Die Familie Kocsis Letztes Jahr ist Mutter spät nach Hause gekommen, mit einem offenen Gesicht, das gar nicht zum kalten Herbsttag passte, und sie hat nicht geatmet, als sie sagte, ich habe eine Überraschung für euch, wir bekommen die Cafeteria Mondial, die Tanners haben die Hausvermieter überzeugt, die wollten eigentlich jemand anderen, aber wir haben gewonnen, und ich glaube, dass Mutter dann lachen musste, weil sie „gewonnen" gesagt hatte. Und an diesem Abend sitzen wir ungewöhnlich lange am Tisch, Vater küsst Mutter sogar vor unseren Augen, er hält ihre Hände, als wir besprechen, was das bedeutet, dass wir in dem Dorf, wo wir seit dreizehn Jahren wohnen, ein Geschäft in bester Lage bekommen, direkt beim Bahnhof mit perfekter Inneneinrichtung, zahlbarem Mietzins und Gartensitzplätzen. Nomi, Mutter, Vater und ich feiern, es ist eigentlich gar nicht möglich, sagt Mutter, es kommt mir immer noch unwirklich vor, so unwirklich wie Fische, die fliegen; ich, die Mutter sagt, dass es Flugfische gibt, ziehe eine Zigarette aus der Packung, Vater, der an diesem Abend wordos zur Kenntnis nimmt, dass nicht nur ich, sondern auch Nomi raucht. Eine neue Tapete muss her, sagt Mutter, das ist ganz wichtig, und vielleicht eine schöne Wanduhr, meint Vater, und logischerweise werden wir die Kaffeemarke nicht wechseln, alles, nur das nicht!, und den Bäcker, den werden wir auch beibehalten — Vater, der kochen wird, Mutter, die backen und den ganzen Bürokram erledigen wird, Nomi, die je nachdem im Büffet oder im Service arbeiten wird, und ich, die an meinen studienfreien Tagen aushelfen wird — wir sitzen an unserem Esstisch, aber nur vordergründig, denn wir schweben an Jahren vorbei, mit einem Mal sind wir nicht einen Schritt weiter, sondern einen riesigen Sprung, sagt Mutter, und in ihren schönen Augen zeigen sich Bilder einer vergangenen Zeit, Mami als Putzfrau, Kassiererin, Mädchen für alles, Wäscherin, Büglerin, Kellnerin, Buffettochter, es war nicht immer einfach, sagen ihre Augen, aber es hat sich gelohnt! Und weil Mutter vor fünf Jahren die Wirtefachschule geschafft hat, konnten wir schon einmal eine Cafeteria übernehmen, aber was für eine!, in der Stadt, in einer Seitengasse mit horrendem Metzins, schlechter Lüftung, mit der Küche im zweiten Stock, damals, als Nomi und ich nach der Schule immer ausgeholfen haben, auch sonntags, unsere härteste Zeit, sagt Vater, zwei Jahre lang kein einziger freier Tag, dieser Arschkopf von Besitzer hat gut an uns verdient! - aber auch dieser Satz wiegt jetzt nicht mehr schwer, weil das Glück, die Zukunft jetzt eine logische und gerechte Fortsetzung der Vergangenheit sind - Mutter, die nach diesem Reinfall bei den Tanners anfing zu arbeiten, als Buffettochter, im Mondial, vordergründig ein Abstieg, schmunzelt Mutter, das hätte ich damals doch nie gedacht, dass sie mir einmal ihr Geschäft überlassen! Die Tanners haben eben gemerkt, dass du nicht für dich denkst, sondern für sie, sagt Vater. Ach was, antwortet Mutter, die Tanners wollten eine von ihren Töchtern als Nachfolge, aber die wollten eben nicht, und vielleicht war noch ein bisschen 44 45 Sympathie dabei, für mich, für unsere Familie. Klingt das ungarische Wort für „Familie" für dich nicht wie ein warmes, schönes Essen, will ich Mutter fragen. Vater, der sagt, dass es garantiert auch nicht geklappt hätte, wenn wir keine Schweizer wären!, und unser Leumund nicht topp tipp wäre, meint Mutter. Umgekehrt, sagt Nomi, wieso kannst du dir das nicht merken, Mami, man sagt tipp topp! Ab heute merke ich es mir, antwortet Mutter lachend, tipp topp, tipp topp, tipp topp, tipp topp, gut so? Und Vater lässt den Korken der Champagnerflasche knallen, mit einem Koffer und einem Wort sind wir in die Schweiz gekommen, und jetzt haben wir einen roten Pass mit einem Kreuz und eine Goldgrube, lsten Istenl Gott Gott!, ruft Vater, und wir stossen an, klirrend, herzlich. Schwarzarbeiter ziehen sich von Kopf bis Fuss schwarz an, ein Dieb muss sich ja tarnen, wenn er nicht erwischt werden will, nur seine Augen bewegen sich rasch und hell hin und her, in der Nacht. Die beliebtesten Schwarzarbeiter sind die Pfarrer, sie tragen, im Gegensatz zu den Dieben, keine Maske, sondern einen weissen Kragen, und ihr Gesicht sieht so unschuldig aus wie frisches Brot. Andere Schwarzarbeiter müssen mit schwarzen Sachen arbeiten, Kohlesäcke schleppen zum Beispiel. Oder sie müssen, ähnlich wie eine Waschmaschine, so lange arbeiten, bis die schwarze Sache wieder weiss ist ... Irgendwann einmal habe ich das Wort „Schwarzarbeit" aufgeschnappt, von meinen Eltern, ich konnte noch kaum Deutsch, und es gab Wörter, die vergass ich rasch wieder, andere gingen mir nicht mehr aus 46 dem Kopf, so auch Schwarzarbeit. Es gefiel mir, dass ich das Wort zwar nicht brauchen konnte — im Gegensatz zu schlafen, essen, trinken, der See, die Frau, der Mann, das Kind, ja, nein - mir aber trotzdem vieles darunter vorstellen konnte. Andere Wörter hingegen stapelten sich in meinem Kopf wie nutzloser Kram: Ausweis, