Intertextualität. Literatur ist Zitat – »Korrespondenzverhältnisse« in Kafkas Das Urteil Von Susanne Schedel Zum Begriff der Intertextualität und seinen Ursprüngen Eine Möglichkeit der ersten Annäherung an die Theorie der Intertextualität besteht in der Zerlegung ihres Namens. Die Begriffsbestandteile »Inter« und »Text« verdeutlichtlichen, worum es bei dieser Methode geht: »um das, was sich zwischen Texten abspielt, d.h. den Bezug von Texten auf andere Texte« (Broich/Pfister, 1985, S. IX). Wer also Das Urteil mit Hilfe dieses methodischen Ansatzes analysiert, wird den Text auf seine Verbindungen zu anderen Texten hin untersuchen und ihn damit auch als einen Knotenpunkt in einem Netzwerk schon bestehender Texte lesen. Aus dies Lesart können sich folgende Einzelfragen an Das Urteil ergeben: Bezieht sich Kafkas Prosastück auf andere Texte: und wenn ja, auf welche? Welche Spuren haben die Bezugstexte darin hinterlassen? Woran sind diese Spuren erkennen und wie gestaltet Kafka die Bezugnahmen im Einzelnen (z.B. als wörtliche Zitate oder als versteckte Anspielungen)? Welche Funktionen weist ihnen das künsll rische Gefüge des Textes zu? Und schließlich: Welche mö|< liehen Interpretationen ergeben sich unter mtertextuelleB Aspekten? Derartige Fragen sind in ihrem Kern keine Errungaa« Schaft der jüngeren Literaturtheorie, denn das Intercsil daran, wie Texte Autoren beeinflussen und in welellif Form und welchem Maß sie somit in anderen Texten an w»< send sind, ist so alt wie die Literaturwissenschaft selbst, und Intertextualität 221 firmierte traditionell unter dem Etikett der Quellen- und Einflussforschung. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte ist das Interesse an Textbezügen jedoch beinahe untrennbar mit dem Begriff der Intertextualität verwachsen und hat dadurch enorme Ausweitung und Differenzierung erfahren. Der Grund dieser Verbindung liegt in den Entwicklungen der Sprach- und Literaturphilosophie der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Ich werde im folgenden Abschnitt die wichtigsten Positionen und Entwicklungen der Intertextualitäts-iheorie skizzieren, zumal diese inzwischen ein Gemenge zahlloser, unterschiedlichst akzentuierter Debatten und Theorieansätze bilden.1 Die Anfänge der Intertextualitätstheorie: Michail Bachtin und Julia Kristeva 1967 veröffentlicht die französische Philosophin und Lite-raturtheoretikerin Julia Kristeva, eine Schülerin Jaques Derridas, ihren Epoche machenden Aufsatz Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman? Darin prägt sie den Begriff •Intertextualität«. Kristeva setzt sich in ihrem Aufsatz mit der Theorie des russischen Sprach- und Literaturtheoretikers Michail Bachtin auseinander, genauer mit seinem Konzept der Dialogizität. Bachtins Grundgedanke besteht dabei in der Auffassung, dass die Sprache ein kommumkati-onsorientierter, dynamischer Vorgang ist, der Gegenrede herausfordert. Auf die Literatur übertragen bedeutet Dialo-;.;izität zum einen die jeweils Rede und Gegenrede ein- I Einen ersten Überblick bietet für Interessierte die Bibliographie von Udo Hebel (1989). Sie reicht zwar nur bis 1988, ist aber bisher die einzige ihrer Art und gibt einen guten und umfassenden Einblick in die Differenzierungen, die der Forschungsbereich der Textbeziehungen bereits erlebt hat. ' Die deutsche Fassung, die hier verwendet wird, trägt den Titel Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman (Kristeva 1972). 