Eva Menasse – Vienna (2005, Roman) Tendenzen in der Gegenwartsprosa nach 2000, SS 2012 (NJII_3544) 26. März 2012, Jan Budňák A. Aufbau der Präsentation 1. Ziel: Merkmale von Oralität, Gedächtnis und Identität im Roman erörtern 2. Familien- bzw. Generationenromane der letzten Jahre · „Familienromane der dritten Generation“ (Eva Menasse: Vienna; Arno Geiger: Es geht uns gut; Reinhard Jirgl: Die Unvollendeten etc.), „Familiengedächtnisse“ (Uwe Timm: Am Beispiel meines Bruders; Harald Welzer (Hg.): Opa war kein Nazi) · Magisterarbeiten auf books.google.de („Auf Spurensuche in der Familiengeschichte“; „Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende“; „Die Gedächtnisstrukturen im Familienroman der dritten Generation“; „NachBilder der Holocaust“ usf.) · „Schweigen der Väter. Die neuen jüdischen Clan-Chroniken“: http://www.cicero.de/salon/das-schweigen-der-vaeter/45212?seite=1 3. Erinnerung, Gedächtnis, Oralität · Maurice Halbwachs – Erinnerung ist sozial bedingt: das kollektive Gedächtnis (1939) · Jan Assmann – kommunikatives vs. kulturelles Gedächtnis (Das kulturelle Gedächtnis, 1992) · Oralität (z.B. Walter J. Ong, 1982) 4. Eva Menasse, Journalistin und Autorin 5. Roman „Vienna“: Zeit, Generationen, Figuren 6. Rezensionen + Schlagworte: Jüdisches, Anekdoten: (über-)pointiert, konturlose Erzählerin?, Harmlosigkeit des Romans, Erzählkonzept für Tragisches/Ernstes ungeeignet?, Erzählkonzept nur geeignet für „tiefe“ Vergangenheit?, Abwehr gegen verschwindende Erinnerung 7. Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Technologisierung des Wortes (1982, tschechisch 2006) · These: Es gibt wesentliche „Unterschiede zwischen den jeweiligen Arten des Wissensmanagements und des sprachlichen Ausdrucks in primär oralen Kulturen und denen, die durch die Schrift maßgeblich beeinflusst sind“ (Ong 2006: 9) · Aspekte von Ongs „Psychodynamik oraler Kulturen“ als vorläufige Blicklenkung für „Vienna“-Lektüre 8. „Anfang“ (Auszug, S. 9-11) + Close Reading: 1. Rituelles, Schematisches; 2. Erzählerwissen; 3. Paradoxien + Arbeit des Erzählers mit der Zeit (S. 11) * Hypothese: Orales Erzählen dient zunächst als dominanter Wissenshorizont. Allmählich wird aber der Widerspruch zwischen dem Familiengedächtnis und der „Geschichte“ sichtbar. 9. „Schwarzblende“ und „Neubeginn“ (Auszug) + Situation + Elemente des psychologisierenden Erzählens, Elemente des oral Tradierten, Widerspruch („der jüdische Hausmeister“, S. 110f), spiegelbildlich analytischer Kapitelaufbau (Großvater vor und nach dem Krieg) + Geschichtenerzählen („Em-Em“) identitätsstiftend: sozial (109ff), individuell (Robert Menasse im Interview, Erzählerin im Kap. „Ende“, Vaters Wunsch im Kap. „Ende“) + Thematisch: Jude im NS-Österreich („Spiel“), Entnazifizierung („Pediküre“ und „Besuch“) + Fazit: subtile Literarisierung des Oralen (z.B. 99f, 109f) 10. „Ende“ + „das manische Mythologisieren“, „Familienwahn“ der Erzählerin, „verminte Familiengeschichte“ (369) + Zwei „neue“ Reaktionen auf Geschichten: Nachforschungen (Bruder, Erzählerin), Zweifel angesichts gröbster Schematisierungen („Saujud-Regenschirm-Geschichte“). Zunächst noch alles beim Alten: „Is egal wann, wie geht die G´schicht?“) + Frustrationen (individuell, generationsbedingt, zeitbedingt) nehmen überhand + Auslöser: „Wer der bessere Jude ist“ + Generationenangelegenheit: „Solange mein Vater, meine Mutter, mein Onkel, die Tante Ka und die kleine Engländerin lebten, die die Widersprüche und Ungereimtheiten unserer Familie verkörperten, als Beweis für alles, was möglich ist, so lange konnte wir Kinder die besten Freunde sein und Mitglieder einer Familie. Doch als diese Generation tot war, kämpften wir traurigen Diadochen um eine Deutungshoheit, die vor uns keiner gebraucht hatte.