Abschied Ich sah eine leere Parkbank, eine von dreien, die auf dem Marktplatz der oberösterreichischen Gemeinde Lambach vor dem schmiedeeisernen Zaun des angrenzenden Apothekergartens standen. Auf diesen Bänken nahmen Fahrgäste Platz, die an der Haltestelle am Apothekergarten einen Linienbus besteigen wollten, um von hier entweder der Alpenkette und einem davor-liegenden Seengebiet im Südwesten entgegenzufahren oder einer flachen zersiedelten Agrar- und Industrielandschaft im Nordosten, die auf den Karten der Region als Weher Heide erschien. Auf der mittleren dieser drei Bänke hatte jener Mann gesessen, den an diesem Mittwochmorgen im Juli einige Passanten als einen seit Jahren verwitweten und nun mit einer beliebten Bürgerin der Gemeinde befreundeten pensionierten Lehrer kannten und grüßten. Der Tag war wolkenlos und sollte, der Wettervorhersage nach, bei aufkommendem schwachen Westwind und geringer Gewitterneigung heiß werden. Deshalb trug der Lehrer auch seine alte Schultasche nicht bei sich, in die er bei instabileren Aussichten einen Regenmantel und einen marineblauen Pullover packte, wenn er mit dem Bus in sein acht Kilometer entferntes Heimatdorf fahren wollte, das er H7 nach dem Tod seiner Frau vor achtzehn Jahren verlassen hatte. Er saß an diesem Vormittag gemeinsam mit seiner Freundin auf der mittleren der drei Parkbänke - wie üblich lange vor Abfahrt jenes Busses, der ihn zum Friedhof dieses Dorfes bringen sollte. Er unternahm diese Fahrt zweimal jede Woche, um am Grab seiner Frau ein Wachslicht zu entzünden, das mehrere Tage, zumindest aber bis zu seinem nächsten Besuch brennen sollte, und um die Blumen zu pflegen, die er den Jahreszeiten entsprechend auf dem Grab pflanzte. Nach dieser Arbeit wollte er diesmal einen seiner Söhne in einem Gastgarten treffen, der weit außerhalb des Dorfes inmitten von Weizen- und Maisfeldern lag. Bei allmählich steigender Temperatur begann sich das Leben auf dem Marktplatz an diesem Vormittag in den Schatten zu verlagern, dorthin, wo die Busse am Apothekergarten hielten und abfuhren. Wer die Wahl hatte und nicht zu einem der Läden oder Hauseingänge in der prallen Sonne mußte, verlegte seinen Weg in den Schatten, und so ergaben sich für den wartenden Lehrer mehr Gelegenheiten als sonst, einige Worte mit ihm bekannten Passanten zu wechseln. Er saß auf der Parkbank wie vor einer Bühne, auf der die Darsteller und Statisten eines vormittäglichen Lebens an ihm vorüberzogen, Lieferanten, Straßenarbeiter, Ladenkundschaft und Patienten, die aus der Arztpraxis am Platz kamen und auf dem Weg zur Apotheke gerne bereit waren, einem Bekannten ihre Beschwerden oder die lindernde Wirkung von Heilmitteln zu beschreiben. Als die Abfahrtszeit seines Busses näher kam, begann der Lehrer mit seiner Freundin die Vorhaben dieses Tages zu besprechen, die überfällige Neubepflanzung der beiden Familiengräber auf dem Dorffriedhof, das Treffen mit seinem Sohn im Gastgarten in den Feldern. Die Freundin hörte gerade seine Überlegungen zur Wahl der Friedhofsblumen und zur Speisenfolge des Mittagessens, während sie den Springbrunnen in der Mitte des Marktplatzes betrachtete, als er plötzlich verstummte. Sie sah die Fontäne des Brunnens, hörte das Plätschern des fallenden und fallenden Wassers und dachte zunächst, ihm sei vielleicht ein plötzlicher Gedanke gekommen, der das, was er gerade sagen wollte, verdrängt hatte - und wandte sich vom Anblick des Wassers ab und ihm zu: Sein Kopf war auf die Brust gesunken, seine Augenlider flatterten, schlossen sich dann. Er saß da, als wäre er im eben gesprochenen Satz eingeschlafen. Sie stieß ihn an und lachte. Er spielte manchmal diesen Schläfer bloß, um dann, wenn