222 Susanne Schedel schließende Stimmenvielfalt innerhalb eines Textes. Bachtin fordert den polyphonen Roman als »Mikrokosmos der Re devielfalt«, der die »sozioideologischen Stimmen ein« Epoche« in sich vereinen müsse (Bachtin, 1979, S. 290). Zum anderen bedeutet die Dialogizität in der Literatur aber auch die Mehrstimmigkeit der einzelnen Äußerungen eines Textes, denn ein Romandialog führt wiederum selbst einen Dialog mit Wörtern und Reden außerhalb des konkreten Textes, da »jedes konkrete Wort [die Äußerung] jenen Gegenstand, auf den es gerichtet ist, immer schon [...] besprochen, umstritten bewertet« vorfindet »und von einem ihn verschleiernden Dunst umgeben oder umgekehrt vom Licht über ihn bereits gesagter, fremder Wörter erhellt-ist (Bachtin, 1979, S. 169). Weiterhin überführt Bachtin sein Dialogizitätskonzept in einen ideologiekritischen Zusani menhang, der vor allem vor dem politischen und kulturel len Hintergrund der russischen Revolution verständlich wird: Bachtin hält Monologizität und Dialogiziät/Redevicl falt nicht nur für Grundprinzipien literarischer Gattungen, sondern auch für Grundprinzipien gesellschaftlicher Strukturen. Dialogizität und Gegenrede sind imstande, autoritäre, >monologische< Gesellschaften zu unterwandern. Die enge Verwobenheit von Text, Sprache und Gesellschaft bei Bachtin ist der zentrale Anknüpfungspunkt füf Julia Knstevas eigene Texttheorie. Sie selbst gehörte /in kommunistisch revolutionär orientierten Gruppe TelQuel, die in Frankreich am Ende der 1960er-Jahre das Ziel der Abschaffung der »bürgerlichen Ideologie von der Autono« mie und Identität individuellen Bewusstseins sowie der Ali geschlossenheit von Texten und ihres Sinnes« (Broich/I'li ster, 1985, S. 6) verfolgte. Das texttheoretische Äquivalent zum bürgerlichen Feindbild sah Kristeva im statischen Strukturalismus mit seinen »klassifikatorischen Schein.in für werkinterne Strukturen« (Pfister, 1994, S. 215). IWi Bachtin glaubte sie diesen statischen Strukturalismus übq wunden zu finden: Intertextualität 223 Bachtin gehört zu den ersten, die die statische Zerlegung der Texte durch ein Modell ersetzen, in dem die literarische Struktur nicht ist, sondern sich erst aus der Beziehung zu einer anderen Struktur herstellt. Diese Dynamisierung des Strukturalismus wird erst durch eine Auffassung möglich, nach der das literarische Wort< nicht ein Punkt [nicht ein feststehender Sinn] ist, sondern eine Überlagerung von Text-Ebenen, ein Dialog verschiedener Schreibweisen: der des Schriftstellers, der des Adressaten [oder auch der Person], des gegenwärtigen oder vorangegangenen Kontextes. (Kristeva, 1972, S. 346) Auf diesen Gedanken basiert auch ihre Uminterpretation der Bachtinschen Dialogizität: [...] jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersub-jektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache läßt sich zumindest als eine doppelte lesen. (Ebd., S. 348) Dieses Zitat deutet das Charakteristische, Neue an, das Ivristeva von Bachtin unterscheidet und das vor allem in ihrer Vorstellung davon besteht, was eigentlich ein Text ist: Ivristeva nämlich weitet den Textbegriff auf radikale Weise aus, indem sie Intertextualität als eine allgemeine und allen Texten ursprünglich zugehörige Eigenschaft definiert. Textualität, also >Text sein<, ist für sie nur noch als Inter-lextualität denkbar und damit »als der gesamte Bestand so-ziokulturellen Wissens« (Holthuis, 1993, S. 15), an dem je-iler Text teilhat, auf den jeder Text verweist, aus dem jeder Text entsteht und in dem er sich auch wieder auflöst. Kristeva bevorzugt also Dynamik und Beziehungshaftigkeit als primäre Eigenschaften von Texten und verneint in ihrem 224 Susanne Schedel Textmodell damit die Vorstellung vom Text als statischer Struktur. Wenn sich darüber hinaus aber die poetische Sprache durch zahllose Kombinationen, Querverstrebungen und Sinnvervielfältigungen auszeichnet, muss jeder Versuch der Festlegung von Textsinn dogmatisch und willkürlich erscheinen. Dieser total entgrenzte Textbegriff, den Kristeva keineswegs auf literarische Texte als sprachliche Zeichensystemc beschränkt, sondern in den sie sämtliche Sinnsysteme und kulturelle Codes (z.B. Filme, Mode) einbezieht, hat weitreichende Konsequenzen: Für Kristeva absorbiert, transformiert, reproduziert