Der Wurm und das Schneehuhn Alle Holzfäller schworen, sie hätten jenen Stammrutsch, der Johannes Gerlitzen zu Sommerbeginn 1959 die Schulter ausrenkte und den rechten Arm brach, nicht kommen sehen. Zu Johannes' Glück waren es nur fünf gefällte Fichten - Äste und Zweige waren bereits abgeschlagen -, die so schwer auf dem feuchten Waldweg lasteten, dass dieser abrutschte. Es war später Vormittag, die Holzfäller tranken ihr zweites Bier, aßen Äpfel und reichten die Schnapsflasche im Kreis. Eine Stunde wollten sie noch arbeiten, bevor die Mittagshitze in den Fichtenwald am Nordhang des Sporzer Alpenhauptkamms kroch. Johannes hatte sich abgesondert, er kletterte etwas weiter südlich durch das Unterholz, suchte nach dem richtigen Material, um eine Marienstatue zu schnitzen, die bei ihm bestellt worden war. Erst als die Vögel aufflogen und die Erschütterung Hasen aus ihren Sassen schreckte, bemerkten die Männer das Unglück. Einen Wimpernschlag später polterten die Stämme mit markerschütterndem Donnern abwärts, rissen Jungbäume um wie Kartenhäuser und kamen mit ungebremster Wucht auf Johannes zu. Dieser reagierte schnell, versuchte zu flüchten, doch als der letzte Stamm direkt auf ihn zuhielt, konnte er nur noch zur Seite springen - und sprang nicht weit genug. Die anderen Holzfäller dachten, jetzt sei er hin, und ihre Herzen machten vor Erleichterung einen Satz, als Johannes Gerlitzen aus dem Unterholz auftauchte und in einem Atemzug Teufel und Dreifaltigkeit verfluchte. Elisabeth Gerlitzen fluchte gleichermaßen, als Franz Patscher-knicl und Leopold Kaunergrat ihren Ehemann in die Küche Inachten, der ein Taschentuch zwischen den Zähnen stecken halle und auf zwanzig Meter nach Schnaps stank-drei Viertel der Flasche hatten ihm die Holzfäller zur Schmerzbetäubung eingeflößt. »Kruzifixn sacra, es depperten Mannsbülder könnts a nia aufpassn, und immer de Sauferei! Hiazn schleichts enk owi ins Tal und holts ma den Doktor auffi!«, polterte sie, doch [ohannes spuckte das Taschentuch aus und keuchte unter Schmerzen: »Wegn so aner Klanigkeit brauchts do net den Hochg'schis-senen holn, bluatet jo net amoi, hol liaba nu a Flaschn Schnaps.« In St. Peteram Angergab es oft Verletzte, wenn die Männer in den Wald gingen. 1959 konnte jeder mit einer Axt umgehen, aber niemand war professioneller Holzfäller. Alle fällten, was sie an Holz brauchten, Franz Patscherkofel hatte Stützbalken benötigt, Leopold Kaunergrat Brennholz für den Winter, und (ohannes Gerlitzen war als Berufsschnitzer immer auf der Suche nach gutem Holz. Unfälle waren sie gewohnt, und den I )okior aus dem Tal konnte niemand leiden, da er sich für den < feschmack der Dorfbewohner viel zu unverständlich ausdrückte und unangemessen herablassend verhielt. Nur wenn l'9 sich um lebensbedrohliche Notfälle handelte, wurde der I »okior gerufen, aber da der Weg ins Tal weit und beschwer-iich war, kam er im Ernstfall meist zu spät. Dass Johannes' S< hulter ausgekugelt war, konnten sogar die Holzfäller diagnostizieren, und so hielt Franz Patscherkofel Johannes fest, il imii sich dieser nicht bewegen konnte, während Leopold Kaunergrat ihm die Schulter einrenkte. Kurz darauf war die Schnapsflasche leer. Schließlich riefen die Männer noch Johannes' Nachbarn herbei, den Tischler Karl Ötsch, um den gebn »dienen Arm mit einer Holzmanschette ruhig zu stellen. ■ ■( ■'hupft wia g'hatscht, ob da Ötsch oder da Doktor«, sagte 10 11 Johannes und biss auf Elisabeths zusammengefaltetes Kopftuch, während der Nachbar den oberen Teil der Schiene mit Kurznägeln zusammenklopfte. »G'hupft wia g'sprunga hoaßt des«, antwortete dieser und grinste, dass man seine halbverfaulten Zähne sah, auf denen der Raucherbelag wie Schimmel wucherte. Daraufhin brachen sie in Streit über diese Redewendung aus, und kaum dass die Schiene fixiert war, riss Johannes mit seiner