~ „ c „. ,...k . „ Eva Menasse »Mcm Vater war eine Sturzgeburt«: Kopiuber, wie dre Haupt- - figur, fällt der Leser in diesen Roman und erlebt, wie die Großmutter über ihrer Bridge-Partie beinahe die Geburt ihres j» eigenen Kindes versäumt. So kommt der Vater der Erzählerin \f 1 ~t~\ C\ zu Hause zur Welt, ruiniert dabei den kostbaren Pelzmantel ' und verhilft der wortgewaltigen Familie zu einer ihrer belieb- ; testen Anekdoten. Hier, wo man permanent durcheinander 1x01X1311 redet und sich selten einig ist, gilt der am meisten, der am lustigsten erzählt. Fragen stellt man besser nicht, obwohl die ungewöhnliche Verbindung der Großeltern, eines Wiener-Juden und einer mährischen Katholikin, im zwanzigsten Jahrhundert höchst schicksalsträchtig ist. Autorin Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin bei »Profil« in Wien. Sie wurde Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, begleitete den Prozess um den Holocaust-Leugner David Irving in London und arbeitete nach einem Aufenthalt in Prag als Kulturkorrespondentin in Wien. Sie lebt seit 2003 in Berlin. »Vienna« ist ihre erste literarische Veröffentlichung. btb Anfang Mein Vater war eine Sturzgeburt. Er und ein Pelzmantel wurden Opfer der Bridgeleidenschaft meiner Großmutter, die, obwohl die Wehen einsetzten, unbedingt noch die Partie fertigspielen mußte. Bis auf ein einziges dramatisches Mal hat meine Großmutter alle Partien ihres Lebens fertiggespielt, denn eine Partie in der Mitte abzubrechen war unzumutbar. Deshalb hätte sie über den Karten beinahe die Geburt meines Vaters versäumt. Oder besser gesagt: Deshalb wäre mein Vater beinahe unter einem mit grünem Filz bespannten Kartentisch zur Welt gekommen, was übrigens seinem Charakter und seinem Lebensweg gar nicht schlecht entsprochen hätte. Das einzige, was meiner Großmutter im Leben Freude machte, war Bridge. Sie saß, wie an fast jedem Tag seit jenem, an dem sie meinen Großvater geheiratet hatte und aus einem kleinen mährischen Dorf nach Wien gezogen war, mit ihren Bekannten im Café Bauernfeind und spielte. Das war ihre Art, mit der Welt, die ihr selten behagte, fertig zu werden. Sie verschloß davor die Augen, ging ins Kaffeehaus und spielte Bridge. An jenem Tag, als mein Vater geboren wurde, verzögerte sich die Partie. Es wurde noch Kaffee bestellt. Die Wehen schienen nicht stärker zu werden, und die Bridgepartnerinnen meiner Großmutter kümmerten sich ohne- 9 hin nicht darum. Beim Abrechnen brach der rituelle Streit unter den Spielerinnen aus. Eine zahlte ihre Spielschulden nie gleich, sondern bat immer um Aufschub und stiftete dadurch Verwirrung. Dabei ging es bloß um ein paar Groschen. Manchmal gelang es einer vielleicht, einen Schilling zu gewinnen, doch den war sie am nächsten Tag bestimmt wieder los. Im gesamten gesehen gab es kein signifikantes Ergebnis. Trotzdem zeterten sie und machten einander Vorhaltungen. Zwei von ihnen konnten nicht besonders gut rechnen, die anderen beiden, darunter meine Großmutter, sahen schlecht, gaben es aber nicht zu. Diejenige, die immer die Abrechnung führte, war eine von denen, die nicht rechnen konnten. Sie verwechselte oft die Kolonnen, ob aus Konzentrationsmangel oder aus Unredlichkeit, weiß heute niemand mehr. Denn sie irrte sich auch zu ihren eigenen Ungunsten. Darüber hinaus hatte sie eine sehr kleine, verschnörkelte Schrift, gerade bei Ziffern. Die dritte, die immer Kredit wünschte, war nur bereit, ihre Schuld vom vorvergangenen Tag zu bezahlen. Am vergangenen Tag hatte sie auch verloren, aber mehr. Und am meisten verlor sie an jenem Tag, an dem mein Vater geboren werden sollte. Das nun wollte sie aber am allerwenigsten bezahlen. Von der vierten weiß ich nichts. Der Zahlkellner vom >Bauernfeind< kam lange nicht. Er war ein stadtbekannter Feschak, und die Damen, mit Ausnahme meiner Großmutter, pflegten mit ihm kindisch zu kokettieren. Meine Großmutter kokettierte nie. Irgend etwas in ihr war schon früh erfroren, sie war eine blasse, rotblonde Schönheit, die der Welt bloß ironische Strenge zeigte. Sie tobte nur zu Hause. Ihr Busen war sagenhaft. Der Zahlkellner vom >Bauernfeind< behandelte sie ausgesucht. Er war mindestens zehn Jahre jünger als sie, und wobei sich die Bridgepartnerinnen ihn und meine Großmutter gerne vorstellten, hätten sie bei ihrer Seele nicht laut gesagt, nicht einmal heimlich, zueinander. Dabei hatte der Zahl- kellner vom >Bauernfeind< wahrscheinlich bloß Respekt vor der Unnahbarkeit meiner Großmutter, und sie hat ihn vielleicht niemals richtig bemerkt. Am Tag der Geburt meines Vaters bemerkte sie nur ärgerlich, daß er nicht kam. Die Damen kramten in ihren Börsen und rutschten auf den Plüschbänken hin und her. Meine Großmutter wurde nervös. Es wurde dunkel, und die Wehen wurden stärker. Mein Onkel, der damals sieben Jahre alt war, erwachte, als das Licht anging. Er schlief auf einem schmalen Sofa, das quer zum Ehebett seiner Eltern an dessen Fußende stand. Er erwachte, weil es plötzlich hell war und weil seine Mutter schrie. Sie lag in ihrem Pelzmantel, einem schwarzen Persianer, quer über dem Ehebett. Mein Großvater schrie auch, aber von der Tür her. Außerdem schrie mein Vater, der, wie es später immer wieder erzählt wurde, einfach herausgerutscht war und den Pelzmantel verdorben hatte. Mein Vater schrie, weil das für ein Neugeborenes normal ist. Zeit seines Lebens würde mein Vater die Dinge gewissenhaft so machen, wie er sie für normal hielt, auch wenn ihm das objektiv selten gelingen sollte. Die Einstellung meiner Großmutter zu dieser letzten Schwangerschaft und diese Geburt selbst erforderten es allerdings besonders, sich von Anfang an so normal wie möglich zu verhalten. Denn meine Großmutter, bereits über vierzig, hatte dieses dritte Kind nicht haben wollen. Sie hatte mit Stricknadeln, heißen Sitzbädern und mit Vom-Tisch-Springen versucht, es loszuwerden. Sie erzählte das später gern. Aber mein Vater war den Stricknadeln ausgewichen und hatte sich bei den Sprüngen angeklammert, so müsse es gewesen sein, sagte man in meiner Familie später immer und nickte dazu. Über die heißen Bäder sagte man nichts. Er wollte es ihr dann recht machen, indem er schnell und schmerzlos herausrutschte, aber meiner Großmutter hat es selten jemand recht machen können. Mein Vater hatte io die Bridgepartie verdorben und er verdarb den schwarzen Persianer, eines der großzügigen Geschenke, mit denen mein Großvater seine zahllosen Seitensprünge zu sühnen versucht hatte. Meine Großmutter geruhte diese Geschenke wortlos anzunehmen und ins Kaffeehaus zu gehen, um Bridge zu spielen. Meine Großmutter schrie, weil die Hebamme noch nicht da war. Weil das Kind noch an der Nabelschnur hing und alles voll Blut war. Weil mein Großvater weder in der Lage schien, das ältere Kind, meinen Onkel, aus dem Zimmer zu entfernen, wie meine Großmutter es für passend gehalten hätte, noch sich anzuziehen und einen Arzt oder die Hebamme holen zu gehen. Mein Großvater, dessen Lieblingstonart eigentlich das halblaute, mürrische Schimpfen war, das man in Wien »keppeln« nennt, schrie, weil meine Großmutter schrie. Anders hätte er sich kaum Gehör verschafft. Außerdem lagen auch seine Nerven bloß. Das Bild, das sich ihm auf seinem Ehebett bot, war ebenso grotesk wie faszinierend. Es muß ein wenig an die griechische Mythologie erinnert haben, von der mein Großvater allerdings keine Kenntnis hatte: Ein Wesen, halb schwarzes Schaf, halb Mensch, hatte geboren. Denn aus Scham vor ihrem Mann und ihrem Sohn hielt meine Großmutter den Pelzmantel über ihrem Unterleib fest geschlossen. Sie lag halb eingerollt auf der Seite und umfing mit ihrem Körper meinen Vater, von dem nur der Kopf aus dem Mantel sah und der vor dem schwarzen, pelzigen Hintergrund besonders blutig und neugeboren wirkte. »Du bist an allem schuld«, schrie meine Großmutter, »du hast mich zu spät abgeholt!« »Wo ist mein Schal«, schrie mein Großvater von der Tür her, »du hättest früher nach Hause gehen sollen!« »Du hast mir dieses Kind angehängt«, schrie meine Großmutter, »im Kasten neben der Tür!« »Wahrscheinlich hast du unbedingt die Partie zu Ende spielen müssen«, schrie mein Großvater, »in welchem Ka-sten?« »Mit welcher Schickse hast du dich herumgetrieben«, schrie meine Großmutter, »du Blinder, neben der Tür, hab ich gesagt!« »Geh, gib a Ruh«, sagte mein Großvater resigniert, der seinen Schal gefunden hatte und sich anschickte zu gehen. Denn wie jeder wußte, der ihn auch nur ein bißchen kannte, waren alle seine Geliebten immer jüdisch und übrigens meistens ebenfalls verheiratet. Noch nie hatte er mit einer Schickse ein Verhältnis gehabt. Er kannte nur eine einzige Schickse näher - die Frau, mit der er verheiratet war. Unter diesen Umständen kam mein Vater zur Welt: als Sohn eines jüdischen Vertreters für Weine und Spirituosen und einer katholischen Sudetendeutschen, die aus der Kirche ausgetreten war. Ein paar Wochen später kam die Tante Gustl, eine der Schwestern meines Großvaters, um das Kind zu begutachten. Die Tante Gustl hatte einen reichen Christen geheiratet und benahm sich seither wie eine große Dame. Ihr Vater, mein Urgroßvater, hatte schon die konfessionsübergrei-fende Wahl seines Sohnes, meines Großvaters, zu einem Familienskandal gemacht. Obwohl meine Großmutter aus der Nähe von Freudenthal und nicht aus Bratislava stammte, begann er, wenn die Rede auf sie kam, mißmutig den alten Schüttelreim zu deklamieren: »Zum Vesuv ging a Bratislavaer Gojte, damit sie dort gratis Lava erbeute.« Man pflegte nur den notwendigsten Kontakt. Die Eltern meines Großvaters, die aus Tarnöw stammten, waren dort geblieben, wo die Einwanderung sie angespült hatte: auf der »Mazzesinsel«, ganz nah beim Augarten, in einer dieser grauen Gassen, wo es auch im Sommer kühl und feucht ist und die Stiegenhäuser nach Moder und Kohl riechen. iz ■3 »Fischhändler und Fromme«, sagte mein Großvater verächtlich, »geschmacklos, billig und doch ordinär.« Er zog nach Döbling, in den Bezirk der Ärzte und Rechtsanwälte, der Notare und Opernsängerinnen, der Hausherren und Seidenfabrikanten. Daß er sich nur den Döblinger Rand, nah beim Gürtel, leisten konnte, fiel nicht ins Gewicht. Denn trotzdem blieb es Döbling. Als die Tante Gustl ihren Vater von ihrer bevorstehenden Heirat unterrichtete, vertraute sie darauf, daß der laute, furchterregende Skandal von einst inzwischen zu einem kleinen, depressiven Zusammenbruch geschrumpft sein würde, denn die Tante Gustl war von Jugend an äußerst abgebrüht. »Is er a Jud?« fragte ihr Vater, und er muß der Tante Gustl in diesem Moment herrlich schwach und hilflos erschienen sein. Sie trug den neuen Fuchs mit den blinkenden Äuglein um die Schultern, den der rasend verliebte Verlobte ihr erst kürzlich verehrt hatte, und sie triumphierte, innen wie außen. »Er is ka Jud, er is a Bankdirektor«, antwortete sie mit einer Wendung, die in meiner Familie sprichwörtlich geworden ist und seither auf Menschen angewendet wird, die man für harmlose Trottel hält. Denn ein solcher war, wie sich bald herausstellte, der herzensgute, jung verstorbene Adolf »Dolly« Königsberger, auch »Königsbee« genannt. Nach ihrer Hochzeit entfaltete sich die Hybris der Tante Gustl zu voller fleischiger Blüte. Als erste unzweideutige Maßnahme wechselte die Frau Direktor Königsberger zum Kartenspielen das Kaffeehaus, denn hinsichtlich der Kaffeehäuser gab es Klassenunterschiede. Weder im >Bauernfeind-: noch im >Zögernitz< ward sie je mehr gesehen, man munkelte, sie säße an den Kartentischen der Ringstraße, dort, wo die Hofratsgattinnen und Fabrikantenwitwen vom guten Leben zu solcher Fülle angeschwollen waren, daß ihre mehrreihigen Perlenketten fast horizontal auf den weißgepuderten Dekolletes ruhten. Noch war die Tante Gustl nicht so üppig, doch sie hatte die Anlage dazu. Auch ließ sie sich nur noch selten bei ihren Eltern in der kleinen Gasse beim Augarten sehen. Statt dessen ging sie am Arm des feschen, dummen Dolly in die Oper und ins Theater, und sie fuhr nach Baden zur Kur. Sie suchte Anschluß an das Großbürgertum, sie spielte mit verarmten Baronessen Rummy und Würfelpoker, sie bezähmte ihren Ehrgeiz und ließ die Baronessen aus taktischen Gründen manchmal gewinnen. Sie versuchte so listig wie brutal, gleich zwei Klassen nach oben zu gelangen, anstatt, wie mein Großvater, den einstufigen Aufstieg von der »Maz-zesinsel« nach Döbling, vom eingewanderten Buchhalter (Vater) zum eingeborenen Spirituosenhändler (Sohn) als menschenmögliches Maximum zu akzeptieren. Aber am meisten erboste meinen Großvater, daß sie nun ein protziges edelsteinbesetztes Kreuz um den Hals trug, »den göttlichen Mühlstein«, wie er es nannte. Sie trug es übrigens wirklich seit dem ersten Tag als Frau Direktor Königsberger und nicht erst, wie in meiner Familie später mit böser Absicht behauptet wurde, seit dem Einmarsch der Nazis. Die Tante Gustl beugte sich also prüfend über meinen Vater, so daß ihr Kreuz knapp über seiner kleinen Nase baumelte, und sagte: »Schaut aus wie der Zahlkellner vom >Bauernfeind<.« Mein Vater sah sie mit seinen babyblauen Augen, die diese Farbe sein Leben lang behalten sollten, an, griff nach dem Kreuz und riß es ab. Mein Großvater hat sich dann geweigert, die kaputte Kette zu bezahlen, weil er es für unmöglich hielt, daß ein Säugling eine Kette abreißen konnte, an der nicht zumindest ein Glied schon schadhaft gewesen war. Sie solle froh sein, daß das Kind ihn abgerissen und sie den Mühlstein nicht im Kaffeehaus verloren habe, sagte er zu seiner Schwester, denn woher wolle sie wissen, wie ehrlich ihre Christen seien. Andererseits, höhnte er: Ein solches Trumm hätte sie wahrscheinlich überall aufschlagen hören. Später, wenn die Rede auf die Tante Gustl kam, sagte er 14 J5 immer: »Ja, ja, eine Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied.« Gemessen an den üblichen Standards meines Großvaters war das eine fast skandalös abgedroschene Fomulie-rung. Mehr sagte er nicht, denn er sprach nicht gern über die Tante Gustl, nachdem sie in der Nazizeit einmal grußlos an ihm vorübergegangen war. Dabei soll das goldene Kreuz auf ihrer Brust gut sichtbar gewesen sein, hieß es in meiner Familie später immer. Die ersten Jahre im Leben meines Vaters verliefen weitgehend normal. An der Hand seiner schönen, strengen Mutter ging er jeden Tag ins Kaffeehaus, wurde zwischen die Kartenpartnerinnen meiner Großmutter gesetzt, die ohnehin nichts anderes wahrnahmen als ihre Bridgekarten und, aus den Augenwinkeln, den Zahlkellner, und wurde angeherrscht, wenn er mit den Beinen baumelte. Zwischen den einzelnen Spielen, wenn sich die Aufmerksamkeit zweier Spielerinnen vorübergehend ganz dem tänzelnden Zahlkellner zuwenden konnte, während diejenige, die die Abrechnung führte, unkonzentriert ihre winzigkleinen Zahlen schrieb, zischte meine Großmutter gelegentlich: »Sitz gerade!« Mein Vater war ein stilles, freundliches Kind. Bevor er sprechen konnte, konnte er Bridge spielen. Der Familienlegende nach soll sein erstes Wort »Rubber« gewesen sein. Die in höchstem Maße unkindliche Konzentration, mit der mein Vater stundenlang dem Lauf der Karten folgte, war erstaunlich und wäre in jeder anderen Familie aufgefallen. In dieser Familie dagegen wäre alles andere als Katastrophe empfunden worden. Im Alter von vier Jahren besaß mein Vater ein eigenes Paket Karten. Als er ein Jahr später die ersten Versuche unternahm, den Bridgepartnerinnen meiner Großmutter verstohlen Tips zu geben, indem er bei bestimmten ausgespielten Karten die Augen verdrehte, wurde sein Bruder 16 I gezwungen, nachmittags auf den Kleinsten achtzugeben. Mein Onkel nahm also meinen Vater widerwillig in die nahe gelegenen Beserlparks, die kleinen, zerzausten Grünflächen mit. Während mein Onkel mit seinen Freunden auf ein Fetzenlaberl eintrat, saß mein Vater am Boden und legte Patiencen. Manchmal gelang es ihm, ein anderes Kind für seine Karten zu interessieren, und dann schnapsten sie miteinander. Natürlich ging es immer um irgendeinen Einsatz. Mit seinem hinreißenden, babyblauen Lächeln streifte mein Vater, der immer Sieger blieb, am Ende des Spieles Murmeln, Groschen, Manner-Toffees ein. Ab sechs Jahren veranstaltete er regelmäßig Schnapsturniere im Beserlpark, an denen vor allem Mädchen gern teilnahmen, die noch dazu um ein, zwei Jahre älter waren. Dem strikten Ausschluß von Mädchen aus allen Beserlpark-Bu-benspielen war mein Vater immer verständnislos gegenübergestanden. Von Anfang an mochte er Mädchen gern. Er war mit allen Mädchen, denen er das Kartenspielen beibrachte, gleichermaßen geduldig und freundlich. Daß er sich damit bei den anderen Jungen lächerlich machte, scheint ihm gar nicht aufgefallen zu sein. Strahlend lud er alle, die interessiert waren, zu seinen Kartenturnieren ein und bat sie zuerst, ihre Einsätze offenzulegen. Die älteren Buben, die Freunde meines Onkels, verhöhnten ihn und seine Karten nur. Als er aber an Kinderschätzen schon ziemlich begütert war und seine Tasche von den Murmeln ausgebeult, versuchten sie, ihm etwas abzugewinnen. Als ihnen das nicht gelang, bewunderten sie ihn für kurze Zeit beinahe. Am Ende hielten sie ihn, in einem höheren Sinn wahrscheinlich zu Recht, für einen Schuft. Sie verprügelten ihn mit Nachdruck und nahmen ihm seine Gewinne mit Gewalt wieder ab. Als mein Vater und mein Onkel nach einem solchen Tag nach Hause gingen, fürchteten sie das Geschrei meiner Großmutter. Sie würde meinen Onkel beschuldigen, daß er nicht gut genug auf seinen Bruder aufgepaßt hatte, und ihn einen »überflüssigen Nichtsnutz« und »gefährlichen Tunichtgut« nennen, und sie würde meinen Vater grob an den Schultern rütteln, weil er sich schmutzig gemacht hatte. Sie würde schimpfen, er sei »dreckig wie ein Rohrspatz«. Sie würde meinen Großvater beschimpfen, der ihr mit diesen beiden Söhnen »die Pest um den Hals gehängt« habe. Meine Großmutter war im häuslichen Zorn sehr kreativ. Ganz am Ende ihres Lebens, als sie kaum noch ihre Kinder und Enkel und am allerwenigsten die zahllosen verschiedenen Tabletten unterscheiden konnte, die sie einnehmen mußte, als sie nur noch die Wut auf die Welt, die sie zu verlassen sich anschickte und der sie selbst das noch ankreidete, am Leben erhielt, gelangte ihre Kunst der verrenkten Injurie zum Höhepunkt. Sie beschimpfte auf das übelste die geistliche Schwester, die sie trotz aller Gemeinheiten und Sekkierereien vorbildlich pflegte, die sie fütterte, wusch und ihr die Bettpfanne unterschob. Mein Vater, dessen angeborene Harmoniesucht im Alter übertriebene Ausmaße annahm, führte die Schwester unter gemurmelten Entschuldigungen aus dem Raum. Noch vor der Tür sprach er bittend auf sie ein, kletzelte dabei mit der einen Hand an den Nagel-häutchen der anderen, blickte zu Boden wie ein Schulbub, kurzum, er war ein Bild betretenen Jammers. Zurück bei meiner Großmutter, sagte er vorwurfsvoll: »Aber Mutter, bei allem, was sie für dich tut!