Viktor Šklovskij: Der parodistische Roman. Sternes Tristram Shandy (1921) Aufgenommen in den Band Über die Theorie der Prosa (1925) Mukařovský charakterisierte Šklovskijs Ansatz folgendermaßen: Statt umfassender Beweise liefert er synekdochische Illustrationen. Das literarische Material wurde von Šklovskij ohne zarter Rücksicht auf den konventionellen Geschmack gewählt, eher mit einer plakativen Prägnanz und Tendenz: von den älteren und zeitgenössischen Werken bevorzugt er diejenigen, die provozieren und überraschen, nicht diejenigen, deren scharfe Kanten schon abgeschliffen sind – sei es von der Hand des Verfassers, sei es auf ihrem langen Weg durch Nachschlagewerke und Anthologien. Auch gegen seine Gegner kämpft er nicht in Samthandschuhen: er schreckt nicht davor zurück die gegensätzliche Meinung ad absurdum zu führen. Er formuliert so zugespitzt und herausfordernd wie möglich, dass die Kunst nur dazu da ist, Kunst zu sein; begeistert erzählt er die Anekdote von einem Prinzen, der ein Tanz auf den Händen vor einer herrlichen Braut bevorzugt. (übersetzt aus der tschechischen Ausgabe von Šklovskij: Teorie prózy. Praha 2003, S. 271, ursprünglich als Besprechung der tschechischen Ausgabe von 1933 geschrieben) Wenn Šklovskij im Kapitel Jenseits vom Sujet seine Definition der literarischen Kunstwerks einführt, schreibt er: In Goethes Wilhelm Meister[1] gibt es Die Bekenntnisse einer schönen Seele. Die Heldin behauptet, zur Schönheit eines Kunstwerkerks ein ähnliches Verhältnis zu haben, wie zur schönen Schrift eines Buches[2]: Ein schöner Druck gefällt wohl; aber wer wird ein Buch des Druckes wegen in die Hand nehmen? Sowohl sie als auch Goethe wissen, dass eine solche Behauptung bedeutet, nichts von der Kunst begriffen zu haben. Und doch ist so eine Einstellung bei den meisten Kunstwissenschaftlern von heute üblich wie schiefe Augen bei den Chinesen. Während diese Ansicht in der Musik, in einer provinziellen bildenden Kunst schon lächerlich wäre, lebt sie in der Literatur in allen möglichen Schattierungen fort. Šklovskij besteht darauf, dass der Inhalt des Werks der Summe seiner stilistischen Eigenheiten gleicht. Der parodistische Roman. Sternes Tristram Shandy Eine Paraphrase und Auszüge Typisch für den Roman ist die Bloßlegung des Verfahrens. Das Buch hat drei Hauptebenen, eine erste, in der Tristram selbst im Präsens von sich redet, genauer schwatzt, eine zweite, in der er (in der Vergangenheit) von sich, seinen Eltern, seinem nebenan wohnenden Onkel Toby und einer wiederum neben diesem wohnenden Witwe Wadman berichtet, nebst dem Landpfarrer Yorick, einem ins Don-Quijoteske verzerrten Selbstportrait, und dem Arzt Doktor Slop, der bissig-bösartigen Karrikatur eines Arztes aus York, mit dem Sterne persönlich verfeindet war, und schließlich eine dritte Ebene von digressions, Abschweifungen, die im Fortgang des Buches zunehmend auch in vielerlei Sinn zu Ausschweifungen werden, die den Leser immer mehr ermüden und vor den Kopf stoßen. Es gibt nur wenige Episoden auf der zweiten Ebene (Empfängnis, Geburt, irrtümliche Taufe, eine Verletzung, die im 5. Lebensjahr die Männlichkeit des Helden bedroht), aber ständige Abweichungen. Es ist ein Text, der Dinge im Dunkeln läßt, teils damit sie erraten werden, teils damit sie gerade nicht erraten werden können. Die Leser stehen vor einer beständigen Interpretationsaufgabe, die ohne Garantie für die Richtigkeit des Resultats dieses Interpretationsvorgangs zu erfüllen ist. Erst wenn der Roman tatsächlich zu Ende ist, kann man sicher sein, daß ein bislang gewonnener