gesunden Hand an den verfilzten Haaren des Nachbarn, während dieser versuchte, Johannes' Ohr abzudrehen. Erst als Elisabeth einen Kübel Brunnenwasser über ihnen ausgoss, ließen sie voneinander ab. Seit sie Kinder waren, ging das so, und Elisabeth hatte, da sie unmittelbar neben den Ötschs wohnten, immer einen Kübel kaltes Wasser parat. Am Gartenzaun standen fünf davon. Das ganze Dorf hatte Schlimmes befürchtet, als Johannes und Elisabeth ein Haus neben Karl Ötsch bauten, aber Johannes hatte diesen Grund von seinem Großvater vererbt bekommen, und sich zu prügeln war 1959 nichts Verbotenes. Soweit sich die älteren Frauen des Dorfes erinnern konnten, hatten sich Johannes Gerlitzen und Karl Ötsch bereits das Holzspielzeug über die Köpfe gezogen, als sie noch in Windeln steckten. Die meisten Dorfbewohner glaubten, der Grund ihrer ständigen Auseinandersetzungen sei, dass sie so verschieden waren. Johannes war ein ruhiger und nachdenklicher Mensch, der lieber zuerst überlegte, bevor er vorschnell etwas sagte, während Karl Ötsch seine Meinung herausposaunte, ohne dass ihn jemand gefragt hätte - gern so laut, dass er bis ins Angertal gehört wurde. Neben dem hellhäutigen, groß gewachsenen Johannes sah Karl Ötsch aus wie ein Gegenentwurf, klein, rundlich, pausbäckig und mit dunkler Haut und rabenschwarzem Haar. Egal worum es ging, Karl und Johannes waren sich uneinig, und keiner von beiden war je bereit, dem anderen ohne Schmerzen recht zu geben. Anfangs störten sich weder Johannes noch Elisabeth daran, dass er wegen der Verletzung seinem Beruf als Schnitzer nicht nachgehen konnte, und auch Johannes' Kunden hatten Verständnis, dass sich ihre bestellten Statuen, Ornamente oder Weihnachtskrippen etwas verzögern würden. Johannes und Elisabeth hatten erst im April geheiratet, alle 420 Bewohner hatten drei Tage lang gefeiert. Die Blasmusik hatte gespielt, Im alten Feuerwehrwagen hatte man das Brautpaar von der Kirche ins Wirtshaus gebracht, ein Aufmarsch wie bei den Prozessionen zu Hochfesten. Dreizehn Jahre hatten die Dorfbewohner auf diese Hochzeit gewartet, da die beiden seit der Volksschule so gut wie verlobt waren. Schon lange bevor Johannes bei Elisabeth fensterin gewesen war, hatten die alten Frauen auf der Kirchenstiege überlegt, wie schön die Kinder der beiden sein würden. Johannes war etwas größer als die meisten Männer im Dorf und athletisch gebaut. Man konnte ahnen, dass er niemals den St.-Petri-Bierbauch ansetzen wurde, der ab dreißig bei fast allen über der Hose hing. Er war lemgliedrig, hatte starke Wangenknochen, doch das Beein-111 uckendste an ihm waren die Haare, die so blond waren, dass sie in der Dunkelheit leuchteten. Elisabeths Haare wiederum leuchteten im Sonnenlicht. Auch sie war blond, aber mit einem rötlichen Einschlag, der ihren locker gebundenen Zopf /um Funkeln brachte. Sie hatte eine gesunde Gesichtsfarbe, und was Johannes am meisten an ihr liebte, war, wie schnell Iii h ihre Wangen tiefrot färbten, wenn sie lachte. Elisabeth wa r das manchmal unangenehm, da sie meinte, wie ein Schul-mädchen auszusehen. Johannes küsste dann eilig ihre Nasen-ipitze oder ihr Ohrläppchen, woraufhin sie noch roter wurde und verschmitzt kicherte. In den 5oern waren Flitterwochen in St.Peter am Anger noch nicht erfunden, aber dank Johannes' Verletzung kam das junge Liebespaar nun zum Feiern seiner Ehe. Die beiden gem »ssen mehrmals täglich die Freiheit, sich nicht wie in ihrer 12 13 Jugend in Heustadeln, Holzschupfen und Selchkammern verrenken zu müssen. Bis ihnen übel wurde. Mit Johannes fing es an, er hatte ständig Bauchschmerzen, die zu schweren Verdauungsbeschwerden führten. Bald darauf hustete Elisabeth morgens alle Mahlzeiten des Vortages ins Plumpsklo hinterm Haus. Auf der Kirchenstiege meinten die einen, Elisabeth würde schlecht kochen, während die anderen am Springbrunnen