336 Theorienjur^ KonljBrtojjentte^ 337 tivated State that is less differentiated than con-ceptual Information« (ebd.)- Die Idee ist hier, dass sowohl der Text als auch die Emotion zur Ableitung abstrakter Kategorien Anlass geben, die in beiden Fällen identisch sein können. So ist beispielsweise im Falle von Trauer die übergeordnete Kategorie, die sich aus dem Text ableiten lässt, mit der Kategorie, die sich aus der Veränderung des für Trauer typischen Energielevels ableiten lässt, identisch: Sie lässt sich als ein nachlassen von Aktivität< beschreiben. Andererseits spiegelt die nicht explizite Benennung der emotionalen Qualität des Gedichts die für Emotionen typische diffuse Informations-prozessierung. Die kognitionspsychologische Beschreibung der Struktur von Emotionen sowie der Textwahrnehmung und -Verarbeitung liefert damit zum einen eine (hypothetische) Präzisierung der gängigen Praxis, literarischen Texten emotionale (>ästhetische<) Eigenschaften zuzuschreiben; zum anderen legt sie eine bestimmte Interpretationsheuristik nahe (>Suche im Gedicht nach strukturellen Analogien zu Mechanismen der Informati-onsprozessierung<). Schließlich ist die komplexe Erklärungshypothese auf verschiedenen Wegen falsifizierbar: einerseits durch genauere Beschreibungen des Textmaterials, andererseits durch psychologische Untersuchungen zur >Natur< von Emotionen und zu Kategorisierungsprozessen. Insgesamt befindet sich die Interpretationsmethodologie der Cognitive Poetics - wie viele weitere Bereiche ihrer Theoriebildung - noch in ihren Anfängen. Dies gilt jedenfalls für literaturwissenschaftliche Applikationen; in der Nachbardisziplin der Filmwissenschaft liegen bereits umfassendere Forschungen vor.54 Literatur Cook, Guy: Discourse and Literature. The Interplay of Form and Mind. Oxford 1994. Fodor, Jerry A.: Explanations in Psychology. In: Max Black (Hg.): Philosophy in America. London 1965, 161-179. Hogan, Patrick Cohn: Cognitive Science, Literature, and the Arts. A Guide für Humanists. New York/London 2003. Miall, David S./Kuiken, Don: What is literariness? Three components of literary reading: In: Discourse Processes 28. Jg. (1999), 121-138. Richardson, Alan/Steen, Francis F. (Hg.): Poetics Today 23. Jg., 1 (2002), Sonderausgabe: Literature and the Cognitive Revolution. X. Schneider, Ralf: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des Viktorianischen Romans. Tübingen 2000. Semino, Elena/Culpeper, Jonathan (Hg.): Cognitive Stylis-tics. Language and Cognition in Text Analysis. Amsterdam/Philadelphia 2002. Stockwell, Peter: Cognitive Poetics. An Introduction. London/New York 2002. Stockwell, Peter: Cognitive Poetics and Literary Theory. In: Journal of Literary Theory 1 (2007), 133-150. Tsur, Reuven: Toward a Theory of Cognitive Poetics. Amsterdam u.a. 1992. Tsur, Reuven: Aspects of Cognitive Poetics. In: Semino/ Culpeper2002,279-318. 5.5 Kontextorientierte Theorien und Methoden Vertreter kontextorientierter Theorien richten sich gegen Ansätze, die ein textimmanentes Vorgehen fordern, den Text als dominante Bezugsgröße auffassen oder die Instanz des Autors oder des Lesers als allein oder hauptsächlich bedeutungskonstitutiv betrachten. Allerdings ist nicht nur umstritten, welches der für Literatur angemessene Kontextbegriff ist, sondern auch, welche Kontexte für das Verständnis literarischer Texte besonders wichtig sind. Wegen der Vielfalt möglicher Kontexte, die als für das Verstehen literarischer Texte einschlägig aufge- fasst werden, weisen kontextorientierte Theorien und Methoden ein besonders breites Spektrum auf. Auch sie enthalten Interpretationskonzeptionen, d.h. Annahmen über die angemessene Art und Weise, literarische Texte zu interpretieren. Dabei spielt unter den Bedingungen, die für die Interpretation eines literarischen Textes erfüllt sein müssen, die Berücksichtung bestimmter Kontexte eine prominente Rolle. Dadurch haben diese Ansätze es leichter, mit dem sogenannten >Text-Kontext-Pro-blem< umzugehen. Unter diesem Problem wird in der literaturwissenschaftlichen Diskussion das Problem der plausiblen Verbindung von literarischem \ Text und einem der zahlreichen, historisch mög-! liehen Kontexte zum Zwecke des Verstehens bzw. \ der Bedeutungsrekonstruktion verstanden. Kontextorientierte Theorien und Methoden lassen sich zum einen nach der Art des Kontexts einteilen, der jeweils für besonders wichtig gehalten wird. Wir unterscheiden hier Theorien, die gesellschaftliche Kontexte als entscheidend postulieren, von solchen, die kulturelle Kontexte fokussieren. Auch wenn diese Unterscheidung nicht trennscharf ist, war sie doch theoriegeschichtlich von Bedeutung. Zum anderen spielt die Auffassung davon, wie diese Kontexte gegeben sind, eine wichtige Rolle: als realhistorische Zusammenhänge (extratextuelle Kontexte) oder als allein sprachlich gegebene Kontexte, die sich im Bezug von Text zu Text (intertextuelle Kontexte) konkretisieren. Mit diesen beiden (groben) Differenzierungen lassen sich die im Folgenden behandelten Ansätze in Beziehung setzen: (1) Gesellschaft (2) Kultur realhistorisch (extratextuell) Marxismus / Ideologiekritik, Sozialgeschichte, Feminismus Gender Studies 1, Cultural Studies 1 sprachlich (intertextuell) Gender Studies 2, Cultural Studies 2, Diskursanalyse, New Historicism, (Intertextualitats-theorien) 54 Vgl. Gregory Currie: Image and Mind. Film, Philosophy and Cognitive Science. Cambridge 1995. Die in den Gruppen (1) und (2) versammelten Theorien unterscheiden sich wiederum nach den As- pekten gesellschaftlicher bzw. kultureller Kontexte, die sie für das Verständnis von Literatur für besonders wichtig halten. Keiner der kontextzentrierten , Ansätze entwickelt ein eigenständiges Interpretationsverfahren; vielmehr tendieren Ansätze mit einem extratextuellen Kontextbegriff dazu, herme-neutische Grundannahmen zu verwenden, während die intertextuellen Kontexttheorien in der Regel mit poststrukturalistischen Annahmen operieren. Zu beachten ist noch eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis: In der literaturwissenschaftlichen Praxis kommen Interpretationen, die literarische Texte kontextualisieren, um Erkenntnisse über sie zu gewinnen, am weitaus häufigsten vor. Zu ihnen zählen zum einen Interpretationen, deren Verfasser annehmen, dass sich die Bedeutung eines literarischen Textes nur dann auf angemessen Weise erschließen lasse, wenn man ihn in einen bestimmten Kontext stellt. Zum anderen gehören aber auch die symptomatischen Interpretationen dazu. Letztere gehen von einer vorgegebenen Fragestellung aus, die an einen literarischen Text herangetragen wird und die dazu führt, den Text als Anzeichen, als >Symptom< für etwas anderes, z. B. für politische Zustände oder gesellschaftliche Machtverhältnisse seiner Entstehungszeit, zu verstehen. Die Interpretationstexte beider Verfahrensweisen sehen in der Regel ähnlich aus; die theoretischen Ausgangsbedingungen unterscheiden sich aber darin, dass im ersten Fall eine begründende kontextzentrierte Literaturtheorie vorliegt, während dies im zweiten Fall nicht immer so sein muss. Anders gesagt: Nicht jede symptomatische Interpretation von Emilia Galotti, die das Verhältnis zwischen Odoardo und seiner Tochter als Indiz für die patriarchale Ordnung der Geschlechter im 18. Jh. deutet, beruht auf der Grundlage einer kontextzentrierten Literaturtheorie. Es kann auch sein, dass ihr Verfasser einen autor- oder sogar einen textzentrierten Ansatz vertritt, die spezifische Fragestellung aber die Herangehensweise an das Drama vorgibt. Es ist also nicht immer möglich, von den Interpretationshypothesen auf die zugrunde liegende Theorie zu schließen. Eindeutig zugänglich sind oft nur die Fragestellungen, deren Einbettung in einen theoretischen Rahmen nicht immer klar erkennbar ist. 5.5.1 Gesellschaftstheoretische Ansätze Der oft verwendete Begriff >Sozialgeschichte der Literatur< wird in der literaturwissenschaftlichen Debatte mit zwei unterschiedlichen Bedeutungen eingesetzt. In einer weiten Begriffsverwendung bezeichnet er jede Literaturtheorie, die gesellschaftlichen Strukturen einen bestimmenden Einfluss auf die Literatur zugesteht. Im Folgenden werden solche Theorien >gesellschaftsgeschichtliche Literaturtheorien genannt. In einem engeren Sinne wird eine bestimmte Richtung der gesellschaftsgeschichtlichen Literaturtheorien als >Sozialge-schichte der Literatur< bezeichnet, die in den 1970er bis 1980er Jahren im deutschen Sprachraum ausgesprochen fruchtbar war und neben zahlreichen Interpretationen auch die Gestaltung von zwei großen Literaturgeschichten mitbestimmte. Zu den gesellschaftsgeschichtlichen Literaturtheorien werden hier diejenigen Theorien der Literatur gerechnet, die sich auf ein explizit formuliertes Gesellschaftsmodell beziehen, zu dem Literatur in einer explizit formulierten Weise in Beziehung gesetzt wird. Ein weiteres wesentliches Element gesellschaftsgeschichtlicher Literaturtheorien ist die Fokussierung auf die Formen sozialer Ungleichheit und deren Auswirkung auf bzw. Verarbeitung durch Literatur. Zu den Theorien, die im Laufe des 20. Jh.s bis zu den einflussreichen soziologischen >Großtheorien< im Anschluss an Luhmann und Bourdieu von besonderer Bedeutung gewesen sind, gehören Marxismus, Kritische Theorie/Ideologiekritik und die Sozialgeschichte (vgl. ausführlicher dazu Dörner/ Vogt 1994). Marxistische Literaturwissenschaft Nach den frühen Versuchen bei Herder und anderen AufHärungstheoretikern, Literatur im gesellschaftlichen Kontext zu betrachten, entstand im Rahmen des Marxismus eine erste ausformulierte Theorie zum Zusammenhang von geistigen Produkten (einschließlich der Literatur) und der Gesellschaft. Marxistische Literaturwissenschaft geht von einem Abhängigkeitsverhältnis geistiger Produktionen (Literatur) von den materiálen Lebensverhältnissen (Gesellschaft, insbesondere Ökono- mie) aus. Im Zentrum der marxistischen Literaturwissenschaft stehen die Geschichts- und Naturphilosophie des historischen Materialismus sowie als Erkenntnistheorie die Widerspiegelungstheorie. Sowohl Geschichte und Natur als auch ihre gedanklichen Abbilder gehorchen den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Dialektik. Für die historische Entwicklung wesentlich ist die Dialektik von Produktivkräften (Arbeitskraft, -gegenständ und -mittel) und Produktionsverhältnissen (die gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse, insbesondere das Eigentum an den Produktionsmitteln). Die Produktionsverhältnisse und die Produktivkräfte bilden »die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis« (Marx/Engels 1956-1968, Bd. 13,8), über der sich ein juristischer, politischer, religiöser, künstlerischer und philosophischer Überbau erhebt. Das Verhältnis von Basis und Überbau wird als »Wechselwirkung auf Grundlage der in letzter Instanz stets sich durchsetzenden ökonomischen Notwendigkeit« (ebd., Bd. 39, 206) verstanden oder als einseitige Determination des Überbaus durch die Basis. Konstitutiv für die Basis und damit auch für alle Formen des Überbaus vor der Epoche des Sozialismus ist der antagonistische Widerspruch, »der auf dem unversöhnlichen Gegensatz zwischen den Interessen verschiedener gesellschaftlicher Klassen oder sozialer Gruppen beruht«.55 Da Marx und Engels selbst keine ausgeführte ästhetische Theorie oder Poetik vorgelegt hatten, wurde einerseits das marxistische System von Anhängern auf Literatur angewandt, andererseits sammelte man die Äußerungen von Marx und Engels, um daraus eine Theorie marxistischer Literaturbetrachtung zu konstruieren. Ausführlichere Äußerungen zu Kunst und Literatur finden sich zumeist in Vorworten und Briefen. Loci classici der Diskussion sind je ein Brief von Engels an die Schriftstellerin Harkness (1888) und an Minna Kautsky (1885), in denen als Aufgabe des Schriftstellers nicht der »Tendenzroman« bestimmt wird, sondern eine »treue Schilderung der wirklichen Verhältnisse« (Marx/Engels 1967, Bd. 1, 156) und »außer der Treue der Details die getreue Wiedergabe typischer Charaktere unter typischen Umständen« (ebd., 157); darüber hinaus ein Briefwechsel zu Ferdinand Lassalles Drama Franz von Sickingen, der zur »Sickingen-Debatte« (Lukács) erst in der »Konstruktion ihrer Rezipienten« wurde.56 Gemeinsam ist den Äußerungen, dass Literatur in erster Linie inhaltlich betrachtet wird und am Maßstab der eigenen Geschichts- und Gesellschaftsanalyse bewertet wird. Eine wesentliche Rolle für die Theoriebildung und marxistische Literaturwissenschaft spielten diese ursprünglich verstreuten Äußerungen erst, nachdem sie 1937 von Michail Lifschitz gesammelt publiziert wurden. Als Anfangspunkt einer umfassenden Anwendung des historischen Materialismus auf die Literatur und damit einer marxistischen Literaturwissenschaft wird das literaturkritische Werk des Publizisten Franz Mehring betrachtet.57 Nach Mehring liegt die Aufgabe der Literaturbetrachtung als Teil der allgemeinen Geschichtswissenschaft darin, das literarische Erbe<, in dem Autoren für die fortschrittlichen Klassen ihrer Zeit eingetreten sind, für die zukunftsbestimmende gesellschaftliche Klasse, das Proletariat, vor dem verfälschenden Zugriff der bürgerlichen Literaturwissenschaft zu retten (>Lessing-Legende<). Mehrings Methode ist eine Analyse der Basis-Überbau-Verhältnisse, die monokausal die politische Position des Autors bzw. den politischen Inhalt des Werks auf den Klassenkampf als zentrales Moment der Basis bezieht. Im deutschsprachigen Raum wirkt Mehrings marxistische Literaturkritik bis in die 1930er Jahre modellbildend für den sozialistischen Umgang mit Literatur. Die marxistische Literaturwissenschaft entwickelt sich von diesen Anfangen bis in die 1980er Jahre weiter. Sie ist geprägt durch eine internationale Theoriedebatte und Interpretationspraxis, deren Reichtum an Ansätzen nur schwer auf Grund- 55 Widerspruch. In: Georg Klaus/Manfred Buhr (Hg.): Marxistisch-leninistisches Wörterbuch der Philosophie. Reinbek bei Hamburg 1972,1166. 56 Wolfgang Hagen: Zur Archäologie der marxistischen Geschichts- und Literaturtheorie. Die sogenannte >Si-ckingen-Debatte<. In: Heinz Schlaffer (Hg.): Erweiterung der materialistischen Literaturwissenschaft durch Bestimmung ihrer Grenzen. Stuttgart 1974, 7-108, Zit. 10. 57 Vgl. Hans Koch: Franz Mehrings Beitrag zur marxistischen Literaturtheorie. Berlin 1959,300. formen zurückführbar ist, da auf sehr unterschiedliche Weisen an das umfangreiche Werk von Marx und Engels angeknüpft wird und zudem die verschiedensten Synthesen mit anderen Theorietraditionen eingegangen werden. Hervorzuheben sind jedoch Georg Lukács' literaturtheoretische Schriften, da sie für die weitere Entwicklung der marxistischen Literaturwissenschaft von kaum zu überschätzender Bedeutung sind. Im Rückgriff auf Hegels Ästhetik betont Lukács den Erkenntniswert von Literatur und sieht als Aufgabe der Kunst »die treue und wahre Darstellung des Ganzen der Wirklichkeit« (Lukács 1969, 219), wobei die Einsicht in diese Wirklichkeit, insbesondere in den objektiven Gang der Geschichte, durch die Wissenschaft des Marxismus garantiert ist. Diese umfassende Widerspiegelung wird im Kunstwerk vor allem mittels einer spezifischen Form der Figur, des »Typus«, geleistet, der Allgemeines und Konkretes vermittelt: »Der Typus wird nicht infolge seiner Durchschnitt-lichkeit zum Typus, auch nicht durch seinen nur -wie immer vertieften - individuellen Charakter, sondern dadurch, daß in ihm alle menschlich und gesellschaftlich wesentlichen, bestimmenden Momente eines geschichtlichen Abschnitts zusammenlaufen, sich kreuzen«.58 Der Standpunkt des Literaturwissenschaftlers, der den literarischen Text und den in ihm widergespiegelten historischen Prozess analysiert, ist selbst wiederum durch das Prinzip der Parteilichkeit bestimmt, das Lukács von Marx und Engels übernimmt. Genauer gesagt, bezieht er sich auf ihre Äußerungen zur Literatur, die er, wie ihr Herausgeber Lifschitz, als konsistentes System deutet. Die Parteilichkeit ist als Parteinahme für »für jene Klasse, die Trägerin des geschichtlichen Fortschritts ist«59, zu verstehen. Auf diese Weise kann auch das literarische Erbe<, der bürgerliche Kanon, als humanistische Kritik an der Deformation des Menschen in der vorsozialistischen Ära gedeutet werden. Die marxistische Literaturtheorie besteht neben einer relativ orthodoxen Tradition aus einer rei- 58 Georg Lukäcs: Vorwort zu »Balzac und der französische Realismus«. In: Ders.: Schriften zur Literatursoziologie. Frankfurt a.M. 1985,241-253, Zit. 244. 59 Georg Lukacs: Tendenz oder Parteilichkeit? In: Lukäcs 1985 (s. Anm. 58), 109-121, Zit. 119. 340 u]g2IÍ£D-H0^J£žíll2ä£D ^iĽiáffidtarwissenschaft Kontextorientierte Theorien und Methoden 341 chen Überlieferung von individuellen Denkern wie Walter Benjamin, der in der Analyse der »schriftstellerischen Produktionsverhältnisse einer Zeit«60 die marxistischen Kategorien auf den Autor und seine Arbeit überträgt, oder Theodor W. Adorno, Antonio Gramsci, Raymond Williams, Fredric Jameson und Terry Eagleton. Kritische Theorie/Ideologiekritik Im Laufe der 1960er Jahre kommt es im Zuge des erneuten starken Interesses an den Schriften von Marx und Engels zu einem Wiederaufleben der marxistischen Literaturwissenschaft im Westen. Als Ideologiekritik entwickelt sich im Anschluss an die Kritische Theorie vor allem Theodor W. Adornos und Max Horkheimers eine eigene Spielart marxistischer Literaturwissenschaft.61 Sie richtet sich gegen werkimmanente und formalistische Methoden und fordert, die gesellschaftliche Bedingtheit von Literatur konsequent zu reflektieren. In Adaption des Parteilichkeitspostulats fordern Ideologiekritiker von jedem Literaturwissenschaftler, selbst politisch Stellung zu beziehen, und setzen sich unter anderem kritisch mit der Vereinnahmung der Germanistik im Nationalsozialismus auseinander. Auch die Ideologiekritiker gehen von einer engen Verbindung zwischen Literatur und anderen ästhetischen Produkten und den realgesellschaftlichen Verhältnissen aus, fokussieren den Blick aber auf die Tendenz der Kunstprodukte, faktische Machtverhältnisse zu verschleiern. Ihr Ideologiebegriff geht auf Marx und Engels zurück: »Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken« (Marx/Engels 1956-1968, Bd. 3,46). Aufgabe der literaturwissenschaftlichen Ideologiekritik ist es entweder, die Li- 60 Walter Benjamin: Der Autor als Produzent. Ansprache im Institut zum Studium des Fascismus in Paris am 27. April 1934. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno/Gershom Scho-lem. Bd. II.2: Aufsätze, Essays, Vorträge. Frankfurt a.M. 1977, 683-701, Zit. 686. 61 Dazu genauer Terry Eagleton: Ideologie. Eine Einführung [1991]. Stuttgart 1993. teratur, die Machtverhältnisse affirmiert, zu entlarven, oder das kritische und subversive Potenzial von Literatur zu zeigen. Ideologiekritik will deutlich machen, wie in literarischen Texten, auch in scheinbar harmlosen, Ideen formuliert und somit wirksam werden, die >affirmativ< zur Stabilisierung der - verkehrten - Herrschaftsverhältnisse beitragen und die richtige Einsicht in sie verhindern. Insbesondere die Beschreibung der Kultur als »Kultur-industrie< in Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung (1947), der sich nur wenige authentische Werke< entziehen können, hat modellbildend gewirkt. Die populäre Kultur, die von der Literaturwissenschaft vor den 1970er Jahren größtenteils ignoriert wurde, gerät nun als besonders perfider Teil der Kulturindustrie ins Visier. Zugleich werden literarische Texte daraufhin untersucht, wie sie zum Herrschenden stehen. Adorno, der sich intensiv mit Literatur und Musik befasst hat, setzt sich von der traditionellen marxistischen Literaturwissenschaft ab, indem er fordert, die gesellschaftliche Deutung von Kunstwerken dürfe nicht unvermittelt auf den sogenannten gesellschaftlichen Standort oder die gesellschaftliche Interessenlage der Werke oder gar ihrer Autoren zielen, sondern müsse vielmehr untersuchen, wie das Ganze einer Gesellschaft im Kunstwerk erscheine.62 Gerade die Form des gelungenen Kunstwerks versöhnt, so Adorno, die Widersprüche, die die Realität wesentlich prägen, und in ihrer Autonomie gegenüber der »verwalteten Welt des Unwahren< zeigt sich eine Gegenposition zur Realität, die sonst nur der höchsten Anstrengung des Begriffs zugänglich ist. Der »unversöhnlich klaffende Widerspruch zwischen der dichterisch integren Sprache und der kommunikativen«63 führt dazu, dass Dichtung in der Moderne nur noch dort den Rang autonomer Kunst erreichen kann, wo sie sich in immer höherer Komplexität der leichten Konsumierbarkeit und damit der Kulturindustrie verweigert. 62 Vgl. Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft. In: Ders.: Noten zur Literatur. Hg. von Rolf Tie-demann. Frankfurt a.M. 1981,49-68, hier 51. 63 Theodor W. Adorno: Zur Schlußszene des Faust. In: Ders.: Noten zur Literatur. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1981,129-138, Zit. 130. Sicherlich ist die besondere Wertschätzung der Avantgarde, die Adornos Schriften kennzeichnet, ebenso idiosynkratisch wie seine summarische Ablehnung von Jazz oder Film, aber die Fragilität der ideologiekritischen Gedankenfigur wird gerade hier deutlich: Wie ermittelt man die Ideologie eines Kunstwerks, um sie dann auf das gesellschaftliche Modell zu beziehen? Versuche, über gesellschaftliche Positionen der Figuren und die sozialen Aspekte der Handlung zu argumentieren, landen zu schnell beim Lob der Tendenzkunst, während das Lob der Autonomie die Vermittlung zwischen Kunstwerk und Sozialem zu einem begrifflichen Drahtseilakt macht. Bezeichnenderweise haben sich gerade an diesem Problem zahlreiche Theoretiker der neomarxistischen Literaturwissenschaft abgearbeitet. Lucien Goldmanns Ansatz, die Form des Romans als Homologie zur Form des Waren-tauschs zu sehen, gehört ebenso hierher wie Peter Bürgers Konzept der »Institution Literatur<, die in dieser Form sowohl autonomes Kunstwerk als auch zugleich gesellschaftlich bedingt sein kann. Sozialgeschichte der Literatur Unter der Bezeichnung »Sozialgeschichte der Literatur im engen Sinne ist ein weitgehend auf Deutschland beschränktes Theorieprogramm bekannt geworden, das zwar wesentliche Impulse der neomarxistischen Literaturwissenschaft aufnimmt, aber in zentralen Punkten von ihr abweicht. Auch die Vertreter sozialgeschichtlicher Ansätze sind daran interessiert, Uterarische Texte mit sozialen Strukturen zu korrelieren. Aber sie übernehmen nicht die relativ einfachen Widerspiegelungskonzepte der marxistischen Literaturwissenschaft. Vielmehr wird die Frage nach der Art der Beziehung zwischen Literatur und Gesellschaft, zwischen symbolischen Systemen und sozialen Prozessen zum zentralen Problem dieser Ansätze.64 Zur Lösung dieses Problems wurde eine ganze Reihe soziologischer Begriffe importiert. So adaptierte 64 Vgl. Jörg Schönert: The Reception of Sociological Theory by West German Literary Scholarship, 1970-85. In: Richard Sheppard (Hg.): New Ways in Germanistik. New York u. a. 1990,71-94. man etwa den Begriff der Institution gleich in mehrfacher Weise, um mit seiner Hilfe die Vermittlung zwischen gesellschaftlichen Funktionen und symbolischen Formen zu leisten.65 Zugleich wurden die marxistischen geschichtsphilosophischen Modelle durch offenere Modelle historischer Beschreibung ersetzt. Entsprechend gewann der Begriff der Modernisierung eine Schlüsselrolle, da mit ihm die Vielfalt der sozialen Prozesse sinngebend gebündelt werden konnte. Bezeichnenderweise entstanden gleich mehrere Sozialgeschichten der Literatur als groß entworfene historiografische Projekte.66 In diesen Darstellungen wurde allerdings der Mangel an einer integrativen sozialgeschichtlichen Theorie besonders deutlich (vgl. Schönert 1985). Die avancierteren Modelle sozialgeschichtlicher Literaturtheorie - hier sind insbesondere die Arbeiten im Umfeld der Münchner Forschergruppe zur Sozialgeschichte der Literatur zu nennen (Hey-debrand/Pfau/Schönert 1988) - integrieren dagegen bereits Aspekte zweier einflussreicher soziologischer Theoretiker: Luhmann und Bourdieu (vgl. den Überblick in Jendricke 1988). Systemtheorie: Niklas Luhmann Der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann hat ein komplexes Theoriegebäude entworfen, mit dem er nichts weniger anstrebt als eine Theorie der Gesellschaft einschließlich all ihrer Teilbereiche. In einer umfangreichen Reihe von Bänden und Aufsätzen hat er die Gesamttheorie67 sowie die Anwendung 65 Vgl. Peter Bürger: Institution Literatur und Modernisierungsprozeß. In: Ders. (Hg.): Zum Funktionswandel der Literatur. Frankfurt a.M. 1983, 9-32; Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie. In: Walter Hinck (Hg.): Textsortenlehre - Gattungsgeschichte. Heidelberg 1977,27-42. 66 So Horst Albert Glaser (Hg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. 10 Bde. Reinbek bei Hamburg 1980 ff.; Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Begr. von Rolf Grimminger. 12 Bde. München 1980 ff. 67 Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1984. 342 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft Kontextorientierte Theorien und Methoden 343 auf einzelne gesellschaftliche Bereiche einschließlich der Kunst und auf die Gesellschaft insgesamt ausgeführt. Luhmanns Systemtheorie ist eine Weiterentwicklung soziologischer Systemtheorien, die durch die Integration von neueren biologischen und philosophischen Theorieelementen ihren eigenwilligen Zuschnitt erhält. Sie hat weit über die Soziologie hinaus sehr fruchtbar gewirkt und ist auch von der Literaturwissenschaft schon früh und vielfältig adaptiert worden. Bezugstheorie und Rahmenannahmen Luhmanns Systemtheorie ist ausgesprochen komplex und stellt an den Leser überdurchschnittliche Anforderungen, nicht nur aufgrund ihrer hohen Abstraktheit und Fremdheit gegenüber der Alltagserfahrung, sondern auch deshalb, weil bekannte Begriffe neu und abweichend definiert werden.68 Sie ist eine Theorie sozialer Systeme, die zugleich, soweit es notwendig ist, die Bausteine einer allgemeinen Systemtheorie mitliefert. Luhmann skizziert zwar die Anknüpfungspunkte sozialer Systeme an psychische und biologische Systeme, lässt diese beiden aber konsequent unbeachtet. Nach der allgemeinen Systemtheorie bestehen Systeme nicht aus Dingen, sondern aus Operationen. Biologische Systeme operieren in Form von Leben, z. B. dem Stoffwechsel, psychische Systeme in Bewusstseinsprozessen. Soziale Systeme operieren dagegen in Form von Kommunikation. Sie konstituieren sich durch eine Differenz zur Umwelt. Zwar sind soziale Systeme zur Umwelt hin offen, also nicht autonom, sondern mittels der strukturellen Koppelung mit der Umwelt verbunden; zugleich aber sind sie operativ geschlossen. Eine Veränderung der Umwelt führt durch die strukturelle Koppelung zu einer Veränderung der Operationen des Systems, aber diese Operationen beziehen sich immer nur auf die eigenen vorangehenden 68 Vgl. zum Folgenden vor allem ebd. und Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997; einführend dazu Margot Berghaus: Luhmann leicht gemacht. Eine Einführung in die Systemtheorie. Köln 2003. Operationen: Soziale Systeme sind, wie Luhmann dies in Anlehnung an die biologische Systemtheorie Humberto Maturanas nennt, >autopoetisch<. Autopoetisch sind nach Luhmann diejenigen Systeme, die die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren. Jede Operation von Systemen ist einmalig und unwiederholbar. Eine besondere Pointe von Luhmanns Theorie sozialer Systeme ist der Umstand, dass in seinem Modell keine Personen vorkommen. Die grundlegende Operation sozialer Systeme ist, wie gesagt, Kommunikation. Die Menschen, die kommunizieren, gehören als psychisches bzw. biologisches System zur Umwelt des sozialen Systems, sind aber nicht dessen Bestandteile. Kommunikation ist die grundlegende Einheit sozialer Systeme; sie kann aber zu analytischen Zwecken zerlegt werden und besteht dann aus drei >Selektionen<: Information, Mitteilung und Verstehen. Der Sender wählt aus dem Repertoire von Möglichkeiten etwas aus, das für ihn eine Information ist. Dann entscheidet er sich für die Mitteilung und eine bestimmte Form der Mitteilung. Zuletzt kann der Empfänger, indem er das Mitteilungsverhalten des Senders von dem unterscheidet, was es mitteilt, verstehen, dass es sich um eine Mitteilung handelt. Verstehen ist für Luhmann also nicht >richtiges< Verstehen, sondern sehr viel basaler die Zuschreibung, dass der Sender etwas mitteilt. Zu den besonderen Leistungen der Systemtheorie Luhmanns zählt, dass sie aufbauend auf den knapp skizzierten Konzepten das Verhältnis von sozialen Strukturen und - in einem sehr weiten Sinn - Ideen als Evolution modellieren kann. Damit bietet sie eine systematische Lösung auch für das Problem der Korrelation von Gesellschaft und Text, für das es in marxistischen Ansätzen keinen überzeugenden Lösungsweg gibt. Für den Bereich der Worte, Ideen, Begriffe, Modelle spielen für Luhmann zwei Konzepte eine zentrale Rolle: >Sinn< und >Semantik<. Mit >Sinn< bezeichnet Luhmann eine Erscheinungsweise von Wirklichem, die zugleich die anderen, im Moment nicht realisierten Möglichkeiten des Wirklichen sozusagen enthält. Luhmann bezeichnet dies als »appräsentierten Möglichkeitsüberschuß« (Luhmann 1980, 18). Verhalten gerät dadurch unter Selektionsdruck, weil nur eine Möglichkeit ausgewählt werden kann. Diese >Sinn<-Bildungen sind instabil und nicht mitteilbar, werden daher typisiert und generalisiert, um kom-munikabel und stabil zu sein (vgl. ebd., 17f.). Sinn selbst ist ein Universalmedium, das für psychische und soziale Systeme gültig ist. >Semantik< bezeichnet die Gesamtheit der Formen einer Gesellschaft, mit denen Sinn typisiert werden kann: den »höherstufig generalisierten, relativ situationsunabhängig verfügbaren Sinn« (ebd., 19). Neben dieser Alltagssemantik entwickelt sich jedoch schon früh Kommunikation, die aufbewahrt wird: die >gepflegte< Semantik, aus der die Ideenevolution entsteht. Zentrale Dimensionen zur Beschreibung der Gesellschaftsstruktur sind für Luhmann Komplexität und >Systemdifferenzierung<. Komplexität bezeichnet den Grad der direkten Verbindungen in einem System. Können sich in einer Stammeskultur z.B. noch alle Mitglieder persönlich kennen, so ist das bereits in den meisten Hochkulturen unmöglich, d. h. die Kommunikation muss organisiert werden, z.B. über ein Botensystem, Herolde etc. Systemdifferenzierung bezieht sich auf die Bildung von Teilsystemen innerhalb des Gesamtsystems Gesellschaft. Luhmann unterscheidet zwischen drei Formen der Differenzierung: segmentäre, stratifi-katorische und funktionale Differenzierung. Die segmentäre Differenzierung bezeichnet Gesellschaftsformen, in denen die einzelnen Teilsysteme der Gesellschaft gleich oder ähnlich sind. Ein Beispiel dafür bieten Kulturen, die aus Familienverbänden bestehen. Eine stratifikatorisch differenzierte Gesellschaft besteht aus ungleichen Teilsystemen, die hierarchisch geordnet sind. Jedes Teilsystem kennt seinen Platz im Gesamtsystem, weil es sich der übergreifenden Hierarchie zuordnen kann. Das heißt, dass jedes andere Teilsystem aus der jeweiligen Perspektive eines Teilsystems ungleich ist. Die Vorteile eines solchen Systems liegen in den weitergehenden Möglichkeiten der Arbeitsteilung. Stratifikatorisch differenziert ist z.B. die mittelalterliche Gesellschaft. Sie gliedert sich in hierarchische Teilsysteme, den Adel, die Geistlichkeit, die Bauern usw. Innerhalb eines Teilsystems, z. B. des Adels, findet sich dann weiterhin die Differenzierung nach Familien, also eine segmentäre Unterteilung. Der dritte Typus, die funktionale Differenzie- rung, kennt ebenfalls ungleiche Teilsysteme, die sich jedoch nicht mehr auf eine übergeordnete Hierarchie beziehen lassen. Das liegt an der Art, wie die Teilsysteme gebildet werden: Sie werden durch die Ausrichtung auf ein Bezugsproblem konstituiert, z.B. »wirtschaftliche Produktion, politische Ermöglichung kollektiv bindender Entscheidungen, rechtliche Streitregulierung, medizinische Versorgung, Erziehung, wissenschaftliche Forschung« (Luhmann 1980, 27). Für jedes Teilsystem ist das eigene Bezugsproblem das wichtigste; für die Gesamtgesellschaft gibt es keine eindeutige Hierarchie mehr. Denn jedes Teilsystem ist für die Gesellschaft wesentlich, aber welches wichtiger als andere ist, lässt sich nur noch situationsabhängig festlegen. Das Verhältnis der Teilsysteme untereinander bleibt also ungeregelt. Für diesen Gesellschaftstypus gibt es nur ein Beispiel: die moderne Gesellschaft, die sich in Europa im Spätmittelalter zu entwickeln begann und heute zum weltweit dominanten Gesellschaftstypus geworden ist. In Luhmanns Modell bekommt die Zeit um 1800 eine besondere Bedeutung, da die Entwicklung dann eine »kaum mehr reversible Lage« (ebd.) erreicht hat; er befindet sich damit im Einklang mit der historischen Forschung, die hier ebenfalls einen epochalen Einschnitt, eine »Sattelzeit« sieht.69 Veränderungen der Systemdifferenzierung bringen einen Wechsel der Komplexität des Systems mit sich. Ändert sich aber das Komplexitätsniveau der Gesellschaft, muss sich dem die Semantik anpassen, da die Menschen sonst mit dieser Semantik nicht mehr ihr Erleben und Handeln erfassen und steuern können (ebd., 22). Die Beziehung zwischen Semantik und Gesellschaftssystem wird als Evolution beschrieben. Die Semantik evolviert innerhalb des Gesellschaftssystems oder eines seiner Teilsysteme. >Evolution< bedeutet hier, dass die Mechanismen der Variation, der Selektion und der Stabilisierung über die Entstehung, Weiterexistenz und Dogmatisierung oder Vernichtung von Ideen be- 69 Z.B. Reinhart Koselleck: Einleitung. In: Otto Brunner/ Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland. Stuttgart 1972 ff., Bd. l.xm-xxm. 4) (jUoU so $ti ^^ß"-' 344 Theonenund ^ stimmen. Variation im Bereich des Ideenguts entsteht durch den Versuch, interne Theorieprobleme zu lösen, Inkonsistenzen zu beseitigen. Selektion geschieht nach Maßstäben der Plausi-bilität und Evidenz. »Plausibel sind Festlegungen der Semantik dort, wo sie ohne weitere Begründung einleuchten« (ebd., 49). Evidenz ist gesteigerte Plausibilität, da hier noch der Ausschluss von Alternativen dazukommt. Die beiden Begriffe bezeichnen »Erfahrungsgehalte« (ebd.), die sich entweder auf die Gesamtgesellschaft oder, bei ausdifferenzierten Systemen, auf ein Teilsystem beziehen. Eine Semantik >passt<, wenn sie plausibel ist. Wenn sie nicht passt, z. B. weil die Komplexität der Gesellschaft sich geändert hat, dann wird sie als uhplausi-bel und als nicht evident erfahren. Stabilisierung erfolgt mittels Systematisierung und Dogmatisie-rung. Ein typischer Fall dafür wäre innerhalb der Literatur das Gattungssystem oder die Kanonisierung von Texten. Der Bereich der Semantik >evolviert< also. Umwelt der Semantik ist das System >Gesellschaft< bzw. einzelne Teilsysteme; diese Umwelt bestimmt die Grenzen, innerhalb derer eine Semantik möglich ist, also als plausibel und evident erfahren wird. Zugleich entwickeln sich auch das System Gesellschaft bzw. die Subsysteme, für die wiederum die Semantik einen relevanten Umweltfaktor darstellt. Das Verhältnis der beiden Bereiche ist nach Luh-mann als Koevolution aufzufassen. Grundbegriff: Sozialsystem Literatur Luhmann hat keine eigene Literaturtheorie entwickelt, sondern in Die Kunst der Gesellschaft (1995) eine Beschreibung dessen vorgelegt, was seiner Auffassung nach ein zusammengehöriges System >Kunst< darstellt. Luhmanns Theorie bietet also keine eigenständige Interpretationsmethode; vielmehr geht Luhmann in seinen eigenen Auswertungen historischer (zumeist nicht-fiktionaler) Texte weitgehend nach einem traditionellen her-meneutischen Verfahren in einer textbezogenen Variante (vgl. dazu II.5.3.1) vor. Allerdings beriefen sich Literaturwissenschaftler bereits zur Zeit der Diskussion sozialgeschichtlicher Theorien auf Luhmanns Systemtheorie. Seitdem ist sie im Fach prä- --*-vn i ■ _■ *■ ■ mmmmvm,mK\mmmmmmm sent und wird vor allem zur Modellierung Uterar-historischer Entwicklungen herangezogen. Es lassen sich wenigstens zwei weitgehend unabhängige Rezeptionsrichtungen unterscheiden, die an unterschiedliche Theoriebausteine anschließen. Die eine Richtung sieht in Luhmanns Theorie vor t allem eine Lösung für das Problem, wie der Zusammenhang zwischen Ideen, also auch Literatur, und Gesellschaft zu konzeptualisieren sei. Hier dient >> Luhmanns historisches Gesellschaftsmodell vor allem dazu, die Probleme früherer Ansätze zu vermeiden und einen Bezug von Text und sozialer Struktur herzustellen, der die Komplexität der Einzeltexte nicht unterschreitet (so Schmidt 1989; Plumpe 1995; Werber 1992; Eibl 1995).70 So hat sich das Modell der Ausdifferenzierung des Sozialsystems Kunst um 1800 als äußerst integratives theoretisches Konzept erwiesen (vgl. z.B. Schmidt 1989). Ebenso fruchtbar ist das Modell der gesellschaftlichen Evolution und der Koevolution der zugehörigen Semantik, das Luhmann in einer Reihe von Aufsätzen (vgl. Luhmann 1980-1995) und dem gerade in der Literaturwissenschaft intensiv rezipierten Band Liebe als Passion (1982) entfaltet hat. Im letztgenannten Band behandelt Luhmann Liebe nicht als Gefühl, sondern als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium, also als Code, dessen Existenz das Ausbilden von entsprechenden Gefühlen sowie die Kommunikation darüber wahrscheinlicher macht und stabilisiert. Vertreter dieser Richtung der Luhmann-Adaption nehmen auch Einzeltextinterpretationen vor. Hier werden die Gedankenfiguren der historischen Soziologie auf literarische Texte appliziert und dienen dazu, bestimmte Phänomene der Semantik (im Sinne Luhmanns) - wie das der Individualisierung - sichtbar und erklärbar zu machen. Diese Anwendungen des Modells auf Literatur erzielen einen erhellenden kognitiven Verfremdungseffekt: Indem die Texte, in denen bestimmte Gedanken gestaltet sind, in den Kontext einer hoch abstrakten Theorie gestellt werden, wird die Funktionalität dieser Gedanken, die ohne eine solche Einbettung nicht klar wird, transparent gemacht. 70 Vgl. Karl Eibl: Literaturgeschichte, Ideengeschichte, Gesellschaftsgeschichte - und das »Warum der Entwicklung«. In: IASL 2. Jg., 2 (1996), 1-26. Kontextorient^ 345 Die andere Richtung geht von Luhmanns Kom- Inzwischen dient Bourdieus Theorie als integra-munikations- und Medienbegriff aus und versucht tiver Rahmen für eine ganze Reihe von empirisch ihn auch für die Interpretation von Texten frucht- oder historisch reichhaltigen Studien. Auch Bour-bar zu machen (so Jahraus 2003, de Berg/Prangel dieus Theorie erhebt, in Anwendung auf Literatur, 1995). Ihre Vertreter fassen Luhmanns Modell als den Anspruch, das Problem, wie Soziales in litera-derzeit avancierteste Theorie auf und versuchen die rischen Texten vermittelt wird, gelöst zu haben, für eine Analyse und Interpretation fehlenden Bau- Anders als die anderen Ansätze zur Lösung dieses steine zu ersetzen. Da Luhmanns Modell nicht auf Problems, die in diesem Abschnitt dargestellt wur-die Ebene des konkreten Textes hinabreicht, muss den, bezieht sich Bourdieu dabei in erster Linie diese Lücke mit eigenen Theorieentwürfen gefüllt auf den sozialen Kontext der Künstler und weni-werden, von denen sich allerdings bislang keiner ger auf die gesellschaftlichen Strukturen im durchsetzen konnte. Daher gibt es auch kein ge- Ganzen, meinsames Verständnis von >systemtheoretischer Interpretation^ außer vielleicht der generellen Einschätzung, dass sie als Beobachtung zweiter Ord- Bezugstheorie und Rahmenannahmen nung< (als >Beobachtung< von Literatur, die ihrerseits eine Beobachtung erster Ordnung< darstellt) Nach Bourdieu ist die soziale Welt insgesamt beverstanden werden kann. stimmt durch >objektive Relationen<. Darunter ver-Der Autorbegriff spielt für systemtheoretische steht er Beziehungen zwischen Positionen, die un-Literaturuntersuchungen keine prominente Rolle, abhängig vom Bewusstsein der Akteure sind, die Autoren als Personen tauchen in diesen Studien diese Positionen einnehmen. Ein zusammengehö-kaum auf, da sie ja nicht Teil des Sozialsystems Lite- / riges Ensemble solcher Relationen nennt Bourdieu ratur sind; ihre Namen sind vielmehr Platzhalter^ sozialen Raum< oder auch >Feld<. »Die Akteure für bestimmte Formen der >Semantik<, die unter- oder Gruppen von Akteuren sind anhand ihrer re-sucht werden. lativen Stellung innerhalb dieses Raums definiert.«71 Grundlage für die Stellung der Akteure im Feld sind die verschiedenen Formen des Kapitals, die im Literarisches Feld: Pierre Bourdieu jeweiligen Feld gültig sind. So ist etwa ökonomisches Kapital im Feld der Wirtschaft entschei- Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat dend und bestimmt weitgehend die Stellung der eine anspruchsvolle und komplexe soziologische Akteure in diesem Feld. Bourdieu unterscheidet Theorie vorgelegt, die, anders als die Arbeiten sei- zwischen verschiedenen Formen des Kapitals, die nes großen Konkurrenten Luhmann, auch auf um- ineinander konvertierbar sind; die wichtigsten fangreichen empirischen Studien basiert. Schwer- sind: punkt seiner Arbeiten sind kultursoziologische • ökonomisches Kapital: jede Form von materiel-Forschungen wie in seinem oft als Hauptwerk be- lern Reichtum; zeichneten Buch Die feinen Unterschiede (1979), • kulturelles Kapital in verschiedenen >Zustands-in dem er untersucht, wie Kunst und Kultur in der formen<: In objektiviertem Zustand fallen z. B. Gesellschaft verwendet werden, vor allem zur so- Bücher oder Gemälde darunter; in inkorpo-zialenDistinktion. Die Architektonik seiner Theo- riertem Zustand zählen kulturelle Fähigkeiten, rie erlaubt es, anders als bei Luhmann, einzelne Fertigkeiten und Wissensformen, die körperge-Begriffe zu übernehmen, ohne sich damit auf den bunden sind, etwa Essmanieren, dazu; in institu-gesamten theoretischen Kontext zu verpflichten. tionalisierter Form sind dies z. B. Bildungstitel; Das führt dazu, dass einige Begriffe, z. B. >Habi-tus<, eine beeindruckende Erfolgsgeschichte aufweisen, während Adaptionen von größeren Theo- _ rieblöcken in der deutschsprachigen Literaturwis- 71 Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und >Klassen<. Frank-senschaft anfangs nur selten zu finden waren. fürt a.M. 1985,10. 346 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft Kontextorientierte Theorien und Methoden 347 • soziales Kapital: mehr oder weniger dauerhafte Beziehungen zu anderen Akteuren; • symbolisches Kapital: »als legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien (gemeinhin als Prestige, Renommee, usw. bezeichnet)«.72 Ein universitärer Bildungstitel etwa stellt kulturelles Kapital, aber immer auch symbolisches Kapital dar, da er von den anderen Akteuren des Feldes anerkannt wird. Soziales Kapital ist zugleich auch symbolisches Kapital, da es auf Anerkennung angewiesen ist, um als Machtmittel einsetzbar zu sein. Allerdings ist symbolisches Kapital tendenziell auf ein bestimmtes Feld bezogen und wirkt nicht ohne Weiteres in einem anderen Feld. Komplementär zum Feldbegriff hat Bourdieu den Begriff des Habitus bestimmt. Er leistet die Vermittlung von Gesellschaftlichem und Individuellem, weil er das Gesellschaftliche im Individuum bezeichnet. Als »System der organischen und mentalen Dispositionen und der unbewußten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata«73 bedingt der Habitus die Erzeugung von Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen und bestimmt auf diese Weise sowohl die Freiräume als auch die Grenzen der Individuen. Entstanden als Konditionierung durch eine bestimmte Klasse von Existenzbedingungen ist der Habitus in dem Sinne unbewusst, dass die Akteure auch ohne Absicht so handeln, dass es ihrer Situation angepasst ist, zumindest solange der Habitus noch mit der Situation übereinstimmt.74 Die Akteure in den verschiedenen Feldern streben danach, so eine der leitenden Annahmen Bour-dieus, so viel Macht wie möglich in dem Feld zu erringen, d.h. sie verhalten sich ökonomisch; aber diese >Ökonomie< braucht nicht auf das ökonomische Kapital bezogen zu sein. Ihr Streben wie ihr ökonomisches Handeln ist jedoch nicht in erster Linie intentional, ebenso wenig wie die dazu ver- 72 Ebd., 11. 73 Pierre Bourdieu: Strukturalismus und soziologische Wissenschaftstheorie. In: Ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M. 1974, 7-41, Zit. 40. 74 Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M. 1993,98. wendeten Strategien es sind. Diese Strategien gründen vielmehr als grundlegende Formen sozialer Praxis im Habitus. Grundbegriffe: Geschmack, Distinktion, Literarisches Feld Für die Literaturwissenschaft sind zwei Texte Bour-dieus von besonderem Belang. Im ersten, Die feinen Unterschiede, stellt er eine der Grundannahmen der modernen Ästhetik in Frage, nämlich die Annahme, diese sei autonom in dem Sinne, dass sie keinen gesellschaftlichen Gebrauchswert habe. Er untersucht die Geschmacksurteile, Vorlieben und kulturellen Urteile unterschiedlicher sozialer Gruppen und Klassen der zeitgenössischen französischen Gesellschaft. Ergebnis seiner Untersuchung ist der Befund, dass Kunst und die Kompetenz, die notwendig ist, um sie adäquat wahrzunehmen, eine soziale Funktion und einen sozialen Wert haben und dazu beitragen, soziale Ungleichheit zu stabilisieren. Der Geschmack der Menschen wird in dieser Perspektive zu einem Zeichen, das soziale Distinktion ermöglicht. Das gilt auch und gerade für die desinteressierte Einstellung der modernen Ästhetik, die die Abgrenzung zu anderen, >vulgäreren< Formen des Umgangs mit Reizen impliziert. Diese Sicht auf kulturelle Güter und deren Funktionsweise hat in der Literaturwissenschaft den Vor-/ schlag motiviert, Literaturgeschichte von vornher-j ein nicht auf einen der sozialen Realität enthobenen], Kanon zu beziehen, sondern auf die sozialen Grup-j pen, in denen die jeweiligen Formen literarischere Kommunikation angesiedelt sind.75 Neben diesem kultursoziologischen Modell über die Verwendung von Kunst hat Bourdieu auch in Die Regeln der Kunst (1999) die soziale Welt der Autoren und mit Literatur Beschäftigten beschrieben und sich eingehend mit der Entstehung und Struktur des literarischen Felds beschäftigt. Allerdings bleibt seine Beschreibung auf die sehr spezifischen Bedingungen der Literatur in Frankreich 75 Vgl. Jost Schneider: Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Differenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland. Berlin/ New York 2004. beschränkt. Er geht von einer Interpretation von Flauberts Roman Erziehung des Herzens (1869) aus, den er als literarische Formulierung seiner Feldanalyse versteht. Zugleich aber arbeitet er dabei den soziologischen Blick des Romans sowohl in inhaltlicher wie formaler Hinsicht heraus. Flaubert steht auch in Bourdieus Analyse der Entstehung des literarischen Feldes im Mittelpunkt, da er zusammen mit Baudelaire erheblich zu dessen Konstitution »als einer gesonderten Welt mit je eigenen Gesetzen« (Bourdieu 1999, 84) beigetragen hat. Diese Autonomisierung ereignet sich in einem mehrstufigen Prozess gegen die marktorientierte, aber auch gegen die sozial engagierte Kunst. Für das literarische Feld ist das symbolische Kapital die entscheidende Kapitalform. Strukturiert wird das literarische Feld nach außen durch die Beziehung zu externen Instanzen, insbesondere zum Feld der Macht und zum Feld der Wirtschaft. Nach innen wird es durch das System der Positionen (als Positionen symbolischer Macht) und das System der Stellungnahmen (mittels Werken oder theoretischer Aussagen) strukturiert (vgl. Jurt 1995, 93). Eine wichtige Organisationsform aller Felder ist dabei der Gegensatz von Orthodoxie und Häresie. \ Bourdieus Analyse des literarischen Felds stützt \ sich fast ausschließlich auf nicht-literarisches Ma-terial, also auf Stellungnahmen von Künstlern in Briefen, Essays oder anderen Publikationen. Durch eine genaue Analyse ihrer gesellschaftlichen Her-I kunft und ihrer Beziehung zu anderen Künstlern, i z. B. über Gruppenbildungen, kommt er auf diese I Weise zu einer Bestimmung ihrer Position im lite-1 rarischen Feld. Methode der Textinterpretation Bourdieus Analyse von Literatur begreift diese immer als gesellschaftliches Phänomen, und die wichtigste Gesellschaft von Autoren sind, nach Bourdieu, andere Autoren. Für das Problem, wie sich dieses Gesellschaftliche in den Uterarischen Texten aufzeigen lässt, hat Bourdieu zwei Lösungswege aufgezeigt, aber nur eines dieser Analysemodelle hat er in Die Regeln der Kunst auch exemplarisch vorgeführt. Das erste Modell ist die Sozioanalyse der Figuren; sie entspricht Bourdieus Vorgehen in seiner Analyse von Flauberts L'Üducation sentimentale. »Vermittels der Fülle von Hinweisen, die Flaubert liefert, [...] läßt sich der soziale Raum der Erziehung des Herzens konstruieren und können die Positionen darin ausgemacht werden.« (Bourdieu 1999, 23) Die gesellschaftlichen Praktiken, die der Roman schildert, werden entsprechend der kultursoziologischen Perspektive als Zeichen für unterschiedliche soziale Sphären identifiziert, die Bourdieu als Bereich der politischen und ökonomischen Macht im Gegensatz zum Bereich der Kunst beschreibt. Zugleich versteht er den Roman als Stellungnahme Flauberts: »Frederics Erziehung des Herzens ist das fortschreitende Erlernen der Unvereinbarkeit der beiden Welten: Kunst und Geld, reiner Liebe und käuflicher Liebe« (ebd., 47). Erst im autonom werdenden Feld der Literatur - ein Prozess, den Flaubert u. a. mit seinen literarischen Texten und seiner Form des Erzählens befördert -gilt eben diese Unvereinbarkeit. Bourdieu versteht die Darstellung des Protagonisten in seiner Welt als Selbstobjektivierung des Autors. Aber da »der Uterarische Text im Akt der Entschleierung selbst wieder verschleiert« (ebd., 67) - also gesellschaftliche WirkUchkeit zeigt, aber eben in einer Weise, in der diese Wirklichkeit nicht wirklich ausgesagt wird -, muss die Sozioanalyse eine Enthüllung des Textes leisten, indem sie die Erzählung auf ein ProtokoU reduziert und die verdeckte Selbstobjektivierung aufdeckt. Dieses Verfahren der Textinterpretation I hat nur wenige Nachahmer gefunden (z.B. Wolf I 2005). Weitaus erfolgreicher war Bourdieus Hinweis darauf, dass Autoren durch ihre Texte, durch die Wahl von Themen und von spezifischen formalen Mitteln sich auch immer im literarischen Feld positionieren, und dies unter dem Vorzeichen, ihre eigene Position darin verbessern zu woUen. Ganz ohne Zweifel ist dieses Vorgehen zurzeit noch mit dem strukturalistischen Erbe des VoUständigkeits-postulats belastet: Bourdieu fordert eine Gesamtanalyse des Feldes unter Einbeziehung aUer Positionen, was schon für das 18. Jh. kaum durchführbar ist und für spätere Epochen nur durch gewaltsame Vereinfachungen mögUch wird. Der Vorteil dieses Ansatzes ist jedoch, dass hier eine Methode gefunden ist, mit deren Hilfe das, was das Besondere an 348 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft Kontextorientierte Theorien und Methoden 349 Literatur ist - ihre Formgebung -, ohne Reduktionismus auf Gesellschaftliches - die Auseinandersetzung zwischen Autoren - bezogen werden kann. Auch hier geht es jedoch nicht um Intentionen der Akteure, sondern um Praktiken aufgrund des Habitus der Autoren, mit denen diese Autoren auf eine bestimmte Situation in der Geschichte der Literatur und des literarischen Feldes treffen. Bezeichnenderweise stützen sich Bourdieus eigene Analysen zur Rekonstruktion des literarischen Feldes in Die Regeln der Kunst nicht auf eingehendere Textuntersuchungen, da für diese das formanalytische Instrumentarium der Literaturwissenschaft eine wichtige Voraussetzung bildet. Die Fruchtbarkeit für genuin literarische Analysen beginnt sich erst jetzt zu zeigen, da der Fluchtpunkt der meisten Analysen immer noch das literarische Feld ist. So kann etwa die Wahl bestimmter Stillagen als Selbstpositionierung im literarischen Feld verstanden werden (vgl. Meizoz 2005). Der umgekehrte Weg, die Analyse eines literarischen Textes unter der Perspektive, wie die wichtigsten stilistischen und thematischen Entscheidungen auf das literarische Feld zu beziehen sind, ist bislang nur theoretisch beschrieben worden. Literatur Berg, Henk de/Prangel, Matthias (Hg.): Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus. Tübingen/Basel 1995. Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M. 1999. Dörner, Andreas/Vogt, Ludgera: Literatursoziologie. Literatur, Gesellschaft, Politische Kultur. Opladen 1994. Eibl, Karl: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt a.M. 1995. Heydebrand, Renate von/Pfau, Dieter/Schönert, Jörg (Hg.): Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Ein struktural-funktionaler Entwurf. Tübingen 1988. Jahraus, Oliver: Literatur als Medium. Sinnkonstitutiqn und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation. Weilerswist 2003. Jendricke, Bernhard: Sozialgeschichte der Literatur. Neuere Konzepte der Literaturgeschichte und Literaturtheorie. In: Heydebrand/Pfau/Schönert 1988.27-84. Joch, Markus/Wolf, Norbert Christian (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen 2005. Jurt, Joseph: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt 1995. Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. 4 Bde. Frankfurt a. M. 1980-1995. Luhmann, Niklas: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. In: Luhmann 1980-1995, Bd. 1, 9-71. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt a. M. 1982. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1995. Lukäcs, Georg: Probleme der Ästhetik. Neuwied 1969. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus. Berlin 1956-1968. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Über Kunst und Literatur. 