Eindruck sich nicht etwa im Licht einer neuen unvorhergesehenen Wendung als falsch herausstellt. Es sind immer wieder geschlechtliche Bedeutungen, die den Lesern zu ergänzen überlassen werden. Der Text stellt einen also immer wieder vor die Frage, ob nicht eine bestimmte Aussage eigentlich einen sexuellen Sinn hat. Für die Leser besteht in dieser Situation immer die Alternative von keuschem Ernst und frivoler Obszönität, und der Text trägt in seinen Formulierungen dieser Alternative Rechnung, muß aber die Rezeption letztlich in die Verantwortung der Leser stellen. Ein Beispiel: 194/Wagner 80 Material der erotischen Verfremdung und Euphemismen spielen im Text eine wichtige Rolle: Ich weißden Charaktertyp aufgrund des forte oder des piano eines Blasinstrumentes bestimmen, das .. ganz unfehlbar ist. jene besondere Öffnung seiner Hosen, für die es im ganzen Johnsonschen Wörterbuch keinen ordnetlichen und anständigen Namen gibt. 197/ Wagner 83 Sie werden nun die Stelle selbst sehen, Madame, sagte mein Onkel Toby. Onkel Toby denkt, die Witwe interessiere sich für die Örtlichkeit, wo er verwundet wurde, und nicht für die Stelle seiner Wunde am Körper. Dabei weiß auch der Leser nicht wovon die Rede ist Hier tritt das Ziel der Sujetverschiebung klar zutage – die Bremsung. Und Trim bringt der enttäuschten Witwe eine Karte von Namur 84 Schließlich ... spricht Trim mit der Bediensteten der Witwe, Bridget, über diese Verwundung von Hauptmann Shandy. Legt ihre Hand auf seinen Körper, wo sein Herr verwundet wurde. Wir hatten gedacht, Mister Trim, es sei mehr zur Mitte gewesen, sagte Fräulein Bridget. Das hätte uns ganz und gar ins Unglück gestürzt, sagte der Korporal Und meine Herrin einsam leben lassen. sagte Bridget…. Na, na! sagte Bridget, hielt die Fläche ihrer linken Hand horizontal und fuhr darauf mit ihren Fingern entlang, um zu zeigen, dass die Handfläche durchaus eben sei und sich keine Erhöhungen darauf befanden, welche die Bewegung der Finger behindert hätten. Das ist bis zur letzten Silbe erlogen, rief der Korporal aus und ließ sie nicht einmal den begonnenen Satz zu ende reden. Vor den Kopf gestoßen , fühlt sich der Leser mehrmals. Die Widmung steht statt am Anfang erst im achten Kapitel, das Vorwort in einem Umfang von einem Druckbogen (16 Seiten) im 64. Kapitel: Die Umstellung wird folgendermaßen begründet (das Vorwort steht erst im Buch III, Kap. XX): Keiner meiner Helden ist mir gerade zur Hand[3], das ist das erste Mal, dass ich eine frei Minute habe – ich will sie ausnützen und mein Vorwort schreiben. Eine andere Stelle, wo der Leser irritiert werden sollt, ist Umstellung der Kapitel (Kap. 178 und 179 erst hinter dem Kapitel 185): Mein einziger Wunsch ist es, der Welt eine kleine Lektion zu erteilen, dass sie die Leute nicht daran hindere, ihre Geschichten auf eigene Weise zu erzählen. 177/Wagner 65 Als Material zur Entfaltung dient im ersten Teil die Schilderung der Geburt Tristram Shandys. Diese Schilderung umfasst 276 Seiten, von denen aber für die Beschreibung der Geburt fast keine einzige verwendet wird. Entfaltet wird hauptsächlich das Gespräch des Vaters des Helden mit Onkel Toby. Die Verzweiflung des Vaters, dass dem Sohn bei der Geburt durch die Geburtszangen die Nase eingedrückt worden war, wird zuerst folgendermaßen beschrieben: 180/ Wagner 67 3. Buch, Kap. XXIX Sobald mein Vater auf sein Zimmer gekommen war, warf er sich der Länge nach auf das Bett in der ungezügeltsten Unordnung, die man sich vorstellen kann, zugleich aber auch in der kläglichsten Lage eines vom Schicksalsschlägen getroffenen