»Ja, hat man Ihnen denn gleich abgesagt, Mojsej Markowitsch?« fragte die Frau mit dem Kopftuch und dem geblümten Kleid. »Ach!« Der Mann machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die wollen mich nicht, ich spüre doch so was. Ein kurzes Gespräch und ein kühles: Sie werden schriftlich von uns verständigt. Da sitzt so ein junges Mädchen. Könnte meine Enkelin sein. Was weiß die schon? Plustert sich auf. Hat studiert. Na und? Fühlt sich unheimlich wichtig. Was versteht die schon vom Leben!« »Der nächste bitte!« ertönte hinter der Tür eine junge Frauenstimme. Die beiden Rotschwants erhoben sich von der Bank. Er -hastig, sie - zwei Schritte hinter ihm mit dem milden Lächeln der Stärkeren. »Komm schon, Alte. Langsamkeit ist die Art von Schildkröten und nicht die von Menschen.« Sein Lieblingssatz. Im Zuwandererheim hatte er ihn mindestens zehnmal am Tag wiederholt. Rosa erinnerte sich, wie sie ein halbes Jahr zuvor nach Gigricht gekommen war. Der erste Blick von der Autobahn auf eine mittelgroße Stadt. Ein träger Fluß. Ein spätmittelalterlicher Dom. Eine Altstadt mit Fußgängerzone. Auf einer Flußinsel das frisch renovierte Schloß mit einem barocken Haupttrakt und einem viereckigen Turm, wo bis ins ausgehende achtzehnte Jahrhundert die Herzöge von und zu Gigricht und Patsch residiert hatten. Eine begrünte Uferpromenade, eine Umfahrungsstraße, dahinter die Parkanlagen auf dem Areal der ehemaligen Stadtmauer. Das Denkmal eines Feldherren auf dem Hauptplatz gegenüber dem Rathaus: Hoch zu Roß und mit gezogenem Säbel. Von einem Mal auf das andere vergißt Rosa seinen Namen und wen er besiegt hat. Sie kamen an einem sonnigen Herbstnachmittag an. Die bewaldeten Hügel rund um die Stadt schienen mit Rost überzogen. Eine Schnellstraße führte im großen Bogen hinunter zum Fluß. 24 Das also ist der Ort, an dem ich sterben werde, dachte Rosa. Sie itaß am Beifahrersitz eines Autos, das gerade auf den rechten Fahrstreifen wechselte. Auf der Anzeigetafel stand Innenstadt Nord. Kostik, Frieda und ihr Enkel Sascha saßen auf dem Rücksitz. Wenn sie sich streckte, konnte sie ihre Gesichter im Rückspiegel sehen. Die drei unterhielten sich halblaut. Worüber sie sprachen, konnte sie nicht verstehen. Hätte man sie nur nicht wie im Flugzeug an den Sitz geschnallt! Am Steuer war ein Deutscher, Günter Huber, Saschas Arbeitskollege und sein einziger Freund in Gigricht. Es war großzügig von Günter, die Familie seines Freundes aus dem Durchgangslager für Zuwanderer in Sachsen-Anhalt abzuholen. Als Gegenleistung erwartete er von Rosa Antworten auf seine zahlreichen Fragen. Dabei blieb er meist im Rahmen jener entwaffnenden, weil höflichen und etwas naiven Penetranz, der man nur schwer etwas entgegensetzen kann. »Sie sind mir doch nicht böse, Frau Masur, wenn ich Ihnen eine ganz persönliche Frage stelle ...« Er machte eine Pause. »Frau Masur, wie ist es eigentlich für einen russischen Juden, wenn er gerade nach Deutschland übersiedelt, ich meine, nach allem, was Deutsche den Juden angetan haben?« »Also, ich bin schon sehr alt«, murmelte Rosa, »reden Sie mit meinem Enkel darüber. Er wird sein halbes Leben in diesem Land verbringen.« Als sie in Sachsen-Anhalt losgefahren waren, hatte sich Rosa noch über das Interesse des jungen Mannes gefreut, jetzt, drei Stunden später, bereute sie es beinahe, daß sie vor sechzig Jahren Deutsche Philologie studiert und später für einen sowjetischen Verlag Sachbücher aus dem Deutschen ins Russische übersetzt hatte. Sascha hatte alle administrativen Hindemisse für die Übersiedlung seiner Eltern und der Großmutter nach Gigricht aus dem Weg geräumt. Das war gar nicht so einfach gewesen. »Wären die Deutschen klug genug, ihr Land zentral zu verwalten«, hatte Sascha erklärt, »gäbe es diese Probleme mit der Übersiedlung von einem Bundesland ins andere nicht.