erzählten, Johannes würde Elisabeth und sich zu viel Schnaps genehmigen. Erst als der ziegengesichtige Doktor aus Lenk im Tal seine zweimonatliche Sprechstunde im Versammlungssaal des Gemeinderats abhielt, wurde das Rätsel gelöst. Beiden Eheleuten lag etwas im Bauch: Elisabeth war schwanger, Johannes hatte einen Bandwurm. Elisabeths Freude war grenzenlos. Zwei Stunden später hatte sie sich bereits den alten Schaukelstuhl vom Dachboden holen lassen, wippte selig darin und strickte Babysocken. Johannes hingegen war mulmig zumute. Er konnte sich kaum freuen, bald Vater zu werden, denn ständig grübelte er, was der Wurm wohl trieb. Schlief er, oder schwamm er herum? Hatte der Wurm überhaupt Augen, und vor allem: Wie war der Wurm in seinen Bauch gekommen? Der Doktor hatte auf Johannes' Fragen in einem Latein geantwortet, das nicht einmal der Pfarrer verstanden hätte. Der Doktor war nämlich beleidigt, dass Johannes seinen gebrochenen Arm lieber vom Dorftischler hatte behandeln lassen als von einem Spezialisten, und in seinem Ärger hatte er Johannes angekündigt, dass es mindestens ein halbes Jahr dauern würde, bis er ihm ein AntiWurm-Medikament aus der Hauptstadt besorgen könne. Da ihm auch die Volksschullehrerin nichts über im Menschen lebende Würmer erzählen konnte, schlich Johannes, verunsichert von den kuriosen Ideen der Leute im Wirtshaus, drei Tage lang um das Gemeindeamt. Er war sich sicher, dass die Theorien der St. Petrianer Blödsinn waren - das hätte er ja gemerkt, wenn sich so ein großer Wurm von hinten an- 14 geschlichen hätte. Am dritten Tag wagte er schließlich, die Geme i ndeamtstür zu öffnen. Erging durch das Eingangszimmer .1111 Postamt und am Aufenthaltsraum der Gendarmen vorbei bis in die Dorfbibliothek. Seit ihn der Pfarrer zu Schulzeiten zur Strafe fürs Stanniolkugelwerfen hierhergeschickt hatte, um sich einen Katechismus auszuborgen und der Klasse daraus zu 1 < • ferieren, war er nicht mehr hier gewesen. Die Bibliothek war von den Benediktinermönchen aus Lenk angelegt worden, viele Jahre lang hatten sie die Bücher auf Generationen von Mauleseln auf den Angerberg transportiert. Nachdem sich das I )orf jedoch vom Kloster losgesagt und die Mönche, die von ihnen Steuern verlangten, mit Mistgabeln die Talstraße hin-1 miergejagt hatte, war die Bibliothek von niemandem mehr gepflegt worden, bis vor einigen Jahren gescheckte Nagekäfer eingezogen waren, woraufhin man zwei Drittel aller Bücher verbrannt hatte. In St. Peter am Anger hielt sich hartnäckig de ľ Volksglaube, das Klopfen der Nagekäfer würde Tod und Verderben ankündigen. Dabei rief das Männchen nicht den Imiel, sondern das Weibchen zum Liebesspiel. Die Gemeindesekretärin, die neben ihrer Hauptbeschäftigung auch das Amt des Postfräuleins, der Gendarmerieaushille und der Bibliothekarin bestritt, half Johannes bei der Suche. Iiis sie in den verbliebenen, ungeordneten Beständen etwas Ittauchbares fanden, dauerte es eine Weile. Oftmals tauchten Ilinier den Büchern mumifizierte Nagekäfer oder kinderfaust-gri >lse Spinnen auf, und Johannes zuckte bei jedem Kreischer '.einer Helferin zusammen, doch kurz bevor er einen Hör-■■iin/, bekam, wischte sie den Staub von einem Buch, für das ri Ihr jahrzehntelang dankbar sein würde. Kar! Franz Anton von Schreiber: Nachricht von einer beträchtlichen Sammlung thierischer I Ingeweidewürmer und Einladung zu einer literarischen Verbindung. Bs war 1811 verfasst worden, aber für den Schnitzer Johannes 1.1 -Hitzen genau die richtige Lektüre. Es handelte sich nicht um ein komplexes naturwissenschaftliches Werk, sondern 15 um eine Chronik, einen Bericht über die Entdeckungen der Wurmforscher im k. k. Hof-Naturalienkabinett in der Hauptstadt. Als diese Männer sich an die Arbeit gemacht hatten, war kaum etwas über Würmer bekannt gewesen. Und somit begannen die Aufzeichnungen