form finden sich solche Verfahren nicht nur sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Geisteswissenschaften, sondern in allen möglichen Lebenszusammenhängen, in denen man darum bemüht ist, sich einen Gegenstand auf rationale Weise verständlich zu machen.44 Literatur Bühler, Axel: Der hermeneutische Intentionalismus als Konzeption von den Zielen der Interpretation. In: Ethik und Sozialwissenschaften 4. Jg., 4 (1993a), 511-518. Bühler, Axel: Jetzt verstehe ich meine Absichten besser. In: Ethik und Sozialwissenschaften 4. Jg., 4 (1993b), 574-585. Bühler, Axel (Hg.): Hermeneutik. Basistexte zur Einführung in die wissenschaftstheoretischen Grundlagen von Verstehen und Interpretation. Heidelberg 2003. Carroll, Noel: Interpretation and Intention: The Debate between Hypothetical and Actual Intentionalism. In: Ders.: Beyond Aesthetics. Philosophical Essays. Cambridge 2001,197-213 und 418-420. Finke, Peter/Schmidt, Siegfried J. 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So wendet er psychoanalytische Verfahren zur Erklärung des Verhaltens literarischer Figuren an (etwa Hamlets in Die Traumdeutung, Freud 2000, Bd. 2, 268-270; in »Psychopathische Personen auf der Bühne«, ebd., Bd. 10,166 f.). Diese Erklärungen leisten nicht nur einen Beitrag zur Deutung des betreffenden literarischen Werks, ihnen kommt zugleich eine Beispielfunktion und damit eine Rolle in der psychoanalytischen Theoriebildung zu. Die Dichter sind für Freud daher »Bundesgenossen«, die in ihren Werken Einsichten der wissenschaftlichen Psychologie vorwegnehmen (in »Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva«, vgl. Freud 2000, Bd. 10, 82, Zit. 14). Außerdem entwickelt Freud eine auf psychoanalytischen Einsichten fußende Theorie der Produktion und Rezeption fikti-onaler Literatur (»Der Dichter und das Phantasieren«, in: Freud 2000, Bd. 10,171-179). Die Psychoanalyse ist schon bald nach ihren Anfängen keine homogene Forschungsrichtung mehr. 318 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft Autororientierte Theorien und Methoden 319 Mit der Fortentwicklung und Umbildung der Theorien Freuds durch Mitarbeiter und Schüler hat sich zugleich ein weiteres Spektrum literaturbezogener (>tiefenpsychologischer<) Anwendungsmöglichkeiten ergeben. Zu nennen sind etwa CG. Jungs >Analytische Psychologien Norman Hollands Rezeptionstheorie sowie Jacques Lacans >strukturale Psychoanalyse< (vgl. Schönau/Pfeiffer 2003). Die nachstehenden Ausführungen konzentrieren sich auf die beiden literaturwissenschaftlich,besonders wirkungsmächtigen Richtungen, die >klassische< psychoanalytische Literaturwissenschaft, die sich vornehmlich auf Freud selbst beruft, und die vor allem für poststrukturalistische Ansätze wichtige strukturale Variante. Bezugstheorie und Rahmenannahmen Die Freud'sche Psychoanalyse ist ein umfassendes Theoriegebäude, das ein Modell des Aufbaus und der Wirkungen des psychischen Apparats (der >Seele<), Thesen zur Individualentwicklung, Erklärungsansätze für menschliches Verhalten und menschliche Hervorbringungen (u. a. Träume, Handlungen, Kunstwerke), eine ausgeprägte Psychopathologie sowie Therapiemodelle beinhaltet. Freuds Theorie der menschlichen Seele sondert drei Hauptkomponenten voneinander ab, die sich vor allem in funktionaler Hinsicht unterscheiden und zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Individualentwicklung ausgeprägt werden (vgl. die kon-zise Darstellung in »Abriß der Psychoanalyse« [1938], in: Freud 1953). Der älteste (und für die Psychoanalyse zugleich wichtigste) Bestandteil der Seele ist das >Es<, das Träger der Triebe und des >Unbewussten< ist. Unter Letzterem werden jene Gehalte der Seele verstanden, die uns weder unmittelbar bewusst sind, noch ebenso schnell wie leicht bewusst gemacht werden können. Ein Teil des Unbewussten ist von Geburt an vorhanden, ein Teil entsteht unter bestimmten Bedingungen im Zuge der Ich-Entwicklung und wird als das >Verdrängte< bezeichnet. Das >Ich< ist die zweite Hauptkomponente der Seele und das Zentrum willensgesteuerter Aktivität. Seine Funktion ist es, die Ansprüche von Es, Außenwelt und >Über-Ich< zu integrieren. Das Über-Ich ist die dritte Hauptkomponente, die sich zuletzt zu entwickeln beginnt und die interna-lisierte Instanz insbesondere des elterlichen Einflusses darstellt. Das Über-Ich übernimmt als beobachtende, beurteilende und gegebenenfalls strafende Instanz fortan die Funktion der Eltern und wird vom Handelnden als sein Gewissen empfunden. Besonders wichtig für die Individualentwicklung ist nach psychoanalytischer Auffassung die Entwicklung des Sexuallebens, die bereits kurz nach der Geburt einsetzt (und entsprechend weiter gefasst wird als nach herkömmlichem Verständnis, das sie in der Pubertät beginnen lässt). Diese Entwicklungverläuft in zwei getrennten Stufen: Bereits das Kleinkind durchläuft demnach eine Reihe von Phasen (>orale Phase<, >sadistisch-anale Phase<, >phallische Phase<), die um das fünfte Lebensjahr abgeschlossen sind und von einer Pause (>Latenz-zeit<) abgelöst werden. Zu Beginn der Pubertät setzt sich die Sexualentwicklung in der zweiten Stufe fort, wobei die Einflüsse der ersten prägend bleiben. Die Latenzzeit wird durch die libidinöse Hinwendung des Kindes zum gegengeschlechtlichen Elternteil bei gleichzeitiger Rivalität gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Elternteil eingeleitet. (Bei Jungen spricht man vom >Ödipuskomplex<.) Beide Impulse werden im Prozess der Individualentwicklung - im Zuge der Ausbildung des Über-Ichs - zugunsten einer Identifizierung mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil aufgegeben; sie können jedoch auch für späteres Verhalten bestimmend werden. Zum Kernbestand der Psychoanalyse gehört die Auffassung, dass sich das Verhalten einer Person nicht umfassend erklären lässt, wenn man lediglich berücksichtigt, was der Person selbst bewusst ist. Vielmehr speist sich das Verhalten aus unbewussten Quellen, zu denen die Person in der Regel keinen unmittelbaren Zugang hat. So können etwa die eigentlichen Triebkräfte einer Handlung vom Handelnden unter dem Druck sozialer Erwartungen verdrängt werden. Fragt man ihn nach den Gründen oder Motiven seiner Handlung, so könnte er -durchaus aufrichtig - eine Antwort geben, die die wahren Ursachen der Handlung - etwa den Wunsch nach der Erfüllung enttäuschter, oftmals sexuell konnotierter Wünsche - verkennt. Entsprechende Mechanismen der >Transformation< nicht normge- rechter Wünsche beginnen früh in der Individualentwicklung und finden ihren Niederschlag in verschiedensten Lebensbereichen. Eines der berühmtesten Beispiele ist der Ödipuskomplex. Ein weiteres, von Freud selbst ausführlich untersuchtes Beispielfeld sind die Träume (vgl. Die Traumdeutung, Freud 2000, Bd. 2). Hinter dem >manifesten< Inhalt eines Traumes, den der Träumende wiederzugeben in der Lage ist, kann der Analytiker einen >latenten< Trauminhalt rekonstruieren, der durch bestimmte Mechanismen der >Traumarbeit< (u.a. >Verdichtung< und >Verschiebung<) entstellt wurde: »Das Studium der Traumarbeit lehrt uns an einem ausgezeichneten Beispiel, wie unbewußtes Material aus dem Es, ursprüngliches und verdrängtes, sich dem Ich aufdrängt, vorbewußt wird und durch das Sträuben des Ichs jene Veränderungen erfährt, die wir als die Traumentstellung kennen.« (»Abriß der Psychoanalyse«, in: Freud 1953,31) Grundbegriffe: Autor, Werk, Leser, Interpretation, Kontext, Begehren und Sprache Im Rahmen der >tiefenpsychologischen< Literaturwissenschaft sind verschiedene Auffassungen zu den gegenstandsbezogenen Grundbegriffen der Literaturtheorie entwickelt worden. Zunächst werden nur solche Bestimmungen von (1) Autor und literarischem Werk sowie von (2) Leser, Interpretation und Kontext skizziert, die im Großen und Ganzen der >klassischen< Psychoanalyse entsprechen. Im Anschluss daran werden (3) das strukturale Modell Lacans und seine Uteraturwissenschaftlichen Adaptionen umrissen. Der darauf folgende Abschnitt benennt summarisch (4) einige Probleme der dargestellten Konzepte. 1. In »Der Dichter und das Phantasieren« hat Freud die Umrisse einer produktionsästhetischen Theorie des literarischen Werks vorgelegt. >Pro-duktionsästhetisch< ist diese Theorie insofern, als sie die Besonderheit fiktionaler literarischer Werke - Freud spricht von >Dichtung< - auf deren Genese zurückführt. Das Dichten ist demnach eine Fortsetzung des kindlichen Spiels unter den Vorzeichen des Erwachsenenalters. Der Lustgewinn, den Kinder aus dem Spielen gewinnen können, wird im Falle Erwachsener durch das >Fantasieren<, durch >Tagträume< gewährt, in denen der Fantasierende die Erfüllung unbefriedigter Wünsche erlebt: »Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit.« (Freud 2000, Bd. 10, 173 f.) Dabei treten Elemente der Vergangenheit, der Gegenwart und Zukunft des Fantasierenden zusammen: »Die seelische Arbeit knüpft an einen aktuellen Eindruck [...] an, der imstande war, einen der großen Wünsche der Person zu wecken, greift von da aus auf die Erinnerung eines früheren, meist infantilen, Erlebnisses zurück, in dem jener Wunsch erfüllt war, und schafft nun eine auf die Zukunft bezogene Situation, welche sich als die Erfüllung jenes Wunsches darstellt« (ebd., 174). Fantasien oder Tagträume sind indessen kein unverfälschter Ausdruck der oftmals verdrängten Wünsche der Person; vielmehr transformieren bestimmte seelische Mechanismen den >latenten< Gehalt einer Fantasie, der sich hinter ihrem >manifesten< Gehalt verbirgt. Freud zufolge lässt sich das Dichten nach demselben Muster verstehen wie das Fantasieren: Es stellt eine Form der Erfüllung eines (verdrängten) Wunsches dar und sein latenter Gehalt lässt sich demnach analog zur Analyse des latenten Fantasieoder Trauminhalts rekonstruieren. 