« Rosa, Kostik 25 und Frieda waren jedenfalls froh, aus dem Lager - einer ehemaligen sowjetischen Kaserne - ausziehen zu können. Die Einrichtung in diesem nur notdürftig zu einem Heim für Zehntausende Zuwanderer umgebauten Gebäude war immer noch spartanisch. Die Wände zierten sinnige Sprüche vergangener Tage. Sei wachsam und allzeit bereit', war vielleicht jener, der die neuen Bewohner des Gebäudetraktes noch am ehesten auf das einstimmte, was ihnen bevorstand. Und die Einwohner des kleinen Dorfes, in dem sich die Kaserne befand, wechselten die Straßenseite, wenn ihnen eine Gruppe »Russen« entgegenkam, wahrscheinlich so, wie sie es schon zu DDR-Zeiten angesichts sowjetischer Soldaten \ getan hatten. Russen blieben Russen. \ Der lästige Fahrer ließ Rosa keine Ruhe. »Ist es wahr, Frau \ Masur«, fragte er, »daß viele russische Juden, die zu uns kommen, I gar keine Juden und die Deutschen keine richtigen Deutschen sind, sondern Russen, die sich falsche Papiere besorgt haben? Haben Sie im Lager irgendwelche Geschichten dieser Art gehört?« »Ich habe die anderen Lagerinsassen nicht nach ihrer Abstammung gefragt«, brummte Rosa. »Ich bin keine Expertin für Rassenkunde.« Günter errötete, stammelte, daß er falsch verstanden worden sei, und verstummte. Wenige Minuten später hielten sie auf einem Parkplatz zwischen zwei Wonnblöcken und einem Rasen mit einigen Blumenbeeten. Sie überquerten die Grünfläche auf einem durchgetretenen Pfad, der am Schild Rasen betreten verboten', vorbeiführte. Das Haus lag wenige Meter von der Schnellstraße entfernt. »Es ist zwar etwas laut«, erklärte Sascha, »aber es war das Beste, was mir das Sozialamt für euch angeboten hat.« Eine Einzimmerwohnung im dritten Stock mit Kochnische und Badezimmer. Ein Doppelbett, ein Schrank, Tisch und drei Stühle, ein Einzelbett für Rosa. Die für sie vorgesehene Zimmerecke war mit einem Paravent vom Rest des Raumes getrennt. Aus dem Fenster sah man auf eine alte Fabrik mit Schornstein und den Kirchturm eines vor langer Zeit eingemeindeten Dorfes. Nur etwas mehr als eine Viertelstunde war das Ehepaar Rot-schwants in den geheimnisvollen Räumen verschwunden gewesen. Als die beiden herauskamen, ging Frau Rotschwants voran, während Herr Rotschwants, dicht hinter ihr, sie anzuschieben schien. »Was fällt dir auch ein, diesem jungen Mädchen solche Sachen zu erzählen«, krächzte er. »Hab ich dir nicht oft gesagt: zuerst denken, dann reden. Wenn Weiber den Mund nicht halten können ...« »Was denn? Was denn?« brummte sie. »Ich habe doch überhaupt nichts gesagt. Du hast die ganze Zeit geredet. Und mein Gott, was das für ein Blödsinn war. Ich kenne dich schon seit mehr als fünfzig Jahren, aber diesmal hast du dich selbst übertroffen.« »Ach ja, natürlich!« schrie er. »Selbstverständlich muß ich immer den Schuldigen spielen. Fünfzig Jahre dasselbe.« In diesem Moment blickte Frau Rotschwants Rosa an und zwang sich ein Lächeln ab. »Guten Morgen, Rosa Abramowna. Ich hatte Sie vorhin gar nicht bemerkt. Oder sind Sie gerade gekommen?« »Guten Morgen, Mojra Chaimowna, guten Morgen Isaak Da-widowitsch. Ich warte schon seit mehr als einer halben Stunde.« »Ihnen ebenfalls einen wunderschönen Morgen, werte Rosa Abramowna«, sang Herr Rotschwants und machte eine leichte Verbeugung. »Was macht die Gesundheit?« fragte er. »Ich lebe noch, Isaak Dawidowitsch. Vorläufig noch.« Herr Rotschwants grinste. »Man soll nie den Teufel an die Wand malen, werte Rosa Abramowna. Sie wissen ja, wie das ist mit den Geistern, die man ruft.« Jetzt verschwinde endlich, du Affe, dachte Rosa, sagte aber: »Es war ein ganz besonderes Vergnügen, Sie wieder zu treffen, Isaak Dawidowitsch.« »Ganz meinerseits, Rosa Abramowna.« Frau Rotschwants tat jetzt Rosa den Gefallen, ihren Mann Richtung Eingangstür zu schieben. 26 27