sich der entworfene universale Inter-text selbst, und zwar subjektlos. Der Autor wird damit als origineller Schöpfer literarischer Kunstwerke ausgeschaltet. Er fungiert bestenfalls noch als Ort dieser Transformation, als Anordner schon bestehender Texte, als Knotenpunkt, als »Echokammer« (Barthes, 1978, S. 81). Der französische Zeichen- und Kulturtheoretiker und zeitweilige Kristeva Anhänger Roland Barthes proklamierte in diesem Zusam menhang gar den »Tod des Autors« (Barthes, 2000), dies je doch vor allem als Spitze gegen Interpretationen, die nur die Psychologie und die Biographie des Autors als Grundlage ihrer Arbeit zulassen und unreflektiert direkte Bezic hungen zwischen Autor und Werk behaupten (die französi sehe explication du texte). Wie deutlich geworden sein dürfte, hat Kristevas Kon zept mit den eingangs aufgeworfenen Fragen nach den konkreten Beziehungen zwischen literarischen Texten und ihrer Funktionalisierung für eine Interpretation nichll mehr zu tun. Eine Textauslegung war jedoch auch nie ihr Erkenntnisziel. Stattdessen suchte sie (ähnlich wie Jacquc» Derrida mit seinem Konzept der Dekonstruktion) mittels ihrer Deutung gesellschaftlicher Phänomene als Text nach einem kritischen Korrektiv für Bestehendes sowohl in Literatur als auch in Gesellschaft. Es ging ihr »darum, den Ort zu wechseln, und ein einengendes System anzugreifen, Intertextualität 225 nicht indem man ihm frontal entgegentritt, sondern dadurch, daß man ein anderes Territorium erschließt, eine andere Redeweise, einen anderen Horizont« (Kristeva, 1977, S. 125). Kristevas Theorieentwurf entfachte in der damaligen akademisch-intellektuellen Szene heftige Debatten, begleitet von einer Flut theoretischer Schriften zur Intertextualität, die Kristevas Entwurf folgten oder ihn in Gegenkonzeptionen zu widerlegen suchten. Kristevas Anhänger rekrutierten sich vor allem aus dem Kreis um die Gruppe TelQuel, deren Ziele ebenfalls weniger textanalytischer als vielmehr allgemein hteratur- und kulturkritischer Natur Gegenentwürfe zu Julia Kristevas Intertextualitätskonzept Schon in den 1970er-Jahren kristallisierten sich im Zuge der Debatten um Kristevas Theorieentwurf verschiedene Schulen der Intertextualitätsforschung heraus. Eine Gegenbewegung formierte sich, deren Vertreter Kristevas entgrenzten Intertextualitätsbegriff wegen seiner Unbrauchbarkeit für den hermeneutisch-interpretatorischen Umgang mit Literatur angriffen. Sie unternahmen Anstrengungen, Kristevas globales Intertextualitätskonzept wieder literaturwissenschaftlich fruchtbar zu machen (vgl. Hempfer, 1991, S. 7 ff.), jedoch mit unterschiedlichen Akzentuierungen. Gemeinsam ist den meisten Theoretikern jedoch, dass sie den Intertextualitätsbegriff wieder auf die Beziehung zwischen konkreten Texten verengten und den Autor, im Gegensatz v. a. zu Barthes' Postulat, am Leben ließen. In den USA gab die Gruppe der so genannten Yale Critics die Richtung vor: Hier ist vor allem Harold Bloom zu erwähnen, der 1973 mit seinem Buch The Anxiety of Influence (>Einflussangst<) eine verstärkt psychoanalytisch geprägte Intertextualitätsfor- 226 Susanne Schedel schung auf den Weg brachte.3 In Deutschland haben Wis senschaftler wie Renate Lachmann,4 Ulrich Broich und Manfred Pfister (Broich/Pfister, 1985) sowie Karlheinz Stierle (1984) Ansätze und Systematiken erarbeitet, die als Beschreibungsinstrumentarien für konkrete Textbezie hungen dienen und zugleich den Boden für eine Textin terpretation unter intertextuellen Aspekten bereitet ha ben. Neben den Schriften Lachmanns zählt beispielsweisr auch das Strukturalistisch orientierte Werk von Ulrich Broich und Manfred Pfister Intertextualität. Formen, Funk tionen, anglistische Fallstudien (1985) zu den wichtigstal Theorieentwürfen zur Intertextualität. Broich und Pfistef schneiden den Intertextuahtätsbegriff auf »bewußte, in tendierte