« »Was tut sie für mich?« fauchte meine Großmutter. »Sie wäscht dich, sie versorgt dich, sie ist gut zu dir«, sagte mein gepeinigter Vater, dem die Bosheit meiner Großmutter der Nonne gegenüber genauso unangenehm war wie die Notwendigkeit, seine Mutter an ihre körperlichen Gebrechen erinnern zu müssen. »Gut ist sie?! Was weißt denn du«, fauchte meine Großmutter, »sie ist eine Schlange im Wolfspelz!« In diese Richtung wiesen die Aussichten der beiden Jungen, als sie nach Hause gingen. Mein Vater weinte, denn er haßte körperliche Auseinandersetzungen wie nichts sonst auf der Welt. Er kam überhaupt anderen Buben oder Männern höchst ungern nahe, was später von vielen teils bedauert, teils heftig kritisiert wurde, weil diese Scheu die einzige, allerdings erhebliche Einschränkung seines erstaunlichen Fußballtalents darstellte. Während er nun neben meinem Onkel ging, der ihn im stillen verfluchte - mein Onkel hat nie viel gesprochen, oft nicht einmal dann, wenn er gefragt wurde -, hielt er den Kopf gesenkt und sah auf seine Füße. Bei jedem Schritt schlappte ein abgerissenes Lederriemchen seiner Sandalen auf das Kopfsteinpflaster. Seine Knöchel waren zerschrammt. Der Saum seiner Hosen war eingerissen. Sein rechtes Knie war blutig, das linke blau. Aber das schlimmste war, daß er seine Karten verloren hatte, alle, bis auf eine. Die meisten hatten die Jungen, die ihn verprügelt hatten, demonstrativ zerrissen, weniger aus Sadismus, sondern um ihrer grimmigen Anordnung, daß im Beserlpark nie mehr Karten gespielt werde, letzten Nachdruck zu verleihen. Den Rest, darunter die hübschen Schnapskarten mit den Eicheln und den Schellen, hatte er im Stich lassen müssen, als er sich endlich losreißen und davonrennen konnte. Zur Ehre meines Onkels muß man sagen, daß er seinen kleinen Bruder so heldenhaft verteidigt hatte, wie es in seinen Kräften stand. Aber mein Onkel war schon als Kind besonders klein und schmächtig und er blieb es auch. Noch auf seinem Hochzeitsbild gleicht er eher dem zwölfjährigen Frank Sinatra als einem hochdekorierten Dschungelkämpfer, der er erstaunlicherweise damals wirklich war. Meinem Vater war nur eine einzige Karte geblieben. Er hatte sie in Panik und ohne nachzudenken an sich gerissen und selbst unter all den Tritten und Knüffen nicht mehr losgelassen. Sie war, als er auf dem Heimweg seine Faust öffnete, kaum mehr als ein angstfeuchter Knödel. Ausein- 19 andergefaltet zeigte sich aber, daß er die Herz-Königin hatte retten können. Er hielt das für ein gutes Zeichen, denn bis zu diesem, seinem achten Lebensjahr war mein Vater Optimist. Als sie nach Hause kamen, war nichts wie sonst. Schon im Stiegenhaus begegnete ihnen die glutäugige Tante Gustl, ein seltener Gast. Grußlos rauschte sie auf einer Parfum-wolke dem Haustor entgegen, doch warf sie ihnen von dort noch einen letzten Blick zu, der fast menschlich war. In der Küche saß die Mutter und sah aus, als wäre sie endgültig eingefroren. Sie schaute die beiden eine Weile an, dann erst begann sie mechanisch zu schimpfen. Irgendwie hat ihr dabei aber die Kraft gefehlt, es war, als schimpfe sie aus Pflichtbewußtsein, um eine Tradition aufrechtzuerhalten, die es seit einer halben Stunde nicht mehr gab. Sogar an diesem Tag hat sie geschimpft, sagte man in meiner Familie später so anerkennend wie ein wenig schaudernd, grinste dann und nickte dazu. Auch mein Großvater war zu Hause, er lief nervös auf und ab, sein plötzlich überflüssig gewordenes Auftragsbuch, mit dem er bis vor wenigen Tagen von Kaffeehaus zu Kaffeehaus, von Greißler zu Greißler, von Wirtshaus zu Wirtshaus gegangen war, um die Nachbestellungen an Wein und Spirituosen aufzunehmen, gedankenlos und nur noch aus Gewohnheit unter dem Arm. Äußerlich war er wie immer, gepflegt, feucht gekämmt, in einem frisch gebügelten Maßhemd mit Monogramm, immer ein bißchen ein Stutzer, ein Lebemann. Doch seine nervöse Unruhe übertraf das übliche Maß bei weitem. Von diesem Tag an hat mein Onkel, der bisher davon nichts wissen wollte, ganz von selbst die Verantwortung für meinen kleinen Vater übernommen. Er zog ihm die kaputten Schuhe aus, wusch ihm die Knie und legte ihn schlafen. 20 Am übernächsten Tag schon mußte der Umzug sein, man ließ ihnen nicht viel Zeit. Herr Hermann, ein Mann, der mit Frau und Sohn im Erdgeschoß wohnte, hatte es ihnen höflich und korrekt mitgeteilt. Herr Hermann war früher Fußballspieler gewesen. Mein Großvater, einer der glühendsten Fußballanhänger, die es je gegeben hat, hatte viele seiner Spiele gesehen. Josef Hermann, den man »Pepi« rief, hatte noch im »Wunderteam« gespielt, zwar nur als Verteidiger, aber immerhin. In den Sportzeitungen, die mein Großvater im Kaffeehaus süchtig konsumierte, standen damals Sätze wie: »Nun hat man Pepi Hermann immer als nützlich, als brav, als ehrlich, als fair bezeichnet, aber er hat gerade im Sonntagsspiel wieder gezeigt, daß er einer der stärksten Taktiker ist, über die wir überhaupt verfügen.« Es waren jedoch weniger diese Sätze als Pepi Hermanns mauergleiche Unüberwindlichkeit im eigenen Strafraum, die ihn in den Kenneraugen meines Großvaters zu einem mittelgroßen Fußballgott machte. Nach dem Ende seiner Laufbahn lebte Herr Hermann zurückgezogen. Anders als mein Großvater, der jedes Wochenende mit der Straßenbahn auf die Hohe Warte zum Match fuhr, ging er nur noch ganz selten, bei besonderen Anlässen, ins Stadion, meistens, wenn ihn die Funktionäre des »First Vienna Footballclub« liebedienerisch auf die Ehrentribüne einluden. Wahrscheinlich mußte Herr Hermann aufs Geld schauen. Herrn Hermanns Frau war kränklich, sein Sohn zum Fußball untalentiert. »Ob der auch schon spielt«, hatte er indigniert im Stiegenhaus meinem Großvater auf dessen Frage geantwortet, »und wie der spielt! - Nur wissen Sie was: Der spielt Geige!« Dieser Hermann-Pepi, wie er im Wiener Jargon verkehrt herum genannt wurde, hatte die Nachricht gebracht, und er brachte sie am selben Tag auch Herrn Eisenstein, der ein paar Häuser weiter in einem Souterrain das Ledergeschäft betrieb. Herr Eisenstein war, jedenfalls in den Augen meines achtjährigen zi Vaters, sehr alt, aber sehr lustig. Nicht nur, daß man bei ihm als letztem immer noch Geld ausborgen konnte, wenn es zu Hause ausgegangen und jede andere Quelle versiegt war - Herr Eisenstein war seit langem ein ebenso beflügelter wie aussichtsloser Verehrer meiner schönen kühlen Großmutter. Es wird behauptet, daß er der einzige war, der sie manchmal zum Lachen bringen konnte. Nein, was mein Vater dem Herrn Eisenstein niemals vergessen hat, war, daß er ihm einmal, zumindest theoretisch, anhand von ein paar Lederflicken demonstrierte, wie ein Fußball genäht wird. Die Welt war mit einem Schlag zu einem Abenteuer geworden, zu einem Glücksspiel, das er noch nicht kannte. Versonnen saß mein Vater hoch oben auf dem Wagen, der Möbel und ein paar Kisten durch die Stadt zog, weit weg von den Beserlparks am Gürtel hin in eine Gegend, wo es wunderbare große Wiesen gab, in den krummen Gassen aber nach Kohl und Moder roch. Schon hatte er den Gesichtsausdruck des unsportlichen Hermann-Buben vergessen, wie der mit seinem Geigenkasten plötzlich in der Wohnung stand, verlegen und doch auch mit einem kleinen, stechenden Selbstbewußtsein, das an diesem Tag zum ersten Mal zu bemerken war. Und bald würde er auch die paar düsteren Monate mit seiner Großmutter in der Wohnung beim Augarten vergessen, den beengten Raum, das Gejammere der alten Frau, die erst kürzlich verwitwet war - »immerhin, für den Großvater noch ein Glück«, kommentierte man in meiner Familie später immer -, er vergaß den unangenehmen Geruch, der aus ihren vielen schwarzen Röcken stieg, und das Gelächter, das sich ihm aufdrängte, wenn er daran dachte, daß sie, so dick, schwarz und asthmatisch, die fünf Stöcke nicht mehr hinunter- und hinaufsteigen und daher die Wohnung kaum mehr verlassen konnte. Er durfte noch ab und zu in den Augarten, scharf bewacht von seinem Bruder. Bald wurde es dazu zu kalt. Er vergaß das Geflüster der Eltern am Abend, die nicht mehr ins Kaffeehaus gingen, und die tränenreichen Besuche seiner großen Schwester Katzi, die ihm seit jeher weniger als Schwester, sondern als bildschöne, ferne und zärtliche Göttin erschienen war. Nur daß sein Bruder, mein Onkel, ihn immer zu Katzis dickem Verlobten hingestoßen hatte, damit er ihn um Taschengeld für sie beide anbettelte, das vergaß er nie. Doch das meiste vergaß er für viele Jahrzehnte, manches auch für immer, denn mein Vater pflegte die weniger geglückten Dinge im Leben blitzschnell zu vergessen, oder er machte daraus einen geistreichen Witz. Am Tag vor der Reise ließ meine Großmutter ihre beiden Söhne im Atelier »Purr & Kubla« fotografieren. Sie war so kühl und kerzengerade wie immer. Die Kinder trugen Anzüge und perfekt gebundene Kinderkrawatten, auf die Hemden hatte ihnen mein Großvater heimlich ihr Monogramm sticken lassen, eine Eigenmächtigkeit und völlig unnötige Ausgabe, die meine Großmutter mit den üblichen Vorwürfen geahndet hatte. Die abstehenden Ohren meines Vaters waren leider durch nichts zu kaschieren, mein Onkel, dessen Ohren ordentlich anlagen, wie meine Großmutter mit Genugtuung bemerkte, sah kaum älter aus, dabei war er schon fünfzehn. Der Fotograf behandelte meine Großmutter ausgesucht. Wegen ihrer klaren, korrekten, dialektfreien Sprache hielt man sie für eine Deutsche, das würde noch oft so sein, zur Zeit war es von Vorteil. Nur deshalb hatte sie überhaupt einen Termin bekommen, und weil die Frau Direktor Königsberger Stammkundin war, sonst wäre das, so kurz vor Weihnachten, wohl kaum möglich gewesen. Sie zeigte keine große Dankbarkeit. »Purr & Kubla« war ein bekanntes Atelier, sie fertigten schöne starre Bilder an. Also muß es an der Eile und dem eingeschobenen Termin gelegen haben, vielleicht war der Meister auch wegen des majestätischen Anblicks meiner Großmutter oder wegen der bewegten Zeiten nicht ganz 23 da an hieß es, er habe das Buch im Internierungslager einem literatursüchtigen Kommunisten aus dem Ruhrgebiet geborgt, und da war es dann wohl verlorengegangen. In meiner Familie war es ihm zur Strafe daraufhin eine Zeitlang »ursus« (wie der Königsbee gesagt hätte), »der Kommunist aus dem Ruhrgebiet ist schuld« auszurufen, wenn etwas verlorengegangen war. Nur daß dieser Kommunist aus dem Ruhrgebiet auch am Verlust Katzis schuld gewesen sei, hat natürlich keiner je gesagt. Zwar gibt man in meiner Familie im Zweifelsfall der Pointe immer den Vorzug vor der Geschmackssicherheit, doch so weit ist keiner je gegangen. Was Katzi betrifft, hat man sich Kommentare immer versagt. Vielleicht war das die größte Ehre, die ihr erwiesen werden konnte: daß über sie keine Anekdoten kursierten. Denn die schöne Katzi mit dem goldenen Haar erreichte zwar plangemäß den Zug nach Liverpool, Katzi bestieg auch die »S.S. Penelope«, auf die sie sich so gefreut hatte, Katzi sah sogar den milchigen Streifen am Horizont, wo das Meer und der Himmel sich küssen, aber trotzdem ist die Geschichte für Katzi schon bald darauf nicht gut ausgegangen. 76 Schwarzblende Mehr als sein halbes Leben lang war mein Großvater Spieler, ein leidenschaftlicher, hemmungsloser, von jedem Risiko magisch angezogener Spieler. Auf sein ganzes Leben umgelegt ist das eigentlich ein fairer Schnitt, diese etwas längere erste Hälfte. Vielleicht hätte er ja, vor die Wahl gestellt, lieber in der zweiten Lebenshälfte Spieler sein wollen, aber er konnte es sich nicht aussuchen. Mein Großvater spielte Karten und um Geld, aber vor allem spielte er mit Gelegenheiten, mit Kunden, mit Geschäftsabschlüssen, Lieferterminen und Provisionen, mit Frauen, mit Anspielungen und mit Träumen. Daß man beim Spielen nicht immer gewinnen kann, war ihm ganz klar. Gerade deshalb liebte er es, wie jeder richtige Spieler. Er liebte den bittersüßen Wechsel von Verlieren und Gewinnen. Und es gab für ihn nichts Schöneres, als mit hohem Einsatz bei hohem Risiko auf der Kippe zu stehen, den Abgrund schon auf sich zurasen zu sehen und dann doch noch himmelhoch zu triumphieren. Dabei war er kein »Verrückter«, wie mein übervorsichtiger Vater alle unvernünftigen Menschen nannte, die immer mehr riskierten, als überhaupt zu gewinnen war. In Summe gesehen, versuchte mein Großvater, Risiko, Verlust und Gewinn in ein Verhältnis zu bringen, das letzterem einen knappen Vorsprung ließ. Aber es gab eben solche und solche Spiele. Es gab welche, da machte das Ri- 77 siko an sich gar nicht genug Spaß, als daß er es wirklich herausfordern wollte. Nach diesem Prinzip funktionierten seine Affären. Eine Frau ist eine Frau, mag er im Grunde immer gedacht haben, obwohl er, der große Charmeur, es gewiß nie so rüde formuliert hätte, nicht einmal, wenn er betrunken war. Aber es gab auch die anderen Spiele. So gelang es ihm etwa mühelos, die Anzahlungen, die am Ende einer Woche seine Brieftasche füllten, vorübergehend für eigenes Vermögen zu halten, dieses in ein Provinzkasino zu tragen oder in ein schummriges Hinterzimmer auf der Praterstraße, wo ein Wochenbrutto für eine durchzechte und durchpokerte Nacht, einen teuren Rosenstrauß für ein schönes Mädel und manchmal einen sentimentalen kleinen Ring am nächsten Morgen gerade reichte. Das eigentliche Spiel begann erst danach: mit dem erregenden Gefühl des bevorstehenden wirtschaftlichen und sozialen Genickbruchs. Mit der hektischen Schaffung kreativer Strategien, um den Genickbruch dann doch knapp zu vermeiden. Mit dem blumigen Beschwatzen mißtrauischer Lieferanten, mit dem wahnwitzigen Aufreißen ganz neuer Märkte für seine Weine und Spirituosen, was immer nur dann gelang, wenn ihm das Wasser bis zur Unterlippe stand. Man hätte meinen können, daß mein Großvater ein kleiner Betrüger war. Aber einem »kleinen Betrüger« haftet so etwas Trauriges, Erfolgloses und Verzweifeltes, gar etwas Unbelehrbares und Dummes an, wie dem Nandl Königsberger und seinen Scheckbetrügereien. Nein, mein Großvater war kein kleiner Betrüger, er war ein eleganter, erfolgreicher, sich selbst ständig steigernder Jongleur, ein Geschäftsmann, wie man ihn heute ersehnt, einer, der den Cashflow immer mutig in Schwung hielt. Er sah blendend aus, trug Maßhemden mit Monogramm und einen feucht gezogenen Scheitel. Er duftete nach dem Eau de Lavende, das ein sehr altes Wiener Geschäft damals noch selbst herstellte. Und er betrog ja nicht wirklich, er spielte. Seine sehr speziellen Unternehmungen gingen meistens gut aus, obwohl einem bei der Höhe der ausstehenden Beträge, bei den Schulden, die er hier neu machte, um ein paar Gläubiger dort endlich zu befriedigen, gar bei den Bestechungssummen, die er benötigte, um sich gerichtliche Auseinandersetzungen vom Hals zu halten, schon schwindlig hätte werden können. Meinem Großvater wurde nie schwindlig. Es war seine feste Überzeugung, daß das Wichtigste am Spielen eiserne Nerven seien. Eiserne Nerven aber behielt nur, wer nicht unablässig an die drohende Gefahr dachte. Sich von der Gefahr kitzeln lassen, das schon. Aber sich von ihr lähmen lassen? Verboten! Auf diese Weise wurde mein Großvater zum Gedankenakrobaten, ohne zu bemerken, wie sehr ihm diese Technik in Fleisch und Blut überging. Gewisse, wie Felsstürze über ihm hängende Gefahren konnte er so rückstandslos überblenden, daß ihm, so behauptete er es jedenfalls in seinen jungen Jahren, all seine Geisteskräfte für den Teil des Spiels zur Verfügung standen, den er beeinflussen konnte. »Zuerst die Einsätze, dann das Spiel«, hat er in diesen jungen Jahren, die allein meine Großmutter wissentlich miterlebt hat, wohl gern gesagt, »nicht beides vermischen!« Später, in seiner zweiten Lebenshälfte sagte er das nie mehr, aber später hielt er sich ja von Risiken fern. Seine seltsame Gabe hatte wirklich Ähnlichkeit mit dem, was man gemeinhin unter Akrobatik versteht. Ein Luftnummernkünstler im Zirkus, der seine zauberhafte Partnerin gerade in die Weiten des Zelts gewirbelt hat, darf sich nicht mit der Furcht vor ihrem tödlichen Aufprall aufhalten. Konzentriert nutzt er die Zeit, die ihm bis zu ihrem sicheren Herabstürzen verbleibt, um sich selbst in die richtige, die perfekte Position zu schwingen. Dann fängt er sie, alles jubelt, und meines Großvaters Theorie hätte sich wieder bestätigt. Gelegentlich stürzte dem Luftnummernkünstler ebenso wie meinem Großvater trotzdem etwas durch die 79 Finger in den Sand. Doch war darauf zu achten, daß das nur bei der Probe, mit den Seilen und den Sicherungen geschah und nicht bei der glanzvollen Aufführung, wenn es wirklich um alles ging. Mein Großvater verheimlichte die Trainingsstürze, so gut er konnte. »Die Geschäfte gehen nicht«, pflegte er nur zu jammern, wenn er von seinen ausgedehnten Reisen zurückkam und weder für die Miete noch für den Lebensunterhalt seiner fünfköpfigen Familie irgendeinen nennenswerten Betrag vorweisen konnte. Meine Großmutter nahm diese Tatsache mit eisiger Miene zur Kenntnis - wegen dieser Dinge hätte sie niemals getobt, sie tobte nur aus viel unwesentlicheren Gründen - und schickte meinen Onkel zum Greißler. Es gibt wenig Peinlichkeiten, die mein Onkel nicht schon im zartesten Alter durchlitten hat, vielleicht war er deshalb später so unnahbar. Als Kind hat er noch manchmal protestiert und geweint, geschimpft und sich geweigert, wenn er wieder zum Greißler oder zum Bäcker geschickt wurde. Doch lernte er bald, daß es keinen Sinn hatte. Ein- oder zweimal, mein Großvater war gerade wieder auf Reisen, hatte meine Großmutter vermeintlich nachgegeben und den kleinen Onkel nicht einfach grob bei der Tür hinausgeschoben. Dann saßen sie später alle am Tisch, leere Teller vor sich, mein winziger Vater brüllte irgendwo, meine Großmutter starrte an die Wand und klapperte mit dem Besteck, Katzi biß sich sorgfältig die Nagelhäutchen ab, Finger um Finger, und dann war mein Onkel eben doch gegangen. Wenn er wußte, daß nirgends mehr etwas zu holen war, ging er zum Herrn Eisenstein. Diese Selbstdiszi-plinierungsmaßnahme in früher Jugend prägte sein Leben. Denn natürlich wäre mein Onkel am liebsten jedes Mal zum Herrn Eisenstein gegangen, der mit seinem butterweichen Herz und seinem Faible für meine Großmutter immer ein bißchen etwas übrig hatte, was er ihm so nebensäch- lich wie möglich zusteckte. Aber mein Onkel hat schon als Bub gelernt, vor der Zukunft auf der Hut zu sein. Einmal Eisenstein, dreimal Eisenstein, fünfmal Eisenstein - irgendwann würde sogar Eisensteins Geduld erschöpft sein. Und das wäre die Katastrophe. Also ging er lieber dreimal zum unfreundlichen Greißler, der die Sozialisten haßte, zweimal zum unfreundlichen Bäcker, der die Juden haßte, immer abwechselnd; dazwischen eingeschoben, in höchster Not, einmal zum Herrn Eisenstein. Nie ging er mehr zur Tante Gustl - das hatte er ein einziges Mal versucht, aber über das, was er dort erlebte, hat er sich zeitlebens in Schweigen gehüllt. Auf diese Weise jedenfalls konnte es sich gerade so ausgehen: Dann kam vielleicht bald der Vater heim, mit einem neuen Mantel und den Taschen voller Geld, schenkte der Bäckerin eine rote Nelke, zahlte dem Greißler nicht nur die Schulden, sondern auch gleich einen »Vorschuß« für das nächste Monat, so etwas kam ja auch vor. Mein Onkel freute sich nie. Einmal bekam er vom Vater eine neue dunkelgrüne Füllfeder, ein andermal erfuhr er, daß die ganze Familie im Sommer für viele Wochen nach Bad Vöslau auf Sommerfrische fahren würde, der Vater hatte ein teures Apartment gemietet, gleich neben dem Schwimm-, Heil- und Thermalbad. Doch mein Onkel freute sich nie. Er wußte, es würde nicht dabei bleiben. »Ich hab g'wußt, die Sache hat an Haken« - das wurde später seine Lieblingswendung. Er war ein Pessimist, der sich nur dann bitterlich freuen konnte, wenn er mit seinen Unglücksprognosen wieder einmal Recht behalten hatte. Die wirtschaftlichen Verhältnisse seiner Eltern waren nicht immer so schlecht gewesen. Eigentlich waren sie lange sehr gut. Auf meinen Onkel gab in seiner Kleinkindzeit noch ein kräftiges mährisches Kindermädchen acht, Katzi trug Seidenmaschen und plissierte Röckchen, mein Großvater sühnte seine Seitensprünge mit Pelzen und Schmuck, meine Großmutter rettete sich Tag für Tag ins Kaffeehaus 8 t zu einer Bridgepartie, wenn sie fühlte, daß es ihr ganz allgemein zuviel wurde. Und viel später, in der kurzen Zeit vor der Abreise, wurde auch alles wieder leichter, sobald nämlich Katzi begann, mit dem dicken Herbert auszugehen, dessen Eltern reich waren und der den beiden kleinen Brüdern sogar augenzwinkernd »Taschengeld« spendierte, bei jedem Besuch. Aber dazwischen, ein paar Jahre lang, scheint mein Großvater irgendwie die Kontrolle verloren zu haben, was vor allem mein Onkel büßte, im Alter zwischen acht und dreizehn. Man könnte sich fragen, ob mein Großvater deshalb je ein schlechtes Gewissen gehabt hat, zum Beispiel damals, im Spätherbst 1941, als er bei feuchtkaltem Nieselwetter im Cafe Johann Strauß saß und Bridge spielte. Damals dachte er nämlich oft und liebevoll an seine nun schon länger zurückliegenden, hochriskanten Geschäfte (mein Großvater sagte gelegentlich »machloikes«), er dachte also an seine früheren genialischen machloikes zurück, während er darauf wartete, daß seine Partnerin endlich ausspielte. Seine Partnerin, eine freundliche, aber unansehnliche Frau, war himmelschreiend unbegabt. Man konnte es sich nicht aussuchen. Es gab ja inzwischen nicht mehr viele Bridgepartien, und überhaupt war er nur eingesprungen. Meine Großmutter hatte ihn erst als »völlig meschugge« beschimpft, solange sie für einen Scherz hielt, daß er vorhatte, ins Johann Strauß< zum Bridge zu gehen, am Ende aber hatte sie ihn mit Tränen in den Augen geradezu angefleht, zu Hause zu bleiben. »Das Johann Strauß< geht immer noch«, hatte mein Großvater ungeduldig abgewinkt und sich zur Tür gewandt. »Dann bring dich doch gleich um, es ist eh schon alles egal«, hatte ihm meine Großmutter mit halberstickter Stimme nachgezischt, war voll bekleidet ins Bett geflüchtet und hatte sich dort wimmernd vergraben, um das Zufallen der Tür nicht mehr hören zu müssen. Mein Großvater wartete auf seine Bridgepartnerin, hoffte ganz nebenbei, daß sie Pik ausspielen würde (sie mußte noch Pik haben, aber sie verstand leider wirklich nichts von dem Spiel), und addierte im Kopf Liefermengen und Provisionen, verglich Zeitpunkte, Wahrscheinlichkeiten, Lieferantengeduld und seine eigenen Sternstunden und kam schließlich auf einen einzigen Termin: Frühsommer 1935. Im Frühsommer 1935 hätte er es schaffen können. Damals betreute er vertretungsweise das einträgliche Schnapssortiment von Kratky, außerdem war der burgenländische Rotweinjahrgang günstig und gut und wurde deshalb gern bestellt, und darüber hinaus hatte er von seinem galizischen Vetter ein paar Pelze in Kommission genommen, die sich, wie sich zeigte, gewinnbringend an die aufgeschwemmten Fabrikantengattinnen und Hofratswitwen verkaufen ließen, mit denen seine Schwester Gustl verkehrte. Auch wenn später in meiner Familie anderes behauptet wurde, hat mein Großvater vor dem Krieg zu seiner Schwester durchaus Kontakt gehabt, vor allem natürlich geschäftlicher Natur, denn die Gustl hatte ja immer ihren Vorteil im Auge. Frühsommer 1935 also. Damals hätte er, wenn ihm klar gewesen wäre, was käme, in kurzer Zeit und mit einigem Jongleursgeschick so viel ausborgen, vorabkassieren und hinterziehen können, daß er über Nacht hätte abreisen können, mit der ganzen Familie, alles zurücklassen und abreisen irgendwohin, wo dann auch noch genug Zeit und Geld für einen Neuanfang gewesen wäre. Statt dessen hatten sie in Bad Vöslau ein Apartment gemietet, sechs endlose Wochen lang, und sich erholt, anstatt zu flüchten. Weil er eben nicht geahnt hatte, was dann, Jahre später erst, gekommen war, und weil seine Finanztransaktionen nie auf echten Betrug ausgerichtet gewesen waren. Vielleicht hätten sie ja gar nicht geklappt als echte, vorsätzliche Betrügereien. Spielgeld: Das war es, was er gebraucht hatte wie eine Dro- 83 ge, ab und zu das erhebende Gefühl, ein reicher Mann mit tausenden Möglichkeiten, hunderten Geschäften und einer Handvoll Freundinnen zu sein. Deshalb hat er in Summe ja immer alles zurückgezahlt. Fast alles hat er zurückgezahlt. Manchmal hat man mich ja nicht lassen, dachte er und schüttelte den Kopf. Da spielte, wie auf Kommando, seine Partnerin endlich aus: Karo. Ihr war wirklich nicht zu helfen. Aber inzwischen war sowieso alles egal. Nur ein kleines Spielchen hier, ohne irgendwelche Bedeutung. Draußen, vor der großen Glasfront des Cafes Johann Strauß, durch die man bei weniger Nebel den Donaukanal sehen hätte können, hielt ein Pritschen wagen. Ein paar Uniformierte sprangen ab. Mein Großvater erinnerte sich voller Unbehagen an die zwei-, dreimal, wo er sich geschäftlich verkalkuliert, wo er die Langmut seiner Gläubiger und die eigene Fähigkeit, in Notlagen doppelt soviel Provisionen wie üblich zu erwirtschaften, in ein derartig falsches Verhältnis gesetzt hatte, daß sich die Situation beim besten Willen nicht mehr retten ließ. Das erste Mal ging es zum Glück kurz und schmerzlos, in dem Sinne nämlich, daß mein Großvater die Peinlichkeit des Prozesses am meisten gefürchtet hatte. Das erste Mal war er, auch dank eines milden jüdischen Richters, mit Bewährung davongekommen. Im >Johann Strauß< wurden jetzt Tische umgetreten, Geschirr zersprang am Boden, der Besitzer kam aus der Küche und ballte stumm die Fäuste in den Hosentaschen, die Gäste saßen versteinert und blickten zu Boden, nur die häßliche Bridgepartnerin starrte meinen Großvater an, als wäre er ein Gespenst. Er lächelte ihr beruhigend zu. Er versuchte, mit den Lippen unauffällig das Wort »Pik« zu formen. Sie rollte verzweifelt die Augen und schien nicht zu verstehen. Das zweite Mal, konzentrierte sich mein Großvater, war es insofern unglücklich gelaufen, als seine so präzisen wie fragilen Kalkulationen, die überaus wenig Spielraum ließen (darin lag gerade der Reiz), durch unvorhersehbare äußere Umstände über den Haufen geworfen wurden. Eine Weinlieferung aus Ungarn war im Zoll hängengeblieben, aber diese nachprüfbare Verzögerung war genau der Tropfen zuviel: Der wartende Kunde, bei dem er gleichzeitig Schulden hatte, verlor die Nerven und zeigte ihn an. Künstlerpech, dachte mein Großvater und verfluchte im stillen noch einmal den Zoll. Bis dahin hatte es mit dem Zoll keinerlei Schwierigkeiten gegeben. Trotzdem war es natürlich unverzeihlich, daß er diese Möglichkeit nie zumindest in Betracht gezogen hatte. Für dieses zweite Mal setzte es drei Wochen. Das ging gerade noch. Drei Wochen, das war wie eine Reise in die Provinz, die Kinder hatten gar nichts gemerkt, auch Katzi nicht, sein schönes, kluges, manchmal schon recht besorgtes Töchterl Katzi hatte nichts gemerkt. Ein Absatz knirschte auf einer Brille. Ein Kerl in Zivil ging gutgelaunt von Kleiderständer zu Kleiderständer und untersuchte sorgfältig Mäntel. »Wem gehört der hier?« rief er plötzlich und hielt einen gewöhnlichen mausgrauen Herrenmantel hoch, »bitte vortreten, bitte einsteigen, Ihre Reisegruppe wartet schon.« Der Kerl hatte wirklich Humor. Leider erinnerte er meinen Großvater an irgend etwas im Zusammenhang mit Nandl. Einer seiner feinen Freunde? Beim dritten Mal, dachte mein Großvater angestrengt und griff ganz automatisch nach seinem Achterl Rot, waren dann die beiden Vorstrafen bereits unangenehm ins Gewicht gefallen: Er bekam drei Monate, davon einmal monatlich einen Tag verschärfter Kerker. Meine Großmutter und er hatten sich auf eine ausgedehnte Akquisitionsreise durch mehrere Länder plus anschließender Kur auf dem Semmering geeinigt. »Der Vater braucht auch einmal Erholung«, hatte seine Frau den Kindern gesagt, ohne eine Miene zu verziehen. 84 85 Wie will einer beurteilen, ob eine Ehe gut oder schlecht ist? In den entscheidenden Punkten haben meine Großeltern immer übereingestimmt, ohne Wenn und Aber. Einer der entscheidenden Punkte hieß: Der Schein wird gewahrt und der Mund gehalten. Auch deshalb darbten sie, wenn sie gerade darbten, auf hohem Niveau. Nie wäre es meiner Großmutter eingefallen, das Herend-Geschirr oder den Schmuck zu versetzen. Sie schränkten sich ein, schickten das Kind zum Greißler, ließen dort anschreiben und warteten auf bessere Zeiten. Und das ging sich am Ende immer irgendwie aus. Wer wagt, gewinnt, dachte mein Großvater erleichtert. Alles andere ist doch in Zeiten wie diesen selbstmörderischer Wahnsinn. Beim Hinausgehen streifte der lustige Mantelexperte seinen Arm, so daß mein Großvater ein paar Tropfen verschüttete, und sagte anzüglich: »Zum Wohl! Und verzeihen Sie die Störung.« Aus den Augenwinkeln sah mein Großvater, wie der Jacoby-Adi nach draußen begleitet wurde und den Pritschenwagen erklomm. Hatte der Jacoby-Adi das, was mein Großvater die »reichsdeutsche Hundemarke« zu nennen beliebte, in der Manteltasche gehabt? Er hätte ihn für klüger gehalten. Regel Nummer eins: Die reichsdeutsche Hundemarke bei den Gelegenheiten, wo man Grund hat, sie nicht zu tragen, auch nicht mitführen, natürlich nicht. Regel Nummer zwei: Auch keinen Ausweis mithaben. Das war zwar verboten, aber im Kaffeehaus sitzen und Bridge spielen war noch viel verbotener. Ein »vergessener Ausweis« verzögerte die Angelegenheit in jedem Fall, und mit ein bißchen Frechheit und Glück hatte man noch Chancen. Aber die Hundemarke oder der Ausweis in der Tasche klärten alle Fragen schlagartig, und das Spiel war aus. Daß die Leute das nicht begriffen! Mein Großvater schüttelte den Kopf. Der Pritschenwagen fuhr ab. Vor dem Johann Strauß< floß der Novembernebel wieder zusammen. »Wer spielt aus?« fragte mein Großvater. Das Spielerische und das Kaltblütige sind später vergessen worden, weil er sich so sehr veränderte, daß niemand mehr von diesen Eigenschaften wußte. Doch was von meinem Großvater weit über seinen Tod hinaus blieb, war seine Ungeduld. Seine Ungeduld war sprichwörtlich. Wenn etwa mein Vater ein ums andere Mal die Geschichte ihrer letzten gemeinsamen Fußballplatzbesuche zum besten gab, paarte sich auf das schönste meines Vaters angeborene Übertreibungslust mit der im Alter tatsächlich alle Grenzen sprengenden Ungeduld meines Großvaters. So früh habe er den Vater abholen müssen, behauptete mein Vater, daß sie noch mitten im Spiel der Unter-21 ihre Sitzplätze erreichten. »Auch nicht mehr das, was es einmal war«, murrte mein Großvater, dessen Sehkraft schon zu wünschen übrigließ, »das sind erst die Jungen«, erklärte ihm mein Vater. »Das seh ich doch, bin ich blind?« keppelte daraufhin mein Großvater, denn in seiner Eigenschaft als Fußballexperte hat er sich Belehrungen natürlich verbeten, sogar von seinem Sohn, dem ehemaligen Fußballstar. Das Sitzen im zugigen Stadion behagte meinem Großvater inzwischen auch nicht mehr, Fußballbegeisterung hin oder her, »ich bin old, tired and miserable«, murrte er, das waren die einzigen drei Worte, die er auf Englisch beherrschte. Kurz nach Beginn der zweiten Halbzeit des eigentlichen Spiels, behauptete mein Vater, habe sein alter Vater zum Aufbruch gedrängt. »Kein Stau, und zu Hause Parkplätze« sei sein immergleicher Schlachtruf gewesen, wenn er, den Gehstock wie eine Waffe nach vorn gerichtet, sich plötzlich den Weg zum Mittelgang zu bahnen begann. Und wie oft, klagte mein Vater mit dem Schmelz des geübten Geschichtenerzählers, hätten die beiden dann in den Betonstiegenhäusern des Stadions oder auf den grauslichen Toiletten, auf dem Parkplatz oder schon im Auto den zigtausendstimmigen Aufschrei und anschließend den frenetischen Jubel gehört, die ein weiteres Tor verkündeten. »Eine Halbzeit Unter-21, eine Halbzeit 86 87 eigentliches Spiel, so war das am Schluß mit ihm«, resümierte seufzend mein Vater, und meine Familie lachte dazu und war dann auch ein bißchen traurig. Ob er schon so ungeduldig war, als er auf dem zugigen Gang der Opferfürsorgestelle einen ganzen Vormittag lang wartete? Zum Glück war er früh genug gekommen, um noch einen Sessel zu ergattern, denn seit dem Krieg hatte er ein kaputtes Knie. Und wenn es nur das Knie gewesen wäre: Eine Gallenoperation, eine gebrochene Hüfte, beides mitten im Krieg, davon erholte man sich nie. Die Schlange vor ihm wurde nur sehr langsam kürzer. Es dauerte lange, herauszufinden, wer warum ein Opfer war und wieviel er dafür bekommen sollte. Dafür hatte mein Großvater Verständnis. Er war nicht mißtrauisch. Er verschwendete keine Sekunde daran, ob hier in betrügerischer Absicht auch ehemalige Mitläufer säßen, die sich jetzt als arme Verfolgte ausgaben, denn er hätte gar nicht für möglich gehalten, daß irgendein Mensch auf der Welt sich noch einmal freiwillig als Jude deklarieren würde - es sei denn, wie in seinem Fall, die eigene Frau zwänge ihn dazu. Zwei alte Schachteln, die mitten in der Nacht aufgestanden sein mußten, weil sie so weit vorne in der Schlange waren, spekulierten jedoch halblaut genau darüber, während sie alle anderen Wartenden vorwurfsvoll musterten. Einer wurde dann böse, ein alter Genosse, den mein Großvater vom Sehen kannte. Der ballte die Faust und rollte seinen Hemdsärmel auf. Da verstummten die beiden eine Weile. In der folgenden peinlichen Stille erschienen vor meinem Großvater wieder die Pritschenwagen, wie sie gefahren waren, Tag für Tag, schwarz vor Menschen, die vom Aspangbahnhof und vom Westbahnhof abreisen sollten. Diese Erinnerung konnte mein Großvater, in seiner ihm zutiefst widerwärtigen Lage eines Bittstellers, nun gar nicht gebrauchen. Er konzentrierte sich. Es surrte in seinem Kopf. Er überblendete. Eine Glanzleistung, wie 88 ich den Lastwagen organisiert hab, dachte er plötzlich und entspannte sich. Er war nie besonders praktisch veranlagt gewesen, aber wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war er gut im Organisieren. Vor allem: Er kannte zu allen Zeiten Leute. Zwei Jahre nach dem Krieg einen Lastwagen, wer sonst hätte das geschafft, dachte mein Großvater zufrieden. Mein Großvater hatte den Lastwagen in Naturalien bezahlt, Kartoffeln, Zwiebeln, Marmelade, sogar ein bißchen Schmalz, was er eben bekommen konnte von seinen vielfältigen Verbindungen in Kagran, die das einzig Gute waren, was ihm die »Überschwangsarbeit«, wie er sie nannte, eingebracht hatte. Die »Überschwangsarbeit«, ebenso wie die Hundemarke, wollte er so schnell wie möglich vergessen, schließlich war auch der Krieg vorbei, aus und vorbei, punktum. Aber mit einem Pritschenwagen samt Fahrer am Westbahnhof vorfahren, im Jahr 1947, um den jüngsten Sohn abzuholen, das war ihm schon etwas wert gewesen, dafür hatte er gern mit kostbaren Lebensmitteln bezahlt. Wofür das wieder gut sein sollte, hat meine Großmutter gekeppelt, »weißt du, wie lang der Bua weg war?