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Fotis Jannidis (Autor von Kap. 5.5.1) 5.5.2 Diskursanalyse Die literaturwissenschaftliche Diskursanalyse wird seit Ende der 1970er Jahre betrieben. In Deutschland wurde ihre Rahmentheorie, Michel Foucaults Diskursanalyse, mit Zeitverzögerung rezipiert, so dass auch ihre Anwendungen auf Literatur sich erst später durchsetzten. Die literaturwissenschaftliche Diskursanalyse wendet sich vor allem gegen den Mainstream des Faches, d.h. gegen Interpretationen literarischer Texte auf einer diffus hermeneu-tischen Grundlage. Wesentliche Annahmen her- meneutischer Theorien und auf ihnen beruhende wichtige Fragestellungen im Umgang mit Texten werden als verfehlt betrachtet. Dies betrifft vor allem hermeneutische Bedeutungskonzeptionen und die gängigen Auffassungen vom Ziel und Verfahren wissenschaftlichen Interpretierens. DieKri-tik richtet sich zum einen gegen einen traditionellen Erkenntnisbegriff, der vor allem imjnter-pretationddtmdm_ Konzert der Autorintention verortet wird. Die Suche nach dem Sinn oder der Bedeutung >hinter< den Texten wird als ein unein-lösbares Unterfangen angesehen, das die Literatur in prinzipieller Weise, moderne Literatur aber auch in historischer Hinsicht verfehlt: Da moderne Literatur sich spätestens seit Beginn des 20. Jh.s der Suche nach Sinn verweigere und >offene< Texte hervorbringe, tragen Theorien, die ihre Aufgabe in der Rekonstruktion von Sinn bzw. Bedeutung sehen und die ein geschlossenes jyeritganzeg voraussetzen, unangemessene und verfälschende Maßstäbe an diese Texte heran. Zum anderen wendet sich die Kritik gegen verstehenstheoretische Grundannahmen dieser Ansätze, etwa gegen die Auffassung von der Horizontverschmelzung (vgl. II.5.3.1). Ein zweiter, noch grundsätzlicher vorgehender Einwand trifft traditionelle Wissenschaftskonzepti-onen, denen auch hteraturwissenschaftliche Positionen verpflichtet sind. Deren Objektivitätsideal, ihre Fixierung auf Rationalität und Wahrheit sowie die darauf basierenden Methoden werden als Machtstrategien abgelehnt. Damit werden zugleich die seit den 1970er Jahren verstärkt auftretenden >szientistischen< Gegenpositionen zur Hermeneutik kritisiert, so die strukturalistischen und textlinguistischen Ansätze. Auf welcher Basis argumentieren diese Kritiker herkömmlicher Literatur interpretierender Ansätze? Rahmentheorie und Terminologie Die literaturwissenschaftliche Diskursanalyse basiert vor allem auf der poststrukturalistischen Philosophie Michel Foucaults. Foucault hat keine systematisch entfaltete Theorie vorgelegt, sondern ein bewusst variables, »irritierend bewegliches und diskontinuierliches >work in progress«< (Fink-Eitel 1989, 13). Es kreist um die Themenbereiche Wissen, Macht, Subjektivität und Geschichte und enthält neben dem philosophischen Zugriff Anleihen bei der Psychoanalyse, der Linguistik und der Ethnologie. Foucaults Interpreten betonen vor allem das Kreative und Wechselhafte seines Philosophie-rens, das durchaus einander widersprechende Positionen enthält. Jeder Versuch einer Rekonstruktion zentraler Thesen und Begriffe Foucaults setzt sich daher dem Vorwurf aus, seinen Gegenstand zu vereinfachen und der terminologischen Vielfalt bei Foucault nicht gerecht zu werden, und entsprechend gibt es unterschiedliche Vorschläge zur Auslegung des Foucaultschen Werks (empfehlenswert Dreyfus/Rabinow 1987). Für die literaturwissenschaftliche Adaption sind vor allem (1) der Diskursbegriff und (2) Foucaults Subjektkritik von Interesse. 1. Foucault hat den Diskursbegriff programmatisch uneinheitlich verwendet; dennoch lassen sich eine weite, unklare und eine engere, wissenssoziologische Begriffsverwendung unterscheiden: In der weiten Verwendungsweise ist unter >Diskurs< eine »wuchernde« sprachliche Größe zu verstehen, der die Eigenschaften >anarchisch< und >gefährlich< zukommen. Dem oft reproduzierten Bild vom »großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses« (Foucault 1991, 33) ist diese Auffassung inhärent. Weil dieser Diskurs ordnungslos und unberechenbar ist, erzeugt er, so Foucault, Angst und wird mithilfe zahlreicher Verbote und Regeln gebändigt.76 Mit >Diskurs< im engeren, wissenssoziologischen Sinne bezeichnet Foucault »eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören« (Foucault 1969/1973,156). Eine Aussage (frz. énoncé) ist für Foucault - in Abgrenzung zur Auffassung von >Aussage< in Logik oder Grammatik -eine vereinzelte, kontingente, materiále Einheit, die keinem konkreten Sprecher zuzuordnen ist. Mit >Aussage< ist weniger der Aussageinhalt als vielmehr die »Materialität des zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort wirklich Ge- 76 Vgl. dazu Uwe Japp: Der Ort des Autors in der Ordnung des Diskurses. In: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M. 1988,223-234, hier 231. 350 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft sagten« (Fink-Eitel 1989, 58) gemeint. Aussagen transportieren für Foucault keine Bedeutung und verweisen auch nicht auf etwas außerhalb ihrer selbst. Vielmehr sind sie als schlichte sprachliche >Ereignisse< ernst zu nehmen und, so Foucault, >ar-chäologisch< zu untersuchen, indem Fakten über sie zu sammeln sind. Mehrere Aussagen in diesem Sinne bilden einen Diskurs, das ist eine Formation, die bestimmten, historisch variablen Regeln gehorcht. Diese Regeln ermöglichen und beschränken Aussagen; sie legen fest, welche Gegenstände in einem Diskurs zugelassen sind, mit welchen Worten und Begriffen und in welchem Modus über sie gesprochen wird. Diskurse sind also keine Einzeltexte oder Textgruppen, sondern Komplexe, die sich aus Aussagen und den Bedingungen und Regeln ihrer Produktion und Rezeption in einem bestimmten Zeitraum zusammensetzen. Das »allgemeine System der Formation und der Transformation von Aussagen« nennt Foucault »Archiv« (Foucault 1969/1973,188). Diskurse entstehen und regeln sich nicht aus sich selbst heraus. Vielmehr sind sie Bestandteil von Machtpraktiken. Mit >Macht< ist die Größe bezeichnet, die in Diskursen Ordnung stiftet (zum schwierigen Machtbegriff vgl. Kögler 1994, 91-98). Sie manifestiert sich in verschiedenen Ausschlussmechanismen: in diskursexternen Ausschließungsprozeduren (z. B. in Verboten, in der Ausgrenzung bestimmter Redeweisen als >wahnsinnig<, im wissenschaftlichen >Willen zur Wahrheit<), in internen Kontrollmechanismen (z. B. im Kommentar, in der Zuschreibung eines Textes zum Autor, der Zuordnung zu Disziplinen) sowie in Kontrollmechanismen, die den Zugang zu Diskursen regeln (etwa im Erziehungssystem, in Ritualen, in Doktrinen verschiedener Art). Der medizinische Diskurs des 18. Jh.s etwa ist über seinen Gegenstand - Gesundheit und Krankheit -, über die Art und Weise, diesen Gegenstand zu thematisieren - zum Beispiel medizinische Terminologie, mechanistische Argumentationsweisen -, und über seine Beziehungen zu anderen Diskursen der Zeit, etwa zum theologischen oder juristischen Diskurs, zu bestimmen (eine genauere Erläuterung des Diskursbegriffs bei Titzmann 1991,406). 2. Warum Foucault in den Aussagen und ihren diskursiven Formationen die zentralen Gegen- stände seiner Forschung sieht, wird verständlicher, wenn man seine Kritik an der modernen Erkenntnistheorie betrachtet. Die leitenden Annahmen philosophischen Denkens seit der Aufklärung dienen, so Foucault, dazu, »die Realität« von Diskursen zu leugnen. Dies gelte vor allem für die Annahme eines »begründenden Subjekts«, das als Ursprung sprachlicher Äußerungen und Ursache ihrer Bedeutung angesehen wird, und die Philosophie der »ursprünglichen Erfahrung«, für die die Gegenstände Träger von Wahrheit bzw. Bedeutung darstellen (Foucault 1970, 31 f.). Beide verstellen die Einsicht in die Tatsache, dass es >hinterSinn< aneignet. Statt dieser Instanzen gehen Diskursanalytiker von Prozessen, Relationen und intertextuellen Verweisen aus. Der Autor gilt nicht mehr als autonomes Schöpfersubjekt. Der Text, den er hervorbringt, ist nicht als Ausdruck seiner Individualität und seiner Ab- Kon^)^ientierteJlTe£rien und Methoden 351 sichten zu verstehen, sondern wird bestimmt von der vorgängigen symbolischen Ordnung, an die jeder Mensch durch seine Sprache gebunden ist. Mit jeder Aussage gibt sich ein Sprecher als von Diskursen geprägt zu erkennen und keineswegs als freies Subjekt. Im Anschluss an einen der bekanntesten Texte Foucaults, an seinen Vortrag »Was ist ein Autor?«, der Roland Barfhes These vom »Tod des Autors« aufnimmt (Barthes 2000), wird der Konstruktcharakter des Autorbegriffs herausgestellt. Dieser Begriff wird in erster Linie als interne Ordnungskategorie für Diskurse verstanden, die verschiedene Funktionen erfüllt, zum Beispiel Texte zu Gruppen zusammenzufassen oder Identitäten herzustellen, die eigentlich nicht gegeben sind. Die Zuschreibung eines Textes zu einem Autor zählt Foucault zu den »Verknappungsprinzipien«, die den Diskurs (im weiten Sinne) beschränken (Foucault 1991, 34). Auch der »Kommentar«, die Wiedergabe eines Textes mit anderen Worten, zählt zu diesen Prinzipien (ebd., 18 f.). Im Umgang mit literarischen Texten übernehmen Interpretationen diese Kommentarfunktion: Interpreten setzen voraus, dass literarische Texte etwas enthalten, das sie nicht explizit aussprechen, das ihnen aber erst Relevanz zuweist, und die Aufgabe der Interpretation ist es, dieses Ungesagte auszusprechen. Mit dieser Strategie soll, so Foucault, das Zufällige des Diskurses (im weiten Sinne) gebannt werden, indem die Kommentare sich an bereits geäußerte Texte >anhängen< und sie nur permanent umformulieren. Diese Strategien, unter denen die Zuschreibung eines Textes zu einem Autor nur eine ist, gilt es zu analysieren. Entsprechend werden auch literarische Texte nicht als eigenständige, Bedeutung tragende Größen, sondern als >Knotenpunkte< im Netz verschiedener Diskurse betrachtet. Texte sind kontingent, weisen keine festen Grenzen auf und referieren nicht auf Wirklichkeit, sondern auf andere Texte: Die Diskursanalyse »verabschiedet [...] die Erkenntnisfunktion der Literatur [...]. Wenn sie Referenzbezüge statuiert, dann nicht auf Sachverhalte in oder jenseits einer Kultur, sondern immer nur von Diskursen auf Diskurse« (Kittler/Turk 1977, 40). Da es keinen verbindlichen Sinn eines Textes gibt, den sich Leser aneignen könnten, keine Bedeutung, die Interpreten rekonstruieren könnten, können Leser immer nur ihre eigene Auffassung des Textes konstruieren. Auch wenn sie diese Annahmen teilen, wird allerdings die Frage, welchen Status Literatur habe, von verschiedenen Vertretern der diskursanalytischen Richtung unterschiedlich beantwortet. Ist Literatur lediglich als Schnittmenge von Diskursen oder doch auch als eigener Diskurs aufzufassen? In Foucaults Schriften der 1960er Jahre hat Literatur die Funktion eines >Ge-gendiskurses<, der im Unterschied etwa zum wissenschaftlichen Diskurs dem dominierenden Machtmechanismus, dem >Willen zur Wahrheit, nicht unterworfen ist. Literarische Texte stellen nach dieser Auffassung Schemata der Wahrnehmung und Erkenntnis von Wirklichkeit in Frage, die in der Wissenschaft wie im Alltag als normal gelten, und gehen über sie hinaus. Diese Auffassung von der Höherwertigkeit literarischer Texte gegenüber nicht-literarischen, die mit dem Argument der subversiven Leistung letzten Endes moralisch begründet wird, ist (nicht nur) in diskursanalytischen Ansätzen verbreitet.77 Wird Literatur aber als >immer schon< subversiver Gegendiskurs verstanden, fällt es schwer zu erklären, warum literarische Texte dennoch dieselben Machtmechanismen wie andere Texte reproduzieren können. Wird sie dagegen als Schnittmenge verschiedener, einander überlagernder Diskurse verstanden, bleibt die Frage unbeantwortet, was denn das spezifisch Literarische dieser Redeformation sei (vgl. dazu auch Kremer 1993,103). Methode des Umgangs mit Literatur und Spielarten des Ansatzes Von ihren Zielen und Fragestellungen her ist die Diskursanalyse kein Verfahren zur Untersuchung von Einzeltexten. Nicht der einzelne Text steht im Zentrum des Interesses, sondern die Diskurse, an denen der Text partizipiert und zu denen er sich in 77 Vgl. dazu Simone Winko/Fotis Jannidis/Gerhard Lauer: Geschichte und Emphase. Zur Theorie und Praxis des erweiterten Literaturbegriffs. In: Jürn Gott-schalk/Tilmann Koppe (Hg.): Was ist Literatur? Basistexte Literaturtheorie. Paderborn 2006, 123-154, hierl30f.undl51f. 352 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft Kontextorientierte Theorien und Methoden 353 einer jeweils zu erforschenden Weise verhält. Dementsprechend werden die Erkenntnisziele dieser Richtung formuliert: Sie liegen erstens in Analysen der »singulären und kontingenten Ausübungsbedingungen« (Kittler/Turk 1977,24) von Diskursen: Unter welchen Bedingungen sind Diskurse entstanden, nach welchen Mechanismen funktionieren sie? Auf Literatur bezogen zielt die Analyse auf die Regeln ab, »nach denen Kulturen Wiedergebrauchs-reden bestimmt und Textcorpora hergestellt haben« (ebd., 38). Zu diesen Regeln gehören auch die unterschiedlichen Funktionen von Autorschaft. Zweitens untersuchen Diskursanalytiker die Sachverhalte - in traditioneller Terminologie: Themen und Motive -, die in Literatur thematisiert werden, indem sie sie auf kulturelle Codes bzw. auf die unter der ersten Fragestellung rekonstruierten Diskurse beziehen. ""* Wird die Diskursanalyse dennoch als Verfahren zur Einzeltextanalyse angewendet (vgl. etwa Kittler 1985), dann geschieht dies in der Regel unter drei Perspektiven: Zum einen wird untersucht, welche Diskurse im einzelnen Text thematisiert werden bzw. sich in ihm nachweisen lassen und wie die nachweisbaren Diskurse zur Sprache kommen: ob der Text sie reproduziert, ob er sie modifiziert oder sogar unterläuft. Kann nachgewiesen werden, dass ein literarischer Text etablierte diskursive Praktiken subversiv aufgreift, wird dies als Argument für eine besonders positive Wertung des Textes gesehen. Zum anderen wird nach den materiálen und diskursiven Bedingungen gefragt, unter denen der Text entstanden ist. Als dritte Perspektive werden die einzelnen Texte nach den textuellen >Netzwer-ken< untersucht, in denen sie stehen; d. h. es werden in irgendeinem Sinne ähnliche Texte mit dem einzelnen Text in Beziehung gesetzt (>Intertextuali-tät<). Auf einen einfachen Nenner gebracht, werden in diskursanalytischen Untersuchungen einzelner Texte folgende Suchregeln und Beziehungsregeln befolgt: Gesucht wird nach Daten, die Materialität und Medialität der Texte betreffen; nach sprachlichen Mustern, Bildern oder Themen in einem Text sowie nach Texten, die ähnliche Muster, Bilder oder Themen enthalten. Diese werden zueinander in Beziehung gesetzt, um einen Schluss auf begründende oder legitimierende Diskurse zu ermögli- chen. Daran anschließend können Vergleiche zwischen rekonstruiertem Diskurs und Einzeltext vorgenommen werden, z.B. unter der Frage, ob der Text einen Diskurs reproduziert oder subvertiert. Auf der in den vorangehenden Abschnitten skizzierten Grundlage sind in der Literaturwissenschaft verschiedene Spielarten der Diskursanalyse erarbeitet worden. Sie unterscheiden sich darin, welche Fragen sie stellen und welche Methoden sie bevorzugen. Eng an Foucault schließen mindestens zwei Spielarten an, (1) die psychoanalytisch orientierte und (2) die philologische, während (3) die semio-tische Diskursanalyse einige der Foucaultschen Prämissen nicht teilt. 1. Repräsentativ für die psychoanalytische Variante ist die bereits 1977 verfasste Einleitung zu dem Band Urszenen (Kittler/Turk 1977). Ausgangspunkt ist die These, dass es zum einen unbewusste kulturelle Faktoren, Verbote, gibt, »die das Sprechen steuern« und sich einem reflexiven Erfassen entziehen, und zum anderen »Mythen«, die diese Verbote verschleiern (ebd., 24). Beides aufzudecken ist Ziel der Diskursanalyse, deren Anliegen damit nicht nur historisch-rekonstruktiv, sondern auch kritisch ist. Als Gegenstände der literaturwissenschaftlichen Diskursanalyse gelten hier Diskurse, die diese Verbote und Mythen verwenden und reproduzieren; dazu Diskurse, denen in verschiedenen Kulturen »paradoxe Sprechakte« zugeschrieben werden: Rhetorik und Literatur. Zu untersuchen sind diese Gegenstände unter drei Perspektiven: Zum einen müssen die Regeln herausgearbeitet werden, nach denen Literatur jeweils bestimmt und abgegrenzt worden ist; zum anderen werden die Funktionen untersucht, die dem Autor jeweils zugeschrieben worden sind; und drittens werden literarische Oberflächenphänomene analysiert, etwa Themen und Motive. Um diese Aufgaben zu erfüllen, werden Beziehungen zwischen literarischen Texten und medizinischen, pädagogischen, juristischen und ähnlichen Texten und Dokumenten hergestellt, die demselben Diskurs angehören sollen. Das Bindeglied wird meist in einem gemeinsamen Thema, einem Denkmuster oder einer Schreibtechnik gesucht. Es werden keineswegs immer zeitgenössische Texte herangezogen, teilweise sind es auch die eigenen Bezugstheorien (Foucault, Lacan), die mit den historischen Texten gekoppelt werden.78 Dabei gelten Grenzziehungen traditioneller Interpretationspraxis nicht mehr ohne Weiteres. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass direkte Verbindungen zwischen fiktionalen und nicht-fik-i tionalen Informationen hergestellt werden und I dass Geschichte wie Literatur behandelt wird, wenn I etwa historische Konstellationen mit literaturwis-' senschaftlichen Techniken als Zeichen gedeutet 1 werden. 2. In der historisch-philologischen Variante der Diskursanalyse dominiert der historisierende Zugang, während ihre psychoanalytische Orientierung weniger stark ausgeprägt ist. Als exemplarisch seien hier die frühen Arbeiten Nikolaus Wegmanns (z.B. Wegmann 1988) genannt. Auf der Grundlage Foucaultscher Prämissen bindet er die Diskursanalyse an philologische Qualifikationen zurück, an die philologische Konzentration auf die Schrift und nicht auf einen >dahinter liegenden, metaphysischem Sinn. Eine wichtige Aufgabe dieser Richtung liegt in der Analyse, Kritik und Revision literarhistorischer Klassifikationen, beispielsweise des Epochenbegriffs >Empfindsamkeit<. Das Vorgehen traditioneller Literaturwissenschaftler, nur bestimmte Typen von Kontextwissen zu berücksichtigen, also stark auszuwählen, und so ein einheitliches Bild der Epoche zu entwerfen, wird abgelehnt. Stattdessen soll differenzierter vorgegangen werden, indem nach den diversen Diskursen gefragt wird, die einander in der >Empfindsamkeit< genannten Zeit überschneiden, ergänzen und widersprechen, nach den Abgrenzungsstrategien sowie nach der >Leitdifferenz<, die empfindsames Sprechen kennzeichnen. Von ihren Fragestellungen her weist diese Richtung Ähnlichkeiten mit neueren sozialgeschichtlichen Ansätzen auf (vgl. II.5.5.1). 