und markierte Bezüge zwischen einem Text und vorliegenden Texten oder Textgruppen« (Broich/Pfiski, 1985, S. 25) zurück: Textpassagen, in denen der Autor die importierten Fremdtexte nicht als solche kennzeichne!, bleiben nach ihrem Modell zwangsläufig hermetisch. Def Leser muss die zitierten Texte als zitierte erkennen und In-merken, um sie in seine Deutung einbeziehen zu können Interessant ist, dass beide Wissenschaftler ihren Entwwl als ein Vermittlungsmodell verstehen, das die als unübefi brückbar geltenden Gegensätze zwischen ihrem eigenen strukturalistisch-textanalytischen Ansatz und dem univei sal-poststrukturalistischen Konzept Kristevas überwinde! soll (ebd.). Das nach wie vor umfangreichste und ausgefeilteste Ordnungssystem möglicher Formen von Intertextualität hat 3 Blooms Kernthese lautet, dass sich der Künstler in Konkurrenzverhäh 111 l H zu Zeitgenossen und Vorläufern befindet, die sein Denken beeinflussen iiihI Spuren im seinem Werk hinterlassen. Dies wird jedoch nicht positiv bew< i tet, sondern löst Emanzipationsbestrebungen aus, die Bloom m psychoilllii lytischer Tradition als Kampf zwischen Vater und Sohn deutet. 4 Lachmann (1990) und (1984). Lachmann erkennt Intertextualität als Vu I ili ren der gezielten Sinnkonstitution an, problematisiert aber gleichzeitig dll dadurch entstehende Sinnkomplexion, die sich nicht auf einen einfach IcnIm ren Sinnkern reduzieren lässt. Intertextualität 227 Gerard Genette mit seinem als Meilenstein einzustufenden Werk Palimpseste (1993) vorgelegt. Auch Genette zielt auf ein praktikables Beschreibungssystem, gleichwohl steht er den Ideen des Poststrukturalismus nahe, indem er Intertextualität als Abhängigkeiten von Texten untereinander beschreibt und den Autor dabei weitgehend außen vor lässt. Unter dem Leitbegriff der »Transtextualität«5 gliedert er Textbezüge »in selbstironischem Spiel mit einem geradezu scholastischen Aufwand an Nomenklatur« (Broich/Pfister, 1985, S. 16). Sein System charakterisiert sich zum einen durch die feinmaschige Terminologie, die er mit zahlreichen Beispielen aus der Weltliteratur illustriert. Zum anderen beschränkt er sich bei der Beschreibung nicht auf Bezüge zwischen Einzeltexten, sondern behandelt auch Bezüge auf Textsysteme wie beispielsweise auf Gattungstypen. Zukunftsperspektiven der Intertextualitätstheorie Wie sich gezeigt hat, stehen sich in der Intertextualitätstheorie zwei Grundpositionen gegenüber, die das gleiche Phänomen thematisieren, dieses aber aus gegenläufigen Denkrichtungen angehen. Einige Forscher betrachten beide Positionen als verknüpfbar, für andere, vor allem für Kriste-va selbst,6 sind sie nach wie vor unvereinbar. Die meisten Untersuchungen zur Intertextualität entstehen heute aus ei- ^ Genettes Begriff der Transtextualität umfasst »alles, was ihn [den Text] in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt« (Genette, 1993, S. 9). Die Transtextualität wird in fünf Unterkategorien unterteilt, auf die Genette sein System aufbaut: Die Intertextualität ist dabei nur eine der Unterkategorien, und Genette definiert sie als »effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text« (ebd., S. 10). h Kristeva hat die Vereinnahmung ihres Begriffs »Intertextualität« durch die Vertreter der strukturalistisch geprägten Textinterpretation nie akzeptiert. Sie sah ihr Konzept durch diese Zusammenhänge verfälscht und missbraucht, weil es den Intertextualitätsbegriff ihrer Ansicht nach in die statischen Zusammenhänge zurückstellte, die sie hatte aufbrechen wollen. 