Menschen, die jemals eine Mitleidsträne ins Auge trieb. Es folgt eine für Stern sehr charakteristische Beschreibung der Pose: Die rechte Handfläche, auf die er, als er auf Bett fiel, seine Stirn stützte und die seine Augen fast ganz bedbeckte, sank langsam mitsamt seinem Kopf (der Ellenbogen wich zurück) herab, bis er mit der Nase die Steppdecke berührte. Sein linker Arm hing fühllos über den Bettrand, die Fingerknöchel ruhten auf dem Henkel des Nachttopfs, der unter dem Bettvorhang hervorschaute; sein rechtes Bein (das linke hatte er an den Leib gezogen) hin halb über en Bettrand, dessen Kante ihm das Schienbein drückte. Sterne hat als erster die Beschreibung von Posen in den Roman eingeführt; sie werden bei ihm immer sehr befremdlich – genauer gesagt – verfremdet dargestellt. 186/ Wagner 72 Eine andere Verfremdung stellt die Ablösung des Erzählers durch den Autor selbst: die eingeschobene Geschichte, die vom Autor erzählt wird, wir so eingeleitet (6. Buch, Kap. 6) (in Bezug auf Träne im Auge des Onkel und des Korporals heißt es) Sie werden den Grund verstehen, wenn Sie die Erzählung über Le Fever lesen. Ach, was war ich dumm. Ich kann mich, ohne zu der Stelle zurückzublättern, nicht einmal mehr daran erinnern (und Sie vielleicht auch nicht), was mich eigentlich gehindert hat, dem Korporal die Möglichkeit zu geben, sie mit seinen Worten zu erzählen, doch die Gelegenheit ist verpasst, – ich muss sie selbst mit meinen erzählen. Es folgen 20 Seiten mit der Erzählung über Le Fever, dessen Sohn Onkel Toby als Erzieher für den Neugeborenen empfiehl. 186/Wagner 73 Ein anderes Mittel der Verfremdung, ist Wiederaufnahme der Motive. Sterns Beschreibung der schwer aufschürbaren Knoten auf dem Ranzen des Geburtshelfers. Die Wiederaufnahmen erinnert an das Prinzip der Fuge: Ein bestimmtes Motiv[4] wird nicht entfaltet oder realisiert, sondern von Zeit zu Zeit in Erinnerung gebracht; seine Realisierung wird immer wider auf später verschoben. Aber allein sein Vorhandensein während der ganzen Dauer des Romans bindet dessen Episoden. In Sternes Roman wird dem Leser lange die Information verweigert, in welchem Verhältnis der Erzähler zu seiner lieben, lieben Jenny steht. Trotzdem dient die Anrede und verstreuten Beweise der Kentnisse auf dem Gebiet des Ehelebens dazu, dass dem Erzähler mehr zugemutet wird, als was er im Text explizit gesteht. 189/ Wagner 75 Die Bedeutung des Konstruktiven und die Irrevelenz der Handlung wird auch in Šklovskijs Bemerkung zu Sentimentalität. Sentimentalität kann nicht Inhalt er Kunst sein, und sei es nur deshalb, weil es in der Kunst keinen isolierten Inhalt gibt. Die Darstellung von Dingen „vom sentimentalen Standpunkt aus“ ist eine besondere Methode der Darstellung, wie z. B. jene vom Standpunkt eines Pferdes (Tolstojs Leinwandmesser[5]) oder eines Riesen (Swift) aus. … Die vom realen Leben abweichende Funktion des Grausamen belegt er an vesennjaja obrjadovaja pesnja: Diese Lieder erzählen vom schlechten, rauflustigen Mann, vom Tod, von den Würmern. Das ist tragisch, aber es ist eine Liedtragik. Das Blut ist in der Kunst nicht blutig, sondern reimt sich auf „gut“[6], es ist entweder Material für eine Lautkonstruktion oder Material für eine Bildkonstruktion. Deshalb ist die Kunst erbarmungslos oder steht jenseits des Erbarmens, ausgenommen jene Fälle, wo das Gefühl des Mitleids als Material für eine Konstruktion genommen wird. Auch für die Figur des Vaters Shandy verselbstständigt sich das Reden von dem Gegenstand, von dem er redet. 