DIE ABDERITEN Erläuterungen zur deutschen Literatur –Aufklärung. Hg. von Kurt Böttcher, Paul Günter Krohn, Klaus Gysi. Berlin: Volk und Wissen, 1958[zm1] . S. 542-545 Es ist der zweite umfassende Lebensroman Wielands, geschöpft aus einer innerlichsten Erfahrung, so wie „Agathon". Die Weltliteratur verzeichnet ihn als eine der besten humoristisch-satirischen Dichtungen aller Zeiten.[1] In diesem heute noch lesenswerten, sehr interessanten Roman beschreibt der Dichter das Schicksal der kleinen thrazischen Stadtrepublik Abdera, des Sitzes der antiken Schildbürger. Die Abderiten dünkten sich wie die Einwohner von Schilda sehr klug und weise und allen anderen Völkerschaften überlegen und begingen doch die dümmsten und lächerlichsten Streiche und Narrenpossen. Der Mann, den Goethe in einem unbedachten Moment mit der Nachtmütze gesehen hatte, schlug auf einmal seinen Zeitgenossen die Nachtmütze in einer Weise um den Kopf, daß ein wirklicher Herkules ins Wanken kam, nämlich der Herkules des Philistertums. Die „Abderiten" schlagen etwas tot wie Cervantes' Don Quixote. Aber es ist zugleich etwas ewig Neugebornes, das immer neu totgeschlagen werden soll. Diese nicht endende Situation gibt dem Totschlag und damit dem Buche selbst etwas Dauerndes, immerfort Aktuelles. Es gehört zum geistigen Arsenal der besseren Menschheit; jede Generation wird im geeigneten Moment immer wieder danach greifen. Die Vorstudien, bewußt und unbewußt, liegen in Biberach; das ist im Buche auf Schritt und Tritt mit Händen zu greifen. Anderes hatte die Schweiz, noch änderes Erfurt geliefert. Alles schloß sich 1773 in Weimar zu einem Plan zusammen, der aber trotz aller Materialüberfülle anfangs offenbar ein ziemlich loser gewesen ist. Die ersten vier Merkurhefte von 1774 bringen ein geschlossenes Stück: den ersten Abschnitt der Geschichte, der sich im Demokrit gruppiert, also, verglichen mit der heutigen Form des Textes, das ganze erste und zweite Buch. Am Schlusse stand „Fortsetzung folgt", und es hatte den Anschein, als wolle Wieland doch eigentlich die Sache hier abbrechen lassen, was ja auch inhaltlich möglich wäre; es wäre nur schade um den prachtvolen Stoff gewesen, hätte er hier schon endigen sollen. – Über ein Jahr ging hin. Ein Verlegerpirat gab das Fragment schon ohne Autorisation als wirklich fertiges Buch in den Handel. Jetzt betonte Wieland im Juliheft des Merkur für 1774 nachdrücklich noch einmal, die Geschichte sei keineswegs aus, sondern es komme noch ein zweiter Teil. Damit hatte er seine Absicht klar zum Ausdruck gebracht. Abermals aber lief die Zeit darüber fort. Vier Jahre schoben sich ein ohne Fortschritt. Inzwischen mehrte sich in ihm selber das Abderiten-Material, besonders durch eine Reise nach Mannheim; er hatte ein zweites Singspiel geschrieben, „Rosamund", das im Winter 1777/78 in Mannheim gespielt werden sollte; er selbst hatte dort das Gefühl, so recht mitten unter waschechte Abderiten geraten zu sein. Auch in der Kritik ließen sich tüchtige Abderiten über jenen Anfang vernehmen, daß es sich wirklich verlohnte, ihnen ihr Buch weiter zuschreiben. Endlich, vom Juli 1778 an, beginnt der Strom wieder zu fließen. Es erscheint in monatlichen Fortsetzungen im „Merkur" das dritte Buch: die Geschichte von Euripides unter den Abderiten. Januar bis Juni 1779 f ebenso glatt das vierte Buch, der „Prozeß um des Esels Schatten". Dann kommt jeclnd abermals eine Pause, gefüllt mit der Arbeit am „Oberon". Erst August und September 542 1780 macht endlich das fünfte Buch mit den „Fröschen" den Schluß. Im folgenden Jahr erscheint die autorisierte Buchausgabe in zwei Bänden, mit dem „Schlüssel" als Zugabe. Kein zweites Werk Wielands zeigt so deutlich die Spuren verzettelter, oft unterbrochener Arbeit wie dieses. Auf die Einheitlichkeit der Komposition käme es am wenigsten an. Aber auch die Behandlung, der Ton, die Charakter-Zeichnung sind nicht überall gleichartig, und das stört mehr. Der Schluß ist unverkennbar überhastet, unvollkommen. Aber was bedeuten diese kleinen Mängel gegenüber dem unverwelklichen Zauber des Ganzen, gegenüber dem einheitlichen