2. Psychoanalytisch beschreiben kann man auch Aspekte der Leserrolle. Dabei lassen sich zwei unterschiedliche Theorietypen unterscheiden: Eine psychoanalytische Rezeptionstheorie beschreibt die psychischen Prozesse, die beim Lesen Uterarischer Werke ablaufen, und sucht insbesondere die unbewussten Wirkungen der Literatur systematisch zu beschreiben. Eine psychoanalytische Interpretationstheorie stellt dagegen auf psychoanalytischen Annahmen beruhende Verfahren und Standards auf, anhand derer sich Uterarische Werke deuten lassen. (Um es etwas überspitzt zu sagen: Eine Rezeptionstheorie beschreibt, was einem Leser geschieht, während eine Interpretationstheorie beschreibt, was ein Interpret tut bzw. zu tun hat.) Bereits Freud selbst hat Aspekte der leserbezogenen Wirkung literarischer Werke beschrieben. So wird die >Lust<, die mit der Rezeption literarischer Werke einhergeht, als eine Wirkung der künstlerischen Gestaltungselemente des Werkes angesehen: »Der Dichter mildert den Charakter des egoistischen 320 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft Tagtraumes durch Abänderungen und Verhüllungen und besticht uns durch rein formalen, d. h. ästhetischen Lustgewinn [...].« (Ebd., 179; zur Kritik vgl. Rühling 2001,490-492) Einer solchen »Vorlust« kann sodann eine kathartische Lust »aus tiefer reichenden psychischen Quellen« an die Seite treten - dies wohl nicht zuletzt deshalb, weil »uns der Dichter in den Stand setzt, unsere eigenen Phantasien nunmehr ohne jeden Vorwurf und ohne Schämen zu genießen« (»Der Dichter und das Phantasieren«, Freud 2000, Bd. 10, 179). Um den Reaktionen des Lesers auf einen Text auf die Spur zu kommen, kann man das im Anschluss an Freud entwickelte Verfahren der >Gegenübertragungs-analyse< anwenden. Grundlegend für dieses Verfahren ist die Annahme, dass dem Analytiker im therapeutischen Gespräch von Seiten des Patienten eine bestimmte Rolle zugeschrieben wird (>Über-tragungO, die der Analytiker auf bestimmte Weise, nämlich auf der Grundlage seiner eigenen, teils unbewussten Wünsche beantwortet (>Gegenübertra-gung<). Die Analyse einer Gegenübertragung soll nun, angewandt auf die literarische Kommunikation, dabei helfen, das Kommunikationsangebot des literarischen Werkes zu verstehen (vgl. Schönau/Pfeiffer 2003, 50-53). Wenn eine solche Analyse darauf zielt, nicht nur die Psyche des Interpreten, sondern (etwa nach dem Muster der Traumdeutung) latente oder manifeste Gehalte des Werkes selbst zu verstehen und zu beschreiben, überschreitet sie die Grenze von der Rezeptionstheorie zur Interpretationstheorie. Eine solche Theorie ist »trans-intentionalistisch<, insofern sie (wie der hermeneu-tische Intentionalismus, vgl. II.5.3.1) das literarische Werk als Bedeutung tragende Hervorbringung einer Person betrachtet, dabei jedoch »über die Intention des Autors [...] zu dessen Unbewußtem hinausgeht, um auf diese Weise die besondere Textgestalt zu erklären« (Strube 2000, 43). Dabei sollte nicht vergessen werden, dass auch gesonderte Aspekte des literarischen Werks Gegenstand einer psychoanalytischen Interpretation sein können (so wie sich etwa auch einzelne Elemente eines Traumes analysieren lassen). Einschlägig sind insbesondere die Analyse der Figuren bzw. des Plots sowie die Analyse (sprachlicher) Symbole: Im Falle der Figurenanalyse behandelt der Interpret die fiktiven Figuren wie reale Personen, um ihr Verhalten psy- choanalytisch zu erklären (vgl. z. B. »Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva«, Freud 2000, Bd. 10, 67-72); es handelt sich um einen der Fälle psychoanalytischen Interpretierens, in denen die Biografie des Autors völlig unberücksichtigt bleiben kann (vgl. Rühling 2001, 487-489). Die Analyse von Symbolen kann auf die Dechiffrierung etwa einzelner Metaphern oder selbst größerer nar-rativer Einheiten hinauslaufen (zur Symbolik in der Traumanalyse vgl. das Symbolregister in Freud 2000, Bd. 2,629-631). Als für die psychoanalytische Interpretation relevanter Kontext können Daten aus der Biografie des Autors herangezogen werden; einschlägig sind - neben Selbstäußerungen in Briefen, Tagebüchern oder Ähnlichem - insbesondere Erlebnisse der Kindheit. Allerdings kann der Kontext auch ausgeweitet werden: Das literarische Werk gilt dann als Ausdruck >zeittypischer< Faktoren, die vom Werk eines bestimmten Autors gewissermaßen verkörpert werden (vgl. Rühling 2001,488). 3. Eine für die Literaturwissenschaft seit den 1980er Jahren wichtige psychoanalytische Variante stellt die strukturale Psychoanalyse Jacques Lacans dar. Lacan schließt an Freuds Theorie an und verbindet sie mit Grundannahmen strukturaler Sprachtheorie. Dabei verwendet er einen an Saussure orientierten Zeichenbegriff, der die Arbitrari-tät des Zeichens besonders betont und nach dem die Signifikanten allein auf andere Signifikanten verweisen. Dieser Auffassung gemäß tragen Zeichen keine stabile Bedeutung, über die ein Sprecher verfügen könnte; Bedeutung ist vielmehr ein »Signifikanteneffekt« (Gallas 1981, 36). Sie liegt den Signifikanten nicht zugrunde, sondern wird »willkürlich* von ihnen hervorgerufen. In diesem Sinne gilt Lacan als poststrukturalistischer Theoretiker (vgl. II.5.2.2). Zu den Grundbegriffen der strukturalen Psychoanalyse zählt der Begriff des Begehrens. >Begehren< ist bei Lacan nur zum Teil als Haltung einer Person aufzufassen. Darüber hinaus bezeichnet der Begriff ein grundlegendes Prinzip, das verschiedene menschliche Aktivitäten, etwa Fühlen und Sprechen, verbindet und jeweils eine dynamische Beziehung meint. Im Bereich der Sprache ist unter »Begehren« »[eine] potentiell unendliche Bewegung von einem Signifikanten zum nächsten« zu verstehen (Eagleton 1997, 156). Diese Bewegung entsteht immer aus einem Mangel heraus: Sprache setzt, so Lacan, das abwesende Objekt voraus: Zeichen erhalten vorübergehend Bedeutung nur durch diese Abwesenheit und das Ausschließen anderer möglicher Bedeutungen. Die Verbindung von Psyche und Sprache kennzeichnet auch Lacans entwicklungspsychologisches Modell, mit dem er von Freud abweicht. Lacan nimmt eine vor-ödipale, >imaginäre< Phase an, in der ein Kind sich noch nicht klar von seiner Umwelt abgrenzen kann. Im sogenannten >Spiegelsta-dium< entdeckt das Kind ein einheitliches, immer klarer konturiertes Bild seiner selbst und entwickelt ein Gefühl für sein >Ich< und >das Andere<, mit dem es sich - in Gestalt seines Spiegelbildes - identifiziert. Diese Konstellation bildet die Voraussetzung für die anschließende >symbolische< Phase. An ihrem Anfang steht die Trennung von der Mutter, ein Vorgang, den das Kind im Sinne Freuds dem Vater zuschreibt. Diese Trennung fällt zusammen mit dem Eintritt des Kindes in die »symbolische Ordnung^ die es mit der Sprache erlernt. Sprache vermittelt also zum einen die geltende symbolische Ordnung, z.B. gesellschaftliche Normen und Geschlechterrollen. Mit dieser Kopplung von geschlechtlicher Orientierung und symbolischer Ordnung hat sich vor allem der literaturwissenschaftliche Feminismus auseinandergesetzt. Zum anderen vermittelt Sprache aber auch die Erfahrung, dass das sprachliche Zeichen die Abwesenheit des bezeichneten Objekts voraussetzt (vgl. Eagleton 1997, 156 f.). Solche Erfahrung der Nicht-Identität mit und der Abwesenheit von dem begehrten Objekt -Mutter und Signifikat - sorgt personintern für die Dauerhaftigkeit des Begehrens als permanente Suchbewegung. Für die literaturwissenschaftlichen Adaptionen von Lacans psychoanalytischem Modell ist eine These von besonderer Bedeutung: die Annahme, das Unbewusste sei wie eine Sprache aufgebaut. Lacan kombiniert hier linguistische, rhetorische und psychoanalytische Begriffe, so dass sprachliche und damit auch literarische Strukturen in derselben Terminologie erfasst werden wie psychische Strukturen. Nach diesem Modell setzt sich das Unbewusste zum einen, wie auch die Sprache, aus Signifikanten ohne fixierte Signifikate zusammen; zum anderen wird es mit Hilfe der Mechanismen des metaphorischen > Verdichtens< und metonymischen >Verschiebens< von Bedeutung strukturiert. Verdeutlichen lässt sich diese Annahme am Beispiel des Traums, in dem sich das Unbewusste manifestiert: In der Operation des Verdichtens werden mehrere Themenkomplexe oder Bildbereiche zu einem Bild zusammengefasst, das >metaphorisch< für etwas anderes steht, während das >Verschieben< darin besteht, den Inhalt eines Traumes von einem >verräterischen< Objekt auf ein anderes, unverdächtiges Objekt zu übertragen, das mit dem »eigentlich Gemeinten< ein oder mehrere Merkmale teilen kann. Dieses »Umstellen der Bedeutung« nennt Lacan >Metonymie< (Lacan 1975, 36; ausführlicher vgl. Eagleton 1997, 153-160). Wie im Traum, so spielen auch im Unbewussten ausschließlich Signifikanten eine Rolle. Was die Zeichen bedeuten, ist - per definitionem - verdrängt; die Signifikate sind abwesend. Von dieser Analogiebeziehung zwischen Sprache und Unbewusstem ausgehend, wurde das Modell Lacans auf die Literatur übertragen. Für Lacan ist Literatur kein Ausdruck regressiver Wünsche, sondern Ausdruck des Begehrens im oben skizzierten Sinne. Da das Begehren als konstitutiv für jeden Menschen angesehen wird, ist sein Ausdruck in der Literatur intersubjektiv.45 Der Autor legt den Sinn des Geschriebenen nicht fest, er bringt, nach den Regeln der Traum-Analogie, Bilder und Strukturen von relativer Eigendynamik hervor. Das Ziel der psychoanalytischen Textanalyse besteht auch in den Lacan-Adaptionen darin, einen >Subtext< zu rekonstruieren, der dem literarischen Text latent unterliegt. So wird nicht selten nach den Grundbegriffen der Lacan'schen Theorie im zu analysierenden Text gefragt, etwa nach dem Einsatz und der literarischen Gestaltung des >Be-gehrens< (z.B. Gallas 1981). Untersucht werden aber auch die Gesetzmäßigkeiten, die den literarischen Signifikantenketten zugrunde liegen (ebd.). Auch hier geht es, wie in den Freud-Varianten oftmals der Fall, darum, eine dem Verfasser unbewusste Bedeutung zu enthüllen oder ein nicht-in- 45 Vgl. Helga Gallas: Psychoanalytische Positionen. In: Helmut Brackert/Jörg Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek bei Hamburg 1992, 593-606, hier 603 f. 322 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft Autororientierte Theorien und Methoden 323 tentional eingesetztes Verfahren aufzuzeigen. Beides darf allerdings nicht auf den Verfasser rückbezogen werden, sondern ist als eine Bedeutungsschicht des Textes einzustufen. 