Sozialgeschichte der Literatur Nach den textimmanenten und strukturalistischen Ansätzen wirkten die bisher vernachlässigten Themenbereiche neu: Autorenvereinigungen, die Rolle von Verlagen, Leibibliotheken und Buchhändlern, Autorenhonorare, Auflagenhöhen, Nachdruck und Raubdruck, Zensur, die Interaktion zwischen literarischer Produktion und veränderten Möglichkeiten medialer Präsentation. Vorgeschichte der Sozialgeschichte Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen zur Ästhethik, ab 1817/18. Die symbolische Kunst (Orient) materialisiert sich vornehmlich in der Architektur, die klassische Kunst (Antike) vorwiegend in der Skulptur und die romantische Kunst (seit dem Mittelalter) in Malerei, Musik und Dichtung. lDas Drama muß, weil es seinem Inhalte wie seiner Form nach sich zur vollendetesten Totalität ausbildet, als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt angesehen werden. Denn den sonstigen sinnlichen Stoffen, dem Stein, Holz, der Farbe, dem Ton gegenüber, ist die Rede allein das der Exposition des Geistes würdige Element und unter den besonderen Gattungen der redenden Kunst wiederum die dramatische Poesie diejenige, welche die Objektivität des Epos mit dem subjektiven Prinzip der Lyrik in sich vereinigt Hegel über das Romanhafte Hier wird der Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse ausgetragen : lDie Zufälligkeit des äußerlichen Daseins hat sich verwandelt in eine feste, sichere Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates, so daß jetzt Polizei, Gerichte, das Heer, die Staatsregierung an die Stelle der chimärischen Zwecke treten, die der Ritter sich machte. ... Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt. ... das angebetete Weib, das erst die Einzige, ein Engel war, nimmt sich ohngefähr ebenso aus wie alle anderen, das Amt gibt Arbeit und Verdrießlichkeiten, die Ehe Hauskreuz, und so ist der ganze Katzenjammer der übrigen da." Max Weber (1864 - 1920) Der Sinn der ›Wertfreiheit‹ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917) Das Postulat der Werturteilsfreiheit leugnet nicht die Bedeutung von Werten als Gegenstand der Forschung, als Bezugspunkt für die Auswahl von Fragestellungen oder als Handlungs-orientierung des Menschen, fordert aber die Trennung von wertender Sinngebung und empirisch kontrollierter Tatsachenerkenntnis. Aus der Pluralität gegensätzlicher und nicht hierarchisierbarer Werte folgerte Weber die Notwendigkeit selbstverantwortlichen ethischen Entscheidungen des handelnden Individuums. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/1905. Weltverneinende Religionen entwickeln Prinzipien der Lebensführung, die sich auf Weltflucht (Hinduismus, Buddhismus) oder Welt-überwindung (asketisches Mönchstum), weltbejahende Religionen entwickeln Prinzipien der Lebensführung, die sich auf Weltanpassung (Konfuzianismus), auf Schickung in die Welt (antikes Judentum) oder auf Weltbeherrschung (v. a. der innerweltlich asketische Protestantismus) richten. Für die ihn bewegende Frage nach den Gründen für die Sonderentwicklung des Okzidents verwies Weber auf die Bedeutung der protestantischen Ethik der innerweltlichen Berufsaskese. Ihr schrieb er eine wesentliche Bedeutung für die Ausdifferenzierung der ökonomischen Wertsphäre und ihrer fortschreitenden Rationalisierung im modernen Kapitalismus zu. Max Weber: Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik, 1921 Sein Resümee ist, dass die in unserer Kultur etablierte mathematische Teilung der Oktave keineswegs die Spitze einer kulturellen Evolution darstellt, sondern