« hat er zurückgekeppelt. »Auf den Tag genau weiß ich das«, hat meine Großmutter gezischt, »na also, was wird er haben?« hat mein Großvater rhetorisch gefragt und gleich selbst die Antwort gegeben: »Viel wird er haben.« »Das geht jetzt leider schnell«, sagte die Sachbearbeiterin, als mein Großvater, der den ganzen Vormittag auf dem zugigen Gang gewartet hatte, an der Reihe war. Mit gespielten Sorgenfalten blätterte sie in seinem Akt. Obenauf lag das längst unterschriebene Formblatt, wonach mein Großvater eidesstattlich erklärte, niemals der NSDAP oder einer ihrer Teilorganisationen angehört zu haben. Als nächstes kam die Bestätigung über das Tragen der »Hundemarke«, »vom Tage der Verlautbarung bis zum Ende des Regimes«, wie mein Großvater mit seiner fahrigen Schrift nicht ganz 89 wahrheitsgemäß zu Protokoll gegeben hatte, abgestempelt von der Israelitischen Kultusgemeinde. Darauf folgte die amtsärztliche Bescheinigung über die körperlichen Versehrungen, eine Liste der verschiedenen Stationen der Uberschwangsarbeit, die Bestätigung eines Überschwangs-Arbeitgebers, wonach mein Großvater den »kollektivvertraglichen Stundenlohn von seinerzeit RMo,75« erhalten habe, anschließend eine detaillierte Beschreibung des großen Rests, bis hin zu der Geschichte, wie er zu seiner Mutter in den Zug erst hineingekommen und dann aus ihm herausgefallen war. Für die Zuggeschichte gab es leider keine bürokratischen Beweise, mein Großvater war ja auf keiner offiziellen Transportliste erschienen, aber das war gar nicht das Problem. »Das Problem, mein Herr«, sagte die Sachbearbeiterin und sah plötzlich sehr streng drein, »das Problem ist Ihr Leumund. Die Opferverbände haben Ihre Anspruchsberechtigung abgelehnt. Haben Sie nicht gewußt, daß Vorstrafen ...« Vorstrafen. Krimineller. Kein Opfer. Opferverbände und Opferfunktionäre. Echte Opfer, falsche Opfer, Opfersimulanten. Hochgerollte Hemdsärmel. Unleugbare Opferzeichen. Er dagegen? Nur die Hundemarke getragen und ein bißchen Überschwangsarbeit. Ein Dreck, im Vergleich. Was sollen da die anderen sagen? Die Mutter? Die Mutter sagt nichts mehr. Mein Großvater glühte am ganzen Körper. Es werde von den Opferverbänden als unstatthaft angesehen, daß jemand mit einem nicht einwandfreien Leumund ... Ja, sagte er, ja, das verstehe er. Nein, er könne derzeit »keinen Nachweis einer Tilgung seiner Vorstrafen erbringen«, nein, stammelte er, nein, er glaube nicht, bestimmt nicht, es tut mir leid, entschuldigen Sie, ich wollte nicht, ich wußte nicht, ein Versehen, ein Irrtum, nur wegen meiner Frau. Mit nervenzerrüttender Langsamkeit mußte der Satz über Tilgung, Nachweis, Vorstrafen ins Protokoll aufgenommen 9° werden. Die Sachbearbeiterin war in Schreibmaschine nicht geübt. Sie machte viele Fehler, aber weil sie Fehler verabscheute, tippte sie ganz langsam. Er unterschrieb das, dann wurde der Akt geschlossen. Die Sachbearbeiterin schwelgte in dem Bewußtsein, ihre Aufgabe auch in unangenehmen Momenten unbeirrt und hochpräzis zu erfüllen. Die meisten bekamen etwas bei ihr, aber eben nicht alle. Dafür war sie da. Sonst könnte man ja gleich einen Kassenwart hierhersetzen, der allen, die kamen, etwas ausbezahlte. Aber so läuft das nicht, dachte sie zufrieden. Da könnt ja jeder kommen. Mein Großvater zog den Hut und ging, so schnell er konnte. Draußen warteten immer noch Scharen von Opfern, echte Opfer, keine gierigen Simulanten. Wie viele es doch noch gibt, immerhin, ein paar, ein Gang voll. Er schwitzte am Kragen und zog den Hut tiefer ins Gesicht. Sein Gehstock klackerte auf dem langen Gang. Es surrte in seinem Kopf. Machtvoll konzentrierte er sich auf den Triumph mit dem Lastwagen, ein paar Wochen war das erst her. Beinahe wollte es ihm nicht gelingen. Er sah zwar Lastwagen, aber nur die falschen, die mit den vielen Leuten. Von einem winkte lächelnd der Jacoby-Adi, die Hundemarke in der Hand, auf dem anderen saß die Mutter, in ihren Pelz gehüllt. Sie fror. Er konnte nichts dagegen tun. Es surrte in seinem Kopf. Er versuchte, sich seinen Sohn vorzustellen. Das würde helfen. Da überlagerten sich zwei Bilder, ein kleiner Bub mit einer warmen Zipfelmütze, dann ein großer, fremder. Dazwischen: nichts. Aber wie er geschaut hat, der Bub! Wie groß er geworden ist, fast schon ein Mann! Groß und schlaksig, wie ein schüchternes dünnes Hendl, frisch aus England. Nur einen einzigen Seesack aus Jute hat er gehabt, denn mehr hat er nicht mitnehmen dürfen, doch sie hat ganz vergessen, mich rechthaberisch anzukeppeln, bestimmt zum ersten Mal in ihrem Leben hat 9i sie das vergessen, dachte mein Großvater und entspannte sich. Er selbst, als er den kleinen Seesack sah, hat den ursprünglich praktischen Zweck des Pritschenwagens innerlich sofort zu einem zeremoniellen umformuliert, wie einen König haben wir ihn abgeholt, meinen jüngsten Sohn, »nur wir und die Militärjeeps auf der Straßen, weißt noch«, murmelte mein Großvater zwei- oder dreimal in den letzten Tagen vor seinem Tod, als er vermutlich die Sternstunden des Lebens noch einmal passieren lassen wollte. Und dann sind wir alle drei hinten auf der Pritsche gesessen, dachte er, während er verschwitzt und gedemütigt aus der Opferfürsorgestelle floh, ich und der Bub und der Große, inzwischen überraschenderweise der Kleinere, in seiner schönen Uniform. Der kleinere Große übersetzte hin und her, aber viel zu sagen war da in den ersten Momenten ja nicht. Die Frau konnte man beim Fahrer unterbringen, für sie wäre das nichts gewesen auf der Pritsche hinten, sie war noch immer eine Dame. »Immer noch derselbe stinker-te alte Kobel, weißt, beim Augarten«, hat er aufmunternd zum Buben gesagt, und der hat erst schüchtern genickt, sich dann doch fragend an den Großen gewandt, der ihm das murmelnd übersetzt hat. Sonst hat der Bub nur mit riesigen Augen auf die Trümmer geschaut, links und rechts, wo früher die Mariahilferstraße war, »wird bald wieder alles in Ordnung kommen«, hat er aufmunternd zum Buben gesagt, »wirst sehen, das bauen wir alles wieder auf«. Gleich am nächsten Tag brachte er ihn zur Pediküre. Die Fußpflegerin vom Dianabad arbeitete bereits wieder, auch wenn das Bad wegen der Kriegsschäden bis auf weiteres geschlossen blieb. Mein Vater verstand zuerst nicht im geringsten, worum es überhaupt ging. Sein neuer, alter Vater, dieser fremde, ausgezehrte Mann, kicherte und freute sich und deutete immer wieder auf ihre Füße und sprach dazu, versprach, verhieß, so klang es jedenfalls. Meinem Vater war alles furchtbar unangenehm. Sein Bruder, mein Onkel, seine einzige Rettung, lebte natürlich nicht mehr bei den Eltern in der modrig riechenden Wohnung, er war ein hochdekorierter englischer Soldat und mit wichtigeren Übersetzerdiensten beschäftigt. Er half den Alliierten bei der Entnazifizierung. Außerdem hatte er schon eine Frau und einen kleinen Sohn, die Frau kaufte in Geschäften ein, die extra für die englischen Soldaten bestimmt waren. Manchmal brachte sie davon der Schwiegermutter etwas vorbei und beschriftete auch gleich jene Sachen, von denen nicht auf den ersten Blick klar war, was sich darin befand, denn mein Vater, der sich vorläufig an kein deutsches Wort erinnern konnte, war dabei keine Hilfe. , An der Frau Erna liebte mein Großvater besonders ihre Sprache. Sie kam vom Land, »sehr vom Land«, wie mein Vater später grinsend sagen würde, und bemühte sich bei jedem Wort, ihren groben Dialekt zu verbergen. Das gelang ihr so recht und schlecht. Was sie aber bis zur Perfektion erlernt hatte - und mein Großvater wollte sich den Schweiß, den sie dabei vergossen haben mußte, gar nicht vorstellen -, war das Sprechen in der dritten Person und im unpersönlichen »man«. Mein Großvater und die breit lachende Frau Erna schubsten also meinen Vater in jenem Kabinett herum, das der Fußpflegerin vorläufig als Arbeitsplatz diente. Zuerst hatten die beiden nur auf den furchterregenden Stuhl gedeutet, dann auf meines Vaters Schuhe. Schließlich beugten sich beide gleichzeitig hinunter, um ihm handgreiflich klarzumachen, daß er seine Schuhe auszuziehen habe. Sie zerrten an seinen Schuhbändern, jeder an einem Schuh. Mein Vater wankte. Endlich begriff er und nahm unter viel Gelächter der anderen Platz. Und als sich dann endlich die Frau Erna, unter den amüsiert-gerührten Blicken meines Großvaters, über meines Vaters Zehen beugte, die vom übermäßigen Fußballspielen schwer malträtiert und blau und grün getre- 92 93 ten waren, entrang sich ihr einer dieser Sätze, die meinen Großvater so sehr entzückten: »Darf man fragen, wo haben zuletzt die Fuß pflegen lassen?« Aber so sehr sie sich auch bemühte, in ihren »Fuß« schwangen noch deutlich die »Fiaß« mit. Ungepflegt zu sein, das war für meinen Großvater eine Katastrophe. Er legte auf ein gepflegtes Äußeres fast übertriebenen Wert. Wie gesagt, liebte er vor dem Krieg das Lavendelwasser und die Maßhemden mit Monogramm, auch wenn er sich beides zeitweise gar nicht leisten konnte. Er leistete es sich trotzdem und betrachtete es als gut investiertes Geld. Er wußte, der Bäcker und der Greißler hätten sich niemals so lange von seinem Sohn hinhalten lassen, wäre nicht der Vater später immer so überwältigend vornehm bei der Tür hereingekommen, hätte er nicht immer den Duft der großen Welt und des irgendwo doch vorhandenen Wohlstands in ihre kleinen Geschäfte gebracht. Von den zahlreichen Gläubigern gar nicht zu reden. Ein ordentliches Auftreten war das halbe Leben, daran glaubte mein Großvater felsenfest. Und genau hier, bei der Körperpflege beziehungsweise bei den Unaussprechlichkeiten, die nicht durchführbare Körperpflege naturgemäß mit sich bringt, begann und endete meines Großvaters Auskunftsbereitschaft, was den Krieg betraf. Um der Wahrheit die Ehre zu geben - was in meiner Familie übrigens keine ausgeprägte Tradition hat -, war der einzige, der sich ab und zu dafür interessierte, mein Bruder, als er ins Gymnasium ging. »Sag mal, Opa, wie war das eigentlich im Krieg?« versuchte er manchmal so ein Gespräch einzuleiten, doch jeder dieser Versuche wurde erbarmungslos vereitelt. »Im Krieg?«, fragte mein Großvater zurück und sah meinen Bruder abschätzig an, »im Krieg hat man müssen stinken.« Mein Großvater sagte »missen«. »Aber«, setzte mein Bruder nach, obwohl er längst wußte, daß es aussichtslos war, »die Juden haben doch ...« »Papperlapapp«, schnitt ihm mein Großvater mit einer Handbewegung die Frage ab, »alle haben missen stinken, nicht nur die Juden allein.« Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen . Die Fußpflegerin vom Dianabad ist eine wahre Künstlerin auf ihrem Gebiet, dachte mein Großvater, während er hinter meinem Onkel die Döblinger Hauptstraße entlanghastete. Drei Wochen war es erst her, da war der ältere Sohn plötzlich vor der Tür gestanden, in britischer Uniform, meine Großeltern konnten ihr Glück kaum fassen, das erste Kind gesund und zu Hause und dazu in so einer respektablen Uniform, ein Kind zumindest zurückgekehrt, vielleicht kommt ja noch eins, wir werden sehen, wir hoffen, wir versuchen alles. Doch leider, schon drei Wochen später, man hatte noch gar nicht richtig Wiedersehen gefeiert, das alles begriffen, daß man wieder eine Familie war, einen Sohn hatte, einen erwachsenen, der Englisch sprach und sogar schon verheiratet war, da wollte er unbedingt schon, da wollte dieser Sohn, der plötzlich so erwachsen und so entschlossen war, in die Döblinger Hauptstraße zurück, den Hermann-Pepi besuchen, mein Großvater wollte gar nicht genau darüber nachdenken. Deshalb dachte er an die Frau Erna, das klappte immer. Eine wahre Künstlerin, eine Fußkünstlerin, dachte er, man müßte wieder einmal Blumen bringen, dachte er, während er sich einerseits sträubte und immer langsamer wurde, andererseits den ältesten Sohn nicht verlieren, nicht allein lassen wollte, nicht schon wieder, und daher hastete er die Döblinger Hauptstraße entlang, dann blieb er wieder stehen, war das wirklich notwendig? Die Frau Erna ist zwar keine Schönheit, dachte er, ganz im Gegenteil: »Ihre Schönheit ist ihr Verderben«, murmelte er eine im >Weißkopf< gängige, für das >Weißkopf< typische, frauenverachtende Redensart. Aber sie war eine unerreichte 94 95 Meisterin der Pediküre. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, daß die Trafikantin aus ihrer Trafik gehumpelt kam und staunend meinem uniformierten Onkel nachblickte. Hat's also auch überlebt, dachte verärgert mein Großvater und wandte sich gedanklich wieder den Künsten der Frau Erna zu. Seines Erachtens hatte die Frau Erna heilende Hände. Während er meinem Onkel bereits durch das Stiegenhaus folgte - »renn halt nicht so«, keppelte er leise -, dachte er unbehaglich an die vereiterte große Zehe, die ihn gegen Kriegsende wochenlang geplagt hatte. Typisch, dachte er, die vereiterte Zehe war links, während das hinige Knie ja das rechte war, es kommt auch immer alles so, wie man's am wenigsten braucht. Mein Onkel läutete schon. Mein Großvater gab vor, im Mezzanin verschnaufen zu müssen, »i bin doch ka Dampflok«, zischte er nach oben. Es waren Schritte zu hören. In den Räumen, in denen die Frau Erna wirkte, hing gleich hinter der Tür ein Glockenspiel. Sobald man die Tür öffnete, erklangen verschiedene zarte Töne, so zart wie die Hände der Frau Erna. Nicht so eine wütende, laute Glocke wie in der Döblinger Hauptstraße, »wie wir das ausgehalten haben«, fragte sich mein Großvater verblüfft, weil es ihm zum ersten Mal auffiel. Die Frau Erna lachte immer einladend, wenn man zur Tür hereinkam. Der Hermann-Pepi wird sich sicher nicht freuen, befürchtete mein Großvater und starrte keuchend auf den uniformierten Rücken meines Onkels. »Bitte einzutreten«, rief die Frau Erna jedes Mal mit rosigem Lächeln und wies auf den Fußpflegestuhl. Als Josef »Pepi« Hermann die Tür öffnete und nach ein paar Sekunden meinen Onkel unter dem Barrett erkannte, sagte er gar nichts. Ob er erbleichte, wie sich das gehört hätte, ist nicht überliefert, »eure blühende Phantasie«, murmelte später mein Onkel auf Nachfrage, mißmutig wie immer. Mein Großvater krümmte sich hinter dem Rücken seines Sohnes zusammen und konzentrierte sich auf die Erinnerung an seine vereiterte Zehe gegen Kriegsende. In keinen Schuh war er mehr hineingekommen, die Lage entsetzlich, er mußte doch zur Überschwangsarbeit, ganz weit hinaus, bis hinter Kagran. Wenn er einmal nicht erschienen wäre, es wäre gar nicht auszudenken gewesen. Aber dann hatte zum Glück die Frau Erna ... Mein Onkel behauptete später, mit eisiger Stimme gesagt zu haben: »Regen Sie sich nicht auf, wir wollen uns nur die Wohnung anschauen.« Dann stieß er den Hermann-Pepi angeblich mit einer Gebärde zur Seite, die er später noch oft vorgeführt hat (sie glich der Bewegung, mit der man eine Schwingtür öffnet), mein Großvater verzog schmerzlich das Gesicht (gerade zog in seiner Erinnerung die Frau Erna schwungvoll den Nagel) und beeilte sich, hinter meinem Onkel herzutrippeln. »Die Männer in der Familie erkennt man alle am Gang«, sagte meine Mutter später immer und schnitt eine Grimasse dazu. Wahrscheinlich hätte sie lieber etwas ganz anderes über »die Männer in der Familie« gesagt, doch zu mehr Kritik als am trippelnden Gang fehlte ihr die Courage. Es stimmte: Mein Großvater ging zeitlebens in eiligen, kleinen Schrittchen, und sogar, als er den Stock bekam, änderte sich daran nichts. Es war vielmehr, als hätte er ein drittes eiliges Füßchen dazubekommen. Auch mein Vater trippelte mit seinen proportional kleinen Füßen, und mein Onkel trippelte, weil er so leicht und schmächtig war. Bloß mein Bruder trippelte nicht, und als Erklärung bot er, je nach Tageslaune, die beiden Versionen an, wonach es sich entweder um einen bewußten Akt von Auflehnung samt anspruchsvollem, jahrelangem Gehtraining handle oder um den Beweis dafür, daß er nicht jeden Fluch und jede lächerliche Schrulle dieser Familie geerbt habe, sondern leider nur die meisten. Sie gingen durch die Wohnung, mein Onkel in seiner 97 Uniform betont langsam und lässig, mein Großvater dahinter hastig und bedrückt. Hinter ihnen her taumelte der Hermann-Pepi. Mein Onkel betrachtete nachdenklich die weiße Küchenkredenz, öffnete sie sogar und strich mit dem Finger über die Herend-Kaffeekanne. Er dachte an Meikti-la, wo ihm manchmal die Verzweiflung befohlen hatte, sich auszuschütten vor Lachen über eine Welt, in der die einen Herend-Porzellan in liebevoller Handarbeit herstellten, das von Gleichgesinnten um teures Geld erworben und in bürgerlichen Ehren gehalten wurde, während man anderswo, zum Beispiel in Meiktila, noch nicht einmal Messer und Gabel erfunden hatte, dafür aber tausend phantasievolle Arten, zu töten und zu sterben. Im von ihnen selten benutzten »guten Zimmer«, auf ihrer alten Anrichte, die meine Großmutter früher mit Hingabe gewischt und poliert hatte, standen nun etliche Fußball-Pokale. Da merkte mein Großvater auf. Interessiert wollte er seinen Platz als schüchterner Schatten seines Sohnes aufgeben und näher treten. Doch ein Zischlaut meines Onkels hinderte ihn daran. Mein Großvater seufzte. Gerade hatte er die Meisterschaftsmedaille aus dem Jahr 1931 ausgemacht. Er erinnerte sich genau an das Endspiel. Es hatte in Strömen geregnet, alle Zuseher waren nach wenigen Minuten völlig durchweicht, aber das hatte keinen gestört, bei dem Weltklasse-Match. Der Hermann-Pepi und der andere Verteidiger hatten hinten gehalten wie eine Mauer, sooft der gegnerische Rechtsaußen, wie hieß der noch ... Am liebsten hätte er schnell den Hermann-Pepi gefragt, aber das wagte er wegen meines Onkels nicht. »Komm, Vater, wir gehen«, sagte eisig mein Onkel. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Wie geht's dem Herrn Sohn?« fragte er, das war in seinen Augen der Gipfel an Gemeinheit, wo doch jeder wußte, daß der einzige Sohn des Pepi Hermann in jener Bar, in der er zu Kriegsende Geige spielte, bei einem Bombenangriff umgekommen war. 98 »Hören Sie«, brach es da aus dem Pepi Hermann heraus, »ich war kein Nazi!« Meinem Großvater fiel plötzlich ein, daß die Frau Erna manchmal auf einem Klappbett Damen mit heißem Wachs enthaarte, hinter einem dann eigens aufgespannten, leider absolut blickdichten Vorhang. Ab und zu schrie eine auf, und dann hörte er die Erna aus vollen Backen auf die Stellen blasen und die Damen beruhigen wie eine Mutter ihr Kind: »No, no, schon gut, gleich hat man es hinter sich, net woahr, nur a klaans Kontroll-Risserl no, dann sind gnä' Frau wieder überall scheen.« »Ja«, erwiderte mein Onkel, »das hab ich mir gedacht.« Ganz freundlich wandte er sich dem Hermann-Pepi noch einmal zu, als wolle er ihm etwas Vertrauliches sagen. »Wissen Sie, Herr Hermann«, sagte er, »ich bin jetzt fast ein Monat zurück in Wien und hab noch keinen einzigen Nazi getroffen. Können Sie mir das erklären?« »Leider nein, Herr Major«, flüsterte der entnervte Hermann-Pepi. Die Nachbarn schienen schon alle hinter ihren Türen zu lauschen. »Sergeant«, tadelte mein Onkel, und dann gingen sie. Mein Großvater dachte daran, daß die mit Heißwachs behandelten Damen trotz aller vorhergegangenen Schmer-zensschreie immer glücklich ausgesehen hatten, wenn sie mit roten Wangen hinter dem Vorhang hervorgekommen waren, um zu bezahlen, erhitzt und aufgewühlt, aber glücklich. Und auch er selbst war ja heilfroh gewesen, als damals der Nagel endlich draußen war, obwohl die Zehe noch höllisch pochte. Das spendete ihm Trost. Auf der Straße sagte er zu seinem Sohn: »Da muß er jetzt eben durch.« Mein Onkel schüttelte zornig den Kopf: »Du glaubst, deswegen hat er schlechte Träume?« »Ich versteh das nicht«, sagte meine Schwester, während sie mit einem Wattebausch sorgfältig die verschiedenen Sil- 99 berstecker desinfizierte, die sie abwechselnd in den Ohren trug, »es war doch eure Wohnung.« Mein Onkel sagte scharf: »Wir wollten nicht so sein wie die.« Mein Vater sagte versonnen: »Der Opa hat den Her-mann-Pepi so bewundert - und er war ja wirklich ein fabelhafter Spieler.« Meine Mutter sagte verständnisvoll: »Der Opa hat nicht gewußt, ob er sich die Wohnung noch leisten kann.« »Genau«, ereiferte sich mein Vater, »was hat es für einen Sinn, eine Wohnung zurückzufordern, die man sich dann gar nicht leisten kann?« »Ich finde euch zum Kotzen«, sagte mein Bruder, stand auf, warf seine halbgerauchte Johnny-ohne in den Aschenbecher und verließ geräuschvoll den Raum. Fest steht, daß mein Großvater nach dem Krieg nicht mehr so spielte wie davor. Ihm waren der Mut und die Kaltblütigkeit abhanden gekommen. Zwar saß er in jeder freien Minute im Kaffeehaus und spielte Bridge, aber bloß um die winzigen, penibel abgerechneten Summen, um die auch meine Großmutter spielte. Er pokerte nicht mehr, er spielte nicht mehr Stoß in düsteren Praterstraßen-Hin-terzimmern, er ging nicht mehr ins Kasino, und nur noch selten schenkte er einer hübschen jungen Dame eine Rose, und wenn, dann war das eine seiner Schwiegertöchter. Es war die Zeit, in der meine Großmutter begann, seine früheren Liebschaften, sofern sie sie kannte und diese den Krieg überlebt hatten, öffentlich zu beschimpfen. Meistens saßen nun meine Großeltern gemeinsam im Kaffeehaus und spielten an benachbarten Tischen Bridge. Dann sagte meine Großmutter plötzlich laut »sie schaut aus wie ein Äff« und deutete mit dem strengen Kinn auf eine Mitspielerin. »Ich passe«, sagte drüben mein Großvater und schüttelte mißbilligend den Kopf herüber. »Kontra«, rief meine Großmutter triumphierend, »sie schaut nicht nur aus wie ein ioo Äff, sie spielt auch wie einer.« Angeblich hat niemand auf diese Beschimpfungen je nennenswert reagiert. »Spiel aus und red net sovü«, sagte höchstens eine. Die letzten verbliebenen Bridgepartner, die alle schon »vorher« miteinander gespielt hatten und es nun wieder taten, waren aneinander gewöhnt wie alte Zootiere. Ihresgleichen konnten sie nichts mehr übelnehmen, dazu hat ihnen einfach die Kraft gefehlt. Und meine Großmutter, die einst »die Deutsche« geheißen hatte, war ja längst zu ihresgleichen geworden. In den Wein- und Spirituosenhandel hat mein Großvater nach dem Krieg nicht mehr zurückgefunden. In meiner Familie wurde das zum bewußten Akt umgedeutet, indem man behauptete, er habe auf perfekte Weise Hobby und Beruf vereint, als er für einige Zeit Vertreter für Arabia-Kaffee wurde. »Während der Arbeit im Kaffeehaus, nach der Arbeit im Kaffeehaus«, sagte man in meiner Familie und lachte dazu, »das war, wie der Königsbee gesagt hätte, seine Dämone.« Wahr ist jedoch, daß mein Großvater zu seiner früheren aufreibenden Tätigkeit gar nicht mehr in der Lage war. So wurde er bloß zum Teschek des Kaffee-Importeurs, der ihn nur »rennen hat lassen«, wie mein Vater viel später schuldbewußt sagte, und der ihm desto mehr die Prämien kürzte, je erfolgreicher mein Großvater war. Denn auf Kaffeehäuser verstand er sich, mochte er auch am Stock gehen. Er ging von Kaffeehaus zu Kaffeehaus, nahm die Kaffeebestellungen auf, fragte, ob noch genug Zucker-säckchen mit dem Logo von Arabia-Kaffee vorrätig seien, und überprüfte die Bestände an Arabia-Kaffee-Papierser-vietten, Arabia-Kaffee-Aschenbechern und diesen kleinen runden Papierstückchen mit gezacktem Rand, die in guten Kaffeehäusern bei jedem frisch gebrühten Kaffee zwischen Tasse und Untertasse gelegt werden, damit auch der unaufmerksamste Gast zumindest unbewußt die Kaffeemarke aufnimmt. Aber als der Kaffee-Importeur auch noch verlangte, daß mein Großvater schadhafte Glühbirnen in den IQI Arabia-Kaffee-Leuchtreklamen auswechselte, machte mein Vater ein Ende und nahm meinen Großvater zu sich ins Geschäft. Das wurde für beide zum Glückstreffer, denn als Akquisiteur für seinen Sohn konnte mein Großvater noch einmal ein paar Jahre lang alle seine Talente ausspielen, und zwar ohne jedes Risiko. Neubeginn So war bald alles wieder gut. Mein Vater und mein Onkel heirateten, zeugten Kinder, ließen sich scheiden und heirateten erneut. Mein Onkel hatte nach dem ersten Mal genug von Kindern, mein Vater noch lange nicht. Trotz der Scheidungen schwammen die familiären Beziehungen in geradezu märchenhafter Harmonie. Bei den Familientreffen fanden sich neben den zweiten Frauen ganz selbstverständlich auch die ersten ein, die ersten und die zweiten Kinder bezeichneten einander stolz als Geschwister und traten Menschen, die sie »Halbgeschwister« zu nennen wagten, mit der ganzen Herablassung jener entgegen, die das kleinbürgerliche Denken überwunden zu haben glauben. Meine Großeltern ließen keine Präferenzen für erste oder zweite Schwiegertöchter bemerken und erkannten alle vier gleichermaßen an. Gegen ihr Lebensende hin schienen sie zwar manchmal die Reihenfolge zu verwechseln oder ordneten Kinder den falschen Müttern zu, aber angesichts des hohen Alters, das sie beide erreichten, war ihnen kein Vorwurf zu machen. Jahrzehnte später sollte die ostentative Familienharmonie darin gipfeln, daß eine erste Frau beim Begräbnis einer zweiten Frau trauernd erschien, und nur davon, daß ein erstes Kind in Anwesenheit der ersten Frau auf die zweite Frau die Grabrede hielt, wurde schließlich im letzten Augenblick Abstand genommen. i02 IO3 Mein Vater hatte schnell wieder Deutsch gelernt, »irgendwo muß noch was gesteckt sein«, sagte er schmunzelnd. Wir Kinder schüttelten uns vor Lachen, wenn er »Orange« oder »Mond« sagte, denn speziell diese beiden Worte klangen aus seinem Mund falsch und fremd. Er revanchierte sich, indem er unsere Englischarbeiten verhöhnte, »wie kann man das nicht wissen«, spottete er, wenn einer von uns »she do not know« geschrieben hatte oder »mouses« für den Plural von »mouse« hielt. »Ihr seid's alle meine Mausis«, rief er mit einem seiner schlechtesten Wortspiele, über die er sich üblicherweise am meisten amüsierte, »aber Englisch werdt's ihr nie lernen.« Mit dem Englischen war es bei ihm wie mit dem Ballspielen. Er schien wirklich zu glauben, daß Menschen beides so automatisch erlernen müßten wie sprechen oder laufen. Er war fassungslos, als er bemerkte, daß sein Sohn kein Talent zum Fußball aufwies und nur kurzsichtig auf seinen großen Füßen herumstolperte. Er schüttelte verzweifelt den Kopf, als meine winzige vierjährige Schwester, die mit nichts als einem abgeschnittenen Tennisschläger bewaffnet einer furchterregenden, rumpelnden Ballmaschine ausgeliefert wurde, manche der unerbittlich auf sie zurasenden Bälle verschlug. Doch jedes von uns Kindern hatte ein Luxusjahr, als es acht war. Im selben Alter, in dem einst mein Vater seine Eltern verlassen hatte müssen, durften wir alles beziehungsweise war es uns zärtlich erlaubt, einiges nicht gleich zu können. »Jetzt hätt ich dich wegschicken müssen«, sagte mein Vater dann manchmal nachdenklich, und rückblickend waren das die ersten, fast unmerklichen Vorboten eines Pathos, das ihn erst viel später, im Alter, erfaßte. Geklagt haben sie alle in diesen ersten Jahrzehnten nie, nur Witze gemacht. Die Jahre des Wiederaufbaus wurden uns geschildert als eine Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten. Mein Onkel besaß als einer der ersten in Wien einen BMW, das Auto war von metallischem Blaugrün, also von 104 der unschlagbar kühlen Eleganz, die meinem Onkel so gut zu Gesicht stand. Meine Vettern und mein Bruder haben später zugegeben, nur seinetwegen so jung mit dem Rauchen begonnen zu haben, denn niemand hielt die Zigarette so formvollendet, so graziös und doch überwältigend männlich wie er. Wo er ging und stand, war er von schweren englischen Aschenbechern umgeben, die auf Knopfdruck erst die Asche, dann den bis auf ein paar Millimeter heruntergerauchten Filter luftdicht versenkten. Ab fünf trank er zeremoniell Whisky, immer ohne Eis, »vielen Dank, nein«, sagte er mit einem Hauch von Herablassung, wenn jemand ihm welches anbot. Er gab ganz den kühlen Gentleman, wurde gelegentlich, nur wegen der äußeren Ähnlichkeit, denn er war völlig unmusikalisch, als der Frank Sinatra von Wien bezeichnet, und er rauchte und rauchte und schwieg und mehrte auf verbissene Weise seinen Reichtum. Bald besaß er nicht nur einen BMW, sondern auch einen Generaldirektorstitel und einen Wochenend-Bungalow am Wasser, seine zweite Gattin trug modische Hüte, las ihm und einem übergewichtigen Rauhhaardackel jeden Wunsch von den Augen ab und deckte beider mürrisches Schweigen mit perlendem Geplauder zu. Mein Vater, der schüchterne Zeitungsjunge aus Stops-ley, wuchs sich zum klassischen Jüngsten heraus. Er schien in allem das Gegenteil seines strebsamen Bruders. Er war ein Draufgänger, der die Frauen liebte, und obwohl er nie Geld hatte, charmierte er sich unaufhaltsam durch Wien. Für Politik interessierte er sich nicht, bloß für die Fußballergebnisse. Das einzige, was er ernst nahm, war sein Training. Anschließend, also beinahe täglich, ging er mit seiner Entourage, die aus ein paar seiner zwanzig besten Freunde und einer wechselnden Mädchenschar bestand, zum Heurigen oder ins >Weißkopf<, »etwas anderes hat's ja nicht gegeben«, wie er später mit sentimentalem Lächeln sagte. 105 Solange er spielte, kannte ihn ohnehin jeder. Ein Fußballstar, ein Nationalstürmer, das zählte im verwirrten kleinen Österreich, das nirgends dabeigewesen, aber schon wieder bedeutsam sein wollte, in den Nachkriegsjahren am meisten. Mein junger Vater war ein Held, wie er gerade recht kam. Bei den kleinen Buben, die bei jedem Training am Spielfeldrand herumlungerten und jederzeit bereit waren, sich gegenseitig blutig zu prügeln, um einen herausgeflogenen Ball zurück zu den Stars kicken zu dürfen, hieß er »der Engländer«. Als mein Vater zum ersten Mal, einen Blumenstrauß im Arm, auf dem Rasen stand, die noch ungewohnte Nationalhymne hörte, deren Text er sich sein Leben lang nicht merken konnte, und die kleinen schwarzen Menschenpunkte bis in den Himmel reichten, da wurde ihm staunend klar, daß er es geschafft hatte. Für meinen Großvater, den fanatischen Fußballfan, bedeutete dieser Sohn sowieso ein Göttergeschenk, das ihm spät, aber wie zum Ausgleich zuteil geworden war. Mochte er tagsüber mit Arabia-Kaf-fee-Bestellformularen durch die Stadt hasten, mochten ihm Hüfte und Knie unruhige Nächte bereiten, mochte er mit einem hysterischen Aufschrei, der für ihn untypisch war, befohlen und durchgesetzt haben, daß Katzis Name niemals wieder erwähnt werde - wenn er seinen Sohn stürmen sah, wenn sein Sohn, wie es manchmal geschah, am Ende auf den Schultern der Fans vom Platz getragen wurde, dann tat meinem Großvater nichts mehr weh. Auch der Beginn der Berufslaufbahn meines Vaters erstrahlt in jenem fast unwirklich rosafarbenen Licht dieses zweiten Anfangs. Die Schwierigkeiten für einen Siebzehnjährigen, der kaum Deutsch sprach, einen Arbeitsplatz zu finden, waren einerseits beträchtlich, andererseits war selbst uns Kindern instinktiv klar, daß diese Schwierigkeiten auch deshalb jedesmal bis ins bizarre Detail ausgeschmückt wurden, damit sich der erfolgreiche Ausgang der Geschichte dann um so triumphaler davon abhebe. Das Steuer herum- 106 reißen, against all odds, das war das geheime Thema all dieser Klassiker unserer Familienanekdoten. Zuerst sollte er Automechaniker werden. Das rührte wohl daher, daß er in England, auch dank Katzis Zeichenset, in die Entwicklungsabteilung des Autozulieferers T. C. Smith aufgenommen und zum technischen Zeichner ausgebildet worden war. Er entwarf dort hauptsächlich Armaturenbretter. Irgend etwas mit Autos, das scheint die Botschaft zu sein, die bei meinem Großvater angekommen war. Die Kommunikation zwischen Eltern und Sohn war ja anfangs recht schwierig. Mein Vater zeichnete gut. In unserem Kinderzimmer hing hinter Glas eine mit farbiger Tusche colorierte Jugendzeichnung aus England, die einzige, die er in seinem kleinen Seesack mitgenommen hat. Man sieht darauf einen Tormann in halblangen Hosen, der, an den Pfosten gelehnt, verzweifelt in ein riesiges Taschentuch schluchzt, hinter ihm, im Netz, der schwarz-weiße Ball. Vielleicht hat er damals, in diesen schwierigen ersten Wochen, seinem Vater aus Hilflosigkeit ein Armaturenbrett aufgezeichnet, worauf dieser ihn zum Automechaniker im nächsten Hinterhof schleppte. Denn mein Großvater verstand hinsichtlich des Geldes überhaupt keinen Spaß mehr. Geld und Lebensmittel waren knapp, und deshalb mußte dieser Junge so schnell wie möglich eine Stelle finden. Der Automechaniker akzeptierte. »Redn braucht er jo net«, beruhigte er meinen Großvater, der sich für die mangelnden Deutschkenntnisse seines Buben entschuldigte. Mein Vater bekam zwei blaue Overalls und lag zwei Tage lang unter verschiedenen Autos. Die Knie taten ihm weh, die Ellbogen taten ihm weh, schwarzer Schweiß rann ihm in die brennenden Augen, und er konnte den Geruch kaum ertragen, doch hätte er kein Wort gesagt und wäre wohl ein unbegabter, ergebener Automechaniker geworden, wenn ihn seine Mutter nicht gerettet hätte. Meine 107 Großmutter hätte keines ihrer Kinder jemals schmutzig aus dem Haus gehen lassen und so plagte sie sich am ersten Abend stundenlang, mit der Wäscherumpel die Öl- und Schmiereflecken aus dem Arbeitsanzug zu entfernen. Als mein Vater am zweiten Abend in einem noch schlimmeren Zustand nach Hause kam, hatte sie genug. Meine Großeltern stritten lautstark. Mein Großvater keppelte, daß ein Mechaniker nicht aussehen müsse wie ein Bankkaufmann, wenn er zur Arbeit gehe. Bankkaufmann war jener Beruf, der ihm als das Maximum an Sicherheit, Ansehen und bürgerlicher Wohlanständigkeit erschien, nur kam das leider für seinen Sohn nicht nur wegen der Sprache, sondern vor allem wegen der fehlenden Schulabschlüsse nicht in Frage. Meine Großmutter zeterte, daß er nicht gehen müsse wie ein Bankkaufmann, aber wenn er gehen solle wie ein Schweindl, dann nur über ihre Leiche. Wahrscheinlich bekam mein Vater überhaupt nur deshalb eine zweite Chance, weil er mit seinen frisch pedikürten Zehen gerade das Probespiel beim First Vienna Footballclub so bravourös absolviert hatte, daß er sofort als fester Spieler in die Jugendmannschaft aufgenommen wurde. Mein Onkel, der Alliiertendolmetscher und Entnazifizierer, wurde um Rat gefragt. Er telefonierte hierhin und dahin, denn telefonieren war zu seiner Hauptbeschäftigung geworden, aus der er später beruflich das Maximum herausholte. Sprechen ohne persönlichen Kontakt - das war ihm, wenn er schon sprechen mußte, noch das Erträglichste. Als er aus der British Army ausgeschieden war und seinen beachtlichen Aufstieg als Import-Export-Fachmann begonnen hatte, wurde er schon bald für bestimmte, unlösbar scheinende Notfälle eingesetzt. Er allein war in der Lage, eine in irgendeinem fernöstlichen Hafen hängengebliebene Baumwollieferung loszueisen oder eine vermeintlich verschwundene Schiffsladung Reis aufzuspüren und sicher zu ihrem Bestimmungsort zu dirigieren. Wie er das mach- 108 te, wußte niemand. Er telefonierte, kettenrauchend. Wenn man vor seiner Bürotür wartete, war neben seiner heiseren Stimme nur das regelmäßige Klicken des Verschlusses zu hören, wenn er die Asche in seinen geruchsarmen Aschenbechern versenkte. Nach zwei, drei Telefonaten hatte mein Onkel eine Lehrlingsstelle in einer Fabrik ausgeforscht. Nun sollte mein Vater Dreher werden, worunter er sich überhaupt nichts vorstellen konnte. Mein Vater überlegte, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen sei. Genaugenommen, dachte er, hatte er auch keine Vorstellung davon gehabt, wie entsetzlich es war, Automechaniker zu sein, obwohl er geglaubt hatte zu wissen, was ein Automechaniker ungefähr tat. Zu einem Dreher hatte er nicht die geringste Assoziation. Mein Großvater hatte mit den Schultern gezuckt und dann eine Handbewegung gemacht, als wollte er eine Flasche zuschrauben. Als sie frühmorgens aufbrachen - mein Großvater hocherhobenen Hauptes, fest entschlossen, diesmal nicht klein beizugeben, wie anstrengend und schmutzig ein Dasein als Dreher auch sein möge, mein Vater in banger Erwartung, sich den einen oder anderen Heimwehgedanken an Uncle Tom, den Löwenzahn und die netten Kollegen in den hellen Büros bei T. C. Smith deshalb ausnahmsweise gestattend -, trafen sie den Hausmeister. Der Hausmeister - »Gerade erst zurückgekommen«, sagte mein Onkel. »Ein jüdischer Hausmeister?