Wie entsteht ein Spielplan für das Theater? Stückfindung in Dramaturgie und Intendanz ist das Resultat langwieriger Diskussionsprozesse. Was gibt es dabei alles zu berücksichtigen? Ein Bewerbungsgespräch in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts. Es geht um die Dramaturgieassistenz an einem der größten Stadttheater Deutschlands. „Machen Sie mir bis morgen einen Spielplan, der mein Haus ruiniert“, fordert der Intendant vom Bewerber. Der listet eine Reihe Gegenwartsstücke auf, schreibt verschiedene Regisseure dahinter, deren Arbeiten ihm gefallen haben. Und wird, durchaus zu seiner Überraschung, engagiert. Dass Eberhard Witt, damals Intendant des Bayerischen Staatsschauspiels München, mit dieser Aufgabe nicht nur nach zeitgenössischer Theaterliteratur fragen, sondern dem angehenden Dramaturgen auch etwas mitgeben wollte, habe ich erst später verstanden. Es ist immer dann hilfreich, riskant zu programmieren, wenn diejenigen Aspekte dominieren, die die Spielplangestaltung neben inhaltlich-künstlerischen Überlegungen auch beeinflussen: die Traditionen des eigenen Hauses, der städtische Kontext, in dem man arbeitet, ökonomische Kalküle (etwa: spielt man Gegenwartsdramatik auf der großen Bühne?), terminliche Zwänge sowie die zum Teil imaginierten Erwartungen des Ensembles, der Regisseure, der Kritik und des Publikums. Grundsätzliche Fragen Stückfindung in Dramaturgie und Intendanz ist – im Idealfall – das Resultat langwieriger Diskussionsprozesse. Was begreift man als Profil des Hauses? Welche Schwerpunkte charakterisieren die eigene Arbeit über die einzelne Spielzeit hinaus? Was sind die soziologischen, politischen und ästhetischen Themen, die einen umtreiben? Welche Theatertexte sind daran anschließbar? Wie eng will man ein Thema durch die Stücke der Spielzeit führen? Wie können etwaige Ergänzungen aussehen, Vorträge, Diskussionen oder Spektakel? Daneben gibt es in jeder Dramaturgie einen Fundus an Stücken, die man, unabhängig von den diskutierten Themen, gern einmal „gemacht“ sähe. Eventuelle Vorschläge der Schauspieler wollen geprüft sein, an vielen Häusern sind auch Stückaufträge in Arbeit, die begleitet werden. Keiner der Theatertexte, die Intendanz und Dramaturgie in diesem Prozess diskutieren, wird dabei nur als Text gelesen. Bei jeder Lektüre laufen Überlegungen zu Regie, Besetzung und Spielstätte mit. Nicht jedes Stück ist für jeden Regisseur geeignet, nicht jeder Schauspieler kann mit jedem Ensemblekollegen, und nicht jedes Vorhaben funktioniert im Großen Haus. Es geht darum, in Konstellationen zu denken, sowohl in künstlerischer Hinsicht als auch im Hinblick darauf, wie sich das Arbeitsklima innerhalb einer Produktion entwickelt. Kabale und Liebe oder Minna von Barnhelm werden eher Regisseuren angeboten, von denen man sich überraschende Zugriffe erhofft; Uraufführungen eher denjenigen, deren Ehrgeiz nicht auf das Überschreiben von Texten zielt. Welche Stücke es auf den Spielplan schaffen, hängt auch davon ab, in welchem Maß sie aus dem Ensemble besetzbar sind. So hilft es wenig, sich für Richard III. zu begeistern, wenn man feststellt, dass der gewünschte Schauspieler im fraglichen Zeitraum Drehurlaub hat. Hinzu kommen ensemblepolitische und dispositionelle Überlegungen: Kann man es den Kollegen zumuten, für Richard III. einen zu Gast engagieren? Müsste Kollegin X nicht mal wieder eine größere Rolle spielen? Kollege Y hatte gerade drei Stücke nacheinander geprobt, eventuell bräuchte er nun mal eine Pause, sonst gibt es Probleme beim Ansetzen der Inszenierungen. Langfristiges Planen Solange sie aber ohne Regisseure geführt werden, bleiben alle Gespräche bis zu einem gewissen