4. Die psychoanalytische Literaturwissenschaft in beiden Varianten ist verschiedenen Einwänden ausgesetzt, von denen einige hier zumindest benannt werden sollten. Eine erste Gruppe von Einwänden betrifft die Psychoanalyse als Rahmentheorie. So werden beispielsweise die psychoanalytischen Thesen zur Individualentwicklung von der neueren psychologischen Forschung in Zweifel gezogen. Da sowohl die Bestimmung literaturtheoretischer Grundbegriffe als auch die Interpretationsverfahren stark von entsprechenden Theoremen abhängen, trifft eine solche Kritik auch die psychoanalytische Literaturwissenschaft. Auffällig ist, dass kognitionspsychologische Befunde, die etwa die Annahme eines >Spiegelstadiums< im Sinne Lacans widerlegen, bei den Vertretern psychoanalytischer Modelle nicht zur Aufgabe ihrer Theoreme führen. Vielmehr werden die empirischen Verfahren als solche nicht anerkannt, und es wird auf die Relativität jeder wissenschaftlichen Forschung verwiesen. Eine zweite Gruppe von Einwänden bezieht sich auf den Geltungsbereich jener psychoanalytischen Thesen, die im Bereich der Literaturtheorie und -interpretation aufgestellt werden. Hier scheint eine Einschränkung angebracht zu sein: Selbst wenn es nicht richtig sein sollte, dass beispielsweise alle literarischen Werke nach dem Muster einer Korrektur unerfüllter Wünsche verstanden werden können, so mag dies dennoch für mache Werke gelten (vgl. Rühling 2001,490). Eine dritte Gruppe von Einwänden betrifft die Unklarheit der Geltungsgründe psychoanalytischer Interpretationshypothesen: Selbst wenn man die Richtigkeit einschlägiger Theoreme voraussetzt, ist nicht Mar, ob sich rationale Argumente für oder gegen eine bestimmte Interpretation anfuhren lassen. Der Vorwurf lautet hier, dass die Interpretation eines Werkes im Wesentlichen aus den allgemeinen psychoanalytischen Theoremen selbst >abgeleitet< wird und durch textuelle Befunde nicht falsifiziert - und lediglich in kaum nennenswertem Maße bestätigt - werden kann. Psychoanalytische Interpretationen sind insofern schlimmstenfalls zirkulär oder selbstbestätigend und damit letztlich ohne erklärende Kraft,46 Während solche Einwände die psychoanalytische Literaturwissenschaft grundsätzlich in Frage stellen und in der Regel >von außen< an sie herangetragen werden, kann man eine vierte Gruppe von Problemen insofern als >Theorie-intern< bezeichnen, als sie im Rahmen der psychoanalytischen Theoriebildung aufgeworfen und auch einer Lösung zugeführt werden. Zu diesen Problemen gehören etwa die Fragen der Möglichkeit einer Trennung der psychischen Involviertheit des Lesers von Werkstrukturen und die damit verbundene Gefahr des >Hineinprojizierens< oder die Möglichkeit einer Analyse des Autors eines literarischen Werkes in absentia (vgl. z. B. Schönau/Pfeiffer 2003,104 f. und 106). Methode der Textinterpretation Die Verfahrensweise psychoanalytischer Textinterpreten - welche Elemente des Textes untersucht werden, welche Fragen an diese Elemente gestellt und welche Antworten akzeptiert werden - hängt stark von den jeweils zugrunde gelegten psychoanalytischen Theoremen ab (vgl. Anz 2002).47 Das Ziel einer Interpretation, die nach dem Muster der (klassischen) Traumdeutung verfahrt, besteht in der Aufdeckung des latenten Gehalts des literarischen Werks sowie einer damit verbundenen Benennung der Mechanismen, die das manifeste Werk haben entstehen lassen (zum Folgenden vgl. Strube 2000, 57-63). Der Interpret benutzt mithin psychoanalytische Theoreme, um die vorliegende Textgestalt zu erklären. Als heuristischer Anhaltspunkt der Analyse dienen Auffälligkeiten des Textes - etwa Unstimmigkeiten, Metaphern oder Symbole -, anhand derer sich ein Bezug zu einem psychoanalytischen Theorem - etwa der Verdrängung eines tabuisierten Wunsches - herstellen lässt. Von solchen Auffälligkeiten ausgehend kann der Interpret Hypothesen über weitere Werkbestandteile aufstellen und auf diese Weise eine kohärente Gesamtinterpretation zu erstellen versuchen. Neben >negativer< und >positiver< Kohärenz, die zwischen den Theoremen und Hypothesen bestehen soll, gelten weitere hermeneutische Standards: Einzelne Interpretationshypothesen sollten möglichst umfassend sowie einfach sein (vgl. II.5.3.1). Problematisch ist allerdings das Kriterium der Korrektheit: Der Witz einer psychoanalytischen Hypothese besteht ja gerade darin, dass sie keine manifesten Sachverhalte betrifft und sich folglich auch nicht etwa durch einen bloßen Blick in den Text oder die bloße Befragung des Autors überprüfen lässt. Eine Hypothese über latente Gehalte lässt sich (wenn überhaupt) nur anhand einer Kombination von manifesten (textuellen oder biografischen) Daten und psychoanalytischen Theoremen bestätigen. Im Falle kontroverser psychoanalytischer Theoreme, über deren Anwendungsbedingungen Uneinigkeit herrscht, kann das Kriterium der Korrektheit daher vermutlich nicht einfach im Sinne einer Übereinstimmung von Hypothese und Datenmaterial verstanden werden. Als korrekt könnten vielmehr solche Hypothesen gelten, denen die Mehrheit psychoanalytisch geschulter Interpreten zustimmen wurde. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht problematisch ist es indessen, wenn die psychoanalytische Interpretation als letztlich weder kriteriell geleitet noch als erklär- oder vermittelbar ausgewiesen wird (vgl. Schönau/Pfeiffer 2003, 102 f.). Wenn der psychoanalytische Interpret behauptet, dem »wahren Verstehen tieferer Zusammenhänge« könne man erklärend nicht beikommen (ebd., 103), so beruft er sich auf eine intuitiv-individuelle Deutungskompetenz, zu deren Charakterisierung bereits Freud treffende Worte gefunden hat: »Eine solche Kunst ist [...] nicht allgemein vorauszusetzen, ihre Leistungsfähigkeit ist jeder Kritik entzogen, und ihre Ergebnisse haben daher auf Glaubwürdigkeit keinen Anspruch.« (Die Traumdeutung, Freud 2000, Bd. 2,345) Literatur Anz, Thomas: Praktiken und Probleme psychoanalytischer Literaturinterpretation - am Beispiel von Kafkas Erzählung Das Urteil. In: Oliver Jahraus/Stefan Neuhaus (Hg.): Kafkas »Urteil« und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen. 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Innerhalb dieser Forschungsrichtung lassen sich zwei enger umrissene Ansätze unterscheiden: Eine Wirkungstheorie untersucht, inwiefern literarische Texte über eine implizite >Leser-rolle< verfügen, die an der >Sinnkonstitution< des Werkes beteiligt ist. Der Ansatz versteht sich insofern als >texttheoretisch<, da die Konstitution und Wirkungsbedingungen des literarischen Textes im Vordergrund stehen (vgl. Iser 1994,1, IV, 8). Die Rezeptionsgeschichte untersucht dagegen die Aufnahme, die ein literarischer Text im Laufe der Zeit bei seinem Publikum gefunden hat. Sie ist insofern historisch bzw. literaturgeschichtlich orientiert (vgl. ebd.). Als ein neues Forschungsparadigma wurde die Rezeptionsästhetik in ihrer wirkungstheoretischen (Iser 1970) und rezeptionsgeschichtlichen (Jauß 1967) Spielart Ende der 1960er Jahre in Konstanz ausgerufen (>Konstanzer Schule<).48 Beide Ansätze beanspruchen, die Literaturwissenschaft durch eine Aufwertung der Leserrolle von einer Fixierung auf eine >Darstellungs-< und >Produktionsäsfhetik< zu befreien (vgl. ebd., 26; Iser 1975, 329; Jauß 1997, 736 f.). Methodisch-theoretisch verpflichtet sind beide Ansätze insbesondere der hermeneutischen (Jauß) sowie der phänomenologischen (Iser) Tradition. Die stärker empirisch orientierte Rezeptionsforschung entfernt sich dagegen von der Rezeptionsästhetik Konstanzer Prägung und fällt in den Zuständigkeitsbereich der Literatursoziologie oder der (Leser-)Psychologie (vgl. II.5.4.2).49 Bezugstheorien und Rahmenannahmen Die Rezeptionsästhetik beruht auf verschiedenen Rahmenannahmen, die anderen literaturwissen- 48 Vgl. Müller 1988. 49 Vgl. Norbert Groeben: Rezeptionsforschung. In: Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. III. Berlin/New York, 288-290. schaftlichen Forschungsrichtungen (u.a. dem Strukturalismus) sowie der Philosophie (insbesondere der Phänomenologie) und der Psychologie entstammen. Von besonderer Bedeutung ist die phänomenologisch orientierte Literaturtheorie Roman Ingardens (1). Weiterhin setzt die Rezeptionsästhetik ein mehrstufiges Modell literarischer Kommunikation voraus (2). 1. Das literarische Werk ist nach Ingarden hinsichtlich seiner >Seinsweise< sowohl ein >realer< als auch ein >idealer< Gegenstand: Einerseits besteht es aus manifesten (>realen<) Schriftzeichen, andererseits haben diese Schriftzeichen (>ideale<) Bedeutungen, d.h. sie repräsentieren Gegenständlichkeiten, die nicht selbst auf dem Papier stehen und zu denen man nur in der Vorstellung einen Zugang hat (vgl. Ingarden 1960,6-17). Aufgebaut ist ein literarisches Werk aus mehreren >Schichten<: der »Schicht der Wortlaute«, der Schicht der »Bedeutungseinheiten«, der Schicht der »schematisierten Ansichten« sowie der Schicht der »dargestellten Gegenständlichkeiten« (ebd., 26). Für die spätere Rezeptionsästhetik wichtig sind insbesondere die zwei letztgenannten Schichten. Bei den dargestellten Gegenständlichkeiten handelt es sich um das Inventar der fiktiven Welt, das durch die Sätze eines Werkes beschrieben wird. Eine solche Beschreibung ist stets unvollständig; kein literarisches Werk beschreibt sämtliche Aspekte der Personen, Räume, Begebenheiten usw., von denen es handelt: »Es ist immer nur so, als ob ein Lichtkegel uns einen Teil einer Gegend beleuchte, deren Rest im unbestimmten Nebel verschwindet, aber in seiner Unbestimmtheit doch da ist.