Geist höchsten menschlichen Humors, der über allem mit all seinen Spalten und Untiefen schwebt! (.64) In fünf „Büchern" rollt die Geschichte der Abderiten ab. Jedes Buch zeigt sie in einer besonderen Form. „Die Philister und das Genie", so könnte man das erste und zweite Buch überschreiben. Wir erleben die Philister als groteske „Logiker" im Wortstreit mit dem einzigen Ungewöhnlichen, den Abdera hervorgebracht hat,mit Demokrit, dem Philosophen und Naturwissenschaftler. Mit seinem Wesen und Tun wird dieses Vorbild menschlicher Vollkommenheit den Spießbürgern immer unverständlicher und unheimlicher. Man lädt schließlich den berühmten Arzt Hippokrates ein, von dem die Philister erhoffen, daß er ihnen bescheinige, Demokrit sei ein Irrer, den man entmündigen müsse. Aber der Arzt erkennt sofort den Bruder im Geiste und erklärt in einem genial-ironischen Gutachten nicht Demokrit sondern alle Abderiten für krank – nur sieben Pfund Nieswurz (das Mittel gegen die Dummheit), für jeden Ratsherrn die doppelte Menge, könne sie heilen. Im dritten Buche, in der Begegnung mit Euripides, erfahren wir, was der Philister unter Kunst versteht und wie er sich als Kritiker lächerlich macht. Am spannungsreichsten ist das vierte Buch: „Der Prozeß um des Esels Schatten". Es prangert das Philistertum an, wenn es den Richter spielt. Ein lächerlicher Prozeß um wenige Pfennige wird zu einem Machtkampf zwischen religiös getarnten Parteien, der beinahe die Republik zugrunde gerichtet hätte. Sie geht dann im fünften Buche wirklich zugrunde, und zwar im erbitterten Streite der religiösen Konfessionen um die Frösche der Latona, der Schutzgöttin der Stadt. Die „heiligen Frösche", die durch ungehemmte Vermehrung zur unerträglichen Plage geworden sind, vertreiben im Bunde mit Mäusen die Abderiten aus der Stadt und werden so zum Anlaß für die Verbreitung des Philistertums in alle Welt. Die dicken Frösche aber werden in wenigen Tagen von Kranichen (den Kündern neuen Frühlings auch der Menschheit?) „weggeputzt". Jedenfalls zielt Wieland, der Mitherausgeber der „Briefe über das Mönchswesen" (1771), mit den „heili-gen" Fröschen auf die entarteten, moralisch fragwürdig gewordenen, für die menschliche Gemeinschaft verlorenen dicken, faulen Mönche, die ihm das Leben in Erfurt zuletzt verleidet, ihn beinahe in einen Hexenprozeß verwickelt hatten, die denn auch im „Goldenen Spiegel" von des Dichters 543 Idealherrscher ebenso abgeschafft wurden wie die despotischen scheschianer Herrscher mit ihrem Gefolge. (67) Das fünfte Buch kritisiert also vor allem die kirchlichen Dogmen und Zeremonien. Wieland selbst hatte die Erfahrungen dazu in zahlreichen Gegenden und Städten Deutschlands und der Schweiz gesammelt. In seinem „Schlüssel zur Abderitengeschichte“ von 1781 sagte er dazu: „Je närrischer ich sie mache, dacht' ich, je weniger habe ich zu besorgen, daß man die Abderiten für die Zeitgenossen als Zielscheibe meiner Satire halten und Anwendungen davon auf Leute machen wird, die ich doch wohl unmöglich gemeint haben kann, da mir ihr Dasein nicht einmal bekannt ist. – Aber ich irrte mich sehr, indem ich so schloß. Der Erfolg bewies, daß ich unschuldigerweise Abbildnungen gemacht habe, da ich nur Phantasien zu malen glaubte ... Es ist vielleicht keine Stadt in Deutschland und soweit die natürlichen Grenzen der deutschen Sprache gehen (im Vorbeigehen gesagt, eine größere Strecke des Landes, als irgendeine andere europäische Sprache innezuhaben sich rühmen kann), wo die Abderiten nicht Leser gefunden haben sollten; und wo man sie las, da wollte man die Originale zu den darin vorkommenden Bildern gesehen haben. In tausend Orten, wo ich weder selbst jemals gewesen bin noch die mindeste Bekanntschaft habe, wunderte man sich, woher ich die Abderiten, Abderitinnen und Abderismen dieser Orte und Enden so genau kenne; ja man glaubte, ich müßte schlechterdings einen geheimen Briefwechsel oder einen kleinen Kabinettsteufel haben, der mir Anekdoten zutrüge, die ich mit rechten Dingen nicht erfahren hätte können. Nun wußte ich nichts gewisser, als daß ich weder diesen noch