Grad Makulatur. Zum einen liegt das an der Konkurrenz der Theater untereinander, die auch im Hinblick auf Texte existiert. Denn gute Regisseure sind gefragte Regisseure. Wer Künstler engagieren möchte – die wenigsten sind fest engagiert –, die an den großen Häusern arbeiten, eventuell auch im Ausland unterwegs sind oder Opern inszenieren, muss frühzeitig planen. Inszenierungsanfragen zwei oder drei Jahre im Voraus sind für die Stars der Szene keine Seltenheit. Wer an dem jeweiligen Theater in welchem Zeitraum inszeniert, ist demnach oft deutlich früher beantwortet als die Frage nach dem Was. Das gilt zumindest für die großen Spielstätten. Bei Studiobühnen hat man mehr Zeit. Zum anderen muss jeder Stückvorschlag das Potenzial haben, Vorstellungskraft und Lust der Regisseure zu entzünden. Argumente helfen wenig. Nicht selten hört man: „Also, mit diesem Text kann ich im Moment gar nichts anfangen.“ Und bekommt stattdessen, wenn es gut läuft, eine Reihe von Gegenvorschlägen in die Hand: „Diese Stücke könnte ich mir bei euch vorstellen.“ Aber sind sie besetzbar? Was sagen die Kollegen dazu? Korrespondieren die Stücke mit dem Thema der nächsten Spielzeit? Oder spielt das in diesem Fall keine Rolle? Die Diskussion geht in die nächste Runde. Theaterkritik Theaterkritik beschäftigt sich mit der kritischen Berichterstattung (Rezension) von Bühnenwerken. Wesen Theaterkritik unterscheidet sich von Literaturkritik, da sie von einem einzelnen, nur bedingt wiederholbaren Vorgang auf der Bühne ausgeht. Sie bringt nahezu alle Künste in einen Zusammenhang gegenseitiger Reflexion und Kommentierung. Dabei geht sie sowohl beschreibend als auch interpretierend, einordnend und wertend vor. Der Stil der Theaterkritik ist feuilletonistisch ohne wissenschaftlichen Anspruch, ihre Adressaten sind Laien und Fachleute. Die Wirkung ist schwer abschätzbar, sie hängt wesentlich vom Ansehen des Kritikers und des Publikationsorgans ab. Sie kann Einfluss auf die Kultur- und Förderpolitik haben. Oft umstritten sind dabei die Kriterien und Intensionen des Urteils. Geschichte Die Theaterkritik entwickelte sich im 18. Jahrhundert mit dem Entstehen einer kritischen Presse. Gotthold Ephraim Lessing gilt als erster Theaterkritiker. Obwohl selbst Angestellter des Hamburger Nationaltheaters, setzte er sich, überliefert in der Hamburgischen Dramaturgie, nicht nur mit grundsätzlichen ästhetischen Fragen auseinander, sondern besprach auch die einzelnen Aufführungen. Ende des 18. Jahrhunderts etablierte sich die ständige Theaterkritik. Im Vordergrund standen zunächst Dichter, die Theaterkritik als Forum ihrer ästhetischen Programme verstanden. Ludwig Tieck entwickelte daran in der Dresdner Abendzeitung seine romantische Auffassung des Theaters, während Ludwig Börne, Heinrich Heine, Heinrich Laube und Moritz Gottlieb Saphir die Forderungen des Jungen Deutschlands zum Ausdruck brachten. Das 19. Jahrhundert brachte eine allmähliche Spezialisierung in Schauspiel-, Opern- und Ballettkritik. Bedeutend waren unter anderem Theodor Fontanes 1870 bis 1890 in der Vossischen Zeitung veröffentlichten Kritiken, in denen er sich zurückhaltend gegenüber Hoftheater-Inszenierungen und aufgeschlossen für naturalistische Darbietungen zeigte. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts schrieben in Berlin Siegfried Jacobsohn, Julius Bab, Alfred Kerr und Herbert Ihering bedeutende Theaterkritiken. Kerr publizierte im Berliner Tageblatt seine pointierten Kommentare, während Ihering im Berliner Börsen-Courier sich weniger an Zeitungsleser als an Theaterleute wandte. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde der Begriff „Theaterkritik“ abgeschafft. Im Völkischen Beobachter vom 28. November 1936 erklärte Joseph Goebbels: „An die Stelle der bisherigen Kunstkritik, die in völliger Verdrehung des Begriffes ′Kritik′ in der Zeit jüdischer Kunstüberfremdung zum Kunstrichtertum gemacht worden war, wird ab heute der Kunstbericht gestellt; an die Stelle des Kritikers tritt der Kunstschriftleiter. Der Kunstbericht soll weniger Wertung, als vielmehr Darstellung und damit Würdigung sein. (...) Er verlangt Bildung, Takt, anständige Gesinnung und Respekt vor dem künstlerischen Wollen. Nur Schriftleiter werden in Zukunft Kunstleistungen besprechen können, die mit der Lauterkeit des Herzens und der Gesinnung des Nationalsozialisten sich dieser Aufgabe unterziehen.^[1]“ In der DDR war die fachlich autorisierte Theaterkritik in der seit 1946 erscheinenden Zeitschrift Theater der Zeit versammelt. Maßgebendes Kriterium war der sozialistische Realismus. Seit den 1970er Jahren unterstützten jedoch viele Kritiker künstlerisch innovative Inszenierungen. Wegen häufiger behördlicher Eingriffe in die Redaktionen entwickelten Kritiker wie Christoph Funke und Ingeborg Pietzsch in Berlin oder Lothar Ehrlich in Dresden einen subtilen, vorsichtig-verhüllenden, Subtext-bezogenen Stil. Theaterkritiker sind heute freie oder festangestellte Journalisten, die vor allem die Neuinszenierungen der ihnen zugänglichen Bühnen für Medien (Zeitung, Rundfunk, Fernsehen) ansehen und darüber berichten. Wilhelm Tell für die Schule Helden sucht man vergeblich im neuen Zürcher «Wilhelm Tell», und Friedrich Schiller versteckt sich neckisch in postmoderner Verkleidung. Trotzdem bildet er das Fundament des anregenden Abends. Siggi Schwientek, der schauspielerische Star des Abends, stirbt zweimal. Zuerst, allerdings sieht man das wie so manches hier nicht auf der Bühne, als greiser Attinghausen; viel später, da ist die Suppe schon beinahe gegessen, als Walterli mit Rotschopf-Perücke, dessen Knie nach dem Apfelschuss langsam einknicken – Tells Bub überlebt nicht in Dušan David Pařizeks Inszenierung des «Wilhelm Tell», den der tschechische Regisseur (zusammen mit dem Dramaturgen Roland Koberg) gründlich umgekrempelt hat. Schiller ist in dieser eigenwilligen Fassung nurmehr die Folie, vor der ein elfköpfiges Ensemble kommentiert, ironisiert, persifliert, assoziiert – und lustvoll demonstriert, wie der deutsche Klassiker mit heutigen Schweizer Mythen produktiv kollidieren kann. Am Schauspielhaus Zürich kriegt man statt Pathos also reichlich Amusement. Das Feuerwerk der Gags veranlasst deshalb einen älteren Zuschauer im Parkett zur gut vernehmlichen Bemerkung, es sei ihm neu, dass Schiller Komödien geschrieben habe. Aber wer den nötigen Humor mitbringt und idealerweise die Kenntnis des Originals, erlebt eine intellektuell durchaus anregende Postmodernisierung. Einen «Tell für die Schule», wiederaufgelegt. Willi, Trudi und die andern Pařizek, der am Pfauen bereits Kleists «Käthchen von Heilbronn» und Goethes «Faust» (verquickt mit Jelinek) auseinandernahm, bleibt sich auch als sein eigener Bühnenbildner treu. Schillers vorgeschriebene Innerschweizer Landschaftsprospekte dürfen wir uns im Kopf ausmalen. Zu sehen ist nur Leere – ein Holzboden, schräg angekippt und bestückt mit drei Stühlen, auf denen sich die wackeren Eidgenossen niederlassen, falls sie nicht vorne an der Rampe sitzen. Als Ersatz für die fehlenden Kulissen tragen sie pittoreske Phantasiekostüme (Kamila Polívková): der junge Melchthal von Fritz Fenne eine Kapuzenjacke überm Jeanshemd; Lukas Holzhausens grossbäuerlicher Stauffacher Reitstiefel und protzige Ringe an den Fingern; seine Frau Gertrud, hier Trudi, einen wadenlangen