« (Ebd., 230) Sind Informationen über einen fiktiven Gegenstand im Text ausgespart, so spricht Ingarden von einer »Leer-« oder »Unbestimmtheitsstelle«, die in der Lektüre ergänzt werden kann (ebd., 265; vgl. 267 f.). Jene nicht ausgesparten Informationen dagegen, die ein Text bereithält, nennt Ingarden schematisierte Ansichten; sie bilden (vereinfacht gesagt) eine bestimmte Hinsicht oder Perspektive, unter der ein fiktiver Gegenstand präsentiert wird (vgl. ebd., 270-293). 2. Literarische Texte werden von Autoren hervorgebracht und von Lesern aufgenommen. Das einfachste Schema der literarischen Kommunikation besteht insofern aus drei Instanzen: Autor, Text (bzw. Werk) und Leser. Wesentlich für die Rezeptionsästhetik ist nun die Überzeugung von der Ergänzungsbedürftigkeit dieses Modells. Weil literarische Texte, wie das Modell Ingardens bereits nahelegt, wesentlich auf ihre Komplettierung durch Leser angewiesen sind, wird davon ausgegangen, dass eine Leserinstanz als mit dem Text verbunden - und somit selbst als textuelle Größe - gedacht werden muss. Die Einführung und theoretische Konturierung eines sogenannten nmpliziten Lesers< gehört daher zu den wichtigsten Anliegen der Rezeptionsästhetik. Komplettiert wird das theoretische Modell literarischer Kommunikation sodann oft durch die Instanz des >impliziten Autors< (als Korrelat des impliziten Lesers)50; ferner können, je nach Texttyp, weitere textinterne Sprecherinstanzen wie beispielsweise Erzähler oder Figuren eingeführt werden (vgl. Link 1976, 25-27; vgl. auch 1.6.1). Grundbegriffe: Literatur, Leser/ Interpretation/Bedeutung, Autor/Kontext »Im Horizont einer phänomenologisch orientierten Ästhetik erscheint der literarische Text als ein Beziehungsgeflecht von Wirkungsstrukturen, die der Leser in der Lektüre aktualisiert, um über das Wechselspiel der Schemata den Sinn konstituieren zu können.« (Iser 1975, 335) Anhand dieser Bestimmung - von Iser als »Grundgedanke einer wirkungsästhetischen Forschung« bezeichnet - lassen sich (1) wesentliche Momente einer rezeptionsästhetischen Theorie der Struktur fiktionaler literarischer Werke, (2) Auffassungen zur Interpretation sowie (3) eine Bedeutungskonzeption erläutern. (4) Die Konzepte des Autors und des Kontextes spielen demgegenüber eine eher untergeordnete Rolle. 1. Ein fiktionaler literarischer Text bildet nicht die Wirklichkeit ab. Seine Funktion ist es vielmehr, in >Interaktion< mit dem Leser eine eigene (vorge- 50 Vgl. Tom Kindt/Hans-Harald Miffler: The Implied Author. Concept and Controversy. Berlin/New York 2006. stellte) Wirklichkeit zu erschaffen. Entscheidend ist dabei der Gedanke, dass die Weise, in der die Vorstellungsaktivität eines Lesers in Gang gesetzt wird, im Text selbst angelegt ist. Die Vorstellungsbildung ist keine bloß externe Funktion, die Texte mehr oder minder zufällig erfüllen können oder auch nicht; vielmehr ist die Steuerung bestimmter Vorstellungen ein wesentliches Strukturmerkmal fiktionaler literarischer Texte. Iser unterscheidet verschiedene Typen textueller Merkmale, die die Funktion haben, die Aufnahme des Textes zu steuern und mithin über ein »Lenkungspotenzial für den Leser im Text« verfügen (Iser 1975, 328). Zu diesen Merkmalen gehören »Unbestimmtheitsstellen«, die nach einer Komplettierung der im Text lediglich ausschnittartig beschriebenen fiktiven Welt verlangen, sowie verschiedene weitere Typen von »Leerstellen«, die auf unterschiedlichen Textebenen - Iser nennt u. a. die Ebenen der »Textsyntax«, »Textpragmatik« und »Textsemantik« - und in unterschiedlicher Häufigkeit vorliegen können (Iser 1970, 23; vgl. Iser 1994, 284). Beispiele sind etwa die Kommentare eines Erzählers, dessen Aussagen zu den Geschehnissen der fiktiven Welt in Beziehung gesetzt werden müssen, oder Montagetechniken, die nach einem Vergleich verschiedener Handlungsstränge verlangen. Leerstellen funktionieren als Aufforderung, ein im Text angelegtes >Wirkungspotenzial< zu aktualisieren und auf diese Weise an der >Sinnkonstitution< des Textes mitzuwirken. Insofern eine solche >Aktualisierung< oder auch >Konkretisation< des Wirkungspotenzials eines Textes bereits im Text angelegt ist, verfügen Texte über einen »impliziten Leser«, den Iser als »den im Text vorgezeichneten Akt des Lesens« bestimmt (Iser 1972, 9). Der implizite Leser »verkörpert die Gesamtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet« (Iser 1994,60). Literarische Texte, so kann man das Gesagte zusammenfassen, bestehen aus sprachlichen Zeichen, die eine bestimmte Form der Vorstellungsbildung (>Sinnkonstitution<) anleiten. Diese Vorstellungsbildung ist ihrerseits ein wesentlicher Bestandteil des Werks und für dessen »Virtualität« verantwortlich: »Der Text [...] gelangt erst durch die Konstitutionsleistung eines ihn rezipierenden Bewußtseins zu seiner Gegebenheit, so daß sich das Werk zu sei- 326 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft Leserorientierte Theorien und Methoden 327 nem eigentlichen Charakter als Prozeß nur im Lesevorgang zu entfalten vermag.« (Iser 1994,38 f.) 2. Die referierte Theorie der Struktur literarischer Werke legt nun eine bestimmte Interpretationskonzeption nahe. Nach rezeptionsästhetischer Auffassung gehören sowohl die linguistischen (manifesten) Bestandteile eines Textes als auch dessen Wirkungspotenziale und >virtuelle< Sinnebene zum Text (bzw. Werk) selbst. Damit verbunden ist die Vorstellung, dass man die im Text selbst angelegte >Leserrolle< von tatsächlichen (empirischen) Lesern unterscheiden kann, die ein Buch in die Hand nehmen und lesen. Auf welche Weise sich empirische Leser mit einem Text auseinandersetzen - mit welchen Absichten und Einstellungen sie ihn lesen und welche Vorannahmen sie haben - ist in gewisser Weise unberechenbar, da sich empirische Leser (synchron wie diachron) erheblich voneinander unterscheiden können (vgl. Iser 1994, 65). Mit der im Text selbst angelegten Leserrolle ist dagegen die Idee der intersubjektiven Zugänglichkeit bestimmter Wirkungspotenziale verbunden: Der Text enthält bestimmte, in der Regel identifizierbare >Stra-tegien< der Leserlenkung, d. h. dem Leser werden »nur bestimmte Kombinationsmöglichkeiten vorgegeben« (ebd., 144; vgl. ebd., 145 und 267). Damit wird dem Text zugeschlagen, was nach traditioneller (hermeneutischer) Auffassung Sache der Interpretation ist: Nach hermeneutischer Auffassung besteht eine Interpretation im Wesentlichen darin, zu beschreiben und zu erklären, was ein Text besagt bzw. was jemand mit der vorliegenden Komposition einzelner Textelemente zu verstehen geben will. Die hermeneutische Interpretation erhebt, kurz gesagt, was ein Text oder einzelne Elemente des Textes bedeuten, und Aufgabe einer Methodologie der Interpretation ist es, Kriterien anzugeben, anhand derer man gelungene Bedeutungshypothesen von weniger gelungenen unterscheiden kann (vgl. II.5.3.1). Nach rezeptionsästhetischer Auffassung gibt es dagegen nicht nur eine Textgrundlage einerseits und (mehr oder weniger gelungene) Bedeutungszuschreibungen andererseits, sondern eben auch ein bestimmtes (identifizierbares, textimmanentes) >Wirkungspotenzial< des Textes, das bestimmte Aktualisierungen vorschreibt und andere nicht. Nach hermeneutischer Auffassung verschleiert diese Redeweise, dass jede Zuschrei- bung eines bestimmten Wirkungspotenzials, insofern sie über die Beschreibung manifester Textdaten hinausgeht, eine Interpretationshypothese darstellt, die anhand bestimmter Kriterien auf ihre Qualität beurteilt werden kann und muss.51 3. Angesichts dieser Kritik - über ihre Berechtigung muss hier nicht entschieden werden - darf allerdings nicht vergessen werden, dass >Sinn< im Rahmen der Rezeptionsästhetik nicht mit (sprachlich formulierbaren) Interpretationshypothesen identifiziert werden darf: Der >im Text vorgezeichnete Akt des Lesens< ist nicht rein >diskursiv< (sprachlich), sondern beinhaltet auch die Hervorbringung bildhafter Repräsentationen (vgl. Iser 1994,219-227). Den >Akt des Lesens< darf man sich daher nicht als einen Prozess der sprachüchen Kommentierung eines Textes denken, in dem die Bedeutung eines Textes sozusagen auf den Begriff gebracht wird, sondern man muss ihn vielmehr als einen komplexen Prozess der Vorstellungsbildung verstehen, in den verschiedene mentale Vermögen (der Wahrnehmung, der bildlichen Imagination und sprachlichen Beschreibung) in >aktivischer< und >passivischer< Weise einbezogen sind. Der >Sinn< eines Uterarischen Textes ist das Ergebnis eines solchen komplexen >Sinnbildungsprozesses<: Beides, Ergebnis und Prozess, konstituiert das (>vir-tuelle<) Werk. Auch diese Bestimmung lässt freilich im Unklaren, inwiefern >Akte der Vorstellungsbildung< als (in wörtlichem Sinne) in einem Text befindlich (und/oder intersubjektiv zugänglich) verstanden werden können. 4. Die Instanzen des Autors und des Kontextes spielen im Rahmen der Rezeptionsästhetik keine prominente Rolle. Der Autor eines literarischen Werkes kann in Bezug auf das Problem adäquater Aktualisierungen bzw. »adäquater Konkretisati-onen« (Link 1976, Kap. 4) zur normativen Instanz erhoben werden. Dann lassen sich solche Aktualisierungen des Textes als gelungen oder adäquat auszeichnen, die gemäß den Intentionen des Autors vorgenommen werden (vgl. Grimm 1977, Kap. 3). 51 Zur Frage der Beurteilung von >Aktualisierungen< in Hinblick auf ihre Angemessenheit vgl. bereits Ingar-den 1960,268; Link 1976, Kap. 4; Grimm 1977, Kap. 3; Iser 1994,45-50 u.