Intertextualität in literarischen Übersetzungen Als Text-Text-Bezug und als Systemreferenz (gattungspoetische Codes, Epochencodes, Stilkonventionen) Abgewandelte Zitate. Grenzen des Übersetzbaren außerhalb der Literatur Einer für alle, alle für Einem. Anlässlich der Maifeiern der Sozialdemokratischen Partei 1995 wurde von den Demonstranten ein Spruchband mit diesem Indirektzitat zu Dumas’ Drei Musketieren mitgeführt. Sein Bezug zum Namen des österreichischen Innenministers Kaspar von Einem wird nur einem Kenner der Österreichischen Politik bewusst. Der Leitspruch der drei Musketiere in A. Dumas’ gleichnamigem Roman wurde zuvor in der Wahlwerbung der Freiheitlichen verwendet, ungefähr im Sinne Haider setzt sich in Wien für alle Kärtner, alle Kärtner sollen deshalb Haider wählen. Fišer, 170 John Keats: 40. Ode to a Nightingale. Oh for a beaker full of the warm South, Full of the true, the blushful Hippocrene, With beaded bubbles winking at the brim, The first proalcohol message in the history für einen Becher voll von den warmen Süden … ein rötlicher heiliger Quell Fišer, bzw. Kussmaul, 2000, 135 Der erfreut des Menschen Herz, so heißt es in der Bibel. Vermutlich hat der Psalmist nicht an seine Arterien gedacht, aber heute, nach 2500 Jahren beschäftigen sich Mediziner mit dem seit jeher beliebten Getränk. In der Geschichte der Gesundheitspolitik der U. S. A. wurde zum ersten Mal etwas Positives über den Wein gesagt, Intertextuelle Phänomene. Gliederung Markiert / nicht markiert Modifiziert / nicht modifiziert betreffen den Gesamttext / nur eine Passage Teil des kommunikativen Gehalts / marginal stimmen dem Prätext zu / gegen den Prätext gerichtet Voraussetzungen für Berücksichtigung der Reminiszenzen Wie tragen sie zur Sinnbildung bei? Inwieweit sind die Rezipienten mit der Ausgangskultur vertraut? werden Sie die Anklänge an die Werke und Kontexte der Ausgangskultur nachvollziehen können? Ist das Werk des Autors in der Zielsprache so repräsentativ vertreten, um die Selbstreferenz des Autors auf schon vorhandene Übersetzungen stützten zu können? Sind die Referenzen noch heute aktuell? Ist der intertextuelle Bezug für die ästhetische Struktur des Textes ausschlaggebend? Aufnahme durch Leser und Übersetzer •Im Ausgangstext wird eine Textreferenz verwendet, um Zensurbestimmungen zu unterlaufen (chiffrierende Intertextualität) •Auseinandersetzung mit einem anderen Autor der Ausgangsliteratur •Bezug auf eigene Texte des Autors (ihr Gesamtwerk ist als intertextuell vernetzter Makrotext zu verstehen) Herausforderungen an Übersetzer •Intertextuelle Bezüge im Ausgangstext identifizieren •Entscheiden, ob und wie sie in die Zielliteratur übertragbar sind (Who's Afraid of Virginia Woolf? ein Stück von Edward Albee, Broadway, Billy Rose Theater, 1962. •Anspielung auf das Lied"Who's Afraid of the Big Bad Wolf?", das im Walt Disneys Film The Three Little Pigs vorkommt •2009 Ostravské divadlo Aréna uvedlo Albeeho hru po titutlem Kdo se bojí Virginie Woolfové) Herausforderungen an Übersetzer •Ist die Anspielung, Zitat dem tschechischen Lese- bzw. Theaterpublikum (kulturell) zumutbar? •Wird das zielsprachige Publikum imstande sein die Deutungsangebote umzusetzen? •Überlagerung von Referenzen Intertextualität und Übersetzung bei Cees Nooteboom am Beispiel von Paradijs verloren (2004), Paradies verloren (2005), Perdu le paradis (2006) und Lost paradise (2007) Marieke FRENKEL-KLOOSTERMAN •Cees Nooteboom: Ráj ztracený. Praha: Paseka, 2008 překladatelka Magda de Bruin-Hüblová Zwei junge Brasilianierinnen suchen im Australien der Aborigines nach dem Garten Eden. In Perth erleben sie ein kurioses Engel-Festival, das Miltons Paradise lost feiern soll. Die Teilnehmer dieses Happenings begegnen Statisten, die Engel spielen und Phantasie beflügeln sollen. Eine australische Begegnungen wiederholt sich nach Jahren in Österreich, ohne die Intensität von damals zu haben. Musterarbeit •Ivana Vízdalová •Intertextualität und Übersetzung. Über einen Aspekt der übersetzerischen Interpretation eines literarischen Textes am Beispiel des Romans Die letzte Welt (tsch. Poslední svět) von Christoph Ransmayr.. () /149-162/ In: Germanoslavica – Zeitschrift für germano-slawische Studien IV (1997), No. 1 Musterarbeit •Univ.