Schreibers günstigerweise auf der Höhe von Johannes' Wissensstand. Der Schnitzer verbrachte den Tag in der Bibliothek und wanderte am wackeligen Lesetischchen dem einfallenden Sonnenlicht hinterher. Auf dem Nachhauseweg fühlte er sich bereits ein bisschen weniger abstoßend: In der Hauptstadt hatte vor 150 Jahren fast jeder einen Wurm gehabt, der Kaiser Franz hatte aus Sorge um seine Untertanen sogar befohlen, dass alle Naturforscher, welche an jenem Gegenstand Interesse nehmen, mit dem Je. k. Naturaliencabinet in Verbindung treten und durch Mittheilung ihrer schon gemachten und künftigen Beobachtungen und Entdeckungen zur Vervollkommnung und kräftigeren Wirkungsfähigkeit der hiesigen Anstalt, zur Vervollständigung unserer Sammlung und auf diese Weise zur Bereicherung und Vervollkommnung der k. k. Erforschung der im Menschen lebenden Parasiten - zum Wohle aller Völker- beizutragen. Sogar Wettstreite um die richtige Behandlung der wurmbefallenen Patienten hatte es unter den Ärzten gegeben. Johannes musste zugeben, dass es ihn bei manchen Schilderungen Schreibers ziemlich geschaudert hatte. Als der Kranke mit einer Art Heroismus die Medikamente zu sich nahm, sprang er plötzlich aus dem Bette, um sich auf den Leibstuhl zu setzen. Er erblaßte, zitterte und bebte, ein kalter Todesschweiß bedeckte den ganzen Körper. Beinahe hätte Doktor Bremser triumphiert, allein seine langsame Behand-lungsweise strafte seine Freude durch einen etwa in acht Tagen erfolgten Abortus bei der von ihm behandelten Frau, bei welcher er nichts weniger als eine Schwangerschaft vermutet hätte. 1959 wurde der Herbst von einer wochenlangen Schlechtwetterfront eingeleitet. Der Wind blies ein Tiefdruckgebiet in das Angertal, das sich an den Sporzer Alpen anstaute wie nii zusammengedrückter Wattebausch, bis die Wolken am 1 Iroßen Sporzer zu kleben schienen. Johannes ging nun öfter in die Bibliothek. Die universelle Gemeindeamtsbedienstete knie ihm zwar empfohlen, die Bücher auszuleihen, aber täg-lu Ii von 8:30 bis 18:00 Uhr an seinem Platz zu sitzen und sich durch die Erforschung der Helminthen zu lesen, so als wäre in.in selbst am Sezieren, Analysieren, Klassifizieren und Prä-l'.n leren beteiligt, fühlte sich für ihn wie Arbeit an. Schnitzen «11 mit dem lädierten Arm noch nicht möglich, und über-li.iupi hatte Johannes den Eindruck, alles, was er zurzeit Nützliches tun könne, sei lesen. Der Nachbar Ötsch von links Kitte wäh renddessen im Lästern über Johannes' Leselust eine (leue Leidenschaft gefunden, doch Johannes hatte Elisabeth l 1 1 nochen, sich bis zur Geburt des Kindes auf keine Prüge-I' 1 mehr einzulassen. Nachdem der Regen eingesetzt hatte, in.u hten sich jedoch auch Johannes' Wirtshausfreunde über Mine Präsenz in der Bibliothek lustig. •Lasst di dei Frau nimmer zuwi und wüllst hiazn a Pfaff Werdn?«, grölten der vorlaute Großbauer Anton Rettenstein, dei dicke Bürgermeistersohn Friedrich Ebersberger, der 1 1 bensmittelgreißler Wilhelm Hochschwab und der sonst freundliche Briefträger Gerhard Rossbrand, obwohl der •1 Petri-Pfarrer gar nichts für Bücher übrighatte. Er nutzte 1 ■ I um- lediglich als Strafe für Sünder und widmete sich au-1 ' ili.ilh der Messzeiten der Renovierung des Kirchturmes. I' ihannes beachtete all die Häme nicht. Wegen des starken Re-|i ir. Ii.Ii (eil die Männer nichts anderes zutun, als vom Bettins Wim shaus zu stolpern. Sogar die Gendarmen tranken mittags 1I11 ei stes Bier, da zur Regenzeit ohnehin nie etwas passierte, Und wenn, dann im Wirtshaus. '■I Peter am Anger war ein kleines Dorf, das vor allem 111 Hui Einnahmequelle lebte - den weltweit einzigartigen N.llii /luirenbaumbeständen. Nirgendwo auf der Welt gab es ■Ii 1.111 viele und hohe Adlitzbeerenbäume, deren Ertrag genug 16 17 einbrachte, um ein ganzes Dorf zu erhalten. Die St. Petrianer hatten gar keine Verwendung für all