ö. Als ein eigener Zweig der Rezeptionsästhetik bzw. -forschung kann die produktive Rezeption<, d. h. die Verarbeitung literarischer Texte in neuen literarischen Texten, verstanden werden (vgl. Link 1976,86-89; Grimm 1977,147-153). Über ein theoretisches Konzept von Kontexten, die im Zuge der Rezeption literarischer Werke einschlägig sind, verfügt die Rezeptionsästhetik nicht. Bei der Lektüre eines Werkes wird »im Leser sedimentiertes Wissen« aufgerufen (Iser 1975, 332); dabei bleibt jedoch unklar, ob oder wie Wissensbestände als erforderliche oder angemessene ausgezeichnet werden sollen. Methode der Textinterpretation Die Rezeptionsästhetik erhebt den Anspruch, eine Phänomenologie des Leseaktes zu sein; eine Theorie oder Methodologie der Interpretation ist sie, anders als die rezeptionsgeschichtliche Variante, dagegen kaum. Anders gesagt: Die Rezeptionsästhetik beschreibt, wie literarische Texte aufgebaut bzw. strukturiert sind, und sie greift dazu auf bestimmte Auffassungen über den Leseakt zurück; eine explizite Handlungsanleitung des Lesens bietet sie nicht. Jedoch lassen sich die Konturen eines rezeptionsästhetisch inspirierten Interpretationsprogramms erschließen. Sie folgen aus der normativen Komponente der Rezeptionsästhetik, aus ihrer Annahme, es gebe eine im literarischen Text enthaltene Norm für einen angemessenen Lesevorgang. Eine literaturwissenschaftliche Interpretation wäre in diesem Sinne als eine adäquate >Konkretisation< aufzufassen, als Rekonstruktion dieser Norm. In einer engen Auffassung dieser Norm ginge es darum, die autorintentionalen Strategien herauszuarbeiten, die die Textwahrnehmung lenken. In einem weiteren, auf Textstrukturen zielenden Verständnis wären die dem Text immanenten ästhetischen Strukturen zu konkretisieren (vgl. dazu Link 1976, 142-145). In beiden Varianten müsste eine Interpretation die Identifikation und Beschreibung rezepti-onslenkender Textstrategien zum Ziel haben. Aufgabe des Interpreten wäre demnach, die Kon-kretisation von Unbestimmtheitsstellen zu beschreiben und aufzuzeigen, wie ein literarischer Text seine Leser dazu bringt, sich bestimmte Vor- stellungen über die fiktive Welt des Textes zu bilden, diese Welt zu beschreiben und zu bewerten usw. Die Kernfrage einer Methodologie - die Frage nach Kriterien der Angemessenheit bestimmter Beschreibungen - bleibt dabei indessen unbeantwortet. Einen einflussreichen Entwurf einer rezeptionsgeschichtlich orientierten Interpretationskonzeption hat Hans Robert Jauß (1967) vorgelegt. Anschließend an Hans-Georg Gadamer argumentiert auch Jauß, das Bedeutungspotenzial eines literarischen Werkes entfalte sich erst im Verlauf der Rezeptionsgeschichte (vgl. II.5.3.1). Darüber hinaus versucht er, das Konzept des >Erwartungshori-zontes< für rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen fruchtbar zu machen. Leitend ist hier die Idee, dass sich für jedes literarische Werk ein >Er-wartungshorizont< rekonstruieren lasse, der sich »im historischen Augenblick seines Erscheinens aus dem Vorverständnis der Gattung, aus der Form und Thematik zuvor bekannter Werke und aus dem Gegensatz von poetischer und praktischer Sprache ergibt« (Jauß 1967, 32). Jauß zufolge lässt sich der Erwartungshorizont, den ein Werk evoziert, aus dem Werk selbst rekonstruieren. Besonders augenfällig ist das Beispiel von Werken, die beispielsweise Gattungskonventionen einerseits aufrufen, andererseits jedoch nicht komplett umsetzen. Beim Leser werden auf diese Weise bestimmte Erwartungen geweckt, die im Verlauf der Lektüre sukzessive verändert bzw. zurückgenommen werden müssen. Durch die Rekonstruktion des Erwartungshorizontes lassen sich Jauß zufolge erstens >objektivier-bare< Aussagen über die historische Aufnahme, Wirkung und Bedeutungsentfaltung eines Werkes treffen, die über die Protokollierung individueller Rezeptionserlebnisse hinausgehen, und zweitens wird ein Maßstab für die ästhetische Beurteilung des Kunstwerkes gewonnen: Je mehr ein literarisches Werk dem Erwartungshorizont entspreche, desto geringer sei seine Innovationskraft; je ausgeprägter die ästhetische Distanz< zwischen Werk und Erwartungshorizont, desto ausgeprägter der >Kunstcharakter< des Werkes (vgl. ebd., 36 f.). Jauß' Konzeption der Rezeptionsgeschichte ist vielfach kritisiert worden. Bemängelt wurden u. a. die fehlende Präzision zentraler Begriffe, die Unklarheit der Maßstäbe für Interpretation und Wer- igsifiiiiraaaiiffljaffiiieisiaaiaaip Leserorientierte Theorien und Methoden 329 tung sowie der - mit der ungeklärten Rolle von Rezeptionsdokumenten verbundene - prekäre Status der Theorie zwischen textbezogener Interpretationstheorie einerseits und (soziologischer) Rezeptionsforschung andererseits (vgl. Müller 1988). Behoben wird ein Teil dieser Probleme durch eine konsequente empirische Ausrichtung der Rezeptionsforschung, die mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden die faktischen Rezeptionsweisen genau umrissener Personengruppen erhebt und beschreibt (vgl. II.5.4.2). Der Anspruch der Rezeptionsästhetik, über ein Konzept der sich in der Rezeptionsgeschichte entfaltenden Bedeutung literarischer Werke einen Beitrag zur Theorie der Interpretation literarischer Werke zu leisten, geht mit dieser Ausrichtung allerdings verloren. Literatur ■ Grimm, Gunter: Rezeptionsgeschichte. Grundlegung einer \ Theorie. München 1977. Ingarden, Roman: Das literarische Kunstwerk. Eine Untersuchung aus dem Grenzgebiet der Ontológie, Logik und Literaturwissenschaft [1931]. Tübingen 21960. Iser, Wolfgang: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz 1970. Iser, Wolfgang: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München 1972. Iser, Wolfgang: Im Lichte der Kritik. In: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München 1975,325-342. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung [1976]. München "1994. Jauß, Hans Robert: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Konstanz 1967. Jauß, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik [1991]. Frankfurt a.M. 21997. Link, Hannelore: Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme. Stuttgart u. a. 1976. Müller, Hans-Harald: Wissenschaftsgeschichte und Rezeptionsforschung. Ein kritischer Essay über den (vorerst) letzten Versuch, die Literaturwissenschaft von Grund auf neu zu gestalten. In: Jörg Schönert/Harro Segeberg (Hg.): Polyperspektivik in der literarischen Moderne. Studien zur Theorie, Geschichte und Wirkung der Literatur. Frankfurt a. M. u. a. 1988,452-479. 5.4.2 Empirische Literaturwissenschaft Die Empirische Literaturwissenschaft verfolgt das Ziel, auf hteraturwissenschaftliche Fragestellungen mit erfahrungswissenschafitlichen (empirischen) Methoden zu antworten. In Deutschland ist sie als eine eigene Forschungsrichtung aus dem >Metho-denstreit< der 1970er Jahre hervorgegangen. Dabei stand der Gedanke im Vordergrund, der Literaturwissenschaft ein wissenschaftstheoretisch durchdachtes Fundament zu geben, ihre Verfahren und Ergebnisse dem Anspruch der Nachvollziehbarkeit und Nachprüfbarkeit zu unterstellen und der (ethischen oder politischen) Forderung eines gesellschaftlichen Nutzens gerecht zu werden. Die Empirische Literaturwissenschaft nimmt das Anliegen der Rezeptionsästhetik auf, den Leser als wichtiges Moment von Textkonstitution und Interpretation zu berücksichtigen (vgl. II.5.4.1), und_rjk dikdisiert es: Dem Gedanken, dass die Vielfalt unterschiedlicher Interpretationen durch Textmerkmale normativ reguliert werden kann, wird ebenso eine Absage erteilt wie der Suche nach einer Interpretationstheorie, die Methoden und Standards des Interpretierens zur Verfügung stellt. Stattdessen will die Empirische Literaturwissenschaft faktische Rezeptionsprozesse untersuchen. Als die zwei wichtigsten theoretisch-methodisch konturierten Spielarten haben sich die >Siegener Schule< um Siegfried J. Schmidt sowie die Heidelberger Schule< um Norbert Groeben etabliert. Erfahrungswissenschaftlichen Methoden verpflichtete literaturwis-senschafüiche Untersuchungen gibt es allerdings schon vor und auch unabhängig von den genannten >Schulen<, insbesondere die im englischsprachigen Raum vorherrschenden neueren empirischen Ansätze im Anschluss an kognitionspsy-chologische Forschungen (vgl. II.5.4.3). Internationale Foren der Empirischen Literaturwissenschaft sind die Zeitschrift Poetics sowie die Internationale Gesellschaft für Empirische Literatur- und Medienforschung/International Society for the Empirical Study of Literature and Media (IGEL). Bezugstheorien und Rahmenannahmen Die wichtigsten allgemeinen Rahmenannahmen der Empirischen Literaturwissenschaft gehen (1) aus einem bestimmten Wissenschaftskonzept hervor. Da die Empirische Literaturwissenschaft dezi-diert interdisziplinär ausgerichtet ist, kommen - je nach Spielart der Empirischen Literaturwissenschaft und behandeltem Teilproblem - (2) verschiedene weitere Bezugstheorien u. a. aus der Philosophie, der Psychologie und der Soziologie hinzu. 1. Vertreter der Empirischen Literaturwissenschaft orientieren sich explizit an einem naturwissenschaftlichen Wissenschaftskonzept. Die wichtigsten wissenschaftstheoretischen Grundwerte, die diesem Konzept entsprechen, lauten: Empirizi-tät, Theoretizität und Relevanz/Applikabilität. Das heißt: Wissenschaftliche Aussagen sollen empirisch überprüfbar sein (Empirizität); die Theorie selbst soll erstens strukturell wohlgeformt und zweitens einer bestimmten Wissenschaftskonzeption zugeordnet sein, aus der u. a. hervorgeht, welche Normen wissenschaftlichen Handelns und welche Fachsprachen und Modellvorstellungen angemessen sind (Theoretizität); schließlich sollen die wissenschaftlichen Untersuchungen wissenschaftsintern relevante Probleme behandeln und gesellschaftlich vermittelbar sein (Relevanz/Applikabilität). 