er zu einem ihm peinlichen Zeitpunkt tatsächlich eingenickt war, sagen zu können, er habe nur gespielt, ja, nur gespielt. Denn von der Müdigkeit, vom Schlaf überwältigt zu werden war ihm stets etwas gewesen, was verheimlicht und zur Not geleugnet werden mußte. Seit ihn der Krieg als jungen Mann von seinem an einem tosenden Wasserfall gelegenen Eltern- und Geburtshaus auf ein Minensuchboot im Schwarzen Meer verschlagen hatte, war jedes Einnicken mit dem Gedanken an den lebensgefährlichen Sekundenschlaf eines wachhabenden Matrosen auf hoher, stürmischer See verbunden. Er sprach selten darüber, und wenn, zitierte er 148 149 dazu immer eine Zeile von Detlev von Liliencron: Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen kommen wie rasende Rosse geflogen ... Er hatte sich in den tosenden Sturmnächten an Bord eines vollständig verdunkelten Bootes oft danach gesehnt, aus der Finsternis, aus den schwarzen Brechern, in denen Treibminen tanzten, in den Schlaf flüchten zu dürfen. Aber jetzt reagierte er auf keine Berührung, kein Wort, kein Zeichen, sondern lehnte wie ein im Warten einge-schlafener Fahrgast in den Armen seiner Freundin. Ein Arzt, der wenig später die vorgeschriebenen Formulare ausfüllte, sagte, daß der Lehrer zu diesem Zeitpunkt vermutlich schon tot war, und nannte dann neben medizinischen Begriffen für eine besondere Form des Herztodes auch einen Namen, der den drei Söhnen und der Tochter des Lehrers deutlicher als jede andere Bezeichnung in Erinnerung bleiben sollte: Sekundentod. Vieles, sehr vieles wurde im Schatten des Apothekerhauses versucht, um den immer noch sitzenden, lehnenden, wie schlafenden Mann wieder ins Leben zurückzuholen. Zuerst kam der von einem Passanten gerufene Apotheker aus seinem Laden gerannt und setzte sich neben das Paar, sprach den Lehrer immer wieder mit seinem Namen an, fühlte seinen Puls und erhob sich dann, um den Notarzt zu rufen. Auch der kam Minuten später im Laufschritt und verfügte, der Mann solle auf das Pflaster des Marktplatzes gelegt werden. Dort versuchte er gezählte achtundzwanzig Minuten, ihn wiederzubeleben, während sich konzentrische Kreise von Passanten um das Geschehen bildeten. Zwei Busse, auch der planmäßige des Lehrers, hielten, ließen Fahrgäste aus- und andere einsteigen, fuhren wieder ab. Seit ein Rettungswagen des Roten Kreuzes mit Blaulicht und Folgetonhorn eingetroffen war, galt alle auf dem Marktplatz verfügbare Aufmerksamkeit dem kleinen, von Menschen umdrängten Raum, den der Sterbende oder bereits Tote einnahm. Während der Arzt über seinen Wiederbelebungsversuchen in Schweiß geriet, klammerte sich die Freundin noch zweimal an die Hoffnung, daß der Schläfer am Pflaster doch bloß gespielt, nur gespielt wurde, wenn diesmal auch mit einer unerklärlichen, furchtbaren Beharrlichkeit. Aber er hatte doch jetzt geatmet. Hatte er nicht geatmet? Sie kniete neben ihm und flüsterte Schläfst du, schläfst du schon wieder. Du schläfst schon wieder. Dann erhob sich der Arzt und sprach so leise mit den wartenden Rettungsmännern, daß keiner der Zuschauer ihn verstand. Aber es gab keinen Zweifel, daß nun nichts mehr zu retten war. In einer mitleidigen Geste brachten die Rotkreuzmänner den Lehrer dann im Rettungswagen in die Totenkammer des nahen Friedhofs im Schatten des großen Benediktinerklosters von Lambach, dessen prachtvolles Portal von den Parkbänken zu sehen war. Mitleidig, denn Rettungswagen mußten laut Vorschrift den Lebenden vorbehalten bleiben. Der Lehrer aber war zu diesem Zeitpunkt dem Leben schon sehr fern. Der lange Kreuzgang des Benediktinerklosters lag in der prallen Sonne, als ich ihn Stunden später, auf dem Weg zum Friedhof, entlangging. Als ich