228 Susanne Schedel Intertextualität 229 nem Interesse am konkreten Textbezug heraus und gehet) deshalb von einem pragmatisch ausgerichteten Theonc.in satz aus. Kristevas Konzept ist jedoch nach wie vor tk-i Ausgangs- und Reibungspunkt, der bei jeder Untersucruni|; mitgedacht werden muss. Jonathan Culler hat die Proble matik der Behandlung von Intertextualität auf den Punki gebracht: »Die Möglichkeiten des Begriffs >IntertextualiLii sind zwar zweifelsohne vielfältig, [...] aber sie erweist sii li als ein Konzept, mit dem sehr schwer zu arbeiten ist, z. It. in Bezug auf den intertextuellen Rahmen, dessen Codes und Konzeptionen, von seiner Beschreibung ganz zu schwaj gen« (Culler, 1976, S. 1383 f.). Jeder Versuch einer Theorci i sierung oder Systematisierung des Phänomens Intertextuali tat muss also zwangsläufig perspektivisch bleiben. Neue Impulse für die Intertextualitätstheorie ergebe n sich vor allem auf folgenden Gebieten: So scheint zum ci nen das Phänomen des Hypertextes, der durch die Intei' net-Technologie aus der Wissenschaftssprache in die täj;li ehe" Praxis breiterer Bevölkerungsschichten verschoben wurde, die Theoreme Kristevas, Barthes und Derridas geradezu zu verkörpern. Die Idee des universalen Intertextes, der >totalen Bibliothek< scheint hier verwirklicht.7 Zum anderen wird die Texttheorie, die mit dem Intertextualitäts -konzept verbunden ist, über die Literatur hinaus ausgewei tet, denn auch in der Diskussion um andere Künste wie Film, Photographie oder Architektur ist von deren >Spra che< die Rede. In dieser ihrer jeweiligen Sprache verweisen sie ebenfalls, z.B. mit Zitaten oder Anspielungen, auf ihr eigenes Zeichensystem (Allen, 2000, S. 175). Drittens speist auch die Forschungsrichtung der Intermedialität, die sich unter anderem mit dem Nebeneinander verschiedener Medien (z.B. Text und Bild) in einem Kunstwerk befasst, ihre Theoriebildung in starkem Maße aus der Intertextualität. 7 Allen (2000); vgl. dazu auch Landow (1994). Intertextualität in Kafkas Urteil -einige Vorüberlegungen Die folgende Einführung in die intertextuelle Interpretation am Beispiel des Urteils wird sich, um konkrete Nutzungsmöglichkeiten vorzuführen, des pragmatischen Theorieansatzes bedienen und Beschreibungsbegriffe hauptsächlich aus den Entwürfen von Broich/Pfister und Renate Lachmann entlehnen. Ich greife an dieser Stelle also wieder auf die eingangs gestellten Grundfragen zurück. Zunächst zu den ersten beiden Fragen: Auf welche Texte bezieht sich Das Urteil und welche Spuren haben sie hinterlassen? In welcher Form verweist der Text auf seine Prätexte?8 Tatsächlich enthält Kafkas Text keinen einzigen expliziten Hinweis auf eine Verarbeitung von Prätexten. So erscheinen z.B. weder Anführungszeichen, die auf wörtliche Zitate aus Prätexten schließen lassen (der Wortlaut des Briefs [11] soll hier nicht unter den Begriff »Prätext« ge-fasst werden), noch sind Stellen mit offensichtlichem Zitatcharakter zu finden (deren Kennzeichnung beispielsweise durch die Verwendung indirekter Rede möglich wäre), von Autor- oder Titelnennungen ganz zu schweigen. Ob der Leser jedoch Zitate oder Anspielungen als solche erkennt und ob diese ihr Bedeutungspotenzial im individuellen Lese- und Interpretationsvorgang entfalten, hängt zunächst vor allem von zwei Dingen ab: erstens von der Deutlichkeit der Markierungen auf der Textoberfläche und zweitens von ihrer Lokalisierung im Text. Ein »deutlicher Verweis im Titel eines Textes auf den Prätext wird sich unter Umständen als wirkungsvoller erweisen als mehrere im Text versteckte >markers<« (Broich/Pfister, 1985, S. 33). Ausgenommen wären hier Anspielungen, die sich z.B. auf so genannte Klassiker oder die Bibel beziehen. (Oder bedürfte 8 Der Begriff des Prätextes ist von Broich/Pfister entlehnt und meint den jeweiligen Bezugstext. 