192_193/Wagner 79 Ein Erfolg, der meinem Vater die Zunge band and, und ein Unglück, das sie mit Leichtigkeit in Gang setzte, waren für ihn von beinahe gleichem Wert. Manchmal war sogar das Unglück für ihn interessanter – denn setzt man das Vergnügen an der Rede gleich zehn an, die Erbitterung über einen Misserfolg nur gleich fünf, so ergab sich für meinen Vater halber Gewinn – und fühlte sich wieder großartig, als hätte es nie ein Unglück gegeben. (5. Buch, Kap. III.) Und deshalb taugt auch dieser Roman dazu, Šklovskijs These zu belegen 87 In Wirklichkeit ist die Fabel nur das Material für die Sujetformung. Die Formen der Kunst erklären sich durch ihre künstlerische Gesetzmäßigkeit, und nicht durch ihre außerliterarische Motivierung. Der Tristram Shandy ist der typischste Roman der Weltliteratur. ________________________________ [1] Im 6. Buch von »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, in »Die Bekenntnisse einer schönen Seele« spiegelt sich das Leben von Susanna Katharina von Klettenberg wider. Der Titel weist darauf hin, dass Goethe im Verkehr mit Klettenberg die Idee einer schönen Seele (vgl. Plato, Politeia IV, 444) aufleuchten sah. schöne Seele nennt Schiller den Menschen, in welchem Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung harmonieren. Die schöne Seele hat kein anderes Verdienst, als daß sie ist. Grazie ist ihr Ausdruck in der Erscheinung; nicht ihre einzelnen Handlungen, sondern ihr Charakter ist sittlich. Die schöne Seele tut das Gute wie aus Instinkt und übt selbst die peinlichsten Pflichten und die heldenmütigsten Opfer mit der größten. Leichtigkeit. Vgl. Goethes »Wilhelm Meister« (Bekenntnisse, einer schönen Seele VI B.). Schiller, Über Anmut und Würde 1793. _ [2] Ich war gewohnt, ein Gemälde und einen Kupferstich nur anzusehen wie die Buchstaben eines Buchs. Ein schöner Druck gefällt wohl; aber wer wird ein Buch des Druckes wegen in die Hand nehmen? So sollte mir auch eine bildliche Darstellung etwas sagen, sie sollte mich belehren, rühren, bessern; und der Oheim mochte in seinen Briefen, mit denen er seine Kunstwerke erläuterte, reden, was er wollte, so blieb es mit mir doch immer beim alten. [Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, Goethe-HA Bd. 7, S. 411-412)] Es handelt sich um eine Reduktion des Weiblichen und seinen Ausschluß aus der Gesellschaft von Seitens Goethe. Die feministische Interpretation wendet sich dagegen, Die "Bekenntnisse einer schönen Seele" aus Goethes "Wilhelm Meister" als Darstellung pietistischer Frömmigkeit zu lesen. Morrien deutet das Selbstkasteiungsprogramm der schönen Seele nun als "Weiblichkeitsboykott", als autistische Kümmer-Variante des männlichen Bildungsromans. Wilhelm dürfe als Mann die Welt in "Interaktion" mit anderen erproben, die schöne Seele dagegen werde "qua Geschlecht" notwendig auf sich selbst zurückgeworfen. [3] der Vater Shandy und Onkel Toby sind eingeschlafen, dr. Slop ist oben bei der Hebamme und der Mutter [4] die Erörterung über Knoten, Ösen, Bänder [5] die Geschichte eines Pferdes, an dessen wechselvollen Erfahrungen mit seinen moralisch verkommenen Besitzern die Brüchigkeit der Gesellschaft aufgezeigt wird. Die Erzählung ist eine Parabel über das Anderssein und die Leidensfähigkeit der Kreatur. Den Name "Der Leinwandmesser" gaben die Leute dem Wallach wegen seines langen, weitausholenden Schrittes, den es in Russland kein zweites Mal gab. Jedoch soll dem Pferde aufgrund seiner Andersartigkeit ein schweres und schmerzliches Los vorbehalten sein. Als "schwarzes Schaf" beginnt das Tier über viele Gegebenheiten im Leben nachzudenken. [6] (zpěv)