vielmehr das Ergebnis einer Rationalisierung im Zuge einer Markt- und Massenwirkung der Musik ist, die mit dem als »bürgerlichen Möbel« etablierten Klavier einhergeht. Georg Simmel (1858-1918) Als Jude und »Soziologe« wurde der »ewige Privatdozent« und erst seit 1900 (unbesoldeter) a. o. Professor zum Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (1909/10) und zur maßgebenden Persönlichkeit des Kreises um die Zeitschrift »Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur« (1910 ff.). J. W. Goethe (1913) Er betonte den fragmnentarischen Charakter des Denkens und dem entsprechenden Stilpluralismus. Stefan George. Eine Eine kunstphilosophische Studie Neue Deutsche Rundschau (Freie Bühne). Jg. 12, 1901, [Heyse].... ein ästhetisch peinliches, unorganisches Gemenge zweier ganz heterogener Reihen, der Realität mit ihren einzelnen, zufälligen, konkreten Individuen, und der Kunst, in der nur die sachlichen, also zeitlosen und von ihren historischen Trägern gelösten Bedeutungen der Dinge gelten. Indem George sich rein innerhalb dieser hält, kann er dennoch ganz persönliche Bewegungen zum Ausdruck bringen, weil er sie nur an jenem Persönlichkeitsbilde fühlen läßt, das die Worte und Gedanken des Gedichts als ihr Apriori, ihre innere Einheit umfaßt – gleichsam die eigentliche Bedeutung der individuellen Wirklich-keit, aber aus dieser Wirklichkeit selbst herausgerettet und in die Seinsart der bloßen Ideellität gekleidet. Simmel Autor einer relativistischen Werttheorie in der Philosophie des Geldes (Lpz. 1900. Erw. 1907) Seine Schüler Ernst Cassirer, Ernst Bloch, Georg Lukács u. Siegfried Kracauer. Die Großstädte und das Geistesleben, 1903 Vergesellschaftung: Simmel definiert die Geselligkeit „als Spielform der Vergesellschaftung und als - mutatis mutandis - zu deren inhaltsbestimmter Konkretheit sich verhaltend wie das Kunstwerk zur Realität.“ Geselligkeit im engeren Sinn entsteht nach ihm, wenn der Prozess der Vergesellschaftung als Wert an sich und Glückszustand jenseits der sozialen Realitäten erlebt wird. Literatursoziologie das vormarxistische Frühwerk von Georg Lukács: Die Theorie des Romans, 1916, knüpft direkt an Hegel an: Die "Produktivität des Geistes" (Erkenntnis und Arbeit) sprengt die alte Geschlossenheit des Weltbildes auf: die (moderne) Welt wird "unendlich groß [...] und reicher an Geschenken und Gefahren" - sie verliert ihre 'heimatliche' Qualität. Diese "transzendentale Obdachlosigkeit" ist nun der historische Ort für die Form des Romans: Der Roman ist die Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat. transzendentale Obdachlosigkeit (Lukács) sein Inhalt (des Romans) ist die Geschichte der Seele, die da auszieht, um sich kennenzulernen, die die Abenteuer aufsucht, um an ihnen geprüft zu werden, um an ihnen sich bewährend ihre eigene Wesenheit zu finden. Marxismus Das (gesellschaftliche) Sein der Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte bestimmt die Objektivationen des Bewußtseins (Religion, Wissenschaften, Künste), die ›Basis‹ den ›Überbau‹. Franz Mehring: Die Lessing-Legende (1892) Lockerung der Abhängigkeit des Überbaus: die ökonomische ›Basis‹ bestimme den ›Überbau‹ nur »in letzter Instanz« (Althusser 1974). Althusser ein Lehrer Michel Foucaults, unterzog das Werk von Karl Marx einer strukturalistischen Lesart. Elemente sind dann überdeterminiert, wenn sie nicht auf eine einfache Ursache zurückzuführen sind oder eine eindeutige Bedeutung haben, sondern sich aus mehreren Quellen speisen und sich gegenseitig beeinflussen. Nach Sigmund Freud ist