3. Die dritte Variante der Diskursanalyse löst sich stärker von Foucault. Sie zieht semiotische Theorien heran und erarbeitet ein Repertoire textanalytischer Kategorien zur Beschreibung textu-eller Mikro- und Makrostrukturen. Ein Schwerpunkt ihres Interesses liegt auf der besonderen Funktionsweise literarischer Texte, ein zweiter auf 78 So etwa in Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900.2., erw. u. korr. Aufl. München 1985,15f. dem Verhältnis dieser Texte zu Diskursen. Jürgen Link, prominentester Vertreter dieser Richtung, unterscheidet Diskurselemente, die nur in einem Diskurs vorkommen (spezialdiskursive Elemente), von den »interdiskursiven Elementen«, die in mehreren Diskursen vorkommen und die zahlreichen spezialisierten Einzeldiskurse verbinden. Literatur wird als ein Spezialdiskurs aufgefasst, der eben solche interdiskursiven Elemente, vor allem »Kollektivsymbole«, aufnimmt und verarbeitet (Link 1988, 300). Kollektivsymbole sind anschauliche »Sinn-Bilder« (ebd., 286), die zeitgleich in verschiedenen diskursiven Zusammenhängen einer Kultur verwendet und jeweils mit unterschiedlichen Wertungen versehen werden. Literatur Barthes, Roland: Der Tod des Autors (frz. 1968). In: Fotis Jannidis u. a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000,185-193. Dreyfus, Hubert/Rabinow, Paul: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Frankfurt a. M. 1987 (engl. 1982). Fink-Eitel, Hinrich: Foucault zur Einführung. Hamburg 1989. Fohrmann, Jürgen/Müller, Harro (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1988. Forget, Philippe: Diskursanalyse versus Literaturwissenschaft? In: Fohrmann/Müller 1988,311-329. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M. 1971 (frz. 1966). Foucault, Michel: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1973 (frz. 1969). Foucault, Michel: Was ist ein Autor? (frz. 1969) In: Ders.: Schriften zur Literatur (1962-1969). Frankfurt a.M. 1988,7-31. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a.M. 1991 (frz. 1970). Frank, Manfred: Zum Diskursbegriff bei Foucault. In: Fohrmann/Müller 1988,25-44. Kammler, Clemens: Historische Diskursanalyse. In: Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Opladen 1990,31-55. Kittler, Friedrich A.: Ein Erdbeben in Chili und Preußen. In: David E. Wellbery (Hg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists »Das Erdbeben in Chili«. München 1985, 24-38. Kittler, Friedrich A./Turk, Horst: Einleitung. In: Dies. 354 I!]£2ü£DJin^.^^t^LW?iiite .U m,m i[^m-[}(YÍmi»e.S mimi mimitni (Hg.): Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Frankfurt a. M. 1977,9-43. Kögler, Hans Herbert: Michel Foucault. Stuttgart/Weimar 1994. Kremer, Detlef: Die Grenzen der Diskurstheorie Michel Foucaults in der Literaturwissenschaft. In: Jörg Drews (Hg.): Vergessen, Entdecken, Erhellen. Literaturwissenschaftliche Aufsätze. Bielefeld 1993,98-111. Link, Jürgen: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Fohrmann/Müller 1988, 284-307. Titzmann, Michael: Skizze einer integrativen Literaturgeschichte und ihres Ortes in einer Systematik der Literaturwissenschaft. In: Ders. (Hg.): Modelle des literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991,395-438. X Wegmann, Nikolaus: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988. 5.5.3 New Historicism Als eine Weiterentwicklung der literaturwissenschaftlichen Diskursanalyse kann der New Historicism angesehen werden (vgl. auch II.2.12). Er reagiert auf eine Praxis des wissenschaftlichen Umgangs mit Literatur, die die amerikanische akademische Situation seit den 1970er Jahren beherrschte. Sie speiste sich aus gleich zwei Fachtraditionen, die zwar aus sehr unterschiedlichen Theoriezusammenhängen resultierten, sich jedoch im weitgehenden Verzicht auf eine historische Kontex-tualisierung literarischer Texte trafen: aus dem werkzentrierten New Criticism, der an den amerikanischen Universitäten seit den 1930er Jahren besonders einflussreich war, und aus der ahistorisch kontextualisierenden Variante der Dekonstruktion (Yale School), die sich an den amerikanischen Universitäten stärker durchgesetzt hatte als in Europa und vor allem in Deutschland. Es entstand ein Bedürfnis nach historischen Forschungen an literarischen Texten, die, so die Selbstbeschreibungen, auf der Höhe poststrukturalistischer Theoriebildung argumentieren und zugleich die Geschichtlichkeit der Texte begründet berücksichtigen sollten.79 Stephen Greenblatts Forschungen zur eng- lischen Renaissance gelten als Gründungsdokumente der neuen Richtung. Sie zielt von Anfang an auf die literaturwissenschaftliche Praxis. Die theoretisch-programmatischen Beiträge Greenblatts und anderer liefern Überlegungen nach, die vor allem die Beziehung von Text, Gesellschaft und Kultur sowie das Verhältnis des New Historicism zur Diskursanalyse und zur in den USA wirksamen marxistischen Literaturwissenschaft beleuchten, aber keine konsistente Theorie entwerfen. Der Grund für die deutschsprachige Literaturwissenschaft, den New Historicism zu begrüßen, lag weniger in dessen konsequenter Historisierung von Literatur - eine geschichtlich kontextualisie-rende Umgangsweise mit literarischen Texten wurde in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft kaum je aufgegeben -, sondern zum einen in der Möglichkeit, das Spektrum einzubeziehender Texte auszuweiten, und zum anderen in der Gewährung einer Lizenz zur argumentativ eher lockeren Verbindung zwischen Text und Kontext.80 Das >Text-Kontext-Problem< in der Literaturwissenschaft, verstanden als Problem der plausiblen Verbindung von literarischem Text und einem Bezugsdatum, wird entschärft durch Lockerung der Plausibilitätsmaßstäbe: Es geht weder um nachgewiesenen Einfluss noch um dokumentierbare, etwa explizit behauptete Relevanz; solche als problematisch angesehenen starken Verbindungen werden ersetzt durch mögliche, anekdotisch plausibilisierte Verbindungen. Bezugstheorien Der New Historicism bezieht sich in erster Linie auf die Diskursanalyse Foucaults und auf die neuere Kulturanthropologie und Ethnologie, vor allem die Forschungen von Clifford Geertz (z.B. Geertz 1973 und 1987). Im Mittelpunkt der ethnologischen 79 Vgl. z.B. Hartwig Isernhagen: Amerikanische Kontexte des New Historicism. Eine Skizze. In: Jürg Glau- ser/Annegret Heitmann (Hg.): Verhandlungen mit dem New Historicism. Das Text-Kontext-Problem in der Literaturwissenschaft. Würzburg 1999,173-192. 80 Vgl. etwa die Beiträge der Sektion IV in Jürg Glauser/ Annegret Heitmann (Hg.): Verhandlungen mit dem New Historicism. Das Text-Kontext-Problem in der Literaturwissenschaft. Würzburg 1999. Kontextem^ 355 Bezugstheorie steht die Annahme, Kultur sei als Text aufzufassen. Der Vorteil einer solchen Auffassung liegt für die Vertreter des New Historicism darin, eine hermeneutische Position des Verstehen-Wollens einnehmen zu können; sie gibt dem Beobachter die Möglichkeit, Bedeutungen zu entdecken, die die Zeitgenossen wegen ihrer zu großen Nähe zum Phänomen nicht sehen konnten (vgl. Galla-gher/Greenblatt 2000, 8). Das Verfahren, das die Vertreter des New Historicism im Anschluss an Geertz propagieren, ist das der >dichten Beschrei-bung< (thick description). Dieses Verfahren besteht darin, nicht allein möglichst viele Informationen über ein zu beschreibendes Phänomen zu sammeln, sondern es so zu interpretieren, dass seine Bedeutung in Bezug auf seine kulturelle Umgebung erkennbar wird. >Bedeutung< ist hier in dreifacher Weise zu verstehen: als Relevanz, als semantische und als pragmatische Bedeutung. Die >dichte< Beschreibung, so die Annahme, ist der einfachen darin überlegen, dass sie den zu beschreibenden Handlungen ihren Ort in einem Netzwerk von Intentionen und kulturellen Bedeutungen geben kann (vgl. ebd., 21; vgl. auch II.5.5.5). Aus den Bezugnahmen auf die Diskursanalyse und die neuere Ethnologie resultieren zwei grundlegende theoretische Annahmen des New Historicism: 1. Die Geschichtlichkeit von Texten ist zu berücksichtigen, wenn man sie für die Gegenwart erschließen und verständlich machen will. 2. Geschichte ist als Text aufzufassen. Sie unterliegt den Vertextungsstrategien der Historiker. Diese rekonstruieren in ihren Untersuchungen nicht >die historische Wahrheit < vergangener Ereignisse oder Situationen, sondern sie verbinden einzelne Fakten unter Zuhilfenahme einer narrativen Grundstruktur zu einem sinnvollen Zusammenhang. Gegenüber den narrativen Mustern solcher auf die Stiftung von Einheit, Kontinuität und Sinn zielenden >Metaerzählungen< haben poststruktura-listische Theoretiker wie Lyotard und Historiker wie Hayden White Bedenken formuliert: Die Muster verschleiern, dass Geschichte nicht rekonstruiert werden kann, sondern stets konstruiert werden muss. Zusammenhänge zwischen der Fülle einzelner Informationen über historische Fakten herzustellen, bedeutet immer einen dezisionistischen, willkürlichen Akt der Sinnstiftung, dessen sich Historiker bewusst sein müssen. Dieses Bewusstsein vorausgesetzt, können Vertreter des New Historicism auch von der >Rekonstruktion< eines kulturellen Musters oder eines Diskurses sprechen (z. B. Baßler 1995,21). Über diese Bezugnahmen auf die Diskursanalyse und Ethnologie hinaus finden sich bei den verschiedenen Vertretern des New Historicism unterschiedlich starke Bezüge zu ihrer gemeinsamen Herkunftstheorie, zur marxistischen Literaturwissenschaft. Bei Greenblatt ist diese marxistische Komponente nicht mehr stark ausgeprägt; Catherine Gallagher und er formulieren als eine wichtige Leistung des New Historicism sogar die allmähliche Ablösung der Ideologiekritik durch die Diskursanalyse (vgl. Gallagher/Greenblatt 2000, 17). Louis A. Montrose dagegen sieht eine auf Kritik zielende marxistische Orientierung als kompatibel mit einem diskursanalytischen Verfahren an.81 Grundbegriffe: Literatur, Autor, Bedeutung, Kontext Literatur wird im New Historicism als nicht autonom angesehen; vielmehr ist sie eng an die Realität ihrer Zeit gebunden. Dies erkannt zu haben und in den Analysen zu berücksichtigen, gilt den Vertretern dieser Richtung als ihr besonderes Verdienst (vgl. Greenblatt 1997). Literarische Texte werden als sprachliche Produkte unter anderen, als kontingente Produkte historischer sozialer und psychischer Faktoren aufgefasst (vgl. Kaes 1995, 256; Greenblatt 1988/1990, 9 f.). Sie entstehen aus »kulturellen Praktiken«, die sie mit einer besonderen »ästhetischefn] Macht« ausstatten, starke Wirkungen auszulösen (Greenblatt 1988/1990,11). Der für die traditionelle Literaturwissenschaft wichtige »Eindruck ästhetischer Autonomie« (ebd.) wird als Effekt dieser Praktiken verstanden, dessen Entstehungsbedingungen es zu erklären gilt. Allerdings werden zugleich >literarische< von >nicht-litera-rischen< Texten nicht nur als Gruppe unterschie- 81 Vgl. Louis Montrose: Die Renaissance behaupten. Poetik und Politik der Kultur [1989]. In: Baßler 1995,60-93, besonders 65 ff. und 87. 356 The^rjenund Methoden der Kontextorientierte Theorien und Methoden 357 den, die nach anderen kulturellen Praktiken hervorgebracht und aufgenommen wird, sondern die auch besonders wertvolle Eigenschaften aufweisen kann: Es wird Literatur ein besonders starker »potentiell subversive [r] Bedeutungsüberschuß« zugeschrieben, der sie von anderen Formen sprachlicher Kommunikation positiv abhebt (Kaes 1995, 255). Schon Greenblatts zentrales Anliegen, die »großen Texte< Shakespeares durch geeignete historische Rekonstruktionen wieder >zum Sprechen< zu bringen, legt die Höherwertung bestimmter literarischer Texte nahe (vgl. Greenblatt 1990, 7). Entsprechendes gilt für die Auffassung vom Autor: Mit Foucault gelten Autoren literarischer Texte im New Historicism zwar nicht mehr als »autonome Schöp-fersubjekte<, zugleich aber werden ihnen - zumindest den >großen< unter ihnen - besondere Fähigkeiten zugeschrieben, die in ihrer Kultur fließende »soziale Energie« in ihren Texten zu bündeln (Gal-lagher/Greenblatt 2000, 12f.). Das in hermeneu-tischen Ansätzen wichtige Konzept der Bedeutungsrekonstruktion, das in der Dekonstruktion in Verruf geraten war, spielt für den New Historicism wieder eine wichtige, wenn auch etwas anders gelagerte Rolle. Gallagher und Greenblatt fuhren als Vorzug einer >neu-historistischen< Interpretation an, dass die Interpreten wegen ihrer historisch distanzierten Position Bedeutungen entdecken können, die den zeitgenössischen Autoren nicht zugänglich gewesen sind (vgl. Gallagher/Greenblatt 2000,8). Nur auf den ersten Blick wird hier das Modell des hermeneutischen Besserverstehens angesprochen. Tatsächlich geht es nicht um Besserverstehen, sondern um >Andersverstehen< oder um >Mehrverstehen<. Neuheit und Vielfalt zugeschriebener Bedeutungen bilden in neu-historistischen Interpretationen einen hohen Wert. Methode des Umgangs mit literarischen Texten Vertreter des New Historicism gehen von einem interpretationspraktischen Problem aus, das sich in der Frage zusammenfassen lässt: Wie gelingt es der Literaturwissenschaft, literarische Texte der Vergangenheit so zu beschreiben, dass sie wieder >le-bendig< werden? Anders ausgedrückt: Wie kann die Literaturwissenschaft das erfassen, was sowohl die Besonderheit der Texte als auch das für ihre Zeit Typische ausmacht, den zeitlich entfernten Rezipi-enten aber nicht mehr erkennbar, geschweige denn erfahrbar ist? Greenblatt stellt sich diesem Problem in der Beschäftigung mit den >großen< Texten der englischen Renaissance, vor allem den Dramen Shakespeares; ihre »Stimme« wieder >hörbar< zu machen, ihren »Textspuren« mifhilfe geeigneter historischer Rekonstruktionen (im oben erläuterten Sinne) nachzugehen, ist sein (metaphorisch formuliertes) Ziel (vgl. Greenblatt 1990,7). Erreicht werden kann dieses Ziel nach Greenblatt nicht dadurch, dass historische Fakten gesammelt werden, um sich >der< historischen Wahrheit anzunähern; eine solche Annahme widerspricht, wie oben skizziert, der diskurstheoretisch bestimmten Geschichtsauffassung des New Historicism. Ein typischer und umstrittener Weg, den New Historicists gehen - auch um den konstruktiven Akt ihrer Arbeit präsent zu halten -, liegt in der Wahl einer Anekdote als Ausgangspunkt der historischen Kontextualisierung. Anekdoten erzählen einen besonderen Fall, ein hervorgehobenes einzelnes Vorkommnis. Zugleich erhebt der New Historicism für die Anekdoten aber einen repräsentativen Anspruch: Aus der unüberschaubaren Menge möglicher historischer Erzählungen wird eine besondere ausgewählt, weil sie zum literarischen Bezugstext >passt< und für Zeit und Kultur Typisches zeigen kann (vgl. Baßler 1995,19; Greenblatt 1980, 6). Nach Greenblatt erfüllen Anekdoten darüber hinaus zwei weitere wichtige Funktionen: Zum einen lenken sie den Blick des Interpreten auf außerliterarische Bereiche, so dass der enge Zusammenhang zwischen Literarischem und Nichtliterarischem, >Alltäglichem<, und zugleich die Grenze des Literarischen deutlich wird (vgl. Greenblatt 1997). Zum anderen fordert die Anekdote die Aufmerksamkeit des Interpreten in dem Sinne, dass er nicht auf vermeintlich gesichertes Wissen zurückgreifen und dieses als >Hintergrund< eines literarischen Textes einsetzen kann, um den Text zu erklären. Vielmehr muss er die Zusammenhänge zwischen Anekdote und literarischem Text erst herstellen und damit beiden Texten verstärkte Aufmerksamkeit widmen: Abgelegene Texte der Alltagskultur oder einer esoterischen Kultur werden wieder zugänglich gemacht, und ihre Bedeutung wird durch den Bezug auf kanonisierte Werke der Hochliteratur sichtbar (vgl. Gallagher/Greenblatt 2000, 47). Zugleich werden diese Werke wieder in eine Beziehung mit Texten ihrer Entstehungszeit gebracht, was eine neue Sichtweise auch der kanonischen Texte ermöglicht. Diese neue Sichtweise ist es, um die es in erster Linie geht. Sie bringt das, was Greenblatt als >lebendigere< Auffassung der >großen< Texte versteht. Die Anekdote ermöglicht den Zugang zum Alltäglichen, zur »sphere of practice that even in its most awkward and inept articulations makes a claim on the truth that is de-nied to the most eloquent of literary texts« (ebd., 48). Indem der New Historicism die Beziehung zwischen Anekdote und literarischem Text herstellt, zeigt er anschaulich, dass Literatur über bestimmte repräsentative Muster in ihre Kultur eingebunden ist und durch sie zugleich ihr Potenzial entfalten kann, starke ästhetische Wirkungen >über die Zeiten hinweg< zu erzielen. Dieses Potenzial, ihre »soziale Energie« (social energy), können, so Greenblatt, herkömmliche Ansätze nicht erfassen (Greenblatt 1990,12 f.). Das besondere Verfahren, mit literarischen und nicht-literarischen Texten umzugehen, wird kondensiert ausgedrückt in einer anderen Bezeichnung, die für den New Historicism verwendet wird: >Kulturpoetik< (»poetics of culture«, Greenblatt 1980, 5). Diese Bezeichnung impliziert bereits die Annahme, dass Kultur als Text gegeben sei, und deutet zugleich die Art und Weise an, in der diese Kultur untersucht wird: Sie wird, so Moritz Baßler, mit rhetorischen Mitteln >konstruiert<: »Anekdote, Chiasmus, Synekdoche, Parallelismen - die ge-schichtspoietische Verknüpfung, die der New Historicism vornimmt, ist, als Vertextung, immer an literarische bzw. rhetorische Grundmuster gebunden« (Baßler 1995,19). Auf diese Weise untersucht der New Historicism als Kulturpoetik kulturelle Praktiken, als deren eine die Literatur aufgefasst wird, und die Beziehungen dieser Praktiken zueinander. Zielsetzung und Verfahrensweise des New Historicism haben nicht nur Konsequenzen für das Erscheinungsbild von Einzelinterpretationen literarischer Texte (paradigmatisch immer noch Greenblatts Shakespeare-Studien; vgl. Greenblatt 1988/1990); auch die Literaturgeschichten sehen anders aus. Da aus theoretischen Gründen auf einen narrativen Zusammenhang der historischen >Metaerzählung< verzichtet wird, ist ein anderes Ordnungsverfahren zu finden. In Wellberys Literaturgeschichte etwa soll der »Geschichtlichkeit des Textes< schon durch das Anordnungsprinzip Rechnung getragen werden; und zugleich geht es darum, die besondere Präsenz der (zu ergänzen ist: >großen<) Literatur so zu vermitteln, dass sie >er-fahrbar< wird (vgl. Wellbery 2004, XVII): Es werden ca. zweihundert Essays chronologisch nach Jahreszahlen angeordnet, und als Kriterium der Anordnung wird in der Regel das Erscheinungsdatum des literarischen Textes, der im Essay besprochen wird, gewählt. Innerhalb der einzelnen Essays werden allerdings narrative Zusammenhänge hergestellt. Literatur Baßler, Moritz (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Mit Beiträgen von Stephen Greenblatt, Louis Montrose u. a. Frankfurt a. M. 1995. Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen 2005. Gallagher, Catherine/Greenblatt, Stephen: Practicing New Historicism. Chicago/London 2000. Geertz, Clifford: The Interpretation of Cultures. Selected Essays. New York 1973. Geertz, CUfford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M. 1987. Greenblatt, Stephen: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare. Chicago 1980. Greenblatt, Stephen: Einleitung. Die Zirkulation sozialer Energie (engl. 1988). In: Ders.: Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance. Berlin 1990,7-24,155 f. Greenblatt, Stephen: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern. Berlin 1991 (engL 1990). Greenblatt, Stephen: The Touch of the Real. In: Representations 59. Jg. (1997), 14-29. Kaes, Anton: New Historicism: Literaturgeschichte im Zeichen der Postmoderne? In: Baßler 1995,251-267. Veeser, H. Aram (Hg.): The New Historicism. New York/ London 1989. Wellbery, David E. (Hg.): A New History of German Literature. Cambridge 2004. 358 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft Kontextorjejnn^eri^Th^orien und Methoden 359 5.5.4 Literaturwissenschaftlicher Feminismus und Gender Studies Vereinzelte Vorläuferinnen einer feministischen Position gibt es schon in den 1940er Jahren (vgl. de Beauvoir 1949/1951), eine umfassende gesellschaftspolitisch relevante feministische Bewegung entsteht aber erst dreißig Jahre später. Im Zuge dieser Bewegung wird der Feminismus in den westlichen Kulturen auch zu einer akademischen Institution: In den USA kann er ab den 1970er Jahren als institutionalisiert gelten, in Deutschland, nach einigen Durchsetzungskämpfen, ab den 1980er Jahren. Der literaturwissenschaftliche Feminismus ist als Reaktion auf und Kritik an jeder Form bisheriger Literaturwissenschaft als einer männlich geprägten Wissenschaft entstanden, in der Frauen gleich mehrfach ausgegrenzt werden: als Figuren im Text, als Autorinnen und als Wissenschaftlerinnen. Im Bestreben, nicht nur >das Männliche< (implizit in traditioneller Literaturwissenschaft) oder >das Weibliche< (dezidiert in feministischer Literaturwissenschaft) ins Zentrum der Forschungen zu stellen, sondern die Kategorie des kulturell konstruierten Geschlechts umfassend zu untersuchen, entstehen die Gender Studies. Sie wollen essentialistische Vorannahmen vermeiden und lehnen daher sowohl die Auffassung ab, es gebe >das Weibliche< und >das Männliche< als Entitäten, als auch die Annahme wesentlicher Gemeinsamkeiten von Frauen, und ebenso weisen sie die damit oft einhergehenden vorgängigen Wertungen zurück. >Gender Studies< ist eine Sammelbezeichnung für Forschungsansätze unterschiedlicher theoretischer Ausrichtung, die sich mit dem Problem der kulturellen Konstruktion von >Geschlecht< befassen. Seit den 1980er Jahren werden entsprechende Forschungen auf verschiedenen Gebieten des Wissens vorgenommen, z.B. in der Soziologie, der Sprachwissenschaft oder der Philosophie. Die literaturwissenschaftlichen Gender Studies (nur dieser Bereich wird im Folgenden betrachtet) entwickeln sich aus dem literaturwissenschaftlichen Feminismus (auch: Women Studies), von dem sie allerdings nicht trennscharf abzugrenzen sind. Andere nahestehende Forschungsrichtungen sind die Men Studies und Queer Studies. Sie alle unterscheiden sich durch den Fokus ihrer Fragestellungen, nicht aber durch jeweils spezifische theoretische Grundlagen voneinander. Im Folgenden wird der Hauptakzent auf den Gemeinsamkeiten dieser ausdifferenzierten Forschungsrichtung Hegen. Vorab ist zu betonen, dass weder der Feminismus noch die Gender Studies eigenständige Interpretationskonzeptionen entwickeln. Nicht die methodischen Annahmen über das angemessene Verfahren, literarische Texte zu interpretieren, unterscheiden sie von anderen Ansätzen, sondern allein die Art der zugelassenen bzw. für relevant erachteten Fragestellungen. Bezugstheorien und Terminologie Feministische und gendertheoretische Ansätze beziehen sich auf unterschiedliche Rahmentheorien. An den Bestimmungen des ihnen gemeinsamen zentralen Begriffs lässt sich dies zeigen: des Begriffs >Geschlecht<. Zu unterscheiden sind vier Verwendungsweisen, die zugleich auch die Studien prägen, in denen der Begriff eingesetzt wird. 1. Zum einen kann Geschlecht als biologische Größe {sex) verstanden werden, die auf die >natür-lichen<, etwa anatomischen und hormonellen Unterschiede zwischen Männern und Frauen zielt. Bezugstheorien sind biologische oder auch anthropologische Theorien. Da die Annahme biologischer Unterschiede oftmals dazu eingesetzt wurde und wird, kulturelle Differenzen zwischen den Geschlechtern festzuschreiben und mit Wertungen zu versehen, ist sie von feministischer Seite stark kritisiert worden. In einem klassifikatorischen Sinne kann aber auf diese Verwendungsweise des Begriffs nicht verzichtet werden: Wenn untersucht werden soll, warum nur so wenige Texte weiblicher Autoren kanonisiert worden sind, oder gefragt wird, ob es einen Unterschied im Lesen von Frauen und Männern gibt, muss der erste Zugang über das biologische Geschlecht gesucht werden. 2. Zum anderen wird >Geschlecht< als soziales und kulturelles Konstrukt (gender) verstanden, das sich auf die gesellschaftliche Codierung von >Weib-lichkeit< und >Männlichkeit< bezieht. In dieser Verwendungsweise steht der Begriff neben anderen Kategorien, mit denen soziale Strukturen erfasst werden, z. B. die ethnische oder klassenmäßige Zugehörigkeit, und er leitet etwa Untersuchungen, in denen die Geschlechtsrollen, die geschlechtsspezi-fische Sozialisation oder die symbolisch vermittelten gender-Muster in allen Arten von Texten erforscht werden (vgl. z.B. Bovenschen 1979). Wie auch das biologische Geschlechtskonzept ist gender polar angelegt; was aber unter >männlich< oder >weiblich< verstanden wird, kann historisch und kulturell variieren. So können Zuschreibungen >männlich< und >weiblich< als Endpunkte eines abgestuften Kontinuums oder als komplementär verstanden werden. Dieser gender-Begriä spielt in soziologischen bzw. sozialgeschichtlichen und Kulturtheorien eine Rolle; vor allem ideologiekritische Ansätze verwenden ihn, wenn sie etwa nach den Machtmechanismen fragen, welche die von gender-Mustern vermittelten Hierarchievorstellungen verschleiern. 3. Die polare Anlage des gender-Konzepts ist ein Ausgangspunkt der Kritik, die zur dritten Verwendungsweise der Kategorie >Geschlecht< führt. Sie bezieht sich auf die Dekonstruktion und die Psychoanalyse Lacans als Rahmentheorien. Poststruk-turalistische Theoretikerinnen lehnen das binäre Schema ab, das mit der Zuschreibung >männlich-weiblich< reproduziert wird, und sie kritisieren die Annahme einer weiblichen Identität, um die es Feministinnen immer wieder gegangen ist. Männlichkeit und > Weiblichkeit gelten in den Arbeiten dieser Richtung als rhetorische Kategorien, nicht als biologische oder soziologische Größen. Grundlegende Annahme ist, dass die durch Sprache vermittelte symbolische Ordnung >phallogozentrisch< sei. Dieser zusammengesetzte Begriff enthält zum einen den Ausdruck >logozentrisch<, mit dem Jacques Derrida das Prinzip abendländischen Denkens bezeichnet, den Bezug auf einen als >ursprüng-lich< angenommenen logos und seine Folgen, das Denken in binären Oppositionen und Hierarchien (vgl. II.5.2.2). Zum anderen wird hier auf den Begriff des >Phallozentrismus< angespielt, den der Psychologe Jacques Lacan (vgl. II.5.3.2) geprägt hat.82 Lacan ist der Auffassung, dass der Phallus (nicht im biologischen Sinne, sondern in einem semiotischen Sinne als kulturelles Konstrukt zu verstehen) die Funktion des primären kulturellen Signifikanten innehabe und damit ein Zentrum bilde, auf das die gesamte symbolische Ordnung bezogen sei. In der Kombination beider Begriffe meint >phallogozen-trisch< die >männliche< Prägung der abendländischen Kultur, die binär strukturiert und hierarchisch angelegt ist und in der >das Weibliche< keinen Ort hat (vgl. Irigaray 1974). Mit dem Begriff >Weiblichkeit< wird dabei keine Identität bezeichnet, sondern nur ein »Effekt kultureller, symbolischer Anordnungen«.83 In Einführungen in den literaturwissenschaftlichen Feminismus oder in die Gender Studies wird die Bezugnahme auf die Kategorie >Geschlecht< im Sinne von 2. und 3. als Differenzmerkmal zwischen ideologiekritischen und poststrukturalistischen Ansätzen dargestellt (vgl. z.B. Lindhoff 2003, VII-XIII). Dies entspricht der oben vorgenommenen Unterscheidung zwischen Untersuchungen, die einen >realhistorischen< Kontextbegriff heranziehen, und solchen, die den Kontext literarischer Texte sprachlich fassen. Als Anhaltspunkt ist diese Aufteilung sicherlich sinnvoll; jedoch ist eine klare Zuordnung der neueren Positionen seit Mitte der 1980er Jahre nicht immer möglich. So kann durchaus die erkenntnisskeptische und identitätskritische Haltung der Dekonstruktion übernommen werden, zugleich aber im Sinne des gender-Koa-zepts (2.) nach gesellschaftlichen Subjekten gefragt werden.84 4. Eine vierte Auffassung von >Geschlecht<, die eine Variante von 3. darstellt und daher ebenfalls nicht trennscharf abzugrenzen ist, lehnt die als wichtige Errungenschaft des Feminismus breit akzeptierte Annahme ab, es lasse sich sinnvoll zwischen sex und gender unterscheiden. Bereits das vermeintlich biologische Geschlecht, das vor aller Kultur den Unterschied zwischen Männern und Frauen zu bedingen scheint, ist Judith Butler (1990) zufolge eine Konstruktion. Wie gender bilde auch sex ein Kontinuum aus Fremd- und Selbstzuschrei- 82 Jacques Lacan: La signification du phallus. [1958] In: Ders.: Écrits. Paris 1966,685-695. 83 Bettine Menke: Verstellt - der Ort der >Frau<. Ein Nachwort. In: Barbara Vinken (Hg.): Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika. Frankfurt a. M. 1992,436-476, Zit. 436. 84 Vgl. z.B. Teresa de Lauretis: Technologies of Gender: Essays on Theory, Film, and Fiction. Bloomington 1987. 360 Theorj^ Kontextorientierte Theorien und Methoden 361 bungen, die kulturell verfügbar seien und zu unterschiedlichen Zeiten wie auch in unterschiedlichen Kontexten variieren können. Hinter dem >perfor-mierten< Geschlecht gebe es keine zugrunde liegende, es bedingende Identität. Bezugstheorien sind die bereits unter 3. genannten sowie neuere biologische Ansätze. Ziele der Richtung und Verwendung literaturwissenschaftlicher Grundbegriffe Typische Ziele literaturwissenschaftlicher Forschungen im Rahmen der feministischen Ansätze und der Gender Studies liegen • in der Aufwertung von Autorinnen und einzelner ihrer Texte, • in der Aufwertung weiblichen Themen in kanonisierten Texten, • in der Erforschung der Strategien weiblichen Schreibens< (z.B. Cixous 1975) und weiblichen Lesens< (z. B. Schweickart 1986), • im Umschreiben der Literaturgeschichte nach Maßgabe einer Tradition weiblichen Schreibens85, • in der Erforschung von Mechanismen der Kanonbildung und der Gründe für den Ausschluss von Autorinnen, • in der Kritik an der >männlich< oder >phallogo-zentrisch< genannten Praxis der Literaturwissenschaft und im Versuch, neue Verfahren des Umgangs mit Texten dagegenzusetzen (z.B. Felman 1981). Da die verschiedenen Ansätze sich auf unterschiedliche Rahmentheorien berufen und deren Begriffe verwenden, weichen auch ihre Auffassungen von literaturwissenschaftlichen Grundbegriffen voneinander ab. Sie tun dies nach Maßgabe der Bezugstheorie, so dass hier auf die entsprechenden Abschnitte verwiesen werden kann (vgl. besonders II.5.2.2, II.5.3.2 und II.5.5.1). Vor allem sozialgeschichtlich ausgerichtete feministische Positionen und dekonstruktivistische Ansätze unterscheiden 85 Vgl. z.B. Ina Schabert: Englische Literaturgeschichte. Eine neue Darstellung aus der Sicht der Geschlechterforschung. Stuttgart 1997. sich in ihrem Verständnis der Begriffe >Autor< und >literarischer Text<. So kann eine Feministin mit ideologiekritischem Anliegen dem poststruktura-listischen Diktum »Wen kümmert's, wer spricht?« (Foucault 1969/1988, 31) nicht zustimmen, ohne ihre Ziele aus dem Auge zu verlieren, und muss daher einen stärkeren Autorbegriff verwenden. Sie muss ein Subjekt annehmen, dem Handlungen und die Konstitution von Sinn zugeschrieben werden können. Entsprechende Unterschiede gibt es in der Auffassung vom literarischen Text, der sozialgeschichtlich z.B. als Repräsentation vorgängiger Subjektivität oder Identität gesehen wird, während ihm diese Repräsentationsleistung in poststruktu-ralistischer Sichtweise nicht zukommen kann. Methode der Interpretation literarischer Texte Wie gesehen, fallen unter die Bezeichnung >Femi-nismus< und >Gender Studies< verschiedene Ansätze, die unterschiedliche Zielsetzungen haben und entsprechend abweichende Methoden des Umgangs mit literarischen Texten bevorzugen. 1. Eine thematisch orientierte, ideologiekritische Richtung konzentriert sich auf weibliche Charaktere in literarischen Texten, auf >Frauenbilder< in Einzeltexten, bei einzelnen Autoren oder in bestimmten Epochen. Sie zielt zum einen darauf ab, Erkenntnisse über diese Frauenbilder zu erwerben, zum anderen will sie Strategien im Text aufzeigen, die Frauen und weibliche Erfahrung ausgrenzen. Ideologiekritisch wird hier in dem Sinne argumentiert, dass >männliche< Ideologie, die den nur vermeintlich geschlechtsneutralen literarischen Texten zugrunde liegt, entlarvt wird. Hinter dem scheinbar allgemeinmenschlichen Ideal des Humanismus, das den kanonisierten literarischen Texten traditionellerweise zugeschrieben wird, werden männliche Interessen und Machtstrukturen aufgedeckt. Der Fokus der Interpretationen liegt auf dem Verhältnis des Texts zu patriarchalen Strukturen und Machtmechanismen der Gesellschaft bzw. Kultur, die im Text auf verschiedene Weise zum Ausdruck kommen können. Leitende Fragestellungen lauten etwa: Auf welche Weise gestaltet der Text die Geschlechterverhältnisse? Reproduziert, reflektiert und/oder kritisiert er seine patriarchalen Entstehungsbedingungen? Um Fragen wie diese beantworten zu können, wird zum einen nach entsprechenden thematischen Textmerkmalen gesucht und zum anderen als Kontext gesellschafts- und kulturgeschichtliches Wissen aus verschiedenen Bereichen einbezogen, vor allem Informationen über die soziale Situation von Frauen zur Entstehungszeit der untersuchten Texte, über die Distributionsbedingungen für Literatur und deren Auswirkungen sowie über die Sprache und deren interne Machtmechanismen. 2. Eine auf die literaturwissenschaftliche Praxis ausgerichtete Variante untersucht die sozialen und politischen Voraussetzungen bisheriger Lektüre-und Interpretationsstrategien der traditionellen Literaturwissenschaft und stellt sie in Frage. Sie versucht nachzuweisen, dass die in traditioneller Literaturwissenschaft für geschlechtsneutral gehaltenen Interpretationen tatsächlich männlich determiniert sind. Damit kann zum einen gemeint sein, dass die Interpreten einseitig Textmerkmale für zentral ausgeben bzw. ausblenden, die in der symbolischen Ordnung als >männlich<, bzw. >weiblich< eingestuft werden; oder, zum anderen und grundsätzlicher, dass die Interpreten die männlich geprägte symbolische Ordnung in ihren Fragestellungen oder den Kategorien, unter denen sie die Texte deuten, reproduzieren. Diese Richtung zielt darauf ab, die Verzerrungen und Fehldeutungen traditioneller Interpretationen zu korrigieren. Durch gezieltes Fokussieren der bislang vernachlässigten Textmerkmale werden Interpretationen erstellt, die den Texten angemessener sein sollen als die kritisierten Fehldeutungen. Im Rahmen dieser Variante können rezeptionsästhetische, ideologiekritische, psychologische oder auch dekonstruktivistische Argumente verwendet werden. 3. Vertreterinnen einer wissenschafts- und methodenkritischen Richtung argumentieren noch prinzipieller und gehen davon aus, dass schon die Rationalitäts- und Abstraktionsforderungen an Wissenschaft auf >männlicher< Ideologie beruhen. Sie untersuchen Begriffe, Methoden und Zielsetzungen der Literaturwissenschaft auf ihre implizite Aufgabe hin, männliche Herrschaft zu festigen. In diesem Rahmen wird sowohl diskurskritisch als auch dekonstruktivistisch argumentiert. In dekon- struktivistischer Argumentation werden Begrifflichkeit und Verfahrensweisen traditioneller Literaturwissenschaft abgelehnt, weil sie als >phallogo-zentrisch< gelten. Auch wenn diese Richtung stets auf eine Kritik der Wissenschaft zielt, kann es ihr doch zugleich um die literarischen Texte gehen (dies nicht zuletzt deshalb, weil die Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache nicht anerkannt wird). Auch hier spielt die Annahme eine wichtige Rolle, dass der eigene Ansatz der sprachlichen Verfasstheit literarischer Texte angemessener sei als das Vorgehen auf der Grundlage etwa einer hermeneutischen oder strukturalistischen Literaturtheorie. Literatur Beauvoir, Simone de: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau [1949]. Reinbek bei Hamburg 1951. Bovenschen, Silvia: Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt a.M. 1979. Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York u. a. 1990. Cixous, Helene: Le Rire de la Midusa. Paris 1975. Felman, Shoshana: Rereading Femininity. In: Yale French Studies 62. Jg. (1981), 19-44. Foucault, Michel: Was ist ein Autor? (frz. 1969) In: Ders.: Schriften zur Literatur (1962-1969). Frankfurt a.M. 1988,7-31. Irigaray, Luce: Speculum, de lautre femme. Paris 1974. Lindhoff, Lena: Einführung in die feministische Literaturtheorie. Stuttgart u. a. 22003. Schweickart, Patrocinio P.: Reading Ourselves: Toward a Feminist Theory of Reading. In: Elizabeth A. Flynn/ Patrocinio P. Schweickart (Hg.): Gender and Reading. Essays on readers, texts, and contexts. Baltimore 1986, 31-61. 5.5.5 Kulturwissenschaftliche Ansätze und Cultural Studies Kulturwissenschaftliche Ansätze in den Geisteswissenschaften wurden bereits um 1900 entwickelt, beispielsweise mit Heinrich Rickerts wertphilosophischer Begründung der Kulturwissenschaft, Karl Lamprechts kulturgeschichtlichen und Georg Sim- 362 xiigongjijjndM jtontextprientierteThecmenundMetiioden 363 mels kulturphilosophischen Forschungen, Max Webers Untersuchungen zum Zusammenhang von ökonomisch und religiös geprägten >Lebensformen< und Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1923-1929). Charakteristisch für die von ihrer Fragestellung und methodischen Ausrichtung her sehr unterschiedlichen Arbeiten ist das programmatische Bestreben, über die Fächergrenzen hinauszugehen und Artefakte, Theorien oder Symbole, aber auch Alltagspraktiken durch Rückbezug auf die >Kultur< zu erklären, aus der sie entstanden sind. Bereits in diesen frühen Texten wird u. a. ein kulturkritisches Anliegen verfolgt und findet sich eine Problematisierung des Kulturbegriffs. Erst in den 1970er Jahren werden die Varianten von Kulturwissenschaft entwickelt, die heute mit dem Begriff gemeint sind. Das Spektrum der Verwendungsweisen von >Kulturwissenschaft< ist ebenso weit und uneinheitlich wie die Bedeutungen des Begriffs >Kultur< (vgl. dazu ausführlich Eagleton 2000, Kap. 1). Prägend war hier vor allem der ethnologische Forscher Clifford Geertz, der das Beobachten und Erklären >fremder Kulturen< mit Bezug zum einen auf hermeneutische Ansätze, zum anderen auf semiotische Theorien neu modellierte. Mit seiner Auffassung von der Kultur als Text und seinem Konzept der >dichten Beschrei-bung< (vgl. II.5.5.3) übertrug Geertz Verfahrensweisen, die traditionell als spezifisch für die interpretierenden Textwissenschaften angesehen wurden, auf ein als >Beobachtungswissenschaft< geltendes Fach und stellte damit einen Brückenschlag zwischen methodologisch unterschiedlichen Fächern her, der von vielen Literaturwissenschaftlern enthusiastisch begrüßt wurde. Diese Entwicklungen liefen mit einer Richtung zusammen, die - obwohl sie sich desselben Leitbegriffs >Kultur< bedient - als unabhängig von den genannten Vorläufern betrachtet werden muss: mit den aus den Sozialwissenschaften kommenden Cultural Studies. Sie bildeten sich in den 1960er Jahren in England und fanden ihren ersten institutionellen Rahmen im 1964 von Richard Hoggart gegründeten Centre for Contemporary Cultural Studies an der Universität Birmingham. Führende Theoretiker der Cultural Studies waren neben Hoggart Raymond Williams und Stuart Hall. Die Cultural Studies verwenden einen weiten, nicht-elitären und >demokratischen< Kulturbegriff und behandeln de-zidiert nicht nur >hochkulturelle<, sondern vor allem massenkulturelle Phänomene. Über einen solchen Minimalkonsens hinaus verfolgen Vertreter dieser vor allem in England und den USA weit verbreiteten und ausdifferenzierten Richtung allerdings weder dieselben Ziele, noch beziehen sie sich auf dieselben Theorien. Neben theoretischen Abhandlungen zum Kulturbegriff und Modellen des Zusammenhangs zwischen Kultur und Gesellschaft werden unter der Bezeichnung >Cultural Studies< zahlreiche empirische Untersuchungen zu Kulturprodukten, ihrer Rezeption und Einbettung in kulturelle Praktiken hervorgebracht. Die deutschsprachige Germanistik hat sich erst recht spät in die Diskussion um Status, Reichweite und Bestimmung der Kulturwissenschaften eingemischt. Bezeichnenderweise war es mit Klaus P. Hansen ein Amerikanist, der 1993 den »stille[n] Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften« in einem Sammelband verkündete, der aus der Sicht von Einzelwissenschaften wie Volkskunde, Romanistik, Geschichtswissenschaft und Soziologie eben diesen Wandel dokumentieren sollte.86 Vergleichbare Projekte von Germanisten folgten erst ab 1996, mit einigen beschreibenden und vielen grundsätzlichen Beiträgen (z.B. Bachmann-Medick 1996; Böhme/Scherpe 1996; Glaser/Lu-serke 1996).87 Das Spektrum der Einschätzungen zum Verhältnis von Kultur- und Literaturwissenschaft war von Beginn der Debatte an breit. Es reichte vom Postulat, Literaturwissenschaft müsse als Disziplin umstrukturiert und als Kulturwissenschaft neu fundiert werden, über die moderatere Forderung, Literaturwissenschaft habe sich kulturwissenschaftlichen Fragestellungen und Verfahren zu öffnen, bis hin zur These, dass Literaturwissenschaftler schon lange kulturgeschichtliche Kontexte berücksichtigen und die Situation unnötig dramatisiert werde. Die Debatte wurde lebhaft und stark 86 Klaus P. Hansen: Kulturbegriff und Methode. Der stille Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften. Tübingen 1993. 87 Vorläuferbände entstanden im Kontext der Forschungen zum kulturellen Gedächtnis; vgl. z. B. Aleida Assmann/Dietrich Harth (Hg.): Kultur als Lebenswelt und Monument. Frankfurt a. M. 1991. polarisierend geführt.88 Dies lag auch daran, dass sie eng mit der Frage nach der >Identität< des Faches Literaturwissenschaft verbunden wurde: Es ging nicht allein um Sachprobleme, die sich nur durch eine Ausweitung des disziplinaren Blickwinkels auf allgemeine kulturelle Phänomene lösen lassen, sondern auch um das Selbstverständnis der Disziplin - die Legitimität und Kompetenz von Literaturgeschichte im Zeichen kulturgeschichtlicher Erweiterung -89 und um das akademische Überleben der Literaturwissenschaft in einer Zeit, in der ihr Gegenstand zunehmend an gesellschaftlicher Geltung verliert. Zu den heute vertretenen kulturwissenschaftlich orientierten Ansätzen zählen die Cultural Studies, die Postcolonial Studies, die neueren Gender Studies (vgl. II.5.5.4), der New Historicism (vgl. II.5.5.3) sowie die Forschungen im Umkreis der sogenannten Literarischen Anthropologie, der Medi-enkulturtheorien und der Theorien des kulturellen Gedächtnisses. Im Folgenden beschränken wir uns auf eine abstrahierende Darstellung typischer Merkmale dieser Ansätze. Bezugstheorien und Rahmenannahmen; Cultural Studies als Beispiel Bei den in den vorangehenden Abschnitten dargestellten Bezugstheorien handelte es sich in der Regel um Theorien, die im disziplinaren Zusammenhang eines Nachbarfaches entwickelt und die in die literaturwissenschaftliche Theoriebildung übernommen worden sind. Im Falle kulturwissenschaftlicher Bezugstheorien sieht die Lage anders aus, weil es dieses Nachbarfach >Kulturwissenschaft< nicht gibt. Eine übergreifende Disziplin >Kulturwis-senschafb, die in Analogie zu bereits bestehenden 88 Vgl. dazu die Debatte zwischen Walter Haug: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft? In: DVjs 73. Jg. (1999), 69-93 und Gerhart von Graevenitz: Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften. Eine Erwiderung. In: DVjs 73. Jg. (1999), 94-115. 89 Vgl. den Problemaufriss von Wilfried Barner: Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden? Vorüberlegungen zu einer Diskussion. In: Schiller-Jb. 41. Jg. (1997), 1-8 sowie die Beiträge zu dieser Diskussion in den beiden folgenden Jahrbüchern. Disziplinen gebildet werden könnte, scheint wegen der Heterogenität der Gegenstände und Methoden, die unter diese Bezeichnung gefasst werden müssten, kaum sinnvoll konzipierbar zu sein - der Einrichtung von Studiengängen mit der Bezeichnung >Kulturwissenschaft< zum Trotz. Zweckmäßiger ist es, den Begriff >Kulturwissenschaften< stattdessen im Plural zu verwenden und den verschiedenen Disziplinen zuzuordnen, die sich mit kulturellen Gegenständen befassen. Literaturwissenschaft wäre dann eine dieser Kulturwissenschaften neben anderen, neben Ethnologie, Landeskunde, Musikwissenschaft und vielen anderen Fächern. Diese Konstellation hat Konsequenzen für den Gegenstandsbereich und die Bezugstheorien, auf die sich Uteraturwissenschaftliche Adaptionen kulturwissenschaftlicher Ansätze berufen. Der Gegenstandsbereich kulturwissenschaftlicher Forschungen ist ebenso umfangreich wie heterogen; tendenziell müssen sich Kulturhistoriker über alle kulturellen Phänomene gleichermaßen kompetent äußern können. Das ohnehin breite Feld literaturwissenschaftlicher Untersuchungen expandiert mit dem Anspruch, alle kulturellen Kontexte als potenziell relevant zur Beschreibung, Erklärung oder Interpretation literarischer Texte einbeziehen zu müssen. Zudem vertreten kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaftler nicht selten die Auffassung, alle Textsorten - vom AUtagsdoku-ment bis zur wissenschaftlichen Abhandlung -seien in den literaturwissenschaftlichen Gegenstandsbereich zu integrieren. Nicht allein auf der Objektebene jedoch, sondern auch im Bereich der Theoriebildung findet eine signifikante Erweiterung statt: Alle Theorien, die zur Modellierung oder Erklärung kultureller Phänomene entwickelt worden sind, zählen zum Pool der potenziell auch für die Literaturwissenschaften relevanten Bezugstheorien. Tatsächlich berufen sich Vertreter kulturwissenschaftlicher Ansätze in der Literaturwissenschaft auf Bezugstheorien, die sich beträchtlich voneinander unterscheiden. Sie lassen sich - wenn auch nicht trennscharf - in historiografische, soziologische, ethnologische und psychologische Theorien gruppieren. Zur ersten Gruppe gehört die auf Norbert Elias zurückgehende Zivilisationstheorie, die darauf zielt, die komplexen Strukturen und Me- 364 Theorien und Methoden der Literátu Wissenschaft Kontextorientierte Theorien und Methoden 365 chanismen des »geschichtlichen Wandels« und des Prozesses der Zivilisation zu erfassen. Als bestimmendes Moment in diesem Prozess sieht Elias die »Verflechtungsordnung« an, die »fundamentale Verflechtung der einzelnen, menschlichen Pläne A und Handlungen«, aus der - ungeplant und nicht * intentional - Ordnung entsteht.90 Die Dynamik dieses Beziehungsgeflechts bedingt den zu erforschenden sozialen und kulturellen Wandel. Eine weitere wichtige historiografische Bezugstheorie bildet die im Umfeld der Annales-Schule entstandene Mentalitätsjeschichte. Als Gegenmodell z. B. zur Ereignisgeschichte fragt sie nach Einstellungen, Denkmustern und Gefühlen, deren Ausprägungen oder auch Konstellationen als typisch für eine Epoche gelten können.91 Dieser ersten Gruppe von Theorien lässt sich auch die historische Diskursanalyse Foucaults zuordnen. Sie spielt für die meisten kulturwissenschaftlichen Ansätze eine mehr oder minder prominente Rolle und bestimmt mit ihrer Auffassung von der Textualität der Geschichte und ihrer Kritik an den historiografischen >Metaer-zählungen< Argumentation und Design vieler kulturgeschichtlicher Studien. Auch soziologische Theorien, insofern sie Aussagen über das Verhältnis von Gesellschaft und Kultur enthalten, dienen als Referenzrahmen für kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaftler. So beziehen sich neuere kulturgeschichtliche Ansätze auf kultursoziologische Modelle Friedrich H. Tenbrocks, Alois Hahns und anderer, und darüber hinaus berufen sie sich auf Luhmann und Bourdieu (vgl. dazu II.5.5.1). Auch neuere wissenssoziologische Konzeptionen sind hier zu nennen. Sie betonen im Anschluss an das 1966 erschienene einflussreiche Werk von Peter L. Berger und Thomas Luckmann, The Social Construction of Reality, die soziale bzw. kulturelle Bedingtheit von Wissen und modellieren den engen Zusammenhang von Wissen bzw. Denken und lebensweltlichen Voraussetzungen des Alltags. Als durchgängig wichtige Bezugstheorie ist hier schließlich der Marxismus zu erwähnen (vgl. dazu II.5.5.1), auf den sich vor allem viele Vertreter der Cultural Studies berufen. Zu den ethnologischen Theorien, die kultürwis-senschaftliche Ansätze heranziehen, zählt rieben Geertz' semiotischer Konzeption der Kultur als Text auch die symbolische Anthropologie in der Ausprägung Victor Turners. Mit ihren zentralen Begriffen des Rituals, der Liminalität und dem Konzept des sozialen Dramas wird sie vor allem für Uteraturwissenschaftliche Ansätze interessant, denen es um den Performanzaspekt von Literatur geht.92 Aus der Gruppe der psychologischen Theorien schließlich ist vor allem die strukturale Psychoanalyse Lacans von Bedeutung. Von den gewählten Bezugstheorien wird u.a. mitbestimmt, welches Konzept von >Kultur< jeweils vertreten wird. Dieser Begriff steht zweifellos im Zentrum kulturwissenschaftlicher Ansätze. Auf die Vielzahl seiner Bestimmungen wird immer wieder verwiesen: Bereits 1952 unterscheiden Kroeber und Kluckhohn sechs Typen von Definitionen, denen sie mehr als 150 einzelne Bestimmungen von >Kul-tur< zuordnen.93 Allein diese terminologische Unbestimmtheit lässt das Feld kulturwissenschaftlicher Theoriebildung unübersichtlich erscheinen. Wenn sich auch bis heute kein konsensueller Kulturbegriff gebildet hat, so werden doch einige Konzepte von >Kultur< in den Literaturwissenschaften häufiger verwendet als andere. Einen besonders weiten Kulturbegriff stellt die Semiotik zur Verfügung, wenn sie Kultur als Zeichensystem bestimmt. Bei Posner etwa bildet >Kultur< die höchste und umfassendste Ebene menschlicher Aktivitäten, die physische, psychische und soziale Strukturen einbezieht. Posner differenziert zwischen den semio-tisch miteinander verbundenen Komponenten »soziale«, »materiale« und »mentale Kultur«.94 Gegenstand kulturwissenschaftlicher Analyse sind alle 90 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Sozio-genetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. 2. Frankfurt a. M. 71980,314. 91 Vgl. z.B. die Studie von Philippe Aries: Venfant et Ja viefamiliale sous l'Ancien Regime. Paris 1960. 92 Vgl. z. B. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performati-ven. Frankfurt a. M. 2004. 93 Vgl. Alfred L. Kroeber/Clyde Kluckhohn: Culture. A Critical Review of Concepts and Definitions. New York 1952. 94 Roland Posner: Kultur als Zeichensystem. Zur semio-tischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe. In: Assmann/Harth 1991 (s. Anm. 87), 37-74, Zit. 42. drei Komponenten - Artefakte, soziale und mentale Schemata - in ihrem Wechselspiel. In diesem Modell ist eine nicht-kulturbezogene Analyse von Gesellschaft nicht möglich: Alles ist Kultur, aber nicht alle Kultur ist Text. Der komplexe Zusammenhang von gewählten Bezugstheorien, Begriffsbestimmungen, Fragestellungen und Abgrenzungsbestrebungen gegen >her-kömmliche< Uteraturwissenschaftliche Ansätze, der im Rahmen kulturwissenschaftlicher Theoriebildung die Regel ist, soll im Folgenden am Beispiel der Cultural Studies in aller Kürze veranschaulicht werden.95 Selbst dieses begrenzte Unternehmen wird dadurch erschwert, dass es keinen gemeinsamen theoretischen Rahmen gibt und dass auch hier heterogene Bezugstheorien zugrunde gelegt werden. Eine Gemeinsamkeit der Cultural Studies wird allerdings darin gesehen, dass es ihnen nicht allein um Theoriebildung geht, sondern auch um die politische Relevanz ihrer Studien. Dieses Anliegen verweist auf das marxistische Erbe dieser Richtung. Entstanden ist sie aus einer Kritik am marxistischen Basis-Überbau-Modell, dessen ökonomischem Determinismus eine Gleichwertigkeit verschiedener - unter anderem kultureller - Einflussfaktoren entgegengesetzt wird. Eines der wichtigsten Ziele seit Bestehen der Cultural Studies liegt in der Aufwertung aller Formen von Kultur und ihrer Nutzer. Während in den Schriften der Frankfurter Schule davon ausgegangen wurde, dass >die Masse< der Manipulation durch die Medien weitestgehend wehrlos ausgeliefert sei, haben Vertreter der Cultural Studies wie John Fiske und Lawrence Grossberg schon früh die Kreativität und >Eigen-willigkeit< der Mediennutzer betont (vgl. dazu Winter 1999). Diese Betrachtungsweise hängt mit dem Kulturverständnis der Cultural Studies zusammen: Kultur wird nicht als Medium und Produkt eines - wie auch immer zustande gekommenen - Konsenses aufgefasst, sondern als gekennzeichnet vom Dissens, vom Aushandeln und vom Kampf um Bedeutungen. Kultur kann nach dieser Auffassung nur angemessen erforscht werden, wenn die jeweiligen Besonderheiten der kulturellen Objekte wie auch ihre Einbettung in soziale Praktiken mit Bezug auf gesellschaftliche, politische und ökonomische Zusammenhänge untersucht werden. Analysiert werden nicht nur das Entstehen von Artefakten, sondern auch ihre Form und vor allem die Art und Weise ihrer Rezeption und >Aneignung<. Dabei werden neben kanonischen Texten dezidiert auch nicht-kanonische Texte, alle Textsorten und insgesamt alle menschlichen Produkte als Teil der Kultur in die Untersuchungen einbezogen. Eine umfassende Rahmentheorie kann es, so Stuart Hall, für diese komplexe Aufgabe nicht geben, da »sowohl die Spezifität verschiedener Praktiken als auch die Formen der durch sie konstituierten Einheit zu reflektieren«96 sind. Das Bemühen um eine Forschungspraxis, die die konkreten sozialen, historischen und materiellen Gegebenheiten nicht aus dem Blick verliert (vgl. Grossberg/Nelson/Treichler 1992, 6), ist kennzeichnend für die Cultural Studies. Mit Bezug auf sie wird ein ausgeprägter Eklektizismus im Umgang mit theoretischen Angeboten legitimiert, die je nach den Bedürfnissen der einzelnen Projekte gewählt und angewendet werden. Diese Projekte sind zumeist interdisziplinär angelegt, und das Überschreiten der akademischen Disziplingrenzen zur Trans- oder gar Gegendisziplina-rität (vgl. ebd., 4) hat programmatischen Charakter. Darüber hinaus ist die Assimilation neuer theoretischer Konzepte in den Cultural Studies von dem durchgängigen Bestreben geprägt, die Erkenntnis, dass kulturelle Objekte in soziale Praktiken eingebettet sind, stets selbst als soziale Praxis zu begreifen, deren Folgen mitzubedenken sind.97 Von dieser Position aus wurden Annahmen strukturalisti-scher, semiotischer, poststrukturalistischer, diskursanalytischer und feministischer Theorien in die 95 Vgl. dazu Fotis Jannidis: Literarisches Wissen und Cultural Studies. In: Martin Huber/Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000,335-357. 