ihre Beeren, doch im Rest der Welt waren sie ein gefragtes, teures Gut zur Herstellung spezieller Medikamente. Obwohl jeder Bewohner neben der Adlitzbeerenwirtschaft noch einen anderen Beruf ausübte, halfen zur Erntezeit alle zusammen. Und wenn die Ernte wie jetzt wegen Regens unterbrochen war, wurde im Wirtshaus auf besseres Wetter gewartet. Denn es war ein heiliges Gesetz, dass während der Adlitzbeerenernte niemand einer anderen Beschäftigung nachging. Johannes jedoch hatte eine Aufgabe, die ihm weder sein gebrochener Arm noch der Regen nehmen konnten - er las sich durch die Welt der Würmer. Bald war er von den Wesen fasziniert. Er fand es außerordentlich, wie so ein kleines Staubkorn im Wasser von einem Krebs gefressen wurde, den dann ein Fisch verspeiste, der wiederum von einem Fuchs, einem Hund oder einem Menschen gegessen wurde, bis sich das Staubkorn im Darm des letzten Gliedes zu einem richtigen Lebewesen entwickeln konnte. Er staunte über den Überlebenswillen, den solch ein Tier haben musste, wenn es all diese Stadien in Kauf nahm, genau wissend, dass es nur mit viel Glück dort hinkommen würde, wo es hingehörte. Elisabeth fand diese Überlegungen ekelerregend. Wenn Johannes zu erzählen ansetzte, drohte sie, sich zu übergeben, und das wollte er dem Kind nicht antun. Zu gern hätte er ihr, seiner Frau und besten Freundin, mehr von seinem neuen Wissen erzählt. Etwas Besonderes zu können, war in St. Peter normal, aber etwas Außergewöhnliches zu wissen, unterschied ihn vom Rest des Dorfes. Tagtäglich - nicht nur, wenn er ihr von Würmern erzählen wollte - wunderte sich Johannes, wie anders Elisabeth seit ihrer Schwangerschaft geworden war. Häufig klagte sie, wie anstrengend es sei, schwanger zu sein, dass sie so leiden müsse, dass ihr alles wehtue. Johannes verstand sie nicht. Was war nur mit der Elisabeth passiert, die sich bdrn Aufstauen des Mitternfeldbaches einen Nagel durch die Sohle getreten hatte und vollkommen unbeeindruckt durch Jen Ostwald und über zwei Äcker nach Hause marschiert W$tJ Johannes wühlte daraufhin wieder in der Bibliothek. I i las, dass eine Schwangerschaft das größte Glück für eine i i.iii sei, der schönste Zustand in ihrem Leben, woraufhin er ■" Ii schwertat, Elisabeth weiterhin ernst zu nehmen, und vor Ihren Klagen immer häufiger flüchtete. Was Elisabeth niemals ii '(lieben hätte: Sie war eifersüchtig auf Johannes, dessen Bau« h mit Wurm mehr Aufmerksamkeit erregte als der ihrige niii Kind. Sonntags umzingelten sie die Dorfkinder, sobald sie IUI der Kirche kamen, wollten jedoch niemals die Tritte des I liliys lühlen, sondern immer nur mit dem Ohr auf Johannes' Bauch hören, was der Wurm machte. Ständig brachten ir-■< i ii Iwelche Tanten der Handelskollegen von Heiligenstatuen Und (i'roßmüttervon Cousins aus der Blasmusikkapelle diver- I K i.iulersude oder Wurmöle. Keines davon vermochte den Win in zu beseitigen, vielmehr bescherten sie Johannes Wür-i'i anfalle und schnellen Gang. Nur Elisabeth wurden keine i Uusmittel gebracht, i \K sich die Sturmfront ausgeregnet hatte und ein pittoresker Mtweibersommer die Waldhänge golden färbte, kamen Berg- H Ijjer ins Dorf. In den letzten Jahren waren sie ausgeblieben, Und die St. Petrianer hatten schon befürchtet, dass sie irgend-" .um zurückkommen würden, doch hätten sie niemals gedacht, es gäbe Bergsteiger, die verrückt genug seien, im Herbst |U kommen - Altweibersommer hin oder her. Wie immer, Wenn die Wahnsinnigen heranrückten, klappten die Fens-Irrlädcn zu, wurden die Wäscheberge ins Haus geholt und tili K linier heimgerufen, noch bevor der Tross das Ortsschild i' I iiii hatte. iWos sand des bloß für Männer, wann de si net amoi ra-i' 111 könna«, flüsterten sich die letzten St. Petrianer am Dort- ig IQ Umstand sah man ihm gerne nach, dass er sich zuvor verschlossen gezeigt und den anderen den Rücken