230 Susanne Schedel ein Zitat mit dem Wortlaut »To be or not to be« noch einer Markierung?) Kafka jedoch verzichtet im vorliegenden Prosastück auf jede Form der Markierung an der Textoberfläche und damit auch auf das absichtsvolle Spiel mit Text bezügen. Dennoch existieren Tagebucheinträge, die die Aufmerk samkeit auf Textbeziehungen in der Tiefenstruktur des Urteils lenken.9 Kafka kommentiert dessen Entstehung am 23. September 1912 folgendermaßen: Viele während des Schreibens mitgeführte Gefühle: z.B. die Freude, daß ich etwas schönes für Maxens Arcadia haben werde, Gedanken an Freud natürlich, an einer Stelle an Arnold Beer, an einer anderen an Wassermann, an einer (zerschmettern) an Werfeis Riesin, natürlich auch an meine >Die städtische Welt<. (T 294)10 Der erwähnte Roman, Arnold Beer. Das Schicksal eines ju den, stammt von Max Brod und erschien 1912 in Berlin. Das Urteil soll im Folgenden auf diesen Roman bezogen werden, zumal diese Textbeziehung in der Kafkaforschun); als »Beispiel produktiver Lektüreverarbeitung« (Fingerhut, 1979) gilt. Renate Lachmann spricht in einem solchen Fall von einer »latenten Intertextualität«, welche die Ober fläche eines Textes nicht stört, aber dennoch sinnkonsti tuierend wirkt (Lachmann, 1984, S. 134). Es handelt sich hier außerdem um einen Fall von Intertextualität, der bc 9 Derartige Verweisformen definieren Broich/Pfister als »Markierung Nebentexten«: »Darüber hinaus können Autoren die intertextuellen Bezüffl ihrer Werke natürlich auch in Äußerungen markieren, die nicht im 7^ sammenhang mit diesen Werken publiziert werden«, vgl. ebd. (1985), S. ': und 38. 10 »Gedanken« haben bedeutet hier nicht, dass Kafka Texte aufzählt, die er f zielt als Vorlagen oder Quellen benutzt hat, sondern dass er von Assoä tionen spricht, mit denen er Das Urteil zu anderen Texten in Beziehu setzt. Intertextualität 231 reits im Grenzgebiet zu jener eingangs erwähnten Quellen- und Einflussforschung angesiedelt werden kann, von der sich die Intertextualitätsforschung abzugrenzen sucht, denn es geht bei Kafka, wie schon gezeigt, nicht um gezielten Einsatz von Fremdtext, sondern um dessen mehr oder weniger bewusste Verarbeitung. Man könnte darin Barthes' Auffassung vom Autor als »Echokammer« entdecken. Textbeziehungen zwischen Arnold Beer und Das Urteil Die intertextuellen Beziehungen zwischen beiden Texten bestehen zunächst vor allem in Analogien auf den Ebenen der Handlung und der Personenkonstellation. Arnold Beer, ein junger jüdischer Intellektueller, dessen Selbstfindungs-prozess bzw. Entwicklung vom rastlosen Lebemann zum ernsthaften Journalisten Brod in seinem Roman beschreibt, teilt auffällig viele Merkmale seiner sozialen und familiären Situation mit Georg Bendemann. Die prägnantesten drei möchte ich zum Ausgangspunkt der intertextuellen Analyse machen: Erstens hat Beer, parallel zu Bendemann, ebenfalls einen Jugendfreund, Philipp Eisig, der ins Ausland (hier: nach Amerika) geht. Zweitens lässt sich auch Beer in das Handelsunternehmen seines Vaters einbinden, zunächst willig und ehrgeizig. Als er aber bemerkt, dass es ihm nicht gelingt, »Einfluß zu gewinnen, das Geschäft umzudrehen« (Brod, 1912, S. 52) und sich gegen den Vater zu behaupten (der Beers Neigung zur Kunst im Übrigen als Bummelei abtut, ebd., S. 52), versieht er nur noch Dienst nach Vorschrift und vertreibt sich die Zeit mit Literatur, anstatt sich um die Geschäfte zu kümmern. Drittens, und dies ist der wichtigste Vergleichsaspekt, hat in beiden Texten die Auseinandersetzung mit einem vernachlässigten Ahn existen-zielle Folgen für die Hauptfigur. Im Fall Bendemanns ist dies der eigene Vater, im Fall Beers seine Großmutter. Der- . 