THOMAS KLUPP: PARADISO (2009) Thomas Klupp und Preise Thomas Klupp wurde im Jahre 1977 in Erlangen in Bayern geboren. Er arbeitete als Kameraassistent beim Regionalsender Oberpfalz TV in Amberg. Im Jahre 1999 begann er die Hochschule zu studieren. Bis 2001 studierte er an der Freien Universität in Berlin Theaterwissenschaft und Publizistik, in den Jahren 2001 - 2006 Kreatives Schreiben und Kulturwissenschaften an der Universität in Hildesheim. Heute ist er am Institut für literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft in Hildesheim als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. Heutzutage lebt Thomas Klupp wechselweise in Hildesheim und in Berlin. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989, Medien- und Literaturtheorie. Zuerst veröffentlichte Thomas Klupp seine Artikel in den literarischen Zeitschriften. In den Jahren 2002 – 2005 war Mitherausgeber der Zeitschrift BELLA triste an der Universität in Hildesheim und im Jahre 2005 nahm er an der Organisation des Literaturfestivals Prosanova (literarisches Festival für junge Literatur, jedes Jahr) teil. Nach den Artikeln und kürzeren Prosastücken schrieb er im Jahre 2009 sein Debütroman Paradiso, der nicht nur die Aufmerksamkeit der Leser, sondern auch Kritiker geweckt hat. Für diesen Roman wurde ihm im Jahre 2009 Nicolas-Born-Preis verliehen. Klupps Roman wurde mit diesen Worten bewertet: Sein in diesem Frühjahr veröffentlichter Debütroman Paradiso ist ebenso ein rasantes literarisches Roadmovie wie ein warmherziger Entwicklungsroman; damit hat sich eine wunderbare neue Erzählerstimme zu Wort gemeldet. Am Anfang des Jahres 2010 wurde er mit der Rauriser-Literaturpreis ausgezeichnet. Diesen Preis bekam er als Autor der besten deutschsprachigen Prosa-Erstveröffentlichung. Aus den Bewertungen der Jury und aus den Rezensionen ist sichtbar, dass vor allem die Form und die Hauptfigur des Romans im Mittelpunkt stehen. Wir schauen zusammen die Form des Romans, das Roadmovie, und auch die ambivalente Wahrnehmung des Helden Alex Böhm an. Das Roadmovie Ein Roadmovie ist die Bezeichnung, die vor allem mit dem Filmgenre verbunden ist. Das Roadmovie entstand in den USA in den 60er Jahren als Bezeichnung eines Filmgenres, wo die Straße eine wichtige Rolle spielt. Das Reisen wurde aus dem Film auch in die Literatur genommen, weil auch die Schriftsteller mit dem Motiv der Reise und der Wanderschaft das Lebensgefühl und damit verbundene Freiheit und Unabhängigkeit ihres Helden ausdrücken wollten. Die Reise dient in vielen Fällen auch als eine Metapher. Als einen Vorläufer eines literarischen Roadmovies kann Jack Kerouacs Roman Unterwegs (1957) betrachtet werden. Die Straße und das Reisen spielen auch im Paradiso eine wichtige Rolle, deshalb konnte Paradiso als „rasantes literarisches Roadmovie“ bezeichnet werden. Alex Böhm, die Hauptfigur des Romans, muss eine Reise unternehmen, um sein Ziel zu erreichen. Alex Böhm ist ein junger, etwa zwanzigjähriger Student der Filmhochschule in Potsdam. Aus dieser Stadt soll er mit dem Starnberger Förster nach München fahren, wo auf ihn seine Freundin Johanna wartet. Zusammen sollen sie am nächsten Morgen in Urlaub nach Portugal fliegen. Der Förster in seinem gelben Kombi fährt aber nicht; so muss Alex alles in seine Hand nehmen. Es bleibt ihm nur eine Möglichkeit: er muss allein zum Flughafen fahren. Weil er weder ein Auto noch jemanden hat, der ihm zum Münchner Flughafen bringen kann, muss er per Anhalter reisen. Dazu benutzt er die Menschen, die er während seiner Reise trifft und die auf ihn einen kleineren oder größeren Einfluss haben. Gerade die Straße soll ein Mittel sein, das Ziel zu erreichen. Die ganze Geschichte spielt sich etwa in 24 Stunden ab. Es handelt sich um die freie Reihenfolge von Episoden, die durch die Person von Alex Böhm verknüpft sind. Die