2. Aus verschiedenen Nachbardisziplinen werden überdies weitere, spezifischere Bezugstheorien übernommen. Für die >Siegener Schule< gilt das insbesondere für den Radikalen Konstruktivismus (vgl. Schmidt 1987), während für die >Heidelberger Schule< kognitions-, sprach- und literaturpsychologische Bezugstheorien wichtig wurden. Weitere Einflüsse entstammen u. a. der Philosophie der natürlichen Sprache (Wittgenstein, Searle, Austin), der Textlinguistik, der sozialpsychologischen Handlungstheorie sowie der soziologischen Systemtheorie (vgl. II.5.5; vgl. zu dieser Auflistung Barsch/Rusch/Viehoff 1994,11). Grundbegriffe: Literatur, Bedeutung, Leser/ Rezipient Das Konzept eines >autonomen< literarischen Werkes, das in sich geschlossen, Träger einer bestimmten Bedeutung und als solches Gegenstand einer vornehmlich interpretierenden Literaturwissenschaft ist, wird im Rahmen der Empirischen Literaturwissenschaft abgelehnt. Ersetzt wird dieses Konzept durch (1) eine neue Konzipierung des Ge-gensfandsbereichs der Literaturwissenschaft sowie (2) des Literatur-, Text- und Bedeutungsbegriffs. Kritische Reaktionen auf diese Neukonzeption werden im anschließenden Abschnitt (3) skizziert. 1. Die Empirische Literaturwissenschaft soll die Bedingungen und Mechanismen des Umgangs mit Literatur - der Verhaltensweisen, die Teilnehmer an der literarischen Kommunikation an den Tag legen - erforschen. Siegfried J. Schmidt unterscheidet im programmatischen Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft von 1980 vier >Hand-lungsrollen<, die den >gesellschaftlichen Hand-lungsbereich< der Literatur konstituieren, nämlich deren Produktion, Vermittlung, Rezeption und Verarbeitung (vgl. Schmidt 1991,27). Da jeder dieser Bereiche Gegenstand der Forschung sein soll, muss die Interpretation als traditionelles Hauptgeschäft der Literaturwissenschaft abgelöst und u. a. durch (empirische) literaturgeschichtliche, literaturpsychologische, literatursoziologische und literaturdidaktische Untersuchungen ersetzt werden. Dabei werden zum Teil Fragestellungen der traditionellen Literaturwissenschaft aufgenommen und unter den Bedingungen der Empirischen Literaturwissenschaft neu formuliert und bearbeitet; zum Teil werden jedoch auch neue Untersuchungsgebiete erschlossen (vgl. am Beispiel der Untersuchung des diterarischen Verstehens< Viehoff 1988). Nicht selten wählen empirische Literaturwissenschaftler Texte der Trivial- oder Unterhaltungsliteratur als Untersuchungsobjekte, denn solche Texte sind erstens ein wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Handlungsbereichs >Literatur<, zweitens eignen sie sich dank ihrer geringeren Komplexität oftmals besser als Bestandteile von Experimenten, in denen nach Möglichkeit alle relevanten experimentellen Parameter kontrolliert werden müssen. In Bezug auf ihren Gegenstandsbereich 330 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft Leserorientierte Theorien und „Methoden 331 vertritt die Empirische Literaturwissenschaft insofern einen >erweiterten< Literaturbegriff (vgl. 1.1.1). 2. Von besonderer Wichtigkeit für die Bestimmung des Literaturbegriffs ist die Handlungsrolle der Rezeption: >Literarizität< ist keine Eigenschaft, die einem Text aufgrund bestimmter immanenter Merkmale zukommt, sondern ist vielmehr von bestimmten Umgangsweisen abhängig. Das heißt: Nicht Texten wird das Prädikat >literarisch< zugesprochen, sondern vielmehr bestimmten Weisen, Texte zu behandeln. Als spezifisch literarisch gilt nach S.J. Schmidt die Rezeption von Texten nach der >Ästhetik-< und der >Polyvalenzkonvention<. Die Ästhetikkonvention legt die Teilnehmer an literarischer Kommunikation auf die in der jeweiligen Kommunikationsgemeinschaft geltenden ästhetischen Normen fest. Eine zentrale Rolle im Literatursystem (seit dem 18. Jh.) spielt die Norm, dass Autoren frei von der Verpflichtung sind, in ihren Texten die Wahrheit zu sagen oder Kriterien praktischer Nützlichkeit gerecht zu werden. Die Polyva-lenzkonvention befreit Autoren von der Verpflichtung auf möglichst eindeutig auslegbare Aussagen und berechtigt Leser dazu, voneinander abweichende Bedeutungszuschreibungen vorzunehmen (vgl. Schmidt 1991,174ff., 197 ff.)'. Mit dieser Konzeption des Literaturbegriffs werden Versuche, notwendige und zusammen hinreichende textimmanente Merkmale für >Literarizität< zu identifizieren, zugunsten eines >funktionalen< Literaturbegriffs verabschiedet. Zu den Forschungsaufgaben der Empirischen Literaturwissenschaft gehören daher beispielsweise die Erläuterung des Begriffs der >Konvention<, die Rekonstruktion der Genese einschlägiger Konventionen sowie die empirische Überprüfung derzeit geltender Konventionen (vgl. Schmidt 1992). Auch für die Erläuterung des Text- und Bedeutungsbegriffs ist die Rezipientenrolle zentral. Die Empirische Literaturwissenschaft unterscheidet zwischen dem Text als Material (dem >Textformu-lar< oder der >Kommunikatbasis<) und dem >Kom-munikat<, d. h. dem Bedeutung tragenden, >konkre-tisierten< Text, der erst im Bewusstsein von Lesern entsteht und individuell höchst unterschiedliche Konturen annehmen kann. Folglich gibt es nicht den literarischen Text, der Träger einer bestimmten Bedeutung ist, sondern nur eine Kommunikatbasis, der ein Rezipient in einer bestimmten Kommunikationssituation eine Bedeutung zuordnet. Dabei kann diese Bedeutungszuordnung unterschiedlich konzipiert werden: Während die >Siegener Schule< um S.J. Schmidt (vorübergehend) auf der erkenntnistheoretischen Grundlage des Radikalen Konstruktivismus argumentiert, >kognitive Systeme< seien operational und informationell geschlossen und Texten komme bei der Bedeutungskonstitution lediglich die Funktion von Auslösern zu, schreiben Anhänger der >Heidelberger Schule< dem Textfaktor ein größeres Gewicht für die Bedeutungskonstitution zu; Texten wird ein bestimmtes WirkungspoienziaZ zugesprochen, das im Rezeptionsprozess in unterschiedlichen Ausmaßen realisiert werden kann. 3. Die Empirische Literaturwissenschaft ist in den 1970er Jahren mit dem programmatischen Anspruch einer konsequenten und umfassenden Erneuerung der Literaturwissenschaft auf den Plan getreten. Mit diesem Anspruch ist sie gescheitert: Zu einer Verdrängung nicht-empirischer theoretisch-methodischer Richtungen ist es nicht gekommen. Gegenwärtig werden solche Hegemonialansprüche vielmehr eher von der >traditionellen< Literaturwissenschaft erhoben. Tatsächlich werden empirische Verfahren neben bzw. zusätzlich zu traditionellem literaturwissenschaftlichen Methoden angewandt; zahlenmäßig sind sie deutlich in der Minderheit und von der traditionellen Literaturwissenschaft werden sie oftmals nicht beachtet, auch wenn beide sich zum Teil mit denselben Phänomenen befassen. Vorgeworfen wird der Empirischen Literaturwissenschaft von Seiten anderer Richtungen unter anderem, ihr Theorieaufwand sei j zu hoch und stehe insbesondere in keinem ver- I nünftigen Verhältnis zur Trivialität ihrer Ergebnisse; sie vernachlässige traditionelle literaturwis-/1 senschaftliche Fragestellungen und sei eine Unterabteilung der Soziologie, die kaum relevante Aussagen zum literarischen Text als solchem treffe; oder die historische Dimension der Literatur lasse sich mit empirischen Mitteln nicht erforschen. Eine weitere Form von Kritik kann als Ansatz-intern bezeichnet werden und betrifft u. a. die Konzeption zentraler theoretischer Begriffe, die Richtigkeit und Einschlägigkeit bestimmter Rahmentheorien (u. a. des Radikalen Konstruktivismus) oder etwa Probleme experimenteller Verfahren (vgl. ausführlich Schmidt 1984; Barsch/Rusch/Viehoff 1994). Methodologie Welche Verfahren im Rahmen der Empirischen Literaturwissenschaft angewendet werden, hängt zunächst einmal vom Untersuchungsgegenstand ab. Hier sollen exemplarisch Verfahren zur Untersuchung (1) des Textfaktors sowie (2) von Rezeptionsweisen vorgestellt werden. 1. Untersuchungen des Textfaktors bedienen sich statistischer und linguistischer Verfahren der Textbeschreibung. Entscheidend ist für solche Verfahren, dass sie sich tatsächlich nur auf den Textfaktor - ohne Rückgriff auf Verstehensoperationen durch einen Rezipienten - konzentrieren. Anwendbar sind solche Verfahren daher nur auf die phonetische, grammatische oder syntaktische Ebene von Texten. Die semantische Ebene eines Textes konstituiert sich dagegen erst im Bewusstsein des Lesers und fällt daher in den Bereich der Untersuchung von Rezeptionsweisen. 2. Zur Untersuchung von Aspekten der Rezipientenrolle kann sich die Empirische Literaturwissenschaft verschiedener Verfahren bedienen, die zum großen der Teil der (empirischen) Soziologie und Psychologie entstammen. Solche Untersuchungen nehmen oft die Form eines Experiments an, an dem mehrere Versuchspersonen beteiligt sind. Auf diese Weise sollen Ergebnisse erzielt werden, die sich nicht nur auf die persönlichen Erfahrungen eines einzelnen Forschers stützen - dies ist ein an traditionelle hermeneutische Verfahren der Textinterpretation gerichteter Vorwurf -, sondern die auf einer hinreichend breiten Datenbasis beruhen und, etwa durch die Wiederholung des Experiments, überprüfbar sind. Der wissenschaftliche Beobachter der literarischen Kommunikation ist vom Teilnehmer an dieser Kommunikation streng zu unterscheiden. Experimente beinhalten u.a. die Formulierung von Ausgangshypothesen, die durch das Experiment bestätigt oder widerlegt werden sollen; eine genaue Planung und Beschreibung des Versuchsablaufs; außerdem (oft) Kontrolldurchgänge, die dem Ausschluss von Störfaktoren die- nen. An ihrem Ende steht eine Auswertung, in der die experimentellen Rohdaten mithilfe statistischer Verfahren bearbeitet und auf die Ausgangshypothese bezogen werden. Nachstehend werden zwei Beispiele entsprechender Untersuchungen kurz skizziert. Willie van Peer (1986) untersucht die vor allem im Strukturalismus vertretene These, dass die poetische Sprache durch Strategien der