232 Susanne Schedel Intertextualität Tb"i artige Parallelen lassen sich mit Lachmann als so genannte »Kontiguitätsrelationen«11 bezeichnen. Auf welche Weise realisiert nun Das Urteil die intei textuellen Spuren des Arnold Beer} Welches Funktion.s und Bedeutungspotenzial entfalten sie dadurch für eine In terpretation? Das Motiv >Freund im Ausland< wird in den beiden Texten spiegelverkehrt weitergeführt. Beide Freun de verändern sich in der Fremde stark: Philipp Eisig wird »von Grund aus umgeboren« (Brod, 1912, S. 56), und zw.ii im positiven Sinne, denn er entwickelt sich zum versierter Geschäftsmann und passt auch sein Aussehen und seiner Kleidungsstil dem neuen Status an. Bendemanns FreunO hingegen scheint in Russland zu vereinsamen und zu vel wahrlosen, seine Geschäfte gehen schlecht: So arbeitet er sich in der Fremde nutzlos ab, der fremdartige Vollbart verdeckt nur schlecht das seit den Kinderjahren wohlbekannte Gesicht, dessen gelbe Hautfarbe auf eine sich entwickelnde Krankheit hinzudeuten schien. Wie er erzählte, hatte er keine rechte Verbindung mit der dortigen Kolonie seiner Landsleute, aber auch fast keinen gesellschaftlichen Verkehr mit einheimischen Familien und richtete sich so für ein endgültiges Junggesellentum ein. (7) Eisig kommt in Brods Roman als gemachter Mann in i Heimat zurück, er hat das erreicht, was Beer nach seine Vaters Willen ebenfalls erreichen soll, aber nicht anstrcbi Bei Kafka bleibt Bendemanns namenloser Freund hingegen 11 »Die Kontiguitätsbeziehung liegt vor, wenn ein konstitutives Element einfl fremden Textes (seine thematische, sequenziell-narrative oder stilistisch! Ebene betreffend) im Phänotext [der Begriff ist hier synonym für Prätl ■ ' zu verstehen] wiederholt wird, das den Referenztext als ganzen evoziei i Diese pars-pro-toto-Relation sagt allerdings noch nichts über die An und Weise — parodistisch, affirmierend etc. — der Evokation aus.« (Lachm;inn, 1984, S. 136). in Russland, wo er sowohl beruflich als auch persönlich zu versagen scheint. Indizien für diese gegenläufige Entwicklung der Freund-Figuren sind auch auf der Ebene der wörtlichen Anspielungen zu finden. Bendemanns Freund als auch Beers »Jugendliebe« (Brod, 1912, S. 56) werden ähnlich beschrieben: Der erste ist von »gelbe[r] Hautfarbe« (7), der zweite hat ein »großes, gelbes, dickes Gesicht« (Brod, 1912, S. 23). Die für Krankheit und Angegriffenheit stehende Farbe Gelb charakterisiert Eisig vor seiner Reise ins Ausland, Bendemanns Freund jedoch danach. Die Figur des Philipp Eisig kann demnach als Verkörperung eines materialistisch-bürgerlich ausgerichteten Lebensentwurfs interpretiert werden. Zudem steht er für eine Karriere, die als eine typisch jüdische galt, die aber Beer nicht gelingt. Wie sich zeigt, sind die ersten beiden der oben genannten Vergleichsaspekte, das Verhältnis der Protagonisten einerseits zum Freund im Ausland, andererseits zum Vater in seinem Geschäft, eng verwoben und bei der Interpretation nicht zu trennen, im Arnold Beer ebenso wenig wie im Urteil. Denn Bendemann hat - im Gegensatz zu Beer - nach dem Tod seiner Mutter zwar gewissen Einfluss im väterlichen Handelsunternehmen eingeräumt bekommen, dennoch ist der Vater wie bei Arnold Beer Machtmensch. Auch diese Handlungsparallele erscheint als Anspielung: »Vielleicht hat ihn der Vater bei Lebzeiten der Mutter dadurch, daß er im Geschäft nur seine Ansicht gelten lassen wollte, an einer wirklichen, eigenen Tätigkeit gehindert« (9). In Brods Roman findet sich eine Stelle mit ähnlichem Wortlaut: »Doch täuschte er sich da nicht in der Voraussicht, daß der Vater in seinem pedantischen Geschäftseifer keinen wichtigen Teil des Betriebs selbst aus der Hand lassen würde« (Brod, 1912, S. 56).12 Vor diesem Hintergrund ist jetzt nochmals nach der Rolle des Freundes bei Kafka zu fragen, der sehr viel rätselhaf- 12 Vgl. dazu Binder (1975), S. 127. 