Rock, wobei der züchtig-biedere Schein trügt: Sarah Hostettler hat, durchaus wie Schillers Stauffacherin, die Hosen an und macht dem generell vor jeglicher Verbindlichkeit, jeglichem Zupacken ausweichenden Gatten ganz schön Dampf. Michael Neuenschwanders Willi Tell schliesslich schlurft auf Holzschuhen herbei (Trudi wirft ihm Pantoffeln hin: «Finken!»). Ein Eigenbrötler, dessen zusammengestoppelte Pelzjacke aus dem Jäger und Naturburschen eine Art asozialen Althippie mit Vorliebe für psychedelische «Pilzli» macht. Konversationskultur pflegen diese Urschweizer nicht, vielmehr fallen sie sich auf Schweizerdeutsch ständig ins Schiller-Wort, wenn sie zu Beginn im Zeitraffer das Geschehen resümieren. Die altbekannten Zitate verirren sich dabei. Melchthal, der zugleich Baumgarten ist, berichtet, wie er den übergriffigen Burgvogt erschlagen hat, worauf Tell sentenziös sinniert: «Die Axt im Haus erspart den Zimmermann.» Überhaupt folgt der Text einem eigenen Drehbuch, das die einschlägigen Szenen zwar bringt, aber aufbricht und hinterfragt. Bei all der währschaften Bodenständigkeit fällt Gessler, das kecke Hütchen federgeschmückt, als ausländischer Geck aus dem Rahmen. Frank Seppeler legt den tyrannischen Habsburger vordergründig smart an, beklagt sich aber, da seine Coach-Bemühungen beim Steineschleppen für den Festungsbau nichts fruchten, über mangelnde Manieren und schlägt schärfere Töne an. Allein, die trägen Eidgenossen bleiben unbeeindruckt. Neuenschwanders Tell zollt dem Gessler-Hut vor den Augen des Schwiegervaters – Gottfried Breitfuss als Walther Fürst – mit dem Allerwertesten weniger Respekt als Respektlosigkeit, in allen vier Landessprachen (das stellen Sie sich bitte selber vor). Rütli, Albisgütli Nicht nur Allotria wird getrieben. Wenn Attinghausen im Bademantel dem abtrünnigen Neffen Rudenz die Lektion erteilt, kehrt Ernst ein. Sogar fast innige Konzentration: Siggi Schwientek und Sean McDonagh sprechen den Dialog ausnahmsweise, wie er im Buche steht. Rudenz verdrückt sich schliesslich feige und wird dann von Bertha vollends zum Patrioten bekehrt. Für die romantische Liebe lässt Miriam Maertens allerdings wenig Raum. Bei ihr ist das Burgfräulein eher eine sportliche Jungpolitikerin, die genau weiss, was sie will. Und das Rütli? Reimt sich bei Pařizek auf Albisgütli. In Badehosen tritt das Grüppchen, Frauen inklusive, an, verteilt sich ums Schwert und erörtert während einer diskursherrschaftsfreien Redestaffette, was in Sachen Sonderfall Schweiz nottäte, wobei Breitfuss gelegentlich in Blocher-Töne ausrutscht. Zuletzt tut man nichts – ausser abstimmen. Etwas länglich zieht sich das hin; auch, weil zum Prinzip der Inszenierung refrainartige Wiederholungen gehören. Irina Kastrinidis als Hedwig verteidigt Tell, ihren Mann, gegenüber Papi Fürst mit dem immergleichen «Lass ihn doch!»: So wird dem Generationenkonflikt Genüge getan, dessen Kehrseite als Geschlechterkampf in der Familie Tell auftaucht, wo die Mutter vom Vater-Sohn-Gespräch ausgeschlossen wird. Ob die Family-Soap zwingend ist, darf man sich fragen; die hingebungsvollen Schauspieler vertreiben freilich die Skepsis. Den Abgang vom hohen Reck seiner Umkonstruktion findet Pařizek überraschend, doch sinnfällig in einem Treffen von Tell und Gessler. Zwei Einsame, Unangepasste, Aussenseiter konfrontieren sich, wie sie sich bei Schiller nie konfrontiert haben: die hohle Gasse als schwindelerregender Steilhang, den Gessler am Schluss hinabgleitet. Für alle anderen aber bleibt die Zukunft: offen. Internet: http://www.schauspielhaus.ch/spielplan/premieren/332-wilhelm-tell Das Tier als Gegenwelt Alvis Hermanis inszeniert "Kaspar Hauser" am