der Traum überdeterminiert, weil die Traumsymbole ein Knotenpunkt von mehreren Bedeutungen sind. Theodor W. Adorno und Walter Benjamin autonome bzw. heteronome literarische Form. Autonom: weil sie im Kunstwerk selbst bestimmt, von niemandem außerhalb des Textes diktiert wird. Heteronom: am Kunstwerk arbeitet etwas mit, das außerhalb seiner liegt, etwas Gesellschaftliches, beginnend mit der Sprache, die ja ein allgemein verfügbares Medium ist, über Versformen, Gattungsstrukturen bis hin zu Erzähltechniken. Adorno realisiert in seinen Analysen eine Forderung Walter Benjamins (aus dem Esssay Der Autor als Produzent): die formale Organisation der erzählten Welt in Beziehung zu den Produktionsverhältnissen seiner Epoche zu bringen Adorno Die ästhetische Form ist für Adorno sedimentierter Inhalt: die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form. Das Kunstwerk verhält sich mimetisch zu seinem Äußeren, es gleicht sich an, gleichzeitig jedoch geht das Kunstwerk in dieser Mimesis nicht auf. Das Widerstandspotenzial eines Werks liegt darin, dass es über das gesellschaftlich Existente hinausweist, Orte anzeigt, die es (noch) nicht gibt, dass es in seinem Form den Anspruch erhebe, autonom zu sein, ein Vorschein und Versprechen dessen, was wir als Individuen sein könnten: Selbstbestimmt und autonom statt entfremdet und funtionalisiert in einer entfremdeten Gesellschaft. Adorno: Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman Will der Roman seinem realistischen Erbe treu bleiben und sagen, wie es wirklich ist, so muß er auf einen Realismus verzichten, der, indem er die Fassade reproduziert, nur dieser bei ihrem Täuschungsgeschäfte hilft. Die Verdinglichung aller Beziehungen zwischen den Individuen, die ihre menschlichen Eigenschften in Schmieröl für den glatten Ablauf der Maschinerie verwandelt, die universale Entfremdung und Selbst-entfremdung, fordert beim Wort gerufen zu werden, und dazu ist der Roman qualifiziert wie wenig andere Kunstformen. Von je her, sicherlich seit dem 18. Jahrhundert, seit Fieldings Tom Jones hatte er seinen wahren Gegenstand am Konflikt zwischen den lebendigen Menschen und den versteinerten Verhältnissen. Entfremdung selber wird ihm dabei zum ästhetischen Mittel. Literaturgeschichten Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Begr. von Rolf Grimminger. - München : Deutscher Taschenbuch-Verlag. Insgesamt 12 Bände lSozialgeschichte der deutschen Literatur (1982ff.). Horst Albert Glaser (Hrsg.) lAls zehnter und letzter Band des Großunternehmens erschien 1997 der Band Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995.Eine Sozialgeschichte bei Verlag Haupt. Insgesamt 10 Bände. Pierre Bourdieu Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (Frankfurt/Main 1987). Habitus ist das, was eine Person ausmacht. Ihr Innenleben, ihre Vorlieben und Abneigungen, Benehmen, Geschmack, Auftreten u.v.m. Unseren Habitus haben wir in der Phase der Sozialisation erworben. Er ist uns antrainiert worden, manchmal ganz bewußt und mit Absicht und ein anderes Mal, „weil man es einfach so macht“. Er ist ein Teil unserer Person geworden und wird selten hinterfragt. Der Habitus eines Menschen bestimmt, wie er lebt und wohnt, welche Grenzen er hat, in welchem Beruf er arbeitet, was er gerne ißt, trinkt, anzieht usw. Pierre Bourdieu verwendet der traditionellen Soziologie entlehnte und neu terminologisierte Begriffe: kulturelles Kapital „‘Haben‘ ist zu ‚Sein‘ geworden“, Familie: Sozialisation = Akkumulation Erwerb ist abhängig von ökonomischen Kapital, das zum kultutrllrn