« fragte mein Bruder zweifelnd - hielt sie auf. »Außerdem ein Fußballfan«, sagte mein Vater. »Der nicht, das war sein Nachfolger«, sagte meine Mutter. »Woher willst du das wissen?« fragte mein Vater. »Zurückgekommen von wo?« fragte meine Schwester, während sie, anmutig verrenkt, Glitzerlack auf ihre Zehennägel strich. »Wahrscheinlich aus Dachau«, legte die zweite Gattin meines Onkels los und kraulte ihren Hund, »ich habe gehört, 109 daß die politischen ...« - Jedenfalls hielt der Hausmeister meinen Großvater auf, man grüßte, der Hausmeister erkundigte sich nach der Gesundheit meines Großvaters, nach dem Fortkommen meines Vaters, nach dem Wohin des Wegs, wer weiß das schon noch. »Alle Hausmeister sind neugierig«, seufzte wohlig meine Mutter. »Die meisten Hausmeister sind Nazis«, murrte mein Bruder. »Der war ein Jud«, mahnte mein Onkel. »Kein Bankdirektor«, kicherte mein Vater. »Weiter«, quengelte meine Schwester. Vielleicht haben sich der Hausmeister und mein Großvater zuerst über die Fußballergebnisse ausgetauscht. Vielleicht hat mein Großvater seinen Sohn, der dem Gespräch nur mühsam folgte, für sein Fußballtalent gelobt, bevor er die einschränkende Kritik anschloß, daß dieser »Bua nur Fußball im Schädel« habe, so sehr, daß er nicht einmal arbeiten wolle. Der mythenumwobene Hausmeister, der in meiner Familie als gute Fee gilt, hat dann möglicherweise bemerkt, daß begabte Fußballer schon bald viel Geld verdienen würden, so viel, daß sie auf die Arbeit normaler Leute herabzublicken sich leisten könnten. »Aber geh«, hat da mein Großvater mit seiner typischen herrischen Handbewegung gesagt - der ganze Familientisch führte sie an dieser Stelle andächtig aus, meine Schwester legte dafür das Glitzerlackpinselchen ab -, »woher denn. Das nutzt ihm jetzt nix. Jetzt geht's in die Fabrik.« »Fabrik«, hat der Hausmeister erstaunt getan und seinen Besen an die Wand gelehnt, »was wird er denn dort machen?« »Wo hätt die Fabrik überhaupt sein sollen?« fragte mein Bruder skeptisch. »Pscht«, zischte die zweite Gattin meines Onkels und kraulte gespannt den Dackel. »... was wird er denn dort machen?« fragte also der erstaunte Hausmeister. Mein Großvater wandte sich schon zum Gehen, während er dem Hausmeister beschied: »Er wird Dreher.« »Wo hat man je gesehn an jiddischen Dreher?« brüllte auf dieses Kommando hin meine ganze Familie begeistert im Chor, denn so lautete die berühmte Frage des Hausmeisters, die das Unheil abwendete und den Lauf der Geschichte für immer veränderte. Mit der bewußt unklaren Formulierung, daß mein Vater »beim Film« gewesen sei, gelang es uns später, unsere Schulfreundinnen tief zu beeindrucken. Die Schulfreunde, die sich alle für Fußball interessierten oder es zumindest aufgrund des herrschenden Gruppendrucks vorgaben, brauchte man nicht extra zu beeindrucken. Denn in unserer Kindheit war unser Name noch sehr bekannt, obwohl mein Vater damals gerade seine sportliche Karriere beendete. Meine Schwester zog aus beidem Nutzen. Sie zeigte schon als kleines Mädchen ihren Freundinnen die Bilder, auf denen mein Vater im Nationaldress zu sehen war, jenes, wo er mit flatterndem Haar und zusammengekniffenen Augen in der Luft um einen Kopfball kämpfte, und das, wo er auf den Schultern der Anhänger vom Platz getragen wurde. Noch lieber zeigte sie aber die Bilder, auf denen mein strahlender junger Vater mit Alida Valli, Joseph Cotton und Orson Wehes zu sehen war. Meine Schwester stieg in der Wertschätzung ihrer Freundinnen natürlich auch durch den Charme meines Vaters, der sich kleinen Mädchen gegenüber augenzwinkernd so benahm, als hätte er hinreißende junge Damen vor sich und keine Gören in karierten Kniestrümpfen. Aus exakt denselben Gründen, die meine Schwester schamlos zur eigenen Profilierung nutzte, hatte mein Bruder in den Jahren davor Höllenqualen gelitten. Im Turnun- iii Joe und Phil, die seien alle noch in Stopsley und bei bester Gesundheit. »Wenn du das nächste Mal kommst und ich mehr Zeit zur Vorbereitung habe«, sagte der freundliche, hilfsbereite Harry und schüttelte meinem Vater kräftig die Hand, »dann trommle ich sie alle zusammen! Das wird ein Spaß!« »Das wird ein Spaß«, bekräftigte mein Vater, lächelte fein und sah dem einfahrenden Zug entgegen, »das müssen wir unbedingt machen!« Sobald wir im Abteil waren, stellte er trocken und ohne jedes Bedauern fest: »Na, das war wohl das letzte Mal.« Dann öffnete mein Vater das Fenster, winkte Harry noch einmal und rief: »See you soon!« Aber wie immer das auch gemeint gewesen sein mag, als höfliche Lüge oder als weitere Manifestation seiner typischen inneren Widersprüche, mit denen er so gerne und so gut lebte - meinem Vater wurde die Wahl genommen, als er sich in Wien-Schwechat auf der Gangway im Träger seines leinernen Seesacks verhedderte, hinunterfiel und sich die Hüfte brach. Ende Für mich sieht es im nachhinein so aus, als sei das Ende aus heiterem Himmel gekommen, aber nicht einmal darüber besteht Einigkeit. Mein jüngerer Vetter, der einzige, mit dem ich mich alle paar Jahre noch treffe, um dann hauptsächlich über dieses Ende zu sprechen, sobald alle Neuigkeiten, die Kinder und Kindeskinder betreffend, ausgetauscht sind, mein jüngerer Vetter meint, die Charaktere und alle Voraussetzungen in Betracht ziehend, sei dieses Ende absehbar gewesen. Es sei nur eine Frage der Zeit gewesen, behauptet er und dreht dabei die Handflächen nach außen, bis unsere verminte Familiengeschichte hochgehen und zerreißen würde, was sie eigentlich zusammenhalten hätte sollen. Überdies zögen gewisse, mir gut bekannte Konfliktparteien aus der Krise auf skurrile Weise sogar Selbstbestätigung, ob mir das eigentlich klar sei? Aber das will ich alles gar nicht hören. »Hör mir auf mit den Charakteren, hör mir vor allem mit der Geschichte auf«, protestiere ich dann wütend, obwohl ich ahne, daß er recht hat, und er tröstet mich grinsend, indem er zu bedenken gibt, daß es auch viel früher geschehen hätte können. »Um wie viele lustige Abende wären wir dann ärmer«, fügt er hinzu, und ich frage mich immer, wieviel er davon eigentlich ernst meint. Dabei hatte es begonnen wie immer. Dem Abend vorangegangen waren meinerseits wochenlange Terminverhand- 368 369 lungen mit allen Beteiligten, und ich bin ja nur froh, daß sie immerhin anerkannten, daß es ohne meine geduldigen Bemühungen zu diesen Treffen schon längst nicht mehr gekommen wäre. Ohne meinen »Familienwahn«, wie sie das mit dem familienüblichen Schuß Spott nannten, wären auch wir längst zu einer Familie geworden, die sich nur noch bei Begräbnissen trifft, denn selbst für die Hochzeiten und die runden Geburtstage waren wir einander längst zu fern. Das lag übrigens nicht daran, daß die anderen einander nicht gern sahen und diese seltenen Familienabende nicht ebenso genossen hätten wie ich, nur waren namentlich meine Vettern und mein Bruder zueinander in einem komplizierten Netz aus Stolz und Vorwürfen befangen. Wenn einer eingeladen hatte, war das nächste Mal ein anderer dran, aber da mein jüngerer Vetter und mein Bruder entweder mehrmals hintereinander ein überhitztes Bedürfnis nach Familie verspürten oder sich im Gegenteil monatelang nicht meldeten und die vereinbarten Einladungen schlicht vergaßen, also höchst unberechenbar waren, war mein älterer Vetter praktisch ständig beleidigt und gab dann seinerseits vor, keine Zeit zu haben. »Den Ang'rührten lad ich nimmer ein«, sagte mein Bruder, »wenn denen die Familie wurscht ist, soll's mir recht sein«, sagte mein älterer Vetter, und mein jüngerer Vetter sagte: »Das ist doch alles lächerlich, ich hab genug von allen beiden.« Die einzige Person, die man innerhalb dieser neurotischen Strukturen nicht für voll nahm und die deshalb Neutralität genoß, war ich. Deshalb organisierte ich seit vielen Jahren in regelmäßigen, weit auseinanderliegenden Abständen Familientreffen, zu denen sich alle anderen huldvoll herabließen, nachdem ich sie wochenlang bekniet hatte. Zur Belohnung machten sie sich über mich lustig. »Ganz der Papa«, spottete mein älterer Vetter, »hält physische Präsenz für gleichbedeutend mit Zusammengehörigkeit«, und dann lachten alle und nickten dazu. »Was sonst?« pflegte ich ungerührt zu antworten und wußte, daß ich recht hatte, obwohl sie dann alle mit der rechten Hand wedelten, wie es mein Großvater angeblich immer getan hatte, wenn er etwas vom Tisch wischen wollte. Es hatte also begonnen wie immer, und bis zum Eklat war es herrlich gewesen. Die Familie wurde immer größer und jünger. Die erwachsenen Töchter meiner beiden Vettern hatten es übernommen, zu kochen und zu servieren. Mein Sohn, der schon als Kind auffallend sanft und sozial gewesen ist (»als Sportler unbrauchbar«, hatte einst mein alter Vater kritisch angemerkt und damit einen heftigen Wutanfall meinerseits provoziert, über den wiederum er diebisch lachte), kümmerte sich um die kleinen Kinder, die überall krabbelten und krochen, die ersten Enkel meiner beiden Vettern, kleine Juden und kleine Protestanten, denn in der dritten Nach-Holocaust-Generation war ein eindeutiges Religionsbekenntnis wieder immens wichtig geworden, auch wenn auf diese Weise gleich zweierlei Außenseiter in Österreich produziert wurden. Meine Vettern, ihre Frauen und ihre Schwiegersöhne, mein Bruder und meine Schwägerin saßen einträchtig um den Tisch, man rauchte und trank, und bei diesen Vorgeplänkeln konnte der Eingeweihte schon beobachten, wie sich die Männer aufwärmten und in Pose warfen, indem sie einander mit Witz und Geist-reicheleien zu übertrumpfen suchten, und wie die Frauen Zensuren verteilten, indem sie skeptisch die Augenbrauen hochzogen, den Kopf schüttelten oder ironisch lachten. Es ging um Politik und um Österreich, um Israel und um internationalen Fußball, und ich wartete geduldig auf die Überleitung zu dem, was für mich von Kindesbeinen an die Hauptsache dieser Familienabende gewesen war, auf »Em-Em«, wie die Frau meines älteren Vetters diesen unvermeidlichen Programmpunkt schon vor vielen Jahren getauft hatte, »manisches Mythologisieren«. Wenn das begann, wenn die alten Familiengeschichten zum tausendsten 370 371 Mal heraufbeschworen, durchgekaut und neu interpretiert wurden, flüchteten sich die angeheirateten Frauen theatralisch eine Weile lang in die Küche, weil sie es angeblich »nicht mehr hören konnten«, England, Burma, Fußball, Film, das >Weißkopf<, die abgefeimte Tante Gustl und der Sohn, der irgendwelche klebrigen Mehlspeisen gestohlen hat. Aber sie kamen bald wieder zurück, denn obwohl sie es nie zugegeben hätten, liebten sie es längst genauso, das mehrstimmige Pointenfeuerwerk, die nicht endenwollende Serie »echter Königsbees«, die ganze Heimeligkeit dieses familiären Sagengutes, in das wir uns lustvoll einwickelten, weil es unser flüchtiges Zusammensein mit einer kurzen, aber kräftigen Wurzel in der Vergangenheit verankerte. Insbesondere wurden die Toten lebendig gehalten. Das hatte einst schon mein Vater begriffen, als er augenzwinkernd den Wunsch geäußert hatte, »später einmal« auch so sehr im Mittelpunkt von Geschichten zu stehen wie sein Vater, mein Großvater. Damals hatte gerade mein Bruder in einer unvergeßlichen Szene die Ostsportler-Keilerei meines Großvaters am Südbahnhof nachgespielt. Wir waren alle schon recht betrunken, und es war ziemlich spät, und da hatte mein Bruder plötzlich aus dem Vorzimmer einen Regenschirm geholt und rannte nun mit diesem Schirm um den Eßtisch herum, die Stockspitze immer Richtung Plafond rammend, dazu rief er »billig, billig, kommen Sie«, er rief Unverständliches, das vermutlich Tschechisch und Ungarisch vorstellen sollte, er rief »beste Ware, beste Preise, Forint, Zloty, Dinar gerne akzeptiert«. So rannte mein Bruder um den Tisch, stieß mit dem Regenschirm in die Höhe, um virtuelle Visitenkarten zu den Zugfenstern hinaufzureichen, und wir lachten und schrien und schlugen uns die Hände vor die heißen Gesichter, bis mein Bruder mit dem Schirm in den Luster geriet und das Licht ausging. Und in eben diese kurze, erschrockene Stille hinein sagte mein alter Vater, er hoffe, über ihn würden »später einmal« auch soviel Geschichten erzählt wie über den armen Opa, der sich bestimmt darüber freuen würde, daß wir seine Fähigkeiten als Vertreter immer noch lobten. Er hätte sich das nicht extra zu wünschen brauchen. Wie sich eben die Gewichte verschieben und die Generationen einander fast unmerklich das Staffelholz weitergeben, geschah es ganz von selbst, daß meine Kinder und die Kinder meiner Vettern über den berühmten Fußballer Geschichten zu erfinden begannen. Sie berichteten ihren Kindern und ihren Freunden so anschaulich von genialen Paßkombinationen, Flanken und wundersamen Toren, als wären sie selbst dabeigewesen, und die Sache wurde auch dadurch immer exotischer, da Fußball in Österreich überhaupt keine Rolle mehr spielte. Die Heldentaten, die diese Enkel in einer Zeit erzählten, da die österreichische Nationalmannschaft seit über einem Jahrzehnt an keinem internationalen Fußball-bewerb mehr teilgenommen hatte, klangen so ausgefallen, wie einst für mich als Kind die Tatsache, daß meine Großeltern die Sprachen von hinter der Grenze gesprochen hatten, von hinter den Stacheldrähten, bloß eine halbe Stunde von Wien entfernt, wo in meiner kindlichen Vorstellung nur Dunkelheit und Verbrechen herrschte. Unter sich erzählte diese neue, erwachsen gewordene Enkelgeneration auch vom Osthandel, von den Orangenschiffen ihrer Großmutter, der tapferen kleinen Engländerin, die in der Vorstellung der Töchter meiner Vettern zu schillern begann wie eine Meisterspionin, wie eine Mischung aus Mata Hari und Greta Garbo. Ich habe bis heute die ältesten Geschichten am liebsten. Sie sind am offensten und am verheißungsvollsten, weil ihr wahrer Kern so verschwindend weit zurückliegt und deshalb fast alles erlaubt ist. Mein Bruder und mein älterer Vetter waren einander ebenbürtig, wenn sie zum Beispiel die Bosheiten der Tante Gustl ausmalten, ihren funkelnden Blick nachzumachen versuchten und detailreich beschrie- 372 373 ben, auf wie viele grausame Arten sie erst ihren Vater, den frommen Juden, später den armen Dolly gequält hatte, den liebenswerten, dummen Bankdirektor. »Pater Semper im-perfectus«, kicherte mein Bruder, »alles andere ist letztlich primär«, kicherte mein älterer Vetter. Doch genaugenommen waren die witzigen Passagen immer nur Zwischenspiel zu durchaus ernsten Überlegungen. Das Unbekannte wurde umkreist, Theorien wurden aufgestellt, Vermutungen geäußert, desto aufgeregter, je weniger eine Klärung möglich war. Hatten die Großeltern je über eine Flucht nachgedacht? Hatten sie sich, wie so viele andere, zu lange in Sicherheit gewiegt? Hatte mein Großvater wirklich als Zwangsarbeiter am Donau-Oder-Kanal mitgebaut, an dem wir später alle zusammen so herrliche Sommer verbrachten, während er, immer im langen Anzug, still unter dem Sonnenschirm saß? Was war wirklich mit dem Teppich geschehen, dem »einzigen Stückl von Wert«, um den meine Großmutter in den Tagen vor ihrem Tod unaufhörlich geklagt hatte? Eine Zeitlang versuchte mein Bruder, der Historiker, mehr über unseren Großvater herauszufinden. Da müsse es doch Akten geben, forderte mein älterer Vetter vorwurfsvoll. Doch das erste, worauf mein Bruder stieß, waren ausgerechnet Großvaters Vorstrafen, und deshalb hörte er mit diesen Forschungen bald wieder auf. Ihm war es ja immer eher um Heldengeschichten zu tun gewesen, also widmete er sich aufs neue dem alexandrinischen Bankier und dessen Familie, welcher, wie er herausfand, über die Jahrhunderte diverse hochrangige jüdische Gelehrte entsprossen waren. Ein einziges Mal fragte ich ketzerisch, was das eigentlich mit uns zu tun habe, aber da warf er mir vor, für das poetisch und historisch Große und Ganze einfach zu kleinherzig zu sein, während meine beiden boshaften Vettern zustimmend »ganz die Frieda-Oma« murmelten. An einem solchen Abend erfuhr ich auch, daß mein Onkel, der zarte, schweigsame Kettenraucher, einmal in einem Fußballstadion einen Nazi mit einem Schirm verprügelt haben soll, eine schier unglaubliche Geschichte. »Feig war er nicht«, konzedierte selbst mein älterer Vetter, der sonst zu seinem Vater weiterhin in grimmiger Opposition stand, obwohl dieser längst tot war, aber die Väter und Mütter in den Köpfen der Kinder sollte man sowieso nicht mit den wahren Personen verwechseln. »Es war bei einem Rapid-Spiel«, sagte mein Bruder genüßlich und zündete sich eine Zigarette an, »die Rapidler waren ja immer die ärgsten Antisemiten.