234 Susanne Schedel Intertextualitdt 235 III ter erscheint als bei Brod, denn Bendemann und seinen Freund verbindet ein sonderbar gestörtes, »besondere Korrespondenzverhältnis« (10): Bendemann schreibt ib zwar Briefe, diese aber sind in gewisser Weise verlogen denn Georg berichtet nur über »bedeutungslose Vorfälle« (9) und spart die einschneidenden Veränderungen in seinen Leben, wie z.B. das expandierende Unternehmen, aus. Von der Verlobung erzählt er einerseits beiläufig und gleichgültig, aber andererseits vehement durch die Wiederholung in »dreimal in ziemlich weit auseinanderliegenden Briefen« (10). Seine Lügen begründet er vor seiner Verlobten mit seinem schlechten Gewissen und dieses mit dem Argument, er wolle den Freund in seiner schlimmen Situation nicht auch noch mit Schilderungen seines Wohlstands kränken. Doch auch auf metaphorischer Ebene stehen Bendemann und sein Freund in einem »Korrespondenzverhältnis«, denn die Informationen, die über den Freund gegeben werden, stehen auffällig diametral zu allem, was wir über Georg wissen (White, 1977, S. 99): Bei Bendemann meh sich der Erfolg und verbessert sich die gesellschaftliche Stellung, eine Heirat steht bevor. Der Freund hingegen ist geschäftlich erfolglos, gesellschaftlich isoliert und »richtet sich so für ein endgültiges Junggesellentum ein« (7). Für die Beantwortung der Frage nach der Funktion de Freundes ist der Auftritt Friedas, der Verlobten Bende-manns, bedeutsam. Als dieser nicht aufhören will, die Verlobung vor dem Freund zu rechtfertigen und sich über dessen Reaktion auf die Heiratsanzeige zu sorgen, weist Frieda ihn zurecht: »Wenn du solche Freunde hast, hättest du dich überhaupt nicht verloben sollen.« »Ja, das ist unser beider Schuld« (10), antwortet Bendemann. Durch die Heirat wird Georg offenbar auf eine zunächst nicht einsehbare Weise schuldig an seinem Freund und muss ihm Rechenschaft ablegen; es entsteht sogar der Eindruck, Georg müsste sich zwischen Freund und Heirat entscheiden. Aber er versucht sich um diese Entscheidung zu drücken, indem er die Ver- lobung dem Freund zuerst verheimlicht und dann nur beiläufig, in der Hoffnung, es würde diesen nicht weiter interessieren, anzeigt (10). Der Freund wird zu einer Art Gewissen und führt auffälligerweise genau jenes Leben, das Kafka des Öfteren als Voraussetzung seiner dichterischen Produktion skizziert hat: Ehelosigkeit und Alleinsein, wenig Anbindung an den Brotberuf. Offenbar verlangt dieses Leben auch nach Bendemann, hatte der Freund ihn doch schon früher »zur Auswanderung nach Rußland überreden wollen« (9). Den Kampf zwischen idealer und bürgerlicher Existenz hat Kafka auch selbst in der Beziehung mit Feiice Bauer ausgetragen. Die Freundfigur verkörpert also bei Kafka und Brod zunächst gleichermaßen die Alternative zur eigenen Lebensweise, ein Alter ego. Doch Kafka potenziert die Beziehung zum Freund, indem er sie mit quälender Spannung und Schuldhaftigkeit auflädt. Gleichzeitig erscheint der Freund nicht als einheitliche Gestalt, sondern als Beziehungsfunktion in der Verbindung des Sohns zum Vater.13 In beiden Texten spielt nun jeweils die Gestalt des vernachlässigten Ahnen als Entscheidungsinstanz eine wichtige Rolle: Eines Tages besucht Arnold Beer seine Großmutter. Sie wohnt in einer ärmlichen Behausung, die Beschreibung der Ahnin ist geprägt von einer Mischung aus »Abscheu und krudem Naturalismus« (Binder, 1975, S. 280 f.). Ähnlich wie bei Kafka die Unterwäsche des Vaters (15) wird ihre Schmutzwäsche beschrieben (vgl. Brod, 1912, S. 125). Auch die Schilderung der Kammer der Verwandten und die Gedanken Beers und Georgs ähneln einander in ihrer »Mischung aus Ekel und Schuldbewußtsein« (Binder, 1975, S. 124). Die Großmutter spielt, ähnlich wie 13 Diese These lasse sich durch Kafkas Tagebucheintrag vom 11. Februar 1913 stützen: »Der Freund ist die Verbindung zwischen Vater und Sohn, ist ihre größte Gemeinsamkeit.« Er steht damit im Gegensatz zur Braut, die vom Vater »leicht vertrieben« wird (T 296f.). Dazu Binder (1975), S. 124. 236 Susanne Schedel Intertextualität 237 Georgs Vater, gerne Komödie vor, stellt sich »arm und u mosenwürdig« (Brod, 1912, S. 144).14 Gleichzeitig verköl pert sie jedoch, auch in diesem Punkt ähnelt sie Kafkas V.i terfigur, die als typisch jüdisch geltende Eigenschaft nur/ orientierter Geschäftstüchtigkeit, denn sie war »von Jugend an nur auf Gelderwerb bedacht«, dabei aber immer