gekehrt hatte, indem er allein in der Bibliothek herumgesessen war, anstatt sich für das Dorf nützlich zu machen. Und auch Elisabeth wurde nach der Christkindlsache wieder anschmiegsam. Vor allem, als der Doktor bei seinem letzten Besuch vor Weihnachten ankündigte, es würde bald so weit sein. Elisabeth musste sich auf die Geburt vorbereiten, und Johannes würde im neuen Jahr seine Wurmtabletten bekommen. Dieses Mal beschwerte er sich nicht, dass es so lange dauerte, bis er sein Medikament erhielt, denn er dachte nur noch daran, wie es sein würde, endlich sein Kind in den Armen zu halten. Außerdem hatte er schon so viel Zeit mit seinem Wurm verbracht, dass es auf die paar Wochen mehr auch nicht ankam. Das Weihnachtsfest verbrachten die Gerlitzens zu Hause, hörten sich auf dem Balkon die Turmbläser an, und Johannes spielte das Weihnachtsevangelium mit selbst geschnitzten Krippenfiguren nach - Maria und Josef hatte er die Züge von Elisabeth und sich verpasst. Elisabeth war bereits zu schwanger, um zur Mitternachtsmette bergauf bis in die Kirche zu gehen. Noch vor dem Dreikönigstag war es schließlich so weit. Die Hebamme Trogkofel, deren Wurmtinktur Johannes solch ein Erbrechen beschert hatte, dass er befürchtet hatte, der Wurm käme vorne raus, verbannte ihn nach draußen, ehe er den Wunsch äußern konnte, bei seiner Frau zu bleiben. Vierzehn Stunden lang saß er auf der Holzbank vor dem Haus und spülte sich mit einer Dopplerflasche Adlitzbeerenschnaps die Schreie seiner Frau aus den Ohren. Als seine Haare gefroren waren und seine Haut so von der Kälte ausgetrocknet, dass sie wie von einem weißen Netz überzogen schien, tat das Kind seinen ersten Schrei. Johannes stürzte ins Haus, rannte die Holztreppen empor, klopfte nicht, wartete nicht und hebelte beim stürmischen Öffnen der Tür selbige i" liiuhc aus. Im Türrahmen jedoch erstarrte er. Das kleine I lili Ken lag nackt in den Armen der Hebamme, war noch ül'i i und über von den Spuren der Geburt bedeckt und hatte ilriinnch einen unübersehbar schwarzen fülligen Locken-i. .pi. wie er weder in der Familie der rotblonden Elisabeth mim Ii bei den weißblonden Gerlitzens jemals vorgekommen 'i Solch schwarzes wuscheliges Haar hatte nur der Nach-h.....sch von links. |ti|i Hiiics Gerlitzen gewöhnte sich schnell daran, in der Bibliothek zu schlafen. Mit einer Matratze im Südeck, wo es am i niesten feucht wurde, war es sogar einigermaßen gemüt-Ih'Ii Seil ihm die Gemeindesekretärin eine Schreibtischlampe il i iitvesiellt hatte, konnte er bis tief in die Nacht lesen. Das i ii war hilfreich, um jene Gedanken zu vertreiben, die ihn M " Iiis derart belasteten, als säße ein gewichtiger Alb auf sei-II! i Iii iisi, der ihn zu erdrücken versuchte. i n 1111 hatte das Gerücht von der Geburt die Kirchenstiege rrrli In, empfanden die Dorfbewohner Mitleid, meinten, man " .1- ihm seine Ruh'lassen, doch als Johannes Gerlitzen der nniUagsmesse zweimal hintereinander ferngeblieben war, Urden die St. Petrianer unruhig. All jene, die von ihren Häu-i in Ausblick auf das Gemeindeamt hatten, beobachteten Ii ii Hibliotheksraum, um den Nachbarn in den Hangsiedlun- ii .im nächsten Tag zu erzählen, wann Johannes das Licht Iii gemacht hatte und zu welchen unchristlichen Zeiten es ■ Ii dei angegangen war. 1I u/n is a verruckt wordn«, murmelte die Stammtischrun- ■ li wenn sie zur Sperrstunde vom Wirt nach Hause geschickt ■ »nie und nebenan im Gemeindeamt der Gerlitzen unver-Itldi 11 seine Nase in ein Buch steckte, aber keiner von ihnen hinein, um mit Johannes zu sprechen. Anton, Friedrich, 1 ilhelm, Gerhard, Johannes und Karl waren seit der Volks-lutle eine Burschengruppe gewesen und hatten viele Aben- 22 23 [Der kleine Mann mit dem großen Trieb, Notizbuch //// [ 9- o. j Nach dem Wechsel des Jahrhunderts war der ganze Koni uh n Wandel, seit ein im Bezug auf seine