-Prof. Dr. Brigitte Schultze •In Zusammenarbeit mit Fritz Paul: •Zitat, Allusion und andere redegestützte und nichtverbale Referenzen in Dramenübersetzungen. Dargestellt an polnisch-deutschen und polnisch-englischen Übersetzungsfällen des 20. Jahrhunderts. — In: Literatur und Theater. Konventionen und Traditionen als Problem der Dramenübersetzung. Herausgegeben von Brigitte Schultze, Erika Fischer-Lichte, Fritz Paul und Horst Turk. Tübingen 1990. Gunter Narr Verlag. (Forum Modernes Theater. Schriftenreihe. 4.) S. 161-210. Text-Text-Bezüge •Zitat, Halbzitat, Kryptozitat (or not to be) •Quasizitat (syntaktische Struktur, rhythmische, klangliche Merkmale) •Zitatparaphrasen (eine sinngemäße Wiedergabe) •Allusion (prägnantes Wortmaterial/marker, ein dem Prätext ähnlicher Kontext) •Reminiszenz (die Frage, ob es eine intentionale Referenz sei, muss dahingestellt bleiben) Bachmann als Quasizitat •Fall ab, Herz vom Baum der Zeit, •fallt, ihr Blätter, aus den erkalteten Ästen, die einst die Sonne umarmt', •fallt, wie Tränen fallen aus dem geweiteten Aug! Fliegt noch die Locke taglang im Wind um des Landgotts gebräunte Stirn, unter dem Hemd preßt die Faust schon die klaffende Wunde. http://www.gedichte.vu/ Bachmann Drum sei hart, wenn der zarte Rücken der Wolken sich dir einmal noch beugt, nimm es für nichts, wenn der Hymettos die Waben noch einmal dir füllt. Denn wenig gilt dem Landmann ein Halm in der Dürre, wenig ein Sommer vor unserem großen Geschlecht. Und was bezeugt schon dein Herz? Zwischen gestern und morgen schwingt es, lautlos und fremd, und was es schlägt, ist schon sein Fall aus der Zeit. Friedrich Hölderlin: Die Wanderung (aus Hymnen, 1801) Glückselig Suevien, meine Mutter, •Auch du, der glänzenderen, der Schwester •Lombarda drüben gleich, •Von hundert Bächen durchflossen! •Und Bäume genug, weißblühend und rötlich •Und dunklere, wild, tiefgrünenden Laubs voll, •Und Alpengebirg der Schweiz auch überschattet •Benachbartes dich; denn nah dem Herde des Hauses •Wohnst du, und hörst, wie drinnen •Aus silbernen Opferschalen •Der Quell rauscht, ausgeschüttet •Von reinen Händen, … Hölderlin … am vielgepriesnen Hymettos, •Die blühten zuletzt; doch von •Parnassos Quell bis zu des Tmolos •Goldglänzenden Bächen erklang •Ein ewiges Lied James Joyce: Finnegans Wake, 1939 Arno Schmidts Essay Der Trition mit dem Sonnenschirm Lesbarmachung, nicht Übersetzung, nicht Übertragung In den Augen Arno Schmidts sah Finnegans Wake aus wie eine "Zerrgestalt", die das nötig hatte, was Schmidt eine "Entzerrung ins Deutsche” nennt Rathjen, entwickelte eine Methode, den ‚verzerrten‘ Urtext ohne Rücksicht auf mögliche interpretatorische Festlegungen möglichst ‚unverfälscht‘ zu übertragen. Rathjen versucht mithin, eine „Transzerrung“ ins Deutsche. Arno Schmidt und als es dann After-dem war, stürzte er ein letztes Endchen hinter, schnuck´lig gestopft, im Nachgang zu kaltgewordener Kalbslende, und mehr Kohl, und, in ihrem jungen unschuldigen Zustand, gewissermaßen unterröckig, einen Sternhaufen Erbsen als Letztes ... Kombination von Text-Text-Bezügen •Textreferenzen aus mehreren Prätexten, indem ein kanonischer Text mehrere Prätexte in sich aufgenommen hat. •Finnigans Wake von James Joyce (1939) •Sprachspiele mit Generierung neuen Sinns durch Umstellung oder Austausch eines einzigen Buchstabens •Aktive Fortführung / polemische Distanzierung Übersetzerische Verfahren •Auslassung •Direktübernahme (fremdsprachige Einlagerung) •Direktübersetzung (ein Hamlet-Zitat im dt. Text) •Adaption •Substituierung (Keats / Psalm über Wein) •Paraphrasierung •Auflösung (sowohl die Struktur als auch da Sinnangebot getilgt) •Zielseitige Zitatschaffung (Allusionen, die im Ausgangstext fehlen) •Referenzselektion (bei Überlagerung mehrerer Textxreferenzen: Bibel, Shakespeare, Gegenwarts-literatur) Übersetzerische Lösungen •Stanislav Ignacy Witkiewicz: Kurka wodna (1921) – nevermore – hier immer wider, Ksiezna Alicja of Nevermore •Slawomir Mrozek: Tango (1964): Slowa, slowa, slowa, sagt der Vater des Phrasendreschers Arthur Stanislav Ignacy Witkiewicz: Kurka wodna: Wint czy auction bridge? ... that is the question. (To jest pytanie). Die Dreizahl typisch für Witkiewicz Übersetzerische Lösungen Witold Gombrowicz: Ślub / Die Trauung •Intertext. Bezüge zu Hamlet und Faust •I, 5. V. 170 •How strange or odd soe´er I bear myself •Wie fremd und seltsam ich mich nehmen mag •ať už se chovám sebepodivněji Gombrowicz - Shakespeare shall think meet / To put an antic disposition on dienlich scheint / Ein wunderliches Wesen anzulegen uznám za vhodné/ chovat se trochu bláznivě I divně Während sich Shakespeares Hamlet absichtlich verstellt, erfolgt das künstliche Reden spontan, unfreiwillig. Polonius und Hamlet •Hamlet. Laßt sie nicht in der Sonne gehen. Gaben sind ein Segen: aber da eure Tochter empfangen könnte – seht euch vor, Freund. Polonius. Wie meint ihr das? (Beiseite.) Immer auf meine Tochter angespielt. Und doch kannte er mich zuerst nicht; er sagte, ich wäre ein Fischhändler. Es ist weit mit ihm gekommen, sehr weit! Und wahrlich, in meiner Jugend brachte mich die Liebe auch in große Drangsale, fast so schlimm wie ihn. Ich will ihn wieder anreden. – Was leset ihr, mein Prinz? Hamlet. Worte, Worte, Worte. Polonius. Aber wovon handelt es? Hamlet. Wer handelt? Polonius. Ich meine, was in dem Buche steht, mein Prinz. •Hamlet. Verleumdungen, Herr; denn der satirische Schuft da sagt, daß alte Männer graue Bärte haben; daß ihre Gesichter runzlicht sind; daß ihnen zäher Ambra und Harz aus den Augen trieft; daß sie einen überflüssigen Mangel an Witz und daneben sehr kraftlose Lenden haben. Ob ich nun gleich von allem diesem inniglich und festiglich überzeugt bin, so halte ich es doch nicht für billig, es so zu Papier zu bringen; denn ihr selbst, Herr, würdet so alt werden wie ich, wenn ihr wie ein Krebs rückwärts gehen könntet. Systemreferenz St. Balbus: Między stylami. Kraków 1976. Poetik eines Künstlers, einer Gruppierung, Strömung, Epoche Strukturelle Intertextualität Bei Mikrostrukturen drei Transfermodi: Direktübersetzung Substituierung (Once upon a time / Es war einmal) Referenzwechsel (auf einen anderen gattungspoetischen Code oder auf die individuelle Poetik eines anderen Autors). Voraussetzungen für Parodie bzw. Travestie die Existenz des parodierten Genres bzw. des parodierten Gestus in der Zielkultur Intertextuelle Bezüge im Literaturverzeichnis z. T. zugestanden. Stromšík o G. Grassovi Zajímavý případ je Grass. To už dnes není jen velký autor, ale také velký podnik, instituce. Nakladatelství Steidl ke každé jeho nové knížce pořádá několikadenní semináře pro překladatele z celého světa. Na jejich otázky odpovídá buď přímo Grass, nebo odborníci za Grassovy účasti. Nevím, od koho ta iniciativa přišla, zda od nakladatelství, nebo od Grasse, ale skoro bych řekl, že od něj. On má vysloveně zájem o to, jak se zachází s jeho knihami v cizích jazycích – i když jistě v tomto ohledu není tak citlivý, nebo spíš přecitlivělý, jako Kundera. Plav, http://www.svetovka.cz/archiv/2008/10-2008-rozhovor.htm Josef Haslinger, DER STANDARD/Printausgabe, 27./28.02.2010) Die Erkenntnis, dass die Literaturgeschichte und das den Autor umgebende Sprachverhalten an seinem Text mitschreiben, ist jedoch keine Aufforderung, von nun an die Texte der Kollegen gezielt als Baumaterial für die eigenen Kathedralen zu verwenden. Julia Kristeva spricht nicht von "copy and paste", sondern von Absorption und Transformation fremder Texte in eigene. Der Einfluss durch andere Werke ist nicht nur zulässig und erwünscht, er ließe sich auch gar nicht verhindern. Er ist der Gewinn für unsere Teilnahme an einer gemeinsamen Kultur. Die Sprachen anderer Werke in einen neuen literarischen Remix zu bringen, ist eine genuin literarische Tätigkeit.