« »Und die Austria galt als Juden-Klub«, sagte mein älterer Vetter, »das hab ich als Kind immer wieder erlebt.« »Wie hat sich das geäußert?« fragte mein Sohn ungläubig, denn er war in Deutschland aufgewachsen, und da waren die diesbezüglichen Gepflogenheiten ja völlig anders. »Na, bei jedem Ball, den ein Austrianer erwischt hat, hams gleich >Saujud, Saujud< geschrien«, sagte mein Bruder und nickte bedeutungsvoll. »Das glaub ich nicht!« rief mein Sohn schockiert und sah mich flehentlich an. »Naja, nicht alle«, mußte ich zugeben, »aber ein paar. Das weiß ich auch noch.« »Dabei haben in ganz Österreich ja überhaupt keine Juden mehr Fußball gespielt«, bemerkte mein älterer Vetter, »der Onkel Sunny war wahrscheinlich der letzte.« »Ja, aber damals hat er noch gespielt, wie mein Vater den Antisemiten gehaut hat«, sagte mein jüngerer Vetter. Mein älterer Vetter bestritt das vehement. Der Vorfall sei frühestens Anfang der siebziger Jahre gewesen, der Onkel Sunny habe aber nur bis Mitte der Sechziger gespielt, also war das mit der Rauferei viel später. »War einer von euch dabei oder woher habts ihr das?« fragte ich, aber keiner hörte mir zu. »Is doch egal, wann - wie geht die G'schicht?« rief mein Bruder, und meine Schwägerin schüttelte ironisch den Kopf und murmelte: »Das ist ja wieder typisch.« Die Frau 374 375 meines älteren Vetters, die trockene Norddeutsche, gab meiner Schwägerin ein Zeichen und deutete mit dem Kinn zur Tür. Meine Schwägerin hob zögernd die Schultern, konnte sich aber nicht entschließen, in die Küche zu gehen, denn diese Geschichte war neu. Stattdessen bückte sie sich und hob ein Kind auf, das unter dem Tisch herumkroch. »Also Rauferei ist wirklich übertrieben«, tadelte mein jüngerer Vetter, »aber fast«, rief mein älterer Vetter, »da hätte weiß ich was passieren können!« »Ich glaube ja, es war ein Klassenkonflikt«, überlegte mein jüngerer Vetter. »Hört, hört, jetzt läßt er den Marxisten raus«, neckte mein Bruder und lachte. »Nein, so mein ich das nicht«, murmelte mein jüngerer Vetter, aber da hieb ich mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Kann man ihn endlich ausreden lassen!« »Schon gut, Frieda-Oma«, sagte mein Bruder, »erzähl endlich, Vetter Zwei!« Mein jüngerer Vetter berichtete also, daß in der Reihe vor ihnen ein dicker, betrunkener Fan mit einer riesigen Bierdose in der Hand dauernd irgend etwas über die »Saujuden« gemurmelt habe, die der Hitler vergessen habe - ich sah besorgt, wie mein Sohn erbleichte, und fragte mich, ob man solche alten Geschichten den jungen Leuten wirklich zumuten mußte -, und da habe mein Onkel, der auch im Stadion meist Anzug und Krawatte trug, plötzlich ganz laut gerufen, er möge damit aufhören, sonst »gibt's an Wickel«. »Gibt's an Wickel«, fragte ich irritiert, »so hat der Onkel Berti doch nie geredet«, doch keiner beachtete mich. Der Prolet, fuhr mein jüngerer Vetter fort und überhörte das »also bitte!« meines Bruders, vor dem man das Wort »Prolet« eigentlich nicht benutzen durfte - denn »Prolet« bedeute ursprünglich einfach Arbeiter, wie er mich belehrt hatte, als ich erst fünfzehn und aufgrund meiner politisch-etymologischen Unsensibilität bis auf die Knochen beschämt war -, der Prolet also habe sich mit blutunterlaufenen Augen nur kurz umgedreht und »immer mit der Ruhe« gelallt. Ein paar Minuten später ging ein Austrianer mit dem Ball an die Strafraumgrenze und wollte aufs Tor schießen, stürzte jedoch in einem Knäuel aus Verteidigern hin und blieb liegen. Der Schiedrichter pfiff ab und zögerte. Er ging zum Linienrichter, um sich zu beraten, und in diesem Moment drehte der Zuschauer vor meinem Onkel durch. Er sprang auf und schrie »Simulaaaant! Saujuden! Simulanten! Kriegsgewinnler!«, schwenkte dabei wie verrückt seine Bierdose, die längst leer gewesen sei, und da habe, so behaupteten meine Vettern, mein Onkel den Schirm gehoben und ihn mit aller Kraft auf die Schultern des Betrunkenen niedersausen lassen, einmal, zweimal, dreimal, bis ihm jemand in den Arm fiel, bis Ordner den Betrunkenen wegzerrten, den man noch in den Gängen brüllen hörte. In den Sekunden danach hielt das ganze Stadion den Atem an, weil Elfmeter gegeben wurde, und dadurch wurde auch eine weitere Eskalation zwischen den zurückgebliebenen Freunden des Betrunkenen und meinem Onkel verhindert. Alle starrten auf den Platz, wo Robert Sara den Ball sicher in die linke Ecke setzte. Nach dem Elfmeter sollen noch einige böse Blicke aus der vorderen Reihe zu meinem Onkel geflogen sein, doch er habe mit zusammengekniffenen Augen und vorgerecktem Kinn zurückgestarrt, um klarzumachen, daß er furchtlos wieder zuschlagen würde bei der nächsten antisemitischen Bemerkung. »Das erinnert mich daran, wie der Opa damals den Nandl geohrfeigt hat, mitten im Krieg«, seufzte mein Bruder wohlig, und ich rief begeistert »erzähl«, obwohl ich die Geschichte mitsprechen hätte können und obwohl sie sich natürlich nicht mitten im Krieg, sondern noch vor dem Anschluß ereignet hat, was doch einen gewissen historischen Unterschied macht. Aber ich mußte wohl wirklich aufhören, so rechthaberisch zu sein. So schien alles seinen normalen Lauf zu nehmen. Zwi- 376 377 sehen den einzelnen Geschichten, wenn nachgeschenkt, serviert und über Nebensächlichkeiten geplaudert wurde, dachte ich angestrengt darüber nach, welche Geschichte ich hervorzerren könnte, die lange nicht erzählt worden war, oder ob es gar irgendein Detail gäbe, das nur ich kannte, mit dem ich dem »Em-Em« etwas Neues hinzufügen und dadurch bei der Familie Meriten erwerben hätte können. In letzter Zeit interessierte mich am meisten die Tante Gustl. Ihre Umtriebe während des Kriegs waren weitgehend unerforscht, und die Frage war doch, ob sie einfach aus Angst passiv geblieben war oder ob sie meinen Großeltern aus Überzeugung die Hilfe verweigert hatte. In zeitraubenden Archivrecherchen und nur dank einiger unglaublicher Zufälle hatte ich herausgefunden, daß zur Familie des freundlichen Dolly Königsberger einige Deutschnationale und Austrofaschisten gehört hatten, einer von Dollys Onkeln hatte sogar 1927 beim Justizpalastbrand eine höchst fragwürdige Rolle gespielt. Daraus ergaben sich für mich einige Fragen: Wie war es der Tante Gustl überhaupt gelungen, in eine solche Familie einzuheiraten? Und welche Bedeutung hatte die Zugehörigkeit zu dieser Familie später? Mußte sie während der Nazizeit stillhalten und ihre Herkunft besonders verbergen, oder verlieh ihr der Name Königsberger im Gegenteil eine gewisse Macht? Der Brief, in dem sie meine Großeltern von Katzis Tod in Kenntnis setzte, war im Salzkammergut abgeschickt worden. Hatte sie sich zu ihrer Freundin, der Baroneß O., in echter Bedrängnis geflüchtet, oder hatte sie das Salzkammergut gewählt, weil es sich dort in der unbequemen Zeit einfach komfortabler leben ließ? Über diesen Gedanken versäumte ich beinahe den Ausbruch des Familienkriegs. »... Waldviertler Kerzlschlucker« hörte ich meinen älteren Vetter sagen, »jeden Sonntag zum Hochamt, und ausgeschaut hast eh wie ein Rauschgoldengel.« Mein Bruder war blaß vor Wut. »Als Kind«, zischte er, »machen die Eltern mit einem, was sie wollen. Du warst früher auch nicht stolz darauf, daß du mit deiner Mutter an Stalins Todestag den ganzen Tag weinen hast müssen!« »Bin ich noch immer nicht«, sagte mein Vetter scheinbar gelassen, »aber ich tu auch nicht so, als wüßte ich nichts mehr davon!« »Was ist los?« fragte ich meinen zweiten Vetter flüsternd, »Revierstreitigkeiten«, flüsterte er grinsend zurück, »wer der bessere Jude ist!« Ich verstand kein Wort. Plötzlich waren die beiden beim Vietnamkrieg. Mein älterer Vetter behauptete, mein Bruder verdanke ihm seine ganze politische Bildung. »Damals in Kitzbühel, weißt noch?« rief er, »wo sich Zwi die Zehe gebrochen hat?« Dort habe er meinem Bruder erstmals davon erzählt, was in Vietnam und anderswo wirklich los sei, denn mein Bruder habe damals noch das herzig-naive, amerikafreundliche, stinkkonservative Weltbild seines Vaters vertreten. »Aber sonst hast ihn dir gern ausgeborgt, meinen Vater«, rief mein Bruder mit zornesrotem Kopf, »vom Weltbild abgesehen war er in deinen Augen immer ein super Kerl!« Das stimmte. Eine Zeitlang schien es, als hätten mein Vetter und mein Bruder die Väter am liebsten getauscht. Zwar waren sie sich darüber einig, daß ihre Väter als solche Totalversager seien, doch stritten sie oft darüber, wer von den beiden der schlechtere Vater sei, ein Bewerb, bei dem jeder von beiden natürlich den eigenen Vater als Sieger sah. Mein Bruder rühmte an meinem Onkel immer dessen politischen Verstand, dessen Intelligenz und Belesenheit, während mein Vetter an meinem Vater dessen Charme und Witz, dessen Lebenslustigkeit nicht hoch genug halten konnte, im Vergleich zu seinem mürrischen, kühlen, ständig in Arbeit vergrabenen Vater. Daß sie in der merkwürdigen Atmosphäre der jährlichen Skiurlaube mit ihren Vätern und deren zweiten Frauen einerseits wie Geschwister zusammenhielten, andererseits den Versuch unternehmen 378 379 mußten, wenigstens den Onkel als Vorbild, als Bezugsfigur zu inthronisieren, erscheint mir heute so logisch wie fatal, aber an jenem Abend ging alles viel zu schnell, als daß man auf solche Feinheiten hinweisen hätte können. »Ihr seid's halt beide auf eure Weise Renegaten«, sagte mein jüngerer Vetter gelassen und griff nach einer Weinflasche, »das Ringen um euer Selbst macht euch einerseits kreativ, andererseits unglücklich.« »Warum bist eigentlich du so cool?« giftete mein Bruder, und mein älterer Vetter fiel ein: »Hat halt alles richtig gemacht, bis hin zur Wahl der Ehefrau.« Ich war einen Augenblick lang erleichtert, denn der Zorn der beiden schien sich nun gegen einen Dritten zu wenden, und die israelische Frau meines jüngeren Vetters war zum Glück gerade draußen und wickelte ihr beschnittenes Enkelkind. Ich hätte aber wissen müssen, daß sich mein jüngerer Vetter niemals als strategischer Blitzableiter hergegeben hätte, denn ihm lag nichts an der verlogenen Aufrechterhaltung labiler Verhältnisse. Ihm gefiel es vielmehr, Dinge ihren natürlichen Lauf nehmen zu sehen, den ersten Dominostein vielleicht noch umzustoßen, dann aber gelassen und interessiert nur zu beobachten. Mein jüngerer Vetter, Vetter Zwei oder Zwi, wie wir ihn seit einigen Jahren nannten, ruhte auf provozierende Weise in sich selbst. Ich hatte oft darüber gegrübelt, wie es ihm gelungen war, sich so ganz aus allen Familienquerelen und vor allem den zermürbenden Identitäts- und Zugehörigkeitsproblemen herauszuhalten, aber wahrscheinlich war es ganz einfach: Es war für ihn keine andere Rolle mehr frei gewesen. Dadurch war er quasi eine reflektiertere - und jüdischere - Ausgabe meines Vaters geworden, ein gutgelaunter, geschickter Geschäftsmann, der sich im Leben bewegte wie ein Fisch im Wasser, unangekränkelt von höheren Fragen nach dem Sein und Werden, nach dem Vermächtnis der Vorfahren oder dem eigenen Nachlaß. »Ich halt' es halt für ungesund, einen Teil der eigenen Geschichte zu verleugnen«, fuhr Zwi fort, aber mein älterer Vetter unterbrach ihn gleich wieder: »Nicht nur ungesund, vor allem unredlich!« Mein Bruder war fassungslos. »Willst du mich fertigmachen, oder was?« fragte er, und ich flehte »hört auf«, aber auf mich achtete ja wieder keiner. Da beschloß ich, Partei zu werden. »Ich hab auch beten müssen als Kind«, schrie ich und stampfte mit dem Fuß, »wie er! Jeden Abend vor dem Schutzengelbild!« Ich erzielte immerhin einen Augenblickserfolg. Sie starrten mich an, als wäre ich verrückt geworden, und gemessen an dem, was in unserer Familie als schicklich galt, stimmte das ja auch. Dann begann mein jüngerer Vetter zu lachen. Dem älteren zuckten schon die Mundwinkel, nur das seltsam glatte Gesicht meines Bruders blieb mir ein Rätsel. »Müde bin ich, geh zur Ruh!« zeterte ich weiter, in der Hoffnung, ihre Aufmerksamkeit noch ein wenig länger zu behalten und so ihre Wut aufeinander verrauchen zu lassen, ich stellte mir vor, ich wäre Robert Sara und nähme mir alle Zeit der Welt, denn bevor ich nicht geschossen hatte, würde sich keiner prügeln: »Schließe meine Äuglein zu!« Ich versuchte, nicht in die Richtung meines Sohnes zu blicken, der den Ethikunterricht besuchen hatte müssen, obwohl er Religion interessanter gefunden hätte. Bis heute erstaunt mich ja, daß ich bis zu diesem Augenblick mein eigenes kindliches Beten völlig vergessen hatte, im Gegenteil hatte ich immer behauptet, daß meine Mutter uns mit Religion völlig in Ruhe gelassen habe, ihrem eigenen polnischen Katholizismus zum Trotz. Und nun, als ich meinem Bruder beistehen wollte, tauchten plötzlich diese Erinnerungsfetzen wieder auf, von Kerzen und Weihrauch, von meiner kleinen polnischen Großmutter, von polnischem Gemurmel und meinem Schutzengelbild, auch von 380 einem kleinen goldenen Kreuz, das ich um den Hals getragen hatte, und ganz zum Schluß, kurz wie ein Blitz, ein eiskalter, verächtlicher Blick der anderen, der Frieda-Oma. Wie alt war ich gewesen? Warum hatte das alles aufgehört, vermutlich ziemlich plötzlich, sonst wäre es mir wohl nicht so lange entfallen gewesen? »Und wie geht's weiter«, fragte Zwi mit seiner unausstehlich aufgeräumten Miene, »das klingt ja gar nicht wie ein Gebet?« »Vater, laß die Augen Dein - über meinem Bette sein«, antwortete kühl mein Bruder an meiner Statt, »das steht doch in jedem Kinderbuch!« Obwohl er der letzte meiner Familie ist, mit dem ich noch verkehre, werde ich meinem jüngeren Vetter nie verzeihen, daß er die Sache an diesem Punkt nicht auf sich beruhen ließ. Schließlich wäre es mir beinahe gelungen, mit meinem geschmacklosen katholischen Striptease den Abend noch irgendwie zu retten. Aber nein, Zwi wollte es genau wissen, und vielleicht habe ich mich ja in ihm getäuscht, und er ist gar nicht so provozierend gelassen, wie wir anderen immer meinten, sondern im Gegenteil ein obsessiver Aufklärer. Mit maliziösem Lächeln begann er nämlich, Vermutungen darüber anzustellen, wie wir Halbgeschwister wohl zueinander stünden, wenn eine unserer beiden Mütter Jüdin gewesen wäre. Mit einigem Recht stellte er fest, daß unsere trotz aller Kämpfe gute und liebevolle Beziehung nicht zuletzt auch dadurch bedingt sei, daß wir genau dieselbe prekäre Mischung seien, Kinder eines Juden und einer Christin. Dabei, fügte er hinzu, müsse man nicht einmal genauer untersuchen, ob Sunny, Berti und Katzi eigentlich richtige Juden gewesen seien, das spiele hier gar keine Rolle, das könne man, für dieses Gedankenexperiment, ausnahmsweise als gegeben annehmen. Übrigens, fügte er hinzu, habe der Onkel Sunny ganz zuletzt, auf der Pflegestation, ihm gegenüber die Vermutung geäußert, daß er als Kind womöglich gar nicht emigrieren hätte müssen, wegen seiner arischen Mutter, aber das nur nebenbei. Danach ging die Sache endgültig in die Luft. Es ist mir unmöglich, das ganze folgende Geschrei, die Argumente und die Feindseligkeiten in irgendeine Reihenfolge zu bringen, und aus Selbstschutz erinnere ich mich wohl an vieles gar nicht mehr. Mühsam unterscheide ich heute einzelne Themenblöcke, um die erbittert gestritten wurde, vor allem zwei, die ich der Einfachheit halber Historisches und Aktuelles nennen möchte. Mein Bruder und ich waren uns in Bezug auf das Historische, die Einschätzung der religiösen Identität unseres Vaters und Onkels ja immer einig gewesen, und wir hatten wohl auch immer geahnt, daß unsere Vettern, die sich auf der unstrittigen Jüdischkeit ihrer Mutter feist ausruhen konnten, anderer Meinung waren. Bloß war dieser Punkt bisher sorgsam vermieden worden. Jetzt aber ging es um alles, und die kriegerischen Argumentationen liefen in die absurdesten Richtungen. Während mein Bruder und ich, nur abgesichert durch die kleine Dame, die vor dreißig Jahren in der Kultusgemeinde die Matriken verwaltet hatte, auf dem Standpunkt beharrten, daß die halachische Abstammungsvorschrift erst nach der Shoah wieder zu einem strengen Unterscheidungs-, ja Abgrenzungsmerkmal geworden war, lachten uns meine Vettern aus, weil wir uns ihrer Meinung nach an eine verschwindend kurze Periode lokaler rabbinischer Fahrlässigkeit klammerten und diese zum Gesetz erheben wollten. Mein Bruder ritt auf diesem Punkt, ob es nämlich in der Wiener Gemeinde in den zwanziger Jahren möglicherweise liberaler zugegangen sei als anderswo, gerne länger herum, aber ich schrie mit der Kraft der Verzweiflung