seiner Zimmergenossen zu studieren. Sie waren auf ärgerliche Art einander ähnlich. Er bemühte sich - ohne jeden Erfolg-, ein Gespräch mit seinem Krankenwärter, einem mürrischen alten Tataren, der beim Gehen das rechte Bein nachschleppte, anzuknüpfen. Er unterdrückte den Groll gegen seinen Bettnachbarn, der ihn mit seinem endlosen Husten allnächtlich aus dem Schlaf weckte, verzieh ihm diese und andere Untugenden und versuchte, sich ihm verständlich zu machen. Er sprach zu ihm wie zu einem Kinde: Langsam, mit viel Geduld und in merkwürdig vereinfachten Redewendungen. Der Versuch mißlang. Georg Pichler sprach kein Wort Russisch und sein Nachbar zudem vermutlich nur Tatarisch. Allmorgendlich machten die beiden Ärzte die Runde. Der eine von ihnen, der Altere, verstand Französisch. Georg Pichler verwendete einige Nachmittagsstunden dazu, sich Redensarten in französischer Sprache zurechtzulegen. Als er dann am Morgen in der Sprache Racines Bemerkungen über die wahrscheinliche Kriegsdauer und über seine eigene Person machte, nickte der Arzt ihm freundlich zu, klopfte ihm auf die linke, die gesunde Schulter und trat an das nächste Bett. Er hatte kein Wort verstanden. Schließlich gelang es Georg Pichler dennoch, mit dem Aufgebot einiger lateinischer Verba und Substantiva, die ihm vom Untergymnasium her in Erinnerung geblieben waren, dem Arzt begreiflich zu machen, daß er Lektüre wünsche. Am nächsten Morgen erhielt er: Eine polnische Grammatik, den ersten Band eines zerlesenen ungarischen Romanes und eine albanische Bibel. Da die Außenwelt ihm versperrt war, zog sich Georg Pichler gänzlich in sich zurück. Er erfand allerlei Methoden, sich die Zeit, die sich zwischen Erwachen und Einschlafen endlos dehnte, zu verkürzen. Er zerlegte das Räderwerk seiner Uhr und setzte es wieder zusammen, und dies wiederholte er so lange, bis sie ihm gestohlen wurde. Er studierte seine Zugsliste, legte eine Statistik der Vornamen seiner ehemaligen Untergebenen an und stellte fest, daß der Name Anton siebenmal, der Name Johann fünfmal und die Namen Franz und Heinrich je 32 dreimal in der Zugsliste vorkamen. Er wettete mit sich selbst, aus wieviel Silben und Buchstaben sich die Gedichte zusammensetzten, die er noch von der Schulzeit her auswendig wußte. «Burg Niedek liegt im Elsaß» bestand aus zweihundert-einundvierzig Silben und eintausendeinhundertzweiundsieb-zig Buchstaben. «Gott grüß Euch, Alter, schmeckt das Pfeifchen?» zählte beinahe ebensoviel Buchstaben wie «Placidus, ein edler Feldherr». Eben, als er mit der Zerlegung des «Kaisers Rotbart lobesam» beschäftigt war, trat das unerwartete Ereignis ein, das seinem bisherigen Zeitvertreib ein für allemal ein Ende setzte. Ein neuer Transport leichtverwundeter Kriegsgefangener traf ein, der noch am selben Tag weiterbefördert wurde. Eine Stunde lang hörte sie Pichler auf den Gängen hin und her gehen. Keinen von ihnen bekam er zu Gesicht. Aber am nächsten Morgen warf der Arzt eine Zeitung auf Pichlers Bett. Es war eine Wiener Zeitung und sie trug das Datum: 12. Oktober 1916. Dem Korporal Pichler stockte eine Sekunde lang der Atem vor Aufregung und Freude.jEr begriff es plötzlich nich^wie^es möglich war, daß er so vieJe Wochen hindurch das Leben ohne die tägliche Zeitung ertragen hatte.[Einen Äugenblick lang kämpfte erlnit dem Entschluß, ökonomisch vorzugehen, mit der Fülle der Sensationen, die das Blatt enthalten mußte, hauszuhalten, jeden Tag des Morgens nur eine halbe Spalte zu lesen. Jedoch das Fleisch war schwach: Er las die Zeitung in einer halben Stunde, las sie in einem Zug von der ersten Zeile bis zu den Annoncen. Als er die Lektüre beendet hatte, warf er das Blatt achtlos auf den Erdboden. Es hatte ausgedient, ihm eine halbe Stunde hindurch die Zeit vertrieben, war zu nichts mehr nütze. Eine Stunde später zwang ihn die Langeweile, das Blatt vom Boden aufzuheben. Er hatte es - sagte er sich - ja nur flüchüg gelesen, vieles überflogen, den Börsenbericht und den volkswirtschaftlichen Teil kaum angesehen. Er las die Zeitung mit Gründlichkeit ein zweites Mal und entdeckte in der Lokalchronik und in der Theaterrubrik Einzelheiten, die ihm entgangen waren. 33