Abweichung von der Normalsprache gekennzeichnet sei (vgl. II.5.2.1); durch entsprechende Strategien werde ein >Verfremdungseffekt< hervorgerufen, der die Rezeption poetischer Texte beeinflusse {foregrounding). Diese These hat van Peer seiner Rezeptionsstudie zugrunde gelegt. Zunächst wurden die Beispieltexte auf Abweichungs- und Verfremdungsstrategien hin untersucht, es wurden erwartbare Rezeptionstendenzen formuliert und schließlich unter Verwendung mehrerer Verfahren (u.a. memory test, underlining test, ranking test) Rezeptionserhebungen durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass die Textverarbeitungen der Versuchspersonen tatsächlich fast immer erwartungsgemäß verliefen. Nicht bestätigt wurde mit der Untersuchung allerdings die (strukturalistische) These, es handele sich bei literarischem foregrounding um textimmanente Merkmale von >Literarizität<; vielmehr nimmt van Peer an, dass Textmerkmale erst in Kombination mit Uterarischen Textverarbeitungsstrategien die genannten Effekte zeitigen: »Foregrounding, then, is not a category indicating >essentials< of literariness in an absolute or material sense: it is not so much the text itself that >contains< elements of literariness, but rather that specific devices, i.e. those that (perhaps among others) have been described by the theory of foregrounding act as cues to the reader in the process of literary communications (van Peer 1986,185) Markus Appel (2005) untersucht den Einfluss fiktionaler Texte auf Überzeugungen, die Leser in Bezug auf die Wirklichkeit haben. 87 Versuchspersonen wurden mit einem kurzen Text konfrontiert, anschließend wurde der Überzeugungswandel mittels eines Fragebogen-Verfahrens erhoben. Appel kommt zu dem Schluss, dass Leser in der Tat Annahmen, die sie in fiktionalen Kontexten antreffen, in ihren Überzeugungsbestand aufnehmen und über längere Zeitspannen hinweg behalten. Dabei 332 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft mmmsxmmmmmem J^ž£S2£Dj£I^-I!2Ě£[ieilun^ Methoden 333 spielt offenbar keine Rolle, ob die Leser einen besonders kritischen Lektüremodus an den Tag legten oder nicht. Die Studie zeigt insofern, dass die Verarbeitung fiktionaler literarischer Werke keineswegs vom auf die Welt bezogenen Überzeugungssystem entkoppelt ist, und sie legt nahe, dass fiktio-nalen Texten entnommene Informationen nicht auf grundsätzlich andere Weise kognitiv verarbeitet werden als faktualen Texten entnommene Informationen. Die Studie leistet insofern einen Beitrag zur Rezeptionsforschung und zur Bestimmung der (kognitiven) Funktionen von Literatur. Literatur Appel, Markus: Realität durch Fiktionen. Rezeptionserleben, Medienkompetenz und Überzeugungsänderungen. Berlin 2005. Barsch, Achim/Rusch, Gebhard/Viehoff, Reinhold (Hg.): Empirische Literaturwissenschaft in der Diskussion. Frankfurt a.M. 1994. Schmidt, Siegfried J.: Empirische Literaturwissenschaft in der Kritik. In: SPIEL 3. Jg. (1984), 291-332. Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt a.M. 1987. Schmidt, Siegfried J.: Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft [1980]. Frankfurt a.M. 1991. Schmidt, Siegfried J.: Conventions and Literary Systems. In: Mette Hjort (Hg.): Rules and Conventions. Literature, Philosophy, Social Theory. Baltimore u.a. 1992, 215-249 und 332. Peer, Willie van: Stylistics and Psychology. Investigations of Foregrounding. London u.a. 1986. Viehoff, Reinhold: Literarisches Verstehen. In: IASL 13. Jg. (1988), 1-39. 5.4.3 Cognitive Poetics >Cognitive Poetics< ist eine Sammelbezeichnung für literaturwissenschaftliche Ansätze, die eine Bezugnahme auf die Kognitionswissenschaften in den Mittelpunkt ihrer Forschungsanliegen stellen. Unter einen weit verstandenen Begriff von Cognitive Poetics fallen alle Untersuchungen, die sich auf kognitionswissenschaftliche Modelle oder Forschungsergebnisse stützen und diese auf literarische Texte oder auf den Umgang mit solchen Texten beziehen. In einem engeren Sinne (und ursprünglich) wird unter >Cognitive Poetics< eine von kognitionspsychologischen Modellen ausgehende Analyse von Lyrik-Texten verstanden; kognitive Poetics< ist dann ein gattungsspezifischer Komplementärbegriff zu >Cognitive Narratology< (vgl. Tsur 1992). Das Hauptanliegen des weit verstandenen Untersuchungsansatzes, der heute vorherrscht, besteht darin, eine systematische Erklärung des Zusammenspiels der Struktur und Wirkung literarischer Texte zu liefern. Den Ergebnissen der kognitiven Linguistik sowie allgemein den Kognitionswissenschaften wird dabei das größte systematische Erklärungspotenzial zugebilligt. Zentrale Aspekte der Struktur und Wirkung von Literatur lassen sich demnach erklären, indem man (naturwissenschaftlich orientierte) Modelle insbesondere der Psychologie der Wahrnehmung, der Sprach-, Informations- oder Textverarbeitung heranzieht (vgl. dazu die Beiträge in Richardson/Steen 2002). Diese Forschungen gelten als methodologisch avanciert, ihre Ergebnisse repräsentieren den derzeitigen Stand der Wissenschaft. Cognitive Poetics »offers a grounding of critical theory in a philosophical position that is scientific in the modern sense: aiming for an account of natural phenomena (like reading) that represent our current best understanding while always being open to falsifiabi-lity and better explanation.« (Stockwell 2002, 59) Literatur wird damit eingeordnet in umfassendere, wissenschaftliche Modelle einer psychologisch grundierten Anthropologie. In ihrer interdisziplinären Orientierung an empirischen Untersuchungsverfahren und -ergebnis-sen ähneln die Cognitive Poetics der Empirischen Literaturwissenschaft (vgl. II.5.4.2). Beide Forschungsrichtungen haben sich jedoch zum einen in relativ eigenständigen Traditionen entwickelt. Arbeiten, die den Cognitive Poetics zugerechnet werden können, sind im deutschsprachigen Raum bislang nur selten anzutreffen (vgl. die umfassende Bibliografie in Stockwell 2002). Zum anderen unterscheiden sich beide Forschungsrichtungen typischerweise in ihren Erklärungsanliegen und -mustern: Während die Empirische Literaturwissenschaft (oftmals sozialwissenschaftliche) empirische Verfahren anwendet, um die tatsächlichen Rezeptionsweisen von Lesern zu erheben, geht es in vielen Arbeiten der Cognitive Poetics darum, eine kognitionspsychologisch gestützte Erklärung der Wirkung spezifischer Textmerkmale zu geben. Solche Erklärungen berufen sich auf die Ergebnisse der empirisch verfahrenden Psychologie; die eigentliche Erklärungsarbeit und Modellbildung, die im Rahmen der Cognitive Poetics geleistet wird, ist jedoch >theoretisch< und nicht empirisch. Typische (bisherige) Forschungsfelder der Cognitive Poetics im weiteren Sinne betreffen u. a. Ele-,jnented_qrStiHlrtJfr (u.a. Metapher, Allegorie, Symbolik), das Verständnis vonErzählungen, die Kons-truktipjijrientaler Repräsentationen von Figuren oder fiktiven Welten, die Emotionalität der Literaturrezeption, die Bedeutungskonstruktion literarischer Werke und die Analyse thematischer Strukturen. Zum Teil handelt es sich dabei um eine Wiederaufnahme und präzisierende Neubeschreibung klassischer literaturwissenschaftlicher Forschungsanliegen, zum Teil eröffnen die spezifischen Untersuchungsparameter der Cognitive Poetics neue Forschungsfelder - dies etwa im Bereich von affektiven oder volitiven Aspekten der Literaturrezeption, die von der traditionellen Literaturinterpretation in aller Regel ausgeblendet werden. Bezugstheorien und Rahmenannahmen Bezugstheorien der Cognitive Poetics sind insbesondere eine kognitionswissenschaftlich ausgerichtete Psychologie und Linguistik, wobei hier wiederum unterschiedliche Theorien herangezogen werden können (vgl. Semino/Culpeper 2002, IX-XVI; Stockwell 2002, Kap. 5). Linguistische Beschreibungskategorien ermöglichen wissenschaftlich genaue Analysen verschiedener Elemente literarischer Texte, die Kognitionspsychologie liefert Modelle der psychischen Verarbeitung dieser Elemente. Psychologische Erklärungen können unterschiedliche Formen annehmen bzw. aus unterschiedlichen Stufen bestehen (vgl. Fodor 1965). Sie beginnen meist mit einem beobachteten Verhalten (beispielsweise, dass sich Leser bei der Lektüre emotional engagieren). Ein erster Erklärungsschritt besteht dann in einer funktionalen Beschreibung mentaler Prozesse, d.h. der hypothetischen Annahme psychologischer Mechanismen, die geeignet sind, in Abhängigkeit von bestimmten sprach- lichen Stimuli das beobachtete Verhalten hervorzubringen. Ein weiterer, kategorial verschiedener Erklärungsschritt kann darauf abzielen, die neurobiologischen Mechanismen zu identifizieren, die dem funktionalen Modell zugrunde liegen. Erklärt wird hier nicht mehr, wie die einzelnen postulierten psychologischen Mechanismen funktionieren (bzw. >was sie machen<), sondern wie diese Mechanismen instantiiert, d.h. biologisch verankert sind und kausal interagieren. Eine der wichtigsten Rahmenannahmen der Cognitive Poetics ist, dass literarische Texte nicht -wie zahlreiche ältere Hteraturwissenschaftliche Ansätze selbstverständlich annehmen - als autonome Gebilde verstanden werden können. Sie sind vielmehr wie alle menschlichen Lebensäußerungen letztlich Funktionen einer bestimmten biologischen Ausstattung und von dieser her zu verstehen. Zugrunde liegt dieser Auffassung eine Ablehnung de"?" traditionellen Dichotomie von Geist und Körper: »The traditional dominant view in western philosophy has regarded reason as a product exclusively of the mind, and the rational mind has been treated as being separate from the material body. Cognitive science calls this distinction into question, arguing [■...] that reason (as well as perception, emotion, belief and intuition) are literally embodied - inextricably founded in our bodily interaction and experience with the world.