die Totenkammer betrat, war ich vom grellen Licht des Sommertages so geblendet, daß ich in den ersten Augenblicken weder den 150 aufgebahrten Leichnam noch den Gehilfen des Bestatters sah, der dem Toten die Uhr vom Handgelenk streifte, um sie zusammen mit einer Börse, einem Kamm, Taschentuch und Schlüsselbund den Hinterbliebenen zu übergeben. Die Kleidung des Toten - eine helle, kurze Hose, Sandalen, ein kurzärmeliges Hemd - stand in einem seltsamen Widerspruch zu dem schwarzen Katafalk, auf dem er lag: So luftig gekleidet saß man auf sommerlichen Parkbänken, in Liegestühlen, am Springbrunnen eines Parks. Die Haut des Toten, sein Gesicht, seine Arme, hatten in den ersten Stunden der Ewigkeit die Farbe des Herztodes angenommen, der das hellrote, fließende Blut unter Sauerstoffmangel blau, blauviolett werden ließ. Ich glaubte an der rechten Hand des Aufgebahrten noch die Restwärme des Lebens zu spüren, als ich sie ergriff. Der Gehilfe sah mich nicht an, sah aber eine Tränenspur, die über diese blaue Hand lief, und wollte mich trösten und zeigte behutsam auf die Stirn des Toten und sagte, das wird verschwinden, das Blau wird verschwinden, am Abend wird Ihr Vater wieder sein, wie er war. 152 Im Weltraum Ich sah eine samtschwarze, von unzähligen Lichtpunkten tätowierte Finsternis über mir, ein scheinbar grenzenloses, bis an die fernsten Abgründe des Alls ausgespanntes Firmament, während ich auf dem flachen Boden eines Kahns lag, der unter den Ruderschlägen eines Fährmanns aus dem Volk der Maori durch die Nacht glitt. Das verzweigte, von Wasseradern durchflutete Höhlensystem, durch das mich der Fährmann ruderte und stakte, führte vom Ufer des Lake Te Anau auf der Südinsel Neuseelands tiefer ins Innere der Murchison Mountains. Daß dort draußen, an einem von Eisrinden klirrenden Seeufer, ein Augusttag zu Ende ging, ein stürmischer Wintertag, der auf den Pässen Neuschnee gebracht hatte, war hier, im Inneren des Gebirges, ohne Bedeutung. Hier herrschten durch alle Jahreszeiten hindurch gleichbleibende Temperatur und eine windstille Finsternis, in der trotz aller Sternwolken, galaktischen Nebel und Kugelsternhaufen über meinem Kopf weder der Fährmann noch sein Ruder oder auch nur die eigene Hand vor den Augen zu sehen war. Das Abbild des Nachthimmels an den Höhlendecken, das sich im glatten Wasser spiegelte, bis der Fährmann 153 Die Arbeit der Engel Ich sah eine mannshohe Mauer, die unter bereiften Bäumen einen weiten Bogen beschrieb. Folgte ich ihrem Verlauf mit meinem Blick, tauchten zwischen schwarzen Stämmen ferne, steile Dächer auf, dann auch der Turm der Martinskirche von Třebíč, einer Stadt im Süden jenes Landes, das damals noch als Tschechoslowakei auf den Karten Mitteleuropas erschien. Hier entlang und dann weiter bis zu der Kuppe dort oben, dem Hradek-Hügel, hatte man mir in einer am Flußufer gelegenen Pension gesagt und auf eine bewaldete Anhöhe gezeigt - Pavlik werde gewiß auch heute dort zu finden sein, Pavlik sei doch immer oder fast immer an seiner Mauer. Der werde wohl den Rest seines Lebens dort oben verbringen. Tatsächlich war ich eine Stunde später kaum hundert Meter an Pavliks Mauer entlanggegangen, als ich einen alten Mann sah, der mit einer Spitzhacke Steine aus einem von Efeu überwachsenen Trümmerhaufen löste und an eine Bresche in der Mauer trug, die hier wie nach einem Angriff klaffte. Der Alte war offensichtlich dabei, diese Lücke wieder zu schließen. Ein Holzgerüst, das die Öffnung bereits verbarrikadierte, ließ den Blick aber immer noch frei auf lange Reihen überwucherter Gräber und Grabsteine, manche von ihnen noch aufrecht, andere gestürzt, umgeworfen oder bereits tief eingesunken in den gefrorenen