Körpergröße überaus kirim rjm zösischer Herrscher an die Macht gelangt war, der jedoch, wie es i Ii kleinen, von der Natur wenig geliebten Männern zu eigen ist, ein üb natürliches und auch den Göttern unliebes Machtbedürfiiis verspu Und während die Gebietsgrenzen und Allianzen zwischen dem noi.i liehen, dem atlantischen, dem mittleren und dem Euxeniscliai l'on neu verschoben wurden, wurde der Alpenraum vom Kaiserreich im Osten abgetrennt und einem im Norden liegenden Herzogtum u teilt. [9.1.J Es dauerte vierzehn Jahreszeiten, bis die St. Petrianer dann erfuhren, daß sie nun nicht mehr dort dazugehörten, wo sie einst tk zugehört hatten. Anfangs, so wird berichtet, sei es ihnen egal gm 1 da sie nicht belästigt worden seien. Ich habe allerdings herausgefundt n daß es schließlich ein Ereignis gab, welches die anderen Alpenbarlm ren in den Krieg trieb; die Verletzung ihres Freibriefes, der zuvot di n Barbaren aller Berge zugesichert hatte, niemals zum Kriegsdienst in anderen Gebieten als dem eigenen eingesetzt zu werden. Die Barbn ren aller Stämme, mit Ausnahme der St. Petrianer, griffen daraufh zu den Waffen und führten zahlreiche Kriege gegen die Besatzer, [g i.| Bezüglich der St. Petrianer wird berichtet, daß sie so lange überlegU 11 ob es ihnen nützen würde, sich anzuschließen, daß, als sie bereit wan n eine Entscheidung zu treffen, der Aufstandsanführer namens Sandwiri bereits gefangengenommen und hingerichtet worden war, was das I ndi aller aufständischen Tätigkeiten unter den Barbaren bedeutete, [g 1 | Wie nun die Geschichtsaufzeichnungen berichten, bereuten die St. f'i trianer seinen Tod sehr und ehrten ihn, doch weitere Schritte unternah men sie nicht, sondern warteten, bis sich die Lage im Rest des Landt beruhigt hatte. St.. Peter am Anger war und ist auch heute, wie i< hin zeugen kann, so weit weg vom Rest der Welt, daß die Bewohner, solang sie nicht die Berge in die Luft sprengen, tun und lassen können, was sii wollen, ohne daß es jemand bemerkt. Fährten und Fronleichnam llcvor Alois Irrwein am nächsten Morgen zur Baustelle der 1 miiergrats fuhr, um den Dachstuhl für den neuen Schwei-iirsiall zu zimmern, stand er lange in der Einfahrt und überlegte, wofür er sich am meisten schämte: dass sein Sohn hu h versauter Matura besoffen im Vorgarten schlief oder dass dessen Oberkörper zaundürr und löschkalkfarben war. Ilse schlief noch, sie hatte die Nacht hindurch so geweint, dass er sie nicht aufwecken wollte - also verzichtete Alois auf, seinen Sohn ins Haus zu schaffen. Stattdessen holte ei die olivgrüne Plastikplane aus der Garage, mit der er das »päte Gemüse vor kalten Nächten schützte, breitete sie über Johannes, damit er den Nachbarsaugen verborgen blieb, und fuhr zur Arbeit. Den ganzen Tag über ließ ihn der Gedanke .m Johannes' Oberkörper, der ihn an eine gerupfte Hühner-I irust erinnerte, nicht mehr los. Auch wenn er sich bereits vor langer Zeit damit abgefunden hatte, dass ihm sein Sohn nicht Ii »nderlich nachgeriet, mussten das nicht alle neugierigen Augen des Dorfes zu sehen bekommen. Klick-tack-klick-tack-klick-tack-klick-tack-klick-tack - im (ileichtakt klackten die Skistöcke des Vereins der Nordic-Walke-1 innen St. Peters auf den Asphalt der Hauptstraße. In schreiende Farben gehüllt walkten zwei Dutzend Frauen in Herdenfor-mation das Dorf ab. Angelika Rossbrand marschierte als Ver-elnsgründerin an der Spitze, drei Frauen hatten jeweils nur 286 287 einen Stecken und schoben mit der zweiten Hand einen K in derwagen. Manche hatten Schweißbänder um Handgelenl und Stirn, andere trugen Pulsmesser, alle waren sie schon n was aus der Puste, da die heutige Runde bereits fünfunddri i ßig Minuten andauerte und bald, nach dem Streckensp..... über die Hauptstraße, im Garten des Cafe Moni enden wind, wo sich der Verein nach dem Morgensport mit Eisbechern stärken