jenen hatte; folglich war klar wie Tageslicht, daß das alte Völkchen der Abderiten nicht so gänzlich ausgestorben war, als ich mir eingebildet hatte." (1) Das unbedingt tiefste Buch ist das erste. Es schlägt gleich den Kontrast an: hier die Philister, die Abderiten, die ewigen Frösche, die nicht über ihren Sumpf schauen können und alles hineinziehen möchten; und dort der einsame Denker Demokrit – das Genie, der Höhenmensch, der nie ins „Normalmaß" paßt. Noch kann man beim Lesen dieses ersten Teils schwanken, was dem Dichter innerlich wichtiger ist: die Charakteristik dieses Denkers oder die Verspottung der Abderiten. So bis in den Grund dringt keines der folgenden Bücher, aber sie steigern den Farbenreichtum immer mehr. Die Abderiten treten jetzt als handelnde in den Vordergrund. Wie Cervantes einst bei seinem Ritter und Sancho, so lockte es Wieland, gerade diese Narrentypen psychologisch immer mehr zu untermalen. Sie werden runder und runder, je weiter das Buch geht, deutlich zum Greifen. Nirgendwo ist es Wieland sonst so geglückt, realistisch scharf zu individualisieren wie bei diesen Philisterköpfen. Die Glanzstellen dramatischer Steigerung sind der Anfang des Euripides-Buches und der „Streit um des Esels Schatten". Der Euripides-Episode fehlt jedoch die Schlußpointe, der Eselsprozeß dagegen ist ein vollkommen geschlossenes Meisterwerk. (64) Wie fast alle Werke Wielands ist auch dieses Werk aus eigenen Erfahrungen mit dem Philistertum erwachsen, nicht etwa, wie man manchmal angenommen hat, lediglich aus der Beschäftigung mit dem von ihm hochgeschätzten Laurence Sterne und dessen Tristram Shandy, in dem gelegentlich auch Abderas gedacht ist. Was Wieland denkt und fühlt, sprechen sein Demokrit, sein Hippokrates, sein Euripides aus: Alle drei sind seine Sprachrohre. Stoff gaben reichlich eigene Erlebnisse in der Schweiz, in Biberach, Augsburg, Nürnberg, Erfurt und Mannheim. (67) Die Abderiten selbst, deren Originale nach Wielands eigenem Wort keineswegs bloß im klassischen Altertum hausten, sondern „vielleicht keiner Stadt in Deutschland", wo man das Buch las, fehlten, nahmen natürlich an diesem Angriff das denkbar höchste Ägernis. Ihr stiller Haß, von Generation zu Generation vererbt, hat dem klassischen Werke bis heute noch nicht den Ruhm zukommen lassen, der ihm in jeder Hinsicht gebührt. (64) Die kleine thrazische Stadtrepublik Abdera, das antike Schilda, der Ursitz der Philister und Spießbürger, die, selig in ihrem Krähwinkel, über die Mauern ihrer Stadt nicht hinausschauen, geschweige denn sich hinaussehnen, liegt zwar seit mehr als zweitausend Jahren unter Trümmern; aber die Abderiten sind ein „unzerstörbares, unsterbliches Völkchen", durch ihren völligen Mangel an Geist, Vernunft und Moral eine „Abweichung von der menschlichen Norm". Sie gedeihen weiter in allen Formen des harmlos Törichten und Lächerlichen, aber auch des tückisch hinterlistig Gefährlichen: man muß nur den Begriff „Philister" so weit fassen wie Wieland, der sich, mit Goethe zu reden, „auflehnt gegen stockende Pedanterie, kleinstädtisches Wesen, kümmerliche äußerliche Sitte, beschränkte Kritik, falsche Sprödigkeit, platte Behaglichkeit, anmaßliche Würde und wie diese Ungeister, deren Namen Legion ist, alle zu bezeichnen sein mögen". (67) Während Wieland im „Agathon" und in seinen anderen Romanen sehr viel reflektiert und einen lehrhaften Ton anschlägt, schafft er mit den „Abderiten“ einen Roman von unmittelbarer Wirkung, der wesentliche Elemente des Realismus enthält. – Wielands geistvolle Romane waren die ersten bedeutenden bürgerlichen Romane in Deutschland. Er beleuchtete kritisch die deutschen Verhältnisse vom Standpunkt des aufgeklärten Bürgertums. ________________________________ [1] Wilhelm Bölsche ________________________________ [zm1] Vorsicht: bei ideologisch gefärbten Aussagan, die Wieland als volkstümlichen Autor präsentieren, handelt es sich um eine Verzerung, die sie höchsten polemisch aufnehmen können. Vor allem die Entstehungsumstände des Textes aufgrund der Biberacher Verhältnisse ist hier allzu sehr in den Vordergrund gerückt.