Kapital konvertibel ist soziales Kapital symbolisches Kapital Bourdieus Kapitalauffassung Die treibende Kraft aller Aktivitäten der Institutionen und der Autoren im literarischen Feld ist für Bourdieu der Kampf um Macht. Als Synonym für Macht verwendet Bourdieu den Begriff «Kapital», worunter er, abweichend vom gängigen Sprachgebrauch, sowohl materielles Kapital als auch Faktoren wie Schulbildung, Beziehungen, Reputation, Titel, Preise, Sprachkompetenz, Ehre usw. versteht, die unter den Sammelbegriff «symbolisches Kapital» fallen. Das soziale Kapital „Das soziale Kapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um eine Ressource, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.“ Sozialkapital hat einen ‚Multiplikationseffekt‘ auf das tatsächlich vorhandene Kapital. symbolisches Kapital Ein Beispiel des symbolischen Kapitals ist Sponsoring, das dem Besitzer von ökonomischem Kapital zu sozialer Anerkennung verhilft. Aber auch alle anderen Formen der Gewinnung und Erhaltung von Prestige, wie die einschlägigen Praktiken von Künstlern, Politikern, Fernsehstars, sowie bekannten Sportlern, können zu symbolischem Kapital führen. Ein anderes Beispiel symbolischen Kapitals, welches als symbolische Gewalt genutzt wird, kann die männliche Herrschaft dienen:„Es ist jene sanfte, für ihre Opfer unmerkliche, unsichtbare Gewalt, die im Wesentlichen über die rein symbolischen Wege der Kommunikation und des […] Anerkennens oder äußerstenfalls des Gefühls ausgeübt wird.“ Entwurf einer Theorie der Praxis "alle Handlungen, und selbst noch jene, die sich als interesselose oder zweckfreie, also von der Ökonomie befreite verstehen, [sind] als ökonomische, auf die Maximierung materiellen oder symbolischen Gewinns ausgerichtete Handlungen zu begreifen". das literarische Feld in Anlehnung an Max Webers Feldbegriff geht Bourdieu von einer Reihe gesellschaftlicher Felder aus, die sich seit der Renaissance in einem allmählichen Prozess herausgebildet haben: Er unterscheidet unter anderem ein wissenschaftliches, ein wirtschaftliches, ein politisches, ein kulturelles und als Teil des letzteren ein literarisches Feld: die Gesamtheit aller Aktoren des Feldes und ihrer auf Literatur bezogenen Aktivitäten. lDie Regeln der Kunst, 1992 Die Regeln der Kunst Über das, was geschrieben werden sollte, und über die Regeln des guten Geschmacks kann nun nicht mehr von einer herrschaftlichen Instanz entschieden werden; Anerkennung und Bestätigung ergeben sich aus den Positionskämpfen im literarischen Feld zwischen Autoren, Kritikern und Editoren. Les Regles de l’art. Genese et structure du champ littéraire, übersetzt von Petr Kyloušek, Petr Dytrt das literarische Feld Autoren und Leser, + sechs Institutionen: (1) die Literaturkritik, (2) die Verlage, (3) der Literaturunterricht, (4) Organisationen der Literaturförderung, (5) der Buchhandel (6) die Bibliotheken. Ein System von Werten, Normen und Bedeutungen. Voßkamp Nicht-marxistische sozialgeschichtliche Modelle präsentiert Wilhelm Voßkamp in Methoden und Probleme der Romansoziologie. Über Möglichkeiten einer Romansoziologie als Gattungssoziologie. In: IASL 3 (1978), S. 1-37. Voßkamp I. Die Vergegenwärtigung literarischer Kommunikationsbedingungen als Voraussetzung romansoziologischer Untersuchungen; II. Voraussetzungen und Bedingungen der Romanproduktion; III. Rolle und Funktion der Romanrezeption; IV. Zuordnung von Roman und Gesellschaft unter gattungssoziologischen Gesichtspunkten; V. Zusammengehörigkeit von Romantheorie, Romansoziologie und Sozialgeschichte des Romans.