Mauthner, Fritz, * 22. 11. 1849 Horitz/Böhmen, † 29. 6. 1923 Konstanz; Literat, Philosoph. Der Sohn eines dt.-jüd. Webereibesitzers wuchs, wie er in seinen Erinnerungen (Mchn. 1918) beklag-te, ohne Muttersprache u. Religion auf. Als Jude in einem zweisprachigen Land mußte er »die Leichen dreier Sprachen« - Deutsch, Tschechisch, Hebräisch - erlernen, worin er später die Wurzel seiner sprachkrit. Haltung sah. Nach dem Besuch der Mittelschule in Prag u. dem Teilabschluß seines Jurastudiums nahm er eine Stelle in einer Kanzlei an, die er jedoch nach dem Tod seines Vaters aufgab, um sich ausschließlich der Schriftstellerei zu widmen. 1876-1905 schrieb er in Berlin Feuilletons u. Theaterkritiken für das »Berliner Tageblatt«, dessen Re-daktion er von 1895 an leitete. Neben zahlreichen Parodien, deren Sammlung Nach berühmten Mustern(Stgt. 1878) ihn bekannt machte, verfaßte er eine Reihe von Novellen u. Romanen, die politisch-soziale Themen der Zeit kritisch beleuchten oder histor. Personen (Xanthippe. Dresden 1884. Hypatia. Stgt. 1892) in nicht-historisierender Weise porträtieren. Bereits in Berlin begann M. an seinem radikalskept. Projekt einer Sprachkritik zu arbeiten. Seit 1893 war er mit der Niederschrift seiner Beiträge zu einer Kritik der Sprache (3 Bde., Stgt. 1901/1902) beschäftigt. 1905 zog er sich aus der Öffentlichkeit, die sein philosophisches Werk in nicht befriedigender Weise aufnahm, ins private Gelehrtenleben zurück, zuerst nach Freiburg i. Br. u. 1909 schließlich nach Meersburg/Bodensee. Die wichtigsten Werke dieser letzten Schaffensperiode sind das Wörterbuch der Philosophie (2 Bde., Mchn. 1910/11), in welchem M. die Methodeseiner Sprachkritik auf die Begriffe der Philosophieanwandte u. an den in seinen Beiträgen ungelösten Problemen weiterarbeitete. Schließlich vollendete er das vierbändige Werk Der Atheismus und seine Geschichte im Abendland (Stgt. 1920-23. Ffm. 1989), in dem er die Geschichte der Freidenkerei seit dem MA darstellte. Von den literar. Arbeiten ist Der letzte Tod des Gautama Buddha (Mchn. 1917) zu nennen, die M.s Weg zur »gottlosen Mystik« u. zum Schweigen als Konsequenz seiner Haltung darstellt. M. ist heute durch seine Sprachkritik bekannt, während sein literar. Werk vergessen ist. Seine Sprachtheorie ist geprägt von tiefer Skepsis gegenüber jegl. Möglichkeit, die Wirklichkeit objektiv zu erfassen. Denn die Sinne, die M. Zufallssinne nannte, geben uns Wirklichkeit nur gemäß subjektiven Bedürfnissen u. nicht ihrem Wesen nach zu erkennen. Darin zeigt sich M. sowohl von Gedanken Nietzsches beeinflußt, wie sie in dessen späten Aufzeichnungen, dem Willen zur Macht, zum Ausdruck kommen, als auch von der antimetaphys. Lehre von den Sinnesempfindungen bei Ernst Mach, dessen Prager Vorlesung M. hörte u. mit dem er in Briefwechsel stand. Sprache u. Denken, die M. gleichsetzte, vermögen dieSinneserfahrungen nicht zu transzendieren, da dieWörter einerseits nur Erkennungszeichen für die Empfindungen u. andererseits metaphorisch-vieldeutig sind, so daß das Resultat des sprachl. Zugriffs auf die Wirklichkeit immer nur ein so oder so gestaltetes Weltbild ohne Möglichkeit eines objektiven Korrektivs ist. In diesem Denken drückt sich freilich eine Aporie aus, deren Lösung eher in myst. Versenkung in die Wirklichkeit besteht als in M.s enorm gelehrter Anstrengung einer Kritik - von seinen Beiträgen über das Wörterbuch bis zu den nachgelassenen Drei Bildern der Welt (Hg. Monty Jacobs. Erlangen 1925), mit der er die Sprache als ein konsequent irreführendes Zeichensystem darstellen wollte. M. behandelte zu diesem Zweck das Verhältnis von Wahrnehmung, Denken, Sprache u. Wirklichkeit unter einer Vielfalt von Perspektiven, wobei ihm allerdings in den Beiträgen keine einheitlich-systemat. Darstellung gelang, was die Lektüre dieses Werks sehr erschwert. Ob M. auf die Besten seiner Zeit tief gewirkt hat, wie Ludwig Marcuse bemerkte, ist schwer zu beweisen. Explizit zu M. bekannten sich Gustav Landauer, Christian Morgenstern, Gustav Sack u. Julius Bab. Darüber hinaus ist ein Einfluß der M.schen Sprachkritik auf Hugo von Hofmannsthal u. die Jung-Wiener Literaten anzunehmen, selbst wenn hier Ernst Mach direktere Wirkung ausübte. Ludwig Wittgensteins Bemerkung im Tractatus, alle Philosophie müsse Sprachkritik sein, zeigt, daß Wittgenstein wesentl. Motive seines Denkens mit M. teilte, ohne allerdings Sprachkritik im M.schen Sinne zu meinen; M. gehört zu den wenigen Philosophen, die Wittgenstein in seinem Werk namentlich nannte. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich Oswald Wiener u., durch ihn angeregt, die Wiener Gruppe mit M. auseinandergesetzt. & WEITERE WERKE: Ausgew. Schr.en. 6 Bde., Stgt. 1919. - Muttersprache u. Vaterland. Lpz. 1920. - Selbstdarstellung. In: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Bd. 3, Lpz. 1922. - Gottlose Mystik. Dresden 1924. & LITERATUR: Gershom Weiler: M.'s Critique of Language. Cambridge 1971. - Joachim Kühn: Gescheiterte Sprachkritik. F. M.s Leben u. Werk. Bln. 1975. - Walter Eschenbacher: F. M. u. die dt. Lit. um 1900. Ffm. 1977. - RudolfHaller: Sprachkritik u. Philosophie. Wittgenstein u. M. In: Ders.: Studien. Amsterd. 1979. - Katherine Arens: Functionalism and Fin de Sičcle. F. M.'s Critique of Language. New York 1984 (mit Bibliogr.). Walter Ruprechter [Autoren- und Werklexikon: Mauthner, Fritz, S. 5. Digitale Bibliothek Band 9: Killy Literaturlexikon, S. 13483 (vgl. Killy Bd. 8, S. 20- 1)]