würde. Plötzlich erhob Angelika jedoch auf Höhl des Irrwein'schen Gemüsegartens die Hand, und die Frauen bremsten quietschend ab, um nicht ineinanderzulaufen. Aul Angelikas Nicken hin blickten alle in Ilse Irrweins Garten und verrenkten erstaunt die Köpfe, um die olivgrüne Plastikplanc zu begutachten, die dort den Boden bedeckte, wo ansonsten der Kopfsalat wuchs. »Schauts amoi, de Ilse hat d'Frostschutzplane im Goartn«, ertönte die hohe Stimme der Kirchenchorsopranistin Hikli Wildstrubel, woraufhin alle skeptisch zu flüstern begannen, dass es gestern sicherlich keinen Frost gegeben und ob Ilse vielleicht exotisches Gemüse angebaut habe, mit welchem sie den nächsten Kochwettbewerb für sich entscheiden wolle. In St. Peter am Anger waren bis auf gelegentliche Auseinander Setzungen, die mal hier, mal dort entstanden, sich grund sätzlich alle Frauen wohlgesinnt. Doch der zwei Mal jährlii h stattfindende Kochwettbewerb, bei dem die Siegerin ein Sei gefriertauglicher Tupperware-Schüsseln gewinnen konnte, entzweite die Freundinnen regelmäßig. Gertrude Patsch ei kofel hatte vor anderthalb Jahren heimlich Topinambur an gepflanzt, die bis dahin in der Mütterrunde nicht bekanm gewesen waren und die ihr, mit Muskatnuss, Käse und Creme fraiche verarbeitet, den Sieg eingebracht hatten. Die Frauen flüsterten und entschieden, dass sie solch eine Wettbewerbs Verzerrung nicht noch einmal zulassen wollten. Sie waren sich einig, dass die Wölbungen, die die Plane schlug, sicher lieh Setzlinge waren, also legten sie ihre Skistecken auf den Asphalt und huschten im Gänsemarsch in den Vorgarten, um herauszufinden, was Ilse angepflanzt hatte. Im Kreis stellten n sich rund um die Plane. Angelika Rossbrand hatte einen Ihrer Stecken mitgenommen, schob damit die Plane beiseite, iiikI alle hielten sie mit einem »Huch« die Luft an, als ein blei-i her. an den Wangen erdiger Kopf zum Vorschein kam. »] )es is do da Johannes«, stellte Sabine Arber fest, und Hilde VVildstrubel fragte: »Is der hinig?« Angelika stupste ihn mit ihrem Skistock an, und langsam kam Johannes zu sich. Das Aufwachen fühlte sich an, als würde er durch einen tiefen Tunnel zurück in seinen Körper fallen, und er sah nochmals die zarten Gesichter der Musen vor sich, doch als er die \ne.cn aufschlug, hatten seine Musen fünfundzwanzig Kilo EUgelegt, ihre weiße Haut war sonnenverbrannt, sie trugen ei assliche Sportkleidung, und ihre Haare klebten am ver-.i hwitzten Kopf. Johannes riss die Augen auf und fragte sich, i ib er aus dem Himmel in die Hölle gefallen war. »Lebst nu?«, fragte ihn Angelika Rossbrand schließlich. Johannes fuhr sich kurz über den Oberkörper und nickte, als er merkte, dass er von keinen Rankstangen durchbohrt worden war. Er wusste nicht ganz, wo er war, und er war noch weit davon entfernt, sich lebendig zu fühlen. Sein Gesundheitszustand war den Frauen Jedoch egal. Hilde Wildstrubel beugte sieh über ihn und hielt ihm ihren ausgestreckten Zeigefinger entgegen: »Johannes, wir ham Grund zur Annahm, dass de Ilse exo-tischs Gemüse vor uns versteckt. Woaßt du wos?« Johannes verstand nicht, was sie meinte, und starrte sie mit offenem Mund an. »Lügen hülft net!«, legte Martha Kaunergrat nach und be-liihrte mit ihrer Turnschuhspitze seinen Oberarm, als würde Sie auf ihn draufsteigen, wenn er nicht antwortete. Johannes 288 289 sah ihr Gesicht nicht, da Martha Kaunergrats Brüste so groß und prall waren, dass sie ihren Kopf verbargen. Johannes I h kam Angst und schüttelte emsig den Kopf. Die Frauen sahen sich kurz an und beratschlagten. Schließlich zeigte Angelika Rossbrand mit ihrem Skistecken auf seine Brust: »O.k., wirglaubn da, owa wehe, wir stelln fest, dass'd lügst Du sagst uns g'fälligst, wenn da wos auffallt, verstanden?« Johannes' Mund war trocken und seine Stimme heiser; ei nahm sich zusammen und krächzte, so laut er konnte: »J