“ (392f) + Kein Anekdotenbuch: „Ich habe bis heute die ältesten Geschichten am liebsten. Sie sind am offensten und am verheißungsvollsten, weil ihr wahrer Kern so verschwindend weit zurückliegt und deshalb fast alles erlaubt ist.“ (373) „Doch genaugenommen waren die witzigen Passagen immer nur Zwischenspiel zu durchaus ernsten Überlegungen. Das Unbekannte wurde umkreist, Theorien wurden aufgestellt, Vermutungen geäußert, desto aufgeregter, je weniger eine Klärung möglich war. Hatten die Großeltern je über eine Flucht nachgedacht?“ B. Rezensionsnotizen (Quelle: perlentaucher.de) Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 19.03.2005 Ein Romandebüt wie "Vienna" hätte der Rezensent Paul Jandl von der Journalistin Eva Menasse nicht erwartet. Denn die stark an die eigene jüdische Familiengeschichte angelehnte Erzählung erweise sich als Ansammlung von Anekdoten. Dabei missfällt dem Rezensenten, dass die sonst für ihre "kritische Treffsicherheit" bekannte Menasse sich so rückhaltlos dem witzelnden Familienduktus eines "Onkel-und-Tanten-Konglomerats" überlässt: "Was haben wir gelacht - das ist eine Formel mit hohem Ausschließungsgrad." Darum hat der Rezensent auch gleich zwei vernichtende Beschreibungen parat: Menasses Debüt sei ein "kreuzbraver Roman, der die Anekdote, die eher zum Altherreninstrument literarischer Humorkultur verkommen ist, wieder in Amt und Würden setzt" sowie "ein Schmunzelbuch, das sich seine Harmlosigkeit auch nicht durch avancierten Stil verdirbt". Und die "Scheherazade des Scherzes" geht laut Rezensent in der "heiteren Selbstüberbietung" so weit, dass Exil und Tod, kaum angesprochen, zugunsten der nächsten Pointe ins Hintertreffen geraten, und dass so "die einzig ernste Frage des Romans", die nämlich nach der jüdischen Identität, nicht gebührend behandelt werden kann. Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 09.03.2005 Mäßig begeistert zeigt sich Ulrich Rüdenauer von Eva Menasses Wien- und Familienroman, der seines Erachtens an die Tradition jüdisch-humoristischer Literatur anknüpfen will. Nicht dass Menasse dieses Unterfangen gar nicht gelungen wäre, eher im Gegenteil; der locker-lakonisch-witzige Gestus sei so dominant, versichert Rüdenauer, dass sich bei ihm Ermüdungserscheinungen einstellten. "Die Pointendichte entspricht etwa dem Kabarettprogramm eines Stand up-Comedian", behauptet er und schreibt dies dem Einfluss des Tagesjournalismus zu, dem die Autorin als Broterwerb im täglichen Leben nachgeht. Anekdote um Anekdote webe Menasse die skurrile und abenteuerliche Geschichte ihrer Eltern und Großeltern zu einem Flickenteppich zusammen, so Rüdenauer und merkt boshaft an: aber "nach einem Perser soll's ausschauen". Er konstatiert eine gewisse Geschwätzigkeit, eine Sammelwut, hinter der er durchaus auch die Verzweiflung der Verfasserin spürt, die sich so redselig und pointenreich gegen das Verschwinden der Erinnerungen zur Wehr setze. Eine Intention, die in der Umsetzung scheitert, zumal die Ich-Erzählerin, wie Rüdenauer feststellt, seltsam konturlos bleibt. Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 03.03.2005 Ursula März ist von diesem literarischen Debüt der Journalistin Eva Menasse regelrecht hingerissen und preist ihn als "rasanten Seiteneinflug" zur "Landebahn des literarischen Erfolgs". Sehr beeindruckend findet die Rezensent die Leichtigkeit, mit der sich die österreichische Autorin, Schwester des bekannten Schriftstellers Robert Menasse, eines Themas annimmt, das zwar nicht neu, dafür aber "nach wie vor schwierig" ist. Menasse erzählt von einer Wiener Familie, die, Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden, zur Hälfte jüdische und zur Hälfte nichtjüdische Wurzeln hat ist und die auffällige "Ähnlichkeit" mit den Menasses hat, erklärt die Rezensentin. Das Problem jüdischer Identität wird in einer "Tragikomödie" entfaltet, wobei die Autorin das Thema nicht "ideologisiert", sondern vielmehr "charmant" und "erzählerisch" entfalte, so März angetan. Der Roman besteht "aus nichts als Anekdoten", die diese Familie in ihrem ureigenen "rhetorischen Code" verbinden und steckt voller Wiener "Schmäh und Pointen", "Jargons und Redensarten", bemerkt die Rezensentin amüsiert. Das Tragische der Geschichte, in deren Mittelpunkt der Vater der Erzählerin steht, der sich über seine Identität nicht klar werden kann und sich an der Frage abarbeitet, wer in seiner Familie eigentlich Jude, wer Nazi war, wird nur "in einem einzigen Satz" artikuliert und entfaltet gerade durch seinen reduzierten Ausdruck Wirkung, lobt März. Die Autorin treffe geradezu mühelos den erforderlichen "lakonischen Ton" und verbinde mit Selbstverständlichkeit "das Epische, das Politische, das Humoristische und das Essayistische", preist die begeisterte Rezensentin. Am Ende aber begreift sie die "Stärke" dieses Romans, die eben in der Leichtigkeit und in dem "mimetischen Sichtreibenlassen der Erzählerin" liegt, gleichzeitig als "Schwäche", weil hinter dem "Zauber" der Erzählung die "Technik" sichtbar wird, die jedem Satz noch "Pointen abverlangt". Diese Kritik findet März aber dann selbst etwas "ungerecht", hat sie sich doch selbst gerade "vergnügt" einem "bedeutsamen, aus der aktuellen Literatur herausragenden" Roman hingegeben. Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 02.03.2005 "Wie eine luftige Mehlspeise mit dezent alkoholisiertem Kompott" hat sich Kristina Maidt-Zinke Eva Menasses "Vienna" zu Munde beziehungsweise zu Gemüte geführt, ein Buch, das jede Menge abenteuerliche Schicksale, skurrile Charaktere, fantasievolle Geschichten aufbietet und Familiengeschichte mit literarischer Camouflage verbindet. Da steht Menasse ganz in der Tradition ihrer fabulierwütigen, anekdotensüchtigen Familie, auch sie beherrscht ihr Handwerk, liefert ein "bravouröses" literarisches Debüt ab - Menasse arbeitet ansonsten als Journalistin - , und doch, überlegt die Rezensentin, bleibt sie darin ganz "die brave Tochter". Auf der einen Seite also die Schwelgerei in Anekdoten, auf der anderen Seite eine eher unkenntlich bleibende Ich-Figur, die über die ihr zugewiesene Funktion des Erinnerns, Erzählens, Archivierens hinaus keine individuellen Konturen annimmt. Je mehr sich Menasse der Gegenwart nähert, stellt Maidt-Zinke fest, desto problematischer werde ihr Erzählkonzept, das sich über die Mythen- und Anekdotenpflege hinaus nicht dazu eignet, hinter der familiären Fabulier- und Fantasierwut auch die negativen Erfahrungen in einer derart "wortgewaltigen Familie" auszudrücken. Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 19.02.2005 Die Rezensentin Anne Kraume findet es spannend, wie die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse die Geschichte ihrer eigenen Familie mit der Geschichte der fiktionalen Familie verwebt - auch wenn sie sich ein bisschen wundert, dass Menasses eigene Rolle darin erstaunlich blass bleibt. Doch trotzdem ist ihr ein echtes Panorama gelungen, hinter dem "viel allgemeiner ein Jahrhundert Wiener, österreichischer und europäischer Geschichte" sichtbar wird. Zunächst wirkt die Geschichte wie eine relativ unstrukturierte Ansammlung von Anekdoten, "bei der erst allmählich deutlich wird, dass sie genau in dieser scheinbaren Kontingenz ein sehr systematisches Konstruktionsprinzip hat". Das liegt nicht zuletzt darin begründet, dass für die beschriebene Familie das Geschichtenerzählen höchst identitätsstiftend war: "Nur wer Geschichten liefert, der existiert." C. Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes (1982) Merkmale oraler Kulturen/Kollektive * große Macht des Wortes/der Sprache (Wort=Ereignis) * Formeln, Mnemotechnik, Schematisierung * konkrete Merkmale: 1. eher additiv als hierarchisch 2. eher kumulativ als analytisch 3. Redundanz, „Redseligkeit“ 4. eher konservativ, affirmativ 5. eher situativ als abstrakt 6. eher empathisch als distanziert 7. homöostatisch („Gegenwart als Filter“) 8. „verbomotorischer Lebensstil“ (soziale Ereignisse sprachlich vorstilisiert, z.B. Handel) 9. eher soziale als individuelle Persönlichkeitsmerkmale entwickelt 10. „schwere“ Heldengestalten und bizarre Elemente („Farblose Persönlichkeiten können in der oralen Mnemotechnik nicht überleben.“ Ong 2006: 83) 11. typisierte Figuren („der listige Odysseus“) Themen 1. Judentum + Großvater – Großmutter die einzige Gojte (Sudetendeutsche Familie aus Engelsberg, Bezirk Freudenthal) + Mischlinge 2000 + Suche nach dem Judentum (Vater einigermaßen, gibt sich aber mit dem ersten Signal zufrieden, das seiner Vorstellung entspricht) (Vetter zwei ganz jüdisch) (Bruder lebenslänglich ein Identitätsproblem damit) 2. Nazis, Nazivergangenheit + Tante Gustl und ihre Rettungsaktion + sehr unterschiedliche Haltungen innerhalb der Familie (Onkel, Bruder vs. Vater, Großvater). Episode mit dem Hugo-Onkel aus Engelsberg 3. Exil + Vater, Onkel, Katzi 4. Erzählen vs. Nicht-Erzählen (Tabu und Unausgesprochenes) + Großvater und Krieg, G und die Überschwangsarbeit, G und seine Schwester Gustl, Großvater und Katzi 5. Erzählerin, Rolle + S. 12: Anspielung auf die antike Mythologie, wirkt eher gezwungen + Kapitel „Ende“ 6. Generationen + nachgetragene Revolte der ersten Nachkriegsgeneration (Kapitel „ Handout These: „Vienna“ ist ein Roman, der den Untergang einer oralen Gemeinschaft schildert. 7. Mündlichkeit als + sozialer 1. Figuren, Handlung 2. Rezeption, Auszüge aus Rezensionen 3. Theorie der Oralität (Ong) 4. Analyse der oralen Abschnitte des Buchs a. detailliert: S. 9 b. Abschnitte aus: 1. und 2. Textausschnitt Ergänzung von Ong um „literarische“ Aspekte von Menasses Oralität a. Figurenzeichnung b. Zeit, „private“ Zeit vs. lineare Zeit c. Erzähler (unklar, unterschiedliche Perspektiven, unterschiedliche Aktivität bzw. Ich-Erzähler nur dann aktiv, wenn es um die Rettung der Gemeinschaft geht) d. Weltbild, Aussparen/thematischer Ausschluss, Tabu e. über Ong hinaus: obwohl die literarische Inszenierung auf eine strenge Gegenüberstellung von Oralität und Schriftlichkeit hinausläuft, handelt es sich bei diesem Roman eigentlich um eine Mischform (Beleg???) Gegen die Oralität (These: der Roman ist erzähltechnisch eine Mischform, dies vielleicht als Erklärung kritischer Stimmen, die sich über Schriftlichkeit/Literalität des Romans a. Sozial (Trennung, „Kommentare“/Meinungsverschiedenheiten, Gegenwart statt Vergangenheit, http://www.videoportal.sf.tv/video?id=5f4cc8b7-3d96-482b-9819-c04fd3cc696a 8. „Bei uns ist Sprache dicker als Blut.“ 9. „In seiner anpasslerischen Art, die er bis heute hat…“ 10. „Alle politischen oder ästhetischen Differenzen unserer Diskussionen sind dann immer in Apercus aufgehoben und erlöst worden.“ 11. „Eine Pointe ist wichtiger als die Wahrheit.“ (Der Roman auf den Punkt gebracht, aber das stimmt offensichtlich nicht, denn hinter den Pointen ist das „starke Gefühl“ entstanden, „man behält uns was vor“, EM deutet das als den Widerspruch zwischen der heroischen Schilderung der Kriegszeit in der Familie und den Grausamkeiten, die man in der Schule darüber erfährt) + EMs Ausweg aus der Oralität: Interviews mit Vater und Onkel (schon in ihren frühen Zwanzigern): „die haben sich dann immer, pointiert und redegewandt, verweigert“ 12. In der Familie wird über die Kriegszeit so gesprochen, als „hätte man überlebt und dabei noch die Haltung bewahrt“. Das sei nicht möglich und deshalb lohnenswert als literarischer Stoff. Im Prinzip immer der gleiche Widerspruch zwischen oral vermittelter Familiengeschichte und dem sonstigen Vergangenheitsbild. 13. Vaterfigur – „assimilationssüchtig“ 14. Robert Menasse: Erschaffung der Welt sein Ziel, seine Sucht http://archive.org/details/InterviewMitGeorgAuerUndKurtMenasse