Grund. Ja, sagte der Alte, Bohumír Pavlik, das bin ich, und legte noch einen Stein an das Holzgerüst, bevor er sich die erdigen Hände an einem von Eisnadeln glitzernden Grasbüschel abwischte. Ich hatte in Třebíč gar nicht nach Pavlik gefragt, den Namen hatte ich in meiner Pension zum erstenmal gehört, sondern nach dem jüdischen Friedhof, der seit mehr als vierhundert Jahren hinter einem Hügel außerhalb der Stadt lag, aber der alte Mann war dieser Friedhof, zumindest in den Augen seiner Mitbürger. Nein, Pavlik war kein Jude, aber als ehemaliger Lehrer, der sich tagtäglich um mehr Licht in den Köpfen der nächsten Generation bemüht hatte, war er auch kein Freund der Kommunisten, die das Land damals noch beherrschten und alles, was ihren Verstand überstieg oder ihren Glaubenssätzen widersprach, einfach aus der Welt schaffen wollten. Und als die Gerüchte nicht verstummten, daß dieser Friedhof geschleift und zu Bauland zerstampft werden sollte, hatte Pavlik in seiner Empörung den Entschluß gefaßt, sich dieser Wildnis hier anzunehmen, in der niemand mehr begraben worden war, seit die letzten Třebíčer Juden, fast dreihundert Menschen, in Viehwaggons in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt worden waren. Nur zehn von ihnen hatten die Schreckensjahre überlebt. Und keiner von ihnen war jemals wieder in seine Heimatstadt zurückgekehrt. Wer sollte also diesen gottverlassenen Ort vor Wildtieren, vor 176 177 Hunden, Grabschändern, vor der Zerstörungswut der Kommunisten und schließlich der Zeit selbst schützen? Viel hatte Pavlik damals vom Judentum ja nicht gewußt - aber das Gesetz hatte er doch gekannt, nach dem einem Toten jenes Stück Erde, in das man ihn gebettet hatte, bis ans Ende der Zeit bewahrt werden sollte. Wer auf einem jüdischen Friedhof seine Auferstehung erwartete, dessen Grab wurde selbst am Ende seines Stammbaumes nicht aufgelassen wie auf christlichen Kirchhöfen, wo man die Knochen von Umgebetteten in Beinhäusern stapelte und die geleerten Gräber, die einen Menschen bis zum Jüngsten Tag hätten bergen sollen, einem anderen Toten und seinen zahlenden Nachkommen zusprach. Pavlik hatte damals - fünfzehn, nein: sechzehn Jahre sollten seither schon wieder vergangenen sein? - ohne lange zu fragen begonnen, die alte Steinmauer um den Friedhof wiederzuerrichten, auf dem im Verlauf der Jahrhunderte mehr als elftausend Menschen ihre Ruhe gefunden hatten: eine eineinhalb Kilometer lange Mauer, von der an vielen Stellen nicht mehr zu sehen gewesen war als von den Grabsteinen, die er zu Hunderten und Aberhunderten mit eigenen Händen von Wurzeln und Dickicht befreit und aus dem Verborgenen wieder ans Licht gebracht hatte. Denn wenn es schon keine Verwandten und Nachkommen mehr gab, die den Toten Steine aufs Grab legten, um zu zeigen, daß man an sie dachte, sie immer noch liebte oder zumindest noch nicht vergessen hatte, dann sollte im Schutz dieser Mauer zumindest Ruhe herrschen, Geborgenheit, jedenfalls solange er, Pavlik, noch lebte. Er wurde in diesen Tagen achtzig Jahre alt. Die Kiesel, die ich auf vielen Gräbern sah, die hatte alle er dorthin gelegt, und ich solle doch jetzt meine Handschuhe ausziehen und auch ein paar Kiesel auf die Gräber legen, Steine zählten hier mehr als Blumen und erinnerten noch an biblische Zeiten, in denen eine Grabstätte mit Steinen beschwert und so vor dem Hunger von Aasfressern und den Sandstürmen eines Heiligen Landes geschützt werden mußte. An den meisten Tagen seiner oft schweren Arbeit war Pavlik hier oben so allein gewesen wie heute, an diesem Wintertag, an dem es so kalt war, daß er keinen Mörtel anrühren, sondern nur diese moosigen alten Mauersteine bereitlegen konnte, aber