heraus, was mir als unwiderlegbar erschien: Die Verschik-kung der beiden Kinder und ihre Rückkehr zu fremden, gebrochenen Eltern, die Hundemarke des Großvaters, die (Jberschwangsarbeit, die nach Theresienstadt abgereiste 382 383 Großmutter, genüge das nicht, um für diese Klein familie im Jahre 1947, da war mein Vater zurückgekehrt, eine klare Identität als Juden, als Verfolgte zu konstituieren? Aber dann sagte einer der beiden Vettern, sagte vielleicht sogar mein Bruder, daß ich schon wieder individuelle Identität mit faktischer Zugehörigkeit verwechselte, dann keifte ich vielleicht meinen Bruder an, ob er mir nun auch in den Rücken falle, dann sagte einer meiner beiden Vettern, daß jedenfalls der Onkel Sunny sich niemals als Jude oder als Opfer oder gar als beides gefühlt habe, dann fragte vielleicht Zwi mit seinem impertinenten Gesicht, warum zum Teufel wir eigentlich so sehr darauf bestünden, Juden zu sein, dann schrie gewiß mein Bruder, wir bestünden auf gar nichts, warum hingegen er sich benehme, als wäre er persönlich ein Exekutor der Nürnberger Rassegesetze, und so drehte sich das Karussell immer weiter, hin und zurück, ohne Lösung, ohne Ausweg. Beim Themenkomplex, der sich auf aktuelle Befindlichkeiten bezog, verliefen die Fronten ein wenig anders. Da konnten Zwi und ich uns eher verständigen, die wir zugestehen wollten, daß sich Gemeinschaften eben Regeln geben, die man zu akzeptieren habe. Mein jüngerer Vetter, mit dieser Mutter, mit dieser Ehefrau, als unumstrittenes und respektiertes Mitglied der Wiener Gemeinde, beharrte natürlich auf diesen Regeln, weil sie ihm persönlich Sicherheit gaben. Ich dagegen war konfessionellen Zugehörigkeiten immer schon skeptisch gegenübergestanden, sie waren mir nicht wichtig, sie ließen mich kalt. Gerade deshalb aber konnte ich ganz Zwis Meinung sein: Wer dabei sein wollte, sollte sich den Regeln beugen, wem also das konfessionelle Judentum wichtig war, der sollte in Gottes Namen eben übertreten, zahlen, lernen, beten, mit dem Oberkörper wippen für sein Seelenheil. Mein Bruder und mein älterer Vetter dagegen wollten auf gar keinen Fall hinnehmen, daß sich ausgerechnet das weise Judentum nicht endlich modernisierte, indem es auch Menschen Zugang garantierte, deren Väter belegbar Juden seien. Die halachische Regel, daß Jude sei, wessen JVIutter Jüdin gewesen sei, bedeute doch nur, daß ein Jude von mindestens einem Juden abstammen, daß ein Elternteil Jude sein müsse, argumentierte mein älterer Vetter zum aberhundertsten Mal, als wären wir anderen ein Rabbinatsgericht, das es zu überzeugen gelte. Da man sechstausend Jahre lang nur die Mutter sicher zuordnen konnte, habe man sich bisher verständlicherweise auf die Mutter kapriziert. »Aber seit es den genetischen Vaterschaftstest gibt, ist die Ma-trilinearität überholt«, schrie mein älterer Vetter seinen Bruder an, weil es ihn wurmte, daß seine Töchter nicht ohne weiteres Mitglieder der Kultusgemeinde werden hatten dürfen, was bei der einen dazu geführt hatte, daß sie einen Neffen zweiten Grades ihrer Mutter geheiratet und damit die norddeutschen Protestanten in der Familie noch gestärkt hatte, aus purem Trotz, wie ihr Vater, mein Vetter, nun glaubte, der diesen Schwiegersohn nicht besonders mochte. Mein Bruder dagegen hatte den Rausschmiß bei Anny Kennich vor fast drei Jahrzehnten offenbar noch immer nicht verwunden, jedenfalls kam er wieder und wieder darauf zurück, dabei ein ums andere Mal »gewisse Leute« als Rassisten bezeichnend, was wieder Vetter Eins auf die Palme brachte, der ihn daran erinnern zu müssen glaubte, aus welchen Gründen sie beide sich einst von den Marxisten abgewandt hatten. »Juden als Rassisten zu bezeichnen hat immer etwas Revanchistisches«, schrie mein älterer Vetter, »also ist es antisemitisch im reinen Sinn!« »Dein Vater war gescheiter als du«, keifte mein Bruder zurück, »der hat gewußt, daß es auch bleede Juden gibt!« »Da hat er recht gehabt«, sagte Zwi und grinste, »die Kennich Anny gehört zweifellos dazu.« »Obwohl sie deine halachischen Gesetze so tapfer ver- 384 385 teidigt hat!« ätzte Vetter Eins, aber das war nur ein Querschläger, den sein Bruder gar nicht beachtete. Inzwischen waren auch alle anderen, die Ehefrauen, die Töchter und die Schwiegersöhne meiner Vettern alarmiert, und sie scharten sich in zwei Gruppen um die Streithähne, bemüht zu beruhigen. Es nützte nichts. Mein Bruder und mein älterer Vetter machten sich von den auf sie einmurmelnden Friedensstiftern immer wieder los, um einander neue Vorwürfe zuzubrüllen. Dabei ging es schließlich vor allem darum, ob mein Bruder eine Mitverantwortung daran trage, daß er von der österreichischen Öffentlichkeit seit der Affäre Popelnik als Jude, als »provokanter jüdischer Historiker«, wie die Zeitungen immer so gern schrieben, angesehen wurde, der er, jedenfalls nach Meinung meiner beiden Vettern, nun wirklich nicht sei. »Die Juden wissen gar nicht, wie sie dazu kommen«, neckte Zwi und schmatzte beinahe ein wenig dabei, »hättest wenigstens vorher fragen können, ob wir so einen Aufrührer wollen!« »Eine angemaßte Identität«, schrie Vetter Eins, »aber sehr werbewirksam!« Ich staunte, was sich da über all die Jahre in meinem älteren Vetter an Kränkung und Zorn angestaut haben mußte. Ich hatte Vetter Eins schon seit längerem im Verdacht, daß er meinen Bruder glühend beneidete, ja daß eigentlich er sich seit jeher als Wissenschafter, als Historiker gesehen hatte. Gelegentlich hatte mein älterer Vetter kleinere Artikel zu historischen Themen in jenem Magazin veröffentlicht, bei dem er als Wirtschaftsjournalist arbeitete, und mein Bruder, der zweifellos unter Konkurrenzproblemen litt, hatte das eine oder andere Mal Bemerkungen dazu gemacht, die mein ebenso hochempfindlicher Vetter als gönnerhaft zu mißverstehen beliebte. Aber war das Grund genug, jetzt so über ihn herzufallen? Dagegen mein Bruder: Der war eben ein ganz spezieller Fall. Ich hatte fest daran geglaubt, daß ein ungeschriebenes Gesetz innerhalb der Familie lautete, ihn so zu nehmen, wie er eben war - »Du hast ihn immer wie einen Prinzen behandelt, hast ihn immer geschont«, würde Zwi jetzt wieder sagen, und ich würde vor Empörung nicht wissen, was ich erwidern sollte. In gewisser Weise hatte Zwi ja recht. Ich hielt meinen Bruder für eine Art Künstler, einen Lebenskünstler. Die Vorgänge rund um seine mutige Entlarvung Popelniks, die ihm soviel Haß wie Anerkennung, soviel Prominenz wie beruflichen Nachteil eingetragen hatte, scheinen mir bis heute das Grundmuster seines Lebens zu bilden. Und sagt es letztlich nicht mehr über die österreichische Öffentlichkeit aus als über ihn selbst, daß der Nestbeschmutzer immer zum Juden gemacht wird? Ja, er liebte es, herauszufordern, zu provozieren, anzuklagen, sich als Aufdecker und Aufklärer zu inszenieren, doch gleichzeitig war er immer schon so ungeheuer empfindlich gewesen und reagierte auf Widerspruch geradezu hysterisch, weil er ihn mit Liebesentzug verwechselte. Ich glaube ja manchmal, er ist ganz innen drin der kleine Bub geblieben, der so gern nur Fußball spielen und Vaters Anerkennung erringen wollte, doch leider waren seine Füße viel zu groß. Zwi hat mich für diese These einmal schallend ausgelacht. Ich würde auf oberflächlichste Weise psychologisieren, hat er gesagt, und daß jeder Mensch an sich arbeiten muß, anstatt sich ein Leben lang als Opfer irgendwelcher kindlichen Kränkungen zu betrachten. Doch ganz insgeheim glaube ich trotzdem, daß man nicht alle über einen Kamm scheren darf. Mein Bruder war eben, wie er war, manchmal großspurig, manchmal verrückt, aber er hat schließlich nicht nur Breitenwirkung, sondern bemerkenswerte wissenschaftliche Erfolge erzielt. Da meine ich wahrlich nicht nur Popelnik, so notwendig und heilsam dieser Skandal für die österreichische Volksseele auch war. Nein, ich glaube, seine frühen Studien über 386 387 die Häretikerbewegungen sind unter allen seinen historischen Arbeiten am bedeutendsten und warten immer noch darauf, so entdeckt zu werden, wie es ihnen gebührt, und dann in einen größeren, in den größten weltpolitischen und philosophischen Zusammenhang gestellt zu werden. Kaum etwas müßte eigentlich bei der heutigen Weltlage so aktuell sein wie meines Bruders »Gedanken über den Nutzen der Ketzerei«! Daß zur Schaffung geistiger Meisterwerke ein gewisses Maß an Irrsinn, an Selbstüberhöhung und Minderwertigkeitskomplex, an Pose, Übertreibung und Verzweiflung gehört, wer würde das ernstlich bestreiten? Und wer wüßte das besser als gerade ich, die Zuschauerin, die ich ja immer nur war, die perfekte Erbin der Frieda-Oma, alles nachgezählt und nachgeprüft, aber kein Gramm Inspiration? Jedenfalls inszeniert sich doch jeder Künstler und Intellektuelle irgendwie, nicht wahr? Der eine mehr, der andere weniger ... - »Bei denen, die sich weniger inszenieren, nennt man das: Normalsein«, höre ich Zwi jetzt sagen. Warum ist der Zwi in meinem Kopf nicht endlich still? Denn das ist letztlich auch mein Unvermögen an diesem verhängnisvollen Abend gewesen: Daß ich keine klare Position bezog, weil ich zwei Seelen in meiner Brust habe, und nicht genug damit, lasse ich sie auch noch immerzu sprechen, alle beide, anstatt daß ich eine davon längst erwürgt hätte. Eigentlich war das seit jeher mein Problem. Früher, als ich noch ein Kind war und dieser wortgewaltigen Familie zuhörte, hatte ich einen großen Wunsch: Ich wollte eine eigene Meinung. Der Wunsch hatte ungelogen diesen Wortlaut. Eine eigene Meinung zu haben, das schien das Gegenteil zu den Erfahrungen am großen Familientisch zu sein, wo die Mythen und Geschichten, die Aphorismen und Apergus, der im Jenseits grantelnde Großvater und seine übermächtige, weil unvollständige Lebengeschichte alles beherrschten. Aber bei dieser Familie, wo das Faktische oft ungewiß war, wo alles nur gut und ganz wurde, wenn man es zu einer Geschichte mit einer Pointe machen konnte, da wollte mir das natürlich nicht gelingen. Und so schwankte ich an diesem Abend hin und her, weder in der Lage, eine Partei zu nehmen, noch zu vermitteln, was beides vermutlich besser gewesen wäre als meine chaotische Indifferenz. War mein Bruder wirklich ein »eingebildeter Jude und gebildeter Kranker«, wie mein älterer Vetter am Höhe- und Schlußpunkt fauchte, kurz bevor mein Bruder aufstand und ging? War mein älterer Vetter ein »Renegat, der sich als Rabbi fühlt«, wie mein Bruder schrie? Und welche Rolle spielte mein jüngerer Vetter, der meistens nur dasaß und in sich hineingrinste, als mache ihm persönlich diese überflüssige und verletzende Familienstreiterei einen Heidenspaß? Ich weiß es nicht. Ich verstehe seither vieles nicht mehr genau. Ich weiß nur noch, daß wir übrigen, nachdem niemand meinen Bruder zurückhalten hatte können, trotzdem noch sitzenblieben und plötzlich über das Konzept Familie zu reden begannen, höflich, gedämpft und rücksichtsvoll, als könnten wir damit etwas ungeschehen machen. Auch ich habe so getan, als hätte ich keinen Grund, meinen Vettern ein paar unangenehme Fragen zu stellen, bezüglich ihrer gerade noch stattgehabten Aggressivität, ihrer absurden und beleidigenden Grenzziehungen mitten durch die Familie, auch ich saß da und hörte mir freundlichen Gesichts an, wie mein älterer Vetter behauptete, »Familie« seien für ihn immer die anderen gewesen, die kommunistische englische Oma und die Brüder und Schwestern der kleinen Engländerin. Dort in Willesden zwischen den Einwanderern aus aller Welt habe er sich zu Hause gefühlt, nicht aber in der muffigen, dunklen Wohnung beim Augarten, in die sie als Kinder mehrmals die Woche gebracht wurden, weil sonst 388 389 niemand auf sie aufpassen konnte. Zwi sah das weniger negativ. Er hielt dagegen, daß er mit unserem Großvater gern Schach gespielt habe. Daß die Frieda-Oma die Kinder ununterbrochen gescholten und zurechtgewiesen habe, ja, das sei wohl wahr, aber ihm völlig egal gewesen. »Traurig«, fragte er erstaunt und sah seinem Bruder direkt ins Gesicht, mit einem Ausdruck, den ich zum ersten Mal an diesem Abend ehrlich fand, »bedrückend?« Nein, so habe er das nicht empfunden in der muffigen Wohnung beim Augarten. Er erinnere seinen Bruder vielmehr daran, wieviel Spaß sie mit dem Opa gehabt hätten, der regelmäßig abfällige Bemerkungen zum »alten Scheißgesicht« gemacht habe, ein Ausdruck, den sie als Kinder herrlich grell und verboten gefunden hätten. »Manchmal hat er uns alle drei ins Kaffeehaus mitgenommen«, erinnerte Zwi seinen Bruder und meinte damit alle drei Enkelsöhne, auch meinen Bruder, der der Jüngste war, »dann haben wir ein Himbeer-Soda gekriegt und so getan, als würden wir mit dem Opa Bridge spielen.« »Die Frieda-Oma war kalt und unnahbar«, beharrte stur mein älterer Vetter, »und das hat sie diretissima unserem Vater vererbt.« »Laßt's doch endlich den Opa in Ruh«, meldete sich plötzlich eine der Töchter meines älteren Vetters zu Wort, ihren eigenen Großvater, meinen Onkel meinend. Seit sie klein sei, höre sie beständig die Geschichten, was für ein übler Vater und kalter Mensch ihr Opa gewesen sei. Sie könne diese Meinung überhaupt nicht teilen, sagte sie, während im Gesicht ihrer Mutter, der trockenen Norddeutschen, ein kleiner Stolz aufzuleuchten schien, denn zu ihr und ihren Schwestern sei er der liebevollste und aufmerksamste Großvater gewesen, den man sich nur vorstellen könne. Sie frage sich vielmehr, welches Problem seine beiden Söhne eigentlich hätten, namentlich aber ihr Vater, der sich sein Leben lang an seinem Vater abzuarbeiten schien. »Und der Onkel genauso«, sagte sie und deutete zur Tür, durch die vor einiger Zeit mein tödlich beleidigter Bruder abgegangen war. »Genau«, fiel plötzlich ihre Cousine, eine Tochter von Zwi, ein, und ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, daß nun eine ganz neue und andere, eine friedlichere und langweiligere Geschichte begann, »genau«, sagte sie, »ihr habts doch alle einen Vergangenheitswahn.« Daß wir vergessen hätten, selbst zu leben, fuhr sie fort - während ihr Onkel angesichts dieser pathetischen Formulierung ein hochmütiges Lächeln versuchte -, weil wir verzweifelt nach Anweisung und Anleitung suchten, nach politischer und ideologischer Lenkung aus der Vergangenheit. »Was aber ist unsere sogenannte Familiengeschichte?« fragte sie rhetorisch, griff grazil nach ihrem Glas und trank es aus, unsere Familiengeschichte bestehe doch nur aus geschönten Anekdoten einerseits, aus um so auffälligeren Lücken andererseits. »Das bildet doch keinen Zusammenhalt«, sagte sie und stellte das Glas hin, »das ist doch nur blödes Gerede.« Dann stand sie auf und ging hinaus, weil draußen eines ihrer Kinder laut zu heulen begonnen hatte. »Nun ja, die Jugend hat immer recht, auch wenn sie nicht recht hat«, sagte Zwi und streckte seine Glieder, während Vetter Eins zu einer letzten beleidigten Gegenrede ansetzte. Der himmelweite Unterschied sei, darauf beharrte Vetter Eins, ob man von einem eiskalten, emotional abwesenden Vater nur erzählt bekommen oder ob man ihn am eigenen Leib erlebt habe. »Ach hör schon auf«, sagte seine Frau und lachte, »du verstehst doch gar nicht, was sie meinen.« Und so ging alles zu Ende. Es war schmerzlich für die, die dabei waren, unbegreiflich für alle anderen. Ein Familienstreit, nichts weiter, und die dieser ersten Nachkriegsgeneration offenbar immanente Unfähigkeit, Konflikte zu überwinden. »Du weißt auch nicht, wo er ist?« wird 390 391 mich mein Mann wie jedes Jahr rund um meines Bruders Geburtstag fragen, wenn die Zeitungen wieder vermehrt Spekulationen darüber anstellen, wo genau und wie lange noch »Österreichs einziger Historiker von Weltrang« an seinem Hauptwerk schreibe - seit er irgendwo in Südamerika verschwunden ist und nur noch gelegentlich Aufsätze in englischsprachigen Publikationen veröffentlicht, hat ihn die öffentliche Meinung natürlich heimgeholt als großen Sohn. »Warum treffen wir uns nicht wieder mal?« werde ich Zwi unentschlossen am Telefon fragen, wenn ich mich für seine jährliche Weihnukkah-Karte bedanke, und er wird unverbindlich antworten »sehr gern, rufen wir uns bald mal z'samm'«. »Ich hab die Tochter von Zwi im Fernsehen gesehen«, wird mir mein Sohn berichten, wenn er von seinen Hilfseinsätzen in Israel auf Urlaub nach Hause kommt, »ich glaube, es war die Ältere. Wie heißt sie nochmal?« Vor vielen Jahren, als mein Bruder und mein älterer Vetter noch die dicksten Vertrauten waren, wie Brüder, wie Schicksalsgenossen, da pflegten sie manchmal über einander zu sagen: »Die besten Freunde sind die, die man sich selber ausgesucht hätte, wären sie nicht zufällig schon mit einem verwandt!« Und dann schüttelten sie sich vor Lachen und klopften einander auf die Schultern, rauchten und tranken, erfanden neue Königsbees, die ab dem Zeitpunkt ihrer Erfindung natürlich von allen Anwesenden als »Originale« ausgegeben wurden, und erzählten sich und uns Geschichten. Die besten Freunde und die schlimmsten Feinde sind eben meistens »zufällig schon mit einem verwandt«. Solange mein Vater, meine Mutter, mein Onkel, die Tante Ka und die kleine Engländerin lebten, die die Widersprüche und Ungereimtheiten unserer Familie verkörperten, als Beweis für alles, was möglich ist, so lange konnten wir Kinder die besten Freunde sein und Mitglieder einer Familie. Doch als diese Generation tot war, kämpften wir traurigen Diadochen um eine Deutungshoheit, die vor uns keiner gebraucht hatte. Und so muß es hier eben zu Ende gehen, mit meiner lustigen Familie und mit dem ganzen herrlichen »Em-Em«. 392 393