Schauspiel Zürich Von Cornelie Ueding In Alvis Hermanis' Inszenierung kommt Kaspar Hauser als lallender Riesenbub daher, der kaum in die Wohnstube passt. Als seine wichtigtuerischen Betreuer fungieren - leider ausdrucksschwache - Puppenwesen. Eine Assoziation mit Gulliver in Liliput ist da vorprogrammiert. Vor dem Zuschauerpodest im schwarzdunklen Raum: ein schneeweißes kleines Pferd im Lichtkegel. Märchenhaft schön und völlig fehl am Platze. Bemitleidenswert. Deutlich eine Chiffre für Kaspar Hauser, schon bevor dieser von einem winzig kleinen Menschen aus einem großen Sandberg ausgebuddelt wird. Der sprachlose Findling ist ein riesiger ungelenker Kasper, mühsam muss er auf die Beine gestellt werden und schief bleibt er stehen. Gestrandet im spießigen Wunderland eines kleinkarierten Biedermeier: ein retardierter, lallender Riesenbub, der kaum in die Wohnstube passt und sich knapp zwei Stunden lang durch den Miniaturporzellanladen seiner wichtigtuerischen Betreuer quält. Permanent muss man dabei an Gulliver in Liliput denken, denn Regisseur Alvis Hermanis hat diese Puppenstube mit Puppenwesen bevölkert: Professoren, Doktoren und Bürgermeister nebst Gattinnen - all die Nürnberger Bürger, die den Alien Kaspar Hauser wie ein neues Spielzeug bestaunen und umgehend eifrig belehren, sind mit Kostüm, Perücke und Schminke biedermeierlich ausstaffierte - Kinder; Püppchen, die ihrerseits von Puppenspielern gelenkt, bewegt und mit Sprache versehen werden. Ein aparter und auf den ersten Blick ebenso frappierender wie poetischer Einfall, wenn die kleinen Akteure mit kleinen konventionellen Gesten und maschinell abgezirkelten Gefühlsäußerungen den Koloss in der Wohnstube untersuchen, beschnüffeln, umschwärmen. Wenn sie ihn später weiterhin mit ihren kleinen Händen und kleinen Gedanken belehren und bekehren wollen, wenn seelenlose Automaten ihm etwas von "der Seele" erzählen, lieblose Marionetten ihn mit Musik und Poesie konfrontieren und fantasielose Miniaturroboter von Magie reden. Das ist, zugegeben, niedlich, zuweilen amüsant - aber alles andere als theatralisch wirklich tragfähig: In 34 Bildern wiederholt - Kaspar Hauser und die Musik, Kaspar Hauser begegnet dem Traum, Kaspar Hauser und die Mutter ... und die Finsternis... und die Frauen ... und die Furcht ... Kaspar Hauser schreibt Tagebuch: Beim Lesen sind die kurzen, pointierten Sequenzen anrührend. Für die Aufführung sind sowohl die Einengung Kaspar Hausers auf holpriges Sprechen wie das an Ambivalenzen arme Ausdrucksrepertoire der gespielten Bürgerpuppen wie eine Falle. Sicherlich ist Öde eine Signatur der belehrselig-selbstgerechten Biedermeierwelt. Aber nie hätte sie zum Merkmal der Inszenierung werden dürfen. Das Tier als Gegenwelt und die Zuschauer, wir alle als Gaffer - warum nicht. Auch die Lehre, dass wir um keinen Deut besser sind als die geschäftig selbstzufriedenen Winzlinge auf der Bühne, hat man schnell begriffen. Und natürlich auch, dass der einzig wirkliche Mensch eben gerade das vermeintlich tumbe Riesenbaby ist. Das alles sieht und begreift man. Aber das lebendige weiße Pferd, das rätselhaft gespensternd auf der Bühne verharren muss, ist fast der einzige Anker für Emotionen. Bei dem Reigen gefälliger kleiner Einzeleinfälle will sich kein Gefühl einstellen, weder Mitleid mit Kaspar Hauser als Gesellschaftsspielzeug noch Schmerz über die engherzige Erziehungsdressur, über dieses zerstörte Leben und seinen einsamen Tod. Wir schauen halb interessiert und ein wenig amüsiert zu, begleitet von stehender Musik auf vier stehenden Klavieren; Licht an - Licht aus. Kaspar aus-, und als er zu nichts taugen will, wieder eingebuddelt. Schade.