gerade dadurch hatte dieser Friedhof, hatten die Toten selbst nach und nach begonnen, zu ihm zu sprechen, ja, zu ihm, und er hatte ihre Sprache und ihre Schrift allmählich verstehen gelernt, oft war es mühevoll, aber so waren ihm ein Mensch nach dem anderen, an deren Leben neben deutschen und tschechischen vor allem hebräische Inschriften erinnerten, sozusagen auferstanden - Liebende, die in den Tagen der Pest für immer voneinander lassen mußten, eine junge Mutter, die Zwillingen das Leben geschenkt und dabei ihr eigenes verloren hatte, ein Arzt, der von der Cholera besiegt worden war ... Mittlerweile kam es ihm manchmal vor, als seien ihm die hier Begrabenen vertrauter und näher als viele Bürger der Stadt. Wenn es ihm gelang, wieder eine der hebräischen Inschriften zu übersetzen, schrieb Pavlik sie in einer langsa- men, schönen Schrift in ein Notizbuch, das er in der Brusttasche seiner Jacke immer bei sich trug. Eine der ersten Seiten seiner Sammlung schmückte ein Brief, den er auf dem Grabstein der Frau eines Kürschners gefunden hatte: Liebste Du bist vergangen Wie der hellste aller Tage Aber auch die Nacht Die unserem Abschiedfolgte Wird vergehn Aber ja, natürlich hoffte er immer noch, daß die Zeiten sich auch in Třebíč allmählich ändern und wieder heller werden würden. Vielleicht dachte man ja auch in den Parteibüros bereits daran, diesen Ort der Ewigkeit, anstatt ihn zu zerstören, für den Fremdenverkehr zu erschließen, schließlich war der Třebíčer jüdische Friedhof neben dem in Prag einer der größten des Landes und konnte für den einen oder anderen Freund der Vergangenheit zu einem lohnenden Ziel werden, das ihn irgendwann in die Pensionen und Gasthäuser der Stadt führen mußte. Aber solche Überlegungen kümmerten Pavlik schon lange nicht mehr. Er baute unbeirrt weiter an seiner Mauer und hörte manchmal nur noch die vielen Stimmen, die sich in ihrem Schutz erhoben. Die schönsten Worte, die er in den vielen Jahren seiner großen Arbeit entdeckt hatte, waren allerdings nicht in den Stein geschlagen, sondern mit Silberfäden auf ein 180 schwarzes Samttuch gestickt, das er eines Tages aus dem Schutt gezogen hatte. Mit solchen Tüchern waren einst die Bahren bedeckt und die Toten so auf Worten, auf einem Psalm, zu Grabe getragen worden. Es hatte ihn viel Mühe gekostet, bis er diese silberne Schrift entziffern konnte, und er war, ja, glücklich gewesen, als er sie endlich zu verstehen glaubte, denn was da auf dem Samt glänzte, galt wohl für die Lebenden und für die Toten: Er hat seinen Engeln befohlen Dich zu behüten Wohin du auch gehst Wohin du auch gehst, auf allen Wegen, selbst auf dem einen, dem letzten. Als Pavlik sich irgendwann zu fragen begann, ob denn auch die Tfebicer Juden in ihren Viehwaggons von diesen Engeln behütet worden waren, hatten ihn Zweifel gequält, und er erwehrte sich nur mit Mühe des Gedankens, daß selbst der Allmächtige ein Versprechen brechen konnte oder einfach vergessen hatte, seinen Engeln zu befehlen ... seinen Engeln, die dann an den Wegen nach Theresienstadt und in die Vernichtungslager schweigend und tatenlos Spalier standen. Hatte denn ein anderer allmächtiger Gott nicht sogar seinen eigenen Sohn ans Kreuz nageln lassen, ohne die himmlischen Heerscharen gegen die Verblendung, Bösartigkeit und Grausamkeit seiner Geschöpfe ins Feld zu führen? Aber dann, nach einer langen Zeit des Hadems und der Enttäuschung, in der er einfach an seiner Mauer weiterbaute, immer weiter, hatte Pavlik endlich begriffen, 181 was wirklich auf dem Bahrentuch geschrieben stand: daß es nämlich den Menschen aufgegeben war, den Sterblichen, Dich zu behüten Wohin du auch gehst und so die Arbeit der Engel zu tun. 182