« (Stockwell 2002,27) Grundbegriffe: Literatur, Interpretation, Leser/Kontext Zu den Grundsätzen der Cognitive Poetics gehört die Annahme, dass es so etwas wie eine spezifisch >literarische< S^achverwendung nicht gibt. Wenn^ Texte als literarisch empfunden werden, so liegt das > an ihrer Präsentation in einem bestimmten institutionellen Kontext sowie bestimmten, schematisierten Verarbeitungsmodi auf Seiten der Leser (vgl. Cook 1994,1). Ergänzt werden kann dieses Modell allerdings auch durch die Benennung literaturspezifischer Texteigenschaften (vgl. Miall/Kuiken 1999). Gemeinsam ist diesen Bemühungen um eine Klärung des Literaturbegriffs, dass sie mit der Frage nach den allgemeinen kognitiven Funktionsprinzipien der Sprache beginnen. Die Ergebnisse einer 334 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft _......................_............................._Leserorientierte Theorien und Methoden 335 solchen Sprachtheorie können dann auch auf Texte angewendet werden, die im Allgemeinen als >litera-rische< bezeichnet werden. Angesichts dieser Grundhaltung nimmt es nicht wunder, dass im Rahmen der Cognitive Poetics keine Kanonbildung stattfindet. Aus Sicht der Cognitive Poetics neigen viele traditionelle Literaturtheorien dazu, einerseits spezifische Annahmen der je eigenen Untersuchungsrichtung als für Literatur konstitutiv auszuweisen - so ist beispielsweise für den literarischen Text nach rezeptionsästhetischem Verständnis dessen >Offenheit< konstitutiv (vgl. II.5.4.1), während für die Dekonstruktion dem >Spiel der Zeichen< diese Rolle zukommt (vgl. II.5.2.2). Andererseits konzentrieren sich diese Ansätze dann vornehmlich auf die Analyse solcher Texte, an denen sich die (postulierten) konstitutiven Merkmale besonders wirkungsvoll demonstrieren lassen. Solche (bewussten oder unbewussten) Akte der Gegenstandsfestlegung und Kanonbildung will man im Rahmen der Cognitive Poetics vermeiden. Neben der Dimension der Sprachlichkeit ist u. a. die Fiktionalitätsdimension literarischer Werke ko-gnitionswissenschaftlich untersucht worden. Zu den Problemfeldern, die im Rahmen entsprechender Theorien geklärt werden, gehören etwa die Frage nach den Ursachen emotionaler Reaktionen auf fiktive Gegenstände, die >Logik< imaginativer Ergänzungen fiktiver Welten oder das als imaginative resistance bekannte Problem, dass sich Leser bestimmte Dinge, von denen in einem fiktionalen literarischen Werk die Rede ist, nicht als Bestandteile fiktiver Welten vorstellen können. Ein kogniti-onspsychologischer Lösungsansatz besteht in der Postulierung eines mentalen Informationsverarbeitungssystems, das Vorstellungen {pretenses) in demselben code verarbeitet wie Überzeugungen (beließ), weshalb es erstens zu inferenziellen Beziehungen zwischen Vorstellungen und Überzeugungen kommen kann und Vorstellungen zweitens ähnliche affektive und volitive Effekte hervorrufen können wie Überzeugungen.52 Auf diese Weise kann erklärt werden, wie es kommt, dass Überzeu- 52Vgl. Shaun Nichols: Imagining and Believing: The Promise of a Single Code. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 62. Jg., 2 (2004), 129-139. gungen Vorstellungen beeinflussen können (und umgekehrt), und dass sich unsere Reaktionen auf vorgestellte (fiktive) Welten nicht notwendig von unseren Reaktionen auf die Wirklichkeit unterscheiden müssen. In Bezug auf die Interpretation literarischer Texte verfahren Vertreter der Cognitive Poetics unterschiedlich. Wie in der Empirischen Literaturwissenschaft, wenn auch aus anderen Gründen, wird keine Interpretationsmethodologie - also eine Lehre der Verfahrensweisen und Standards des Interpretierens - entwickelt. Ergebnisse der Cognitive Poetics können vielmehr erstens im Dienste der Interpretationsmethode eines bestimmten literaturtheoretischen Ansatzes verwendet werden. So kann beispielsweise eine feministische Lektüre eines literarischen Textes durch Überlegungen zu den kognitiven Fundamenten der Selektion, Wahrnehmung und Verarbeitung geschlechtsspezifischer Schemata fundiert werden. Die eigenen Beispielinterpretationen von Vertretern der Cognitive Poetics zeigen denn auch, dass das Problem der systematischen Korrelation von kognitionswissenschaft-lichen Kategorien und eigenen Textbefunden noch nicht befriedigend gelöst ist (ein Beispiel: Hogan 2003, Kap. 1). Zweitens können individuelle oder kollektive Bedeutungszuschreibungen mit den Mitteln der Kognitionswissenschaften analysiert werden. Die Cognitive Poetics liefern in diesem Fall eine Metatheorie, die es gestattet, die Verfahren und Ergebnisse anderer Theorien zu analysieren und zu evaluieren (zu Letzterem vgl. Tsur 2002, 279). Drittens können Verfahren und Ergebnisse der Cognitive Poetics Interpretationen zumindest inspirieren. So legen beispielsweise Überlegungen zur mentalen Repräsentation von Figurenbeschreibungen (z. B. Schneider 2000) oder zur Theorie der Metapher (z.B. Hogan 2003, Kap. 4) nahe, Texte nach den sprachlichen Korrelaten der betreffenden kognitiven Phänomene zu untersuchen. Die Ergebnisse der Cognitive Poetics haben in diesem Fall also zumindest die Funktion einer Interpretations-heuristik. Vertreter der Cognitive Poetics betonen, dass ihre Forschungsrichtung nicht auf die Behandlung von Problemen der Bedeutungszuschreibung festgelegt ist. In der Fixierung der traditionellen Literaturwissenschaft auf die Interpretation literarischer Texte wird vielmehr eine Beschränkung ge- sehen, weshalb kognitive Analysen auch auf andere Elemente der literarischen Rezeption - etwa die Emotionalität der Literaturrezeption oder die >Ab-sorbtionskraft< von Lektüren - auszudehnen sind. Die Größen des Lesers sowie allgemein des Kontextes spielen dabei immer eine wichtige Rolle. Literarische Werke werden stets - und je nach Perspektive - als Produkte oder Gegenstände geistiger Prozesse des Autors respektive Lesers gesehen. Lektüren haben generell einen >persönlichen< Zug, d. h. sie sind immer von den Erfahrungen und dem Hintergrundwissen individueller Leser geprägt. Im Rahmen der Cognitive Poetics wird dieser individuelle Zug der Lektüre einerseits betont und gegen Versuche der methodologischen Standardisierung von Interpretationen geltend gemacht. Andererseits versuchen Vertreter der Cognitive Poetics, das Vorliegen voneinander abweichender Lektüren zu beschreiben und zu erklären, indem sie auf unterschiedliche Dispositionen und Voraussetzungen auf Seiten der Leser verweisen. Die Ergebnisse individueller Lektüreakte können also durchaus stark voneinander abweichen. Aber das heißt nicht, dass der Prozess der Lektüre nicht nach einem identifizierbaren Muster abliefe und sich nach einem einheitlichen funktionalen Modell beschreiben ließe. Ein wirkungsvolles kognitives Beschreibungsinstrumentarium liefert die sogenannte Schema-Theorie (vgl. Stockwell 2002, Kap. 6). Die Wissensbestände einer Person sind demnach in bestimmter Weise gruppiert: Sogenannte frames umfassen zusammengehörige Wissensbestände, die eher statisch angeordnet sind, also beispielsweise Wissen darüber, was für Gegenstände normalerweise in einem Restaurant anzutreffen sind. Scripts dagegen sind eher prozessural organisiert und betreffen Vorgänge, also beispielsweise Wissen darüber, wie ein Restaurantbesuch abläuft. Frames und Scripts werden von Lesern bei der Lektüre gleichsam als Vorlagen in Anschlag gebracht, in die aufgenommene Textdaten eingesetzt werden. Anhand der Schema-Theorie kann man beispielsweise erklären, weshalb Leser einen anscheinend hoch fragmentarischen und kaum zusammenhängenden Textbestandteil (>Er betrat den Raum und bestellte ein Schnitzel.<) als kohärente Situationsbeschreibung verstehen können oder weshalb ein und derselbe Text in Abhängigkeit von individuell oder kulturell verschiedenen frames und Scripts sehr unterschiedlich aufgenommen und >verstanden< werden kann. Überdies lässt sich der bleibende Einfluss, den Lektüren auf die Wissensbestände von Lesern haben können, als Restrukturierung, Modifikation oder Ergänzung mentaler Schemata beschreiben.53 Methodologie Da im Rahmen der Cognitive Poetics keine eigene Interpretationsmethodologie entwickelt wurde, kann hier nur exemplarisch auf ein einzelnes Untersuchungsverfahren verwiesen werden. Reuven Tsur geht davon aus, dass die Anwendung von Emotionsprädikaten (>traurig<, >freudig< usw.) auf literarische Texte auf einer strukturellen Analogie zwischen wahrgenommenen Texteigenschaften und Emotionen beruht (vgl. Tsur 2002,282 ff.). Wer von einem Gedicht sagt, es sei traurig, meint damit nicht, dass das Gedicht trauere, sondern vielmehr, dass es dank bestimmter sprachlicher Eigenschaften den Eindruck von Traurigkeit hervorrufe. Auch ist nicht (notwendig) gemeint, dass ein Leser des Gedichts traurig wird; vielmehr wird der Leser dazu veranlasst, das Gedicht als >traurig< zu charakterisieren. Dazu ist nicht erforderlich, dass das Gedicht Trauer benennt oder beispielsweise eine traurige Person beschreibt. Vielmehr genügt es, wenn im Rahmen des Gedichtes Sachverhalte beschrieben werden, aus denen Leser im Lektüreprozess abstrakte übergeordnete Kategorien (etwa >Beruhi-gung< oder >Nachlassen von Aktivitäts ableiten. Dass ein solcher subliminaler Kategorisierungspro-zess stattfindet, ist im Rahmen psychologischer Untersuchen belegt worden. Die Emotionspsychologie gibt sodann Aufschluss über die strukturelle Analogie von Textstruktur und Emotion: So gehen Emotionen typischerweise mit einer Veränderung des >Energielevels< einher - »Deviation from normal energy level: increase (gladness, anger), or de-crease of energy (sadness, depression, calm)« (ebd., 282) - sowie mit einer >diffusen Informationspro-zessierung< - »Diffuse Information in a highly ac- 53 Vgl. als Übersicht Darcia Narvaez: Moral Text Comprehension: Implications for Education and Research. In: Journal of Moral Education 30. Jg., 1 (2001), 43-54.