Struktur des Romans, also die Hauptlinie und die Nebengeschichten erinnern gerade an das Roadmovie. Diese Erinnerungen sind ganz wichtig, weil sie dem Leser helfen, sich das komplexe Bild von Alex Böhm zu bilden. Diese Erinnerungen und kleine Geschichten geben die Möglichkeit, diese Geschichte auch zu verfilmen. Der Roman wird in der Ich-Form geschrieben, was verursacht, dass die Geschichte von Alex dem Leser näher ist. Sehr interessant ist auch die Sprache in Paradiso. Thomas Klupp benutzt keine Anführungszeichen, deshalb wirkt der Text sehr dynamisch und die Geschichte ist immer fließend. Wer ist Alex Böhm? Jetzt werden wir zusammen die Antwort auf die Frage finden, wer in Wirklichkeit die Hauptfigur von Alex Böhm ist. Ich möchte hier drei Interpretationen von Alex Böhm anbieten. Aufgrund von diesen drei Interpretationen möchte ich nicht nur die Hauptfigur vorstellen, sondern auch das Buch Paradiso selbst. 1. Alex Böhm als ehrlicher Blender, aufrichtiger Lügner? Alex Böhm: http://paradiso.berlinverlage.de/?id=520 Diese Wendung „ein ehrlicher Blender“[1] wirkt sehr interessant oder seltsam, weil es sich um eine Verbindung von zwei widerspruchsvollen Merkmalen handelt. Diese Bezeichnung soll in der Wirklichkeit den Widerspruch zwischen dem ausdrücken, wie sich Alex benehmen will oder soll und wie er sich in Wirklichkeit benimmt. Diese Widersprüche begleiten Alex durch das ganze Buch. Wir können es aufgrund von ein paar Beispielen beweisen. Schon am Anfang des Buches trifft Alex seinen Schulfreund Konrad, der jetzt ein erfolgreicher Mann ist. Obwohl es ihm Alex gönnt, beginnt er zu lügen. Er erzählt ihm über seinem Drehbuch, der er verkauft hat und der im Herbst verfilmt wird. Damit will er Konrad zeigen, dass er auch „Jemand“ ist. Nachdem er Konrad verliest, fährt er weiter mit dem Lastkraftwagenfahrer Konrad und mit Patrizia in ihrem Kastenwagen. Auch ihr erzählt er über seinem ausgedachten Film. Sogar lässt er sie in einer Kneipe sitzen und flieht durch das Klofenster. Auch seine Freundin Johanna belügt er, wenn er sich ungefähr 50 km von Weiden, seiner Heimatstadt, befindet. Er will noch einen Besuch zu Hause machen, deshalb schreib ihr: Ich schreibe ihr, dass ich leider einen Auffahrunfall hatte und mein Mobiltelefon keinen Saft mehr hat und ich jetzt auch noch eine Zeugenaussage bei der Polizei machen muss und deshalb erst morgen zum Flughafen kommen kann. [2] Das nächste Beispiel ist die Situation in der Kirche, wo Alex den Leuten erzählt, dass er in fünfzehn Minuten am Flughafen sein muss, um mit seiner Verlobten nach Jerusalem zu fliegen. Im Roman gibt es einige Andeutungen, wo Alex besser sein will. Z. B. wenn er endlich am Flughafen ist, will er Johanna zum letzten Mal lügen und dann schon ehrlich sein: Nein. Ich werde noch eine letzte kleine Geschichte erzählen und danach dann ehrlich sein. Dann aber wirklich, das schwöre ich.[3] Es scheint, dass innerer Zwiespalt zwischen der Ehrlichkeit und Unehrlichkeit, die die Hauptfigur immer begleitet, hier endlich überwunden wird. Ob dieses Vorhaben Alex wirklich eingehalten hat, erfährt man aber nicht. Verena Mayer sagt zu Alex folgendes: Alex Böhms Leben ist eine Kette von bewussten Täuschungen. Ob er seine Freundin per SMS in die Irre führt, seinen besten Kumpel hintergeht oder eine Frau in der Kneipe sitzen lässt, während er sich aus dem Klofenster davonstiehlt - Alex Böhm lügt und betrügt nicht nur, wie es ihm gefällt, sondern auch, weil es ihm gefällt. [4] Alex lügt und betrügt vor allem, weil es ihm hilft. Vor Konrad und Patrizia zeigt er so, dass er etwas bewiesen hat. Solche Lüge kann man noch entschuldigen. Die Tatsache, dass er auch seine Freundin betrügt, ist aber nicht in Ordnung. Es gibt bei Alex die Andeutungen der Verbesserung, manchmal hat er sogar Gewissensbisse und will besser sein. Er bricht es aber immer wieder. Im Inneren will er ehrlich sein. In Wirklichkeit bleibt er aber ein Blender. 