96 Stuart Hall: Cultural Studies. Zwei Paradigmen [1980]. In: Bromley/Götüich/Winter 1999,113-138, Zit. 137. 97 Vgl. dazu Richard Johnson: Was sind eigentlich Cultural Studies? [1983] In: Bromley/Göttlich/Winter 1999, 139-188, hier 158. 366 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft __________............______________________Kojitectofjer^^ 367 Cultural Studies integriert. Zwei Momente scheinen dabei eine besondere Beharrungskraft in der Diskussion zu haben: die Aufwertung historischer Akteure und die Kontextualisierung in eine gerade nicht nur als Text konzipierte soziale und ökonomische Umwelt. Ziele der Richtung und Verwendung literaturwissenschaftlicher Grundbegriffe Die Ziele kulturwissenschaftlicher Ansätze in der Literaturwissenschaft sind ebenso unterschiedlich wie ihre Bezugstheorien. Grob lassen sie sich in drei Gruppen einteilen, die aufeinander aufbauen, deren Ausrichtung aber jeweils spezifischer wird. Das allgemeine Ziel der Analyse literarischer Texte als kulturelle Produkte wird spezifiziert als 1. Aufzeigen von Beziehungen zwischen Texten und kulturellen Phänomenen verschiedener Art (Artefakte, kulturelle Praktiken, kognitive und emotionale Schemata, Werte). Solche Beziehungen können als direkte Übernahmen konzipiert werden, aber auch als ebenso unbeabsichtigte wie un-umgehbare Bezüge, und sie können über die gemeinsame Nutzung von Denkformen, Stereotypen, kollektiven Symbolen und anderem hergeleitet werden. Ihr Nachweis kann den Zweck haben, literarische Themen oder Darstellungsweisen aus ihrer kulturellen Herkunft zu erklären oder einen oder mehrere literarische Texte symptomatisch zu interpretieren. 2. Aufzeigen der unter 1. genannten Beziehungen und Aufdecken von Machtverhältnissen, die die Texte verschleiern. Die Ansätze, die dieses Ziel verfolgen, haben neben der historischen Rekonstruktion in der Regel eine ideologiekritische Absicht. Ein solches Anliegen kennzeichnet etwa postkoloniale Studien im Anschluss an frühe Arbeiten Edward Saids98, in denen das Machtgefüge zwischen Herrschern und Beherrschten als textuell prägend nachgewiesen wird. Der postkolonial orientierte Literaturwissenschaftler zeigt textinterne imperialistische Wertgefüge und Momente des Widerstands gegen sie auf und vollzieht mit dieser Bewegung schon selbst einen widerständigen Akt, inso- fern er »das in die Lektüre hineinnimmt, was einst gewaltsam aus den Texten ausgeschlossen wurde« (Fauser 2003,37). Wie in den ideologiekritisch ausgerichteten Gender Studies geht es auch hier zugleich um eine Kritik am Kanon. 3. Aufzeigen der unter 1. genannten Beziehungen, Aufdecken der Machtverhältnisse (wie 2.) und tiefenpsychologische ModeEierung ihrer Unumgeh-barkeit, etwa mit Bezug auf Lacans strukturale Variante der Psychoanalyse (vgl. II.5.3.2). Beispiele dafür bieten der postkolonialistische Ansatz Homi Bhabhas" und poststrukturalistisch fundierte genfer-Theorien (vgl. II.5.5.4). Sie ziehen die für das ideologiekritische Aufdecken bedingender Machtstrukturen erforderlichen Dichotomien wie >das Eigene - das Fremde/Andere< nur übergangsweise heran, zielen aber auf den Nachweis ihrer Unzulänglichkeit. Das >Spiel der Differenzen prägt auch das scheinbar Homogene, so die wesentlich diffe-renziell zu denkende >Identität< von Einzelnem und von Kulturen. Bhabhas Begriff der Hybridität trägt diesem Sachverhalt Rechnung: Weder Kulturen noch Subjekte sind homogen; vielmehr sind sie durch dynamische und konfliktreiche Interaktionen verschiedener Repräsentationen etwa von Klassen, ethnischen Zugehörigkeiten und Geschlechtszu-schreibungen gekennzeichnet. Kulturen bestimmen sich durch Differenzierung nach außen und zugleich durch interne Differenzierungsprozesse, die auch den Einzelnen zum permanenten Aushandeln seiner Position in der Kultur zwingen. In literarischen Texten lassen sich, so die Annahme, Bestandteile verschiedener Kulturen nachweisen, da Literatur an unterschiedlichen kulturellen Bereichen partizipiert, und das Verhältnis dieser Elemente zueinander lässt sich unter der Perspektive untersuchen, auf welche Weise und in welchen »Mischungsverhältnissen sie zur - gegebenenfalls problematischen - Identitätsbildung im Text beitragen. Auch die Verwendung literaturwissenschaftlicher Grundbegriffe variiert in den verschiedenen kulturwissenschaftlichen Ansätzen. Hier sollen nur typische Gemeinsamkeiten des (1) Literatur- und (2) Kontextbegriffs angeführt werden. 1. Wenn Kultur als »Gesamtkomplex von Vor- 98 Vgl. Edward W. Said: Orientalism. New York 1978. 99 Vgl. Homi K. Bhabha: The Location of Culture. London/New York 1994. Stellungen, Denkformen, Empfindungsweisen, Werten und Bedeutungen« verstanden wird, »der sich in Symbolsystemen materialisiert« (Nünning 1995,179), dann lässt sich der Stellenwert der Literatur in diesem >Komplex< auf zweifache Weise bestimmen. Literatur wird einerseits aufgefasst als »eine der materiálen Formen bzw. textuellen Medien, in denen sich das mentale Programm >Kultur< niederschlägt« (ebd., 181); andererseits zeichnet sich diese Form bzw. dieses Medium aber auch durch spezifische Merkmale aus, durch »das spezifisch Literarische« der Texte, ihre »gattungs- und textspezifischen Ausdrucksformen« (ebd., 185 und 189). Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten dürfte ersichtlich sein, dass kulturwissenschaftlich orientierte Ansätze über diese allgemeine Bestimmung hinaus mit einem weiten Literaturbegriff ar-| beiten müssen. Er umfasst alle die Texte, auf die die I genannten Bedingungen zutreffen. Wertende Ein-I schränkungen wie das Ausgrenzen populärer oder Í trivialer Texte zugunsten einer bevorzugten >Hoch-!' literatun passen nicht zum gewählten Rahmenkon-; zept. Zugleich kommen nicht allein literarische Texte in den Blick, sondern auch die Bedingungen ihrer Verwendung, etwa ihre Rezeption oder Aneignung in lebenspraktischen Zusammenhängen, ihr ritueller Einsatz, ihre Funktionalisierung für politische Interessen, ihr intermediales Zusammenwirken mit anderen Artefakten und vieles mehr. 2. Die jeweils verwendete Bezugstheorie gibt vor, wie der Begriff >Kontext< zu fassen ist. Im Rahmen marxistisch oder soziologisch ausgerichteter Kulturtheorien, aber auch in einigen Studien der historischen Anthropologie gilt als Kontext ein Set extratextueller Größen, etwa kultureller Schemata der Wahrnehmung und Deutung von Wirklichkeit, die sich auch in literarischen Texten manifestieren. Hier übernimmt also - vereinfacht gesagt - >die Kultur< die Funktion eines Kontextes, dem ein hohes Erklärungspotenzial für literarische Texte zugeschrieben wird. Von den bis dahin zur Interpretation literarischer Texte genutzten Bezugsgrößen unterscheidet er sich darin, dass er umfassender und damit auch schwerer zu konzeptualisieren ist. Umfassender ist er in dem Sinne, dass es nicht mehr bevorzugt Daten der Ereignis- oder Sozialgeschichte sind, die zur Erhellung literarischer Texte herangezogen werden, sondern auch Kenntnisse aus der Alltags- und der Mentalitätsgeschichte. Typisch ist etwa der Bezug auf alltagsgeschichtliches Wissen, Informationen über zeitgenössische Praktiken wie Essensgebräuche, Konventionen des Rei-sens oder etablierte Formen der Mediennutzung, deren Vorkommnisse in literarischen Texten untersucht werden. Unter diesen Voraussetzungen lassen sich Fragen des Typs legitimieren, auf welche Weise die zeitgenössische Kleiderordnung den entsprechenden Elementen in einem konkreten Text Zeichenfunktion zukommen lasse oder wie die aus den Trauerritualen einer Kultur ableitbaren Emotionscodes in einer Erzählung varüert werden und welches kritische Potenzial der Text gegenüber seinen kulturellen Bezugsgrößen entfaltet. Auch das Spektrum der für relevant gehaltenen ideengeschichtlichen Kontexte wird erweitert. Die traditionelle Vorliebe für philosophische oder religiöse Bezugstheorien wird als zu eng angesehen; als potenziell relevant für die Kontextualisierung Uterarischer Texte werden alle Bereiche der jeweils zeitgenössischen Wissenschaften einbezogen, mit einem seit Längerem deutlichen Akzent auf medizinisch-anthropologischem Wissen, sowie alle Bereiche des >Alltagswissens<. Studien dieses Typs arbeiten also i mit einem Kontextbegriff, der sich quantitativ, aber nicht qualitativ von den Konzepten vorangehender j " kontextorientierter Ansätze unterscheidet. Kultur ist ein ihrerseits zu rekonstruierendes komplexes Gebilde, das als beeinflussende >Umwelt< auf einen literarischen Text einwirkt, in ihm seine Spuren hinterlässt. Zugleich wird sie durch literarische Texte mit konstituiert. Wird dagegen betont, dass Kultur als Text zu verstehen sei, kann auch die Beziehung zwischen Text und Kontext nur als rein textuelle aufgefasst werden. Unterschiedlich sind aber die Folgerungen, die aus dieser Annahme gezogen werden. Verbreitet ist die These, dass unter der Voraussetzung der universalen Textualität nicht allein die Relevanz, sondern auch die Zulässigkeit einer Text-Kontext-Unterscheidung verschwindet. Es gehe nicht mehr darum, Literatur mit Rekurs auf einen sie mitprägenden Kontext zu erschließen, sondern um die Analyse multipler intertextueller Bezüge. Dabei können dieselben kulturellen Bereiche einbezogen werden wie unter der Annahme eines extratextu-ellen Kontexts; die Frage nach dem kulturellen 368 Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft Theorien zur Erklärung des Phänomens >Lrteratur< 369 Kontext, in dem ein literarischer Text entstanden ist und mit Bezug auf den er sich zumindest partiell erklären lässt, wird jedoch zur Frage nach seinem kulturellen Ko-Text (vgl. dazu auch Baßler 2005, Kap. II). Allerdings wird die Debatte darüber, wie weit die Metapher der Kultur als Text zu treiben ist, in der Regel nicht unter dem leitenden Aspekt eines klaren Kontextbegriffs geführt. Vertreter einer stärker marxistisch oder soziologisch ausgerichteten Variante der Cultural Studies etwa sehen durch die poststrukturalistischen Positionen, die kein außerhalb des Textes< mehr annehmen, ihren politischen Auftrag bedroht. Methode der Interpretation literarischer Texte Wie gesehen, zählen zu den kulturwissenschaftlichen Ansätzen unterschiedlich begründete Positionen, die verschiedene Ziele verfolgen und entsprechend abweichende Methoden des Umgangs mit I literarischen Texten bevorzugen. Keiner der kultur-* j wissenschaftlichen Ansätze hat eine eigenständige I Interpretationstheorie entwickelt; vielmehr orientieren sie sich im wissenschaftlichen Umgang mit literarischen Texten in einem weiten Sinne entweder an hermeneutischen oder poststrukturalistischen, vor allem diskursanalytischen oder struktu-ral-psychologischen Grundannahmen, die je nach Zielsetzung in historisch rekonstruktiver, ideologiekritischer oder wissenschaftskritischer Absicht eingesetzt werden können. Kombinationen auch mit strukturalistischen Verfahren der Textanalyse kommen ebenfalls vor (z. B. Baßler 2005). Wie in der Geschichtswissenschaft sind die hermeneutischen Verfahren der Textinterpretation nach ihrem Prestigeverlust durch (post)struktura-listische Grundlagenkritik auch in der Literaturwissenschaft wieder aufgewertet worden, und zwar wegen ihres Anspruchs, >fremden Sinn< verständlich machen zu können. Der >Re-Import< erfolgte über die Ethnologie100, die, wie oben skizziert, in ihrer Auffassung von >Kultur als Text< hermeneu-tische Verfahren der Textwissenschaft als Lösung von Beschreibungs- und Verstehensproblemen angesehen hat. Wenn man kulturgeschichtliche Textinterpretation in einer ihrer Varianten als Erforschung und Rekonstruktion der Beziehung von Text und »Lebenswelt« vergangener Epochen auffasst, dann ist ein verstehenstheoretischer Ansatz kaum vermeidbar.101 Auch in der interkulturellen Literaturwissenschaft haben Theorien des Fremdverstehens Konjunktur.102 Mit übernommen hat man allerdings die Probleme, die in der methodologischen Diskussion der Literaturwissenschaften der 1970er und frühen 1980er Jahre benannt, aber nicht gelöst worden sind, etwa das Problem der begründeten Wahl relevanter Kontexte, der fundierten Modellierung einer operationalisierbaren Beziehung zwischen Text und >Umwelt< und nicht zuletzt das Problem der Subjekt-Objekt-Konfun-dierung. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, dass die re-importierten hermeneutischen Verfahren zur Analyse von Texten und/oder kulturellen Praktiken nicht mit literaturwissenschafUichen Positionen kompatibel sind, die im Zuge poststruktura-listischer Interpretationskritik programmatisch auf hermeneutische Basisannahmen verzichten. An dieser Inkompatibilität ändert auch die Tatsache nichts, dass die hermeneutischen Verfahren unter anderem Namen auftreten, etwa unter Geertz' Bezeichnung thick description. Wenn kulturgeschichtliche Forschungen z. B. im Umkreis der New Cultural History103 weder auf poststrukturalistische Thesen zu Semiose und Bedeutungsgenerierung noch auf hermeneutische Theorien des Fremdverstehens verzichten wollen, führt dies zu methodischen In-konsistenzen, die in wissenschaftlichen Kontexten zumindest problematisch sind. 100 Vgl. dazu Ute Daniel: Clio unter Kulturschock Zu den aktuellen Debatten der Geschichtswissenschaft. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48. Jg. (1997), 195-219,259-278. 101 Vgl. Gangolf Hübinger: Die >Rückkehr< der Kulturgeschichte. In: Christoph Cornelißen (Hg.): Geschichtswissenschaften. Eine Einführung. Frankfurt a.M. 2000,162-177, Zit. 164f. 102 Vgl. z. B. Annette C. Hammerschmidt: Fremdverstehen. Interkulturelle Hermeneutik zwischen Eigenem und Fremden. München 1997. 103 Programmatisch der Sammelband von Lynn Hunt (Hg.): The New Cultural History. Berkeley 1989. Literatur Bachmann-Medick, Doris (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M. 1996. Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen 2005. Böhme, Hartmut/Scherpe, Klaus (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle. Reinbek bei Hamburg 1996. Bromley, Roger/Göttlich, Udo/Winter, Carsten (Hg): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg 1999. Eagleton, Terry: The Idea ofCulture. Oxford 2000. Fauser, Markus: Einführung in die Kulturwissenschaft. Darmstadt 2003. Glaser, Renate/Luserke, Matthias (Hg.): Literaturwissen- schaft - Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven. Opladen 1996. Grossberg, Lawrence/Nelson, Cary/Treichler, Paula (Hg.): Cultural Studies. New York u. a. 1992. Nünning, Ansgar: Literatur, Mentalität und kulturelles Gedächtnis: Grundriß, Leitbegriffe und Perspektiven einer anglistischen Kulturwissenschaft. In: Ders. (Hg.).: Literaturwissenschaftliche Theorien, Modelle und Methoden. Eine Einführung. Trier 1995,173-197. Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen - Ansätze - Perspektiven. Stuttgart 2003. Winter, Rainer: Spielräume des Vergnügens und der Interpretation. Cultural Studies und die kritische Analyse des Populären. In: Jan Engelmann (Hg.): Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies-Reader. Frankfurt a. M./New York 1999,35-48. 5.6 Theorien zur Erklärung des Phänomens >Literatur Weshalb gibt es (überhaupt) Literatur? - Wer so fragt, erkundigt sich nicht nach den spezifischen Entstehungsbedingungen eines bestimmten literarischen Werkes, sondern vielmehr nach einer Erklärung für das Phänomen >Literatur<. Eine Antwort auf die Frage hat daher die Form einer umfassenderen Theorie, aus der hervorgeht, weshalb Literatur die Verbreitung oder den Stellenwert hat, die bzw. den sie hat. Da literarische Werke Artefakte sind, die in eine bestimmte Praxis der Produktion und Rezeption eingebunden sind, liegt es nahe, dass eine solche Erklärung den Zweck oder die Funktionen von Literatur für einzelne Personen, für größere soziale Gruppen oder auch die Gattung >Mensch< zu bestimmen versucht. Im Einzelnen können sich auf Funktionsbestimmungen beruhende Erklärungen - im Hinblick auf ihre genaue Fragestellung, ihren Allgemeinheitsgrad, ihre theoretischen Hintergrundannahmen sowie ihre disziplinare Verankerung - erheblich unterscheiden. Die philosophische Beschäftigung mit Kunst ist seit ihren Anfängen auch eine Beschäftigung mit den Funktionen von Kunst gewesen, und zwar nicht nur in erklärender, sondern vor allem auch in legitimatorischer Absicht (vgl. Ellis 1974, Kap. 8). Die zeitgenössische philosophische Ästhetik unterscheidet eine Vielzahl verschiedener Funktionen von Kirnst im Allgemeinen, die sich zum großen Teil problemlos auf literarische Werke im Besonderen übertragen lassen (die folgende Liste entstammt Schmücker 2001, 22-30). Kunstwerke können unter anderem • Gegenstände ästhetischen Vergnügens oder ästhetischer Erfahrungen sein, die - wie immer diese des Näheren bestimmt werden - trotz ihrer angenommenen Funktionslosigkeit als an sich wertvoll angesehen werden; • verschiedene kommunikative Funktionen erfüllen, also z.B. Empfindungen ausdrücken, zu etwas auffordern, etwas konstatieren; • Empfindungen hervorrufen, Verhaltensweisen motivieren, eine reflexive Distanznahme zu lebensweltlichen Vollzügen initiieren, therapeutisch wirksam sein oder einfach nur unterhalten; • Identitätsbildungsprozesse unterstützen, kul-