2. Alex Böhm als leichtsinniger Sinnsucher? Mit den Täuschungen und Lügen, die die Reise von Alex Böhm begleiten, hängt auch Ziel seiner Reise zusammen. Man kann fragen, ob Alex nicht nur den Weg sucht, wie schnellstmöglich zu Johanna nach München zu fahren, sondern ob er auch sich selbst sucht. Sehr oft erscheinen bei ihm die Widersprüche zwischen dem, was er machen sollte und was er schließlich macht. Einige seine Taten sind wirklich leichtsinnig: seine Lügen, Verhalten in der Kneipe, wo er Patrizia sitzen lässt und der Gipfel ist eine Party im Paradiso. Es ist „ein Filterwochenende“ am Baggersee Paradiso, für Alex eine Gelegenheit, seine alten Freunde wieder zu sehen. Hier trifft er auch seine Ex-Freundin Leni. Die hat er auch betrügt. Von Leni hat er sich nämlich von fünf Wochen getrennt, es sollte aber nur eine Pause sein. Alex hat sich aber eine neue Freundin, also Johanna, gefunden, über die Leni nicht weiß. Jetzt weiß Alex nicht, welche von beiden für ihn die rechte ist. Trotzdem jetzt Johanna seine Freundin ist, schläft er im Paradiso mit Leni. Der beste Freund von Alex Simon will Leni die Wahrheit über Alex und Johanna sagen. Das will aber Alex nicht zulassen und es kommt zu einer Schlägerei zwischen den beiden. Dabei schlägt Alex Simon fast tot. Der Fall mit Leni und diese Schlägerei zeigen auch Alex’ Charakter und sein leichtsinniges Verhalten. Bei der Entscheidung, welches Mädchen für ihn das richtige ist, vergisst er seine Moral. Um die Wahrheit über sich selbst zu verschweigen, ist er fähig, seinen guten Freund fast zu töten. Er will mit Johanna sein, aber auch Leni nicht verlieren, deshalb bringt er Simon fast um. Es scheint, dass die Erschütterung über die Verletzung Simons ihm doch geholfen hat, sich selbst zu finden. Leider musste Alex seinen Freund fast töten, um sich bewusst zu werden, dass etwas in seinem Leben nicht in Ordnung ist. Er trieb es beinahe so weit, dass er seine langjährige Freundschaft vernichtet hat, um seine Lügen verborgen zu halten. Diese Party war für Alex ein Impuls, endlich wichtige Entscheidungen zu treffen. Dieses Filterwochenende kann man als Anstoß zur Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit zu begreifen. Alex entscheidet sich mit Johanna zu sein und mit ihr in Urlaub zu fahren. Jetzt sollte sich eine Etappe Alex’ Lebens abschließen und eine neue vor ihm stehen. Alex Böhm kann also als ein leichtsinniger Sinnsucher bezeichnet werden. Leichtsinnig und unverantwortlich sind seine Lügen und sein Verhalten. Und er sucht nicht nur die Möglichkeit, wie am schnellsten nach München zu fahren, sondern auch sich selbst, seine Identität. In manchen Situationen ist er sehr unsicher, was mit seinen Lügen zusammenhängt. In den Lügen sucht er eine Hilfe. 3. Alex Böhm als Lebensgenießer? Das letzte literarische Arschloch ähnlicher Größe, mit dem ich ähnlich begeistert unterwegs war, obwohl ich auch bei ihm überzeugt war, man müsse ihn unbedingt sofort in die nächstgelegene Klinik verlegen, das war vor 14 Jahren. Auch mit dem bin ich quer durch Deutschland Richtung Süden, der kotzte aber mehr, warf mit Markennamen um sich und noch mehr Drogen ein als Alex. Der war - in Faserland - das alter ego seines Urhebers Christian Kracht. [5] In Zusammenhang mit Klupps Roman Paradiso spricht man auch über Faserand (1995) von Christian Kracht. Faserland gehört zum Genre der Popliteratur, deshalb bietet sich hier eine Frage, ob Paradiso von Thomas Klupp als ein Poproman bezeichnet werden kann. Zuerst zum Begriff Popliteratur: Der Ursprung liegt in Amerika in den 40er und 50er Jahren des 20. Jhds. Es geht vor allem darum, das Lebensgefühl der Jugendlichen einzufangen, um die Auseinandersetzung mit Mode, Popmusik und Fernsehkultur. In den 60er Jahren suchten die jungen Autoren in dieser Literatur ein Mittel zur Befreiung von der Generation ihrer Väter. In den siebziger und achtziger Jahren entwickelte sich daraus die Literatur, die sprachkritisch, satirisch und ironisch sein sollte. In den neunziger Jahren verschwindet aus der Popliteratur das Merkmal der Rebellion und die Bücher sollen den Leser vor allem unterhalten. Die Popliteratur kann man auch verstehen als eine literarische Entwicklungslinie, die sich im 20. Jahrhundert darum bemühte, die Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur aufzulösen und damit auch Themen, Stile und Schreib- und Lebensweisen aus der Massen- und Alltagskultur in die Literatur aufzunehmen.[6] Die Popliteratur feiert einen großen Erfolg. Sie ist unterhaltsam, schildert vor allem die Situationen aus dem Alltagsleben und ist lesbar. Die Themen wie Musik, Sex, Partys, Alkohol oder Drogen locken immer die Leser, besonders die jungen. Die Hauptidee des Helden ist, keine Probleme zu lösen und das Leben in vollen Zügen zu genießen. Ist also Alex Böhm ein Lebensgenießer wie ein Held des Pop-Romans? Zum Vergleich nehmen wir schon erwähntes Buch Faserland von Christian Kracht (*1966, schweizerischer Schriftsteller, Journalist). Faserland ist eine Geschichte eines Ich-Erzählers, der eine Reise durch Deutschland, also aus dem nördlichen Sylt durch Hamburg, Frankfurt am Main und München zum Bodensee unternimmt. Es ist auch eine Reise von Party zu Party mit viel Alkohol, Drogen, Mädchengesellschaft und Musik. Der Ich-Erzähler hat nichts zu tun, muss sich um nichts kümmern, und dazu hat er genug Geld. Antwort auf die Frage, warum Faserland und Paradiso verglichen werden, könnte lauten: vor allem ist es wegen beiden jungen Hauptfiguren, die man als Lebensgenießer bezeichnen kann. Alex Böhm und der namenlose Ich-Erzähler aus Faserland sind auch im ähnlichen Alter. Alex ist zwanzig Jahre alt, der Ich-Erzähler fast dreißig. Dazu kommen nicht nur die gleichen Themen wie Musik, Alkohol oder Mädchengesellschaft. Auch Alex trinkt Alkohol und probiert leichte Drogen. Aber aufgrund der kurzen Zeitspanne fast ausschließlich während des Treffens mit seinen Freunden im Paradiso. Beide Hauptfiguren unternehmen auch eine Reise und beide Romane werden aus der Ich-Perspektive erzählt. Alex Böhm ist ein junger Mensch, der auch mit Alkohol, Musik und auch leichten Drogen zu tun hat. Es gehört zum Leben einiger heutigen Jugendlichen. Er genießt die Party im Paradiso, schläft mit Leni, sitzt in den Kneipen und spricht dabei mit den Bekannten. Und will auf Urlaub fahren. Obwohl er mehr Verantwortung als der Ich-Erzähler aus Faserland übernehmen muss, weil er eine Freundin hat, die auf ihn in der bestimmten Zeit auf dem bestimmten Ort wartet, ist er ein Lebensgenießer, der mit den Helden des Pop-Romans verglichen werden kann. Faserland reloaded? http://paradiso.berlinverlage.de/?id=520 Zum Schluss noch ein Video aus der Autorenlesung in Goethe-Institut in Budapest, die im November 2009 stattgefunden hat. Es sind die Worte von Thomas Klupp, wo er über die Hauptfigur von Alex Böhm spricht, und auch darüber, was ihn dazu bewegt hat, diesen Roman zu schreiben: http://www.goethe.de/kue/lit/prj/lit/mag/vid/csindex.htm ________________________________ [1] ein Blender = jemand, der besser wirkt, als er in der Wirklichkeit ist [2] KLUPP, Thomas: Paradiso. Berlin: Berlin Verlag, 2009, S. 47. [3] Dortselbst, S. 197. [4] MAYER, Verena: Filmriss. Thomas Klupp: Paradiso. 12. 3. 2009. URL http://www.sueddeutsche.de/kultur/576/461203/text/ - Aktualisierungsdatum: 22. 4. 2012. [5] KREKELER, Elmar: Faserland reloaded. 21. 2. 2009. URL http://www.welt.de/welt_print/article3245569/Faserland-reloaded.html - Aktualisierungsdatum: 20. 4. 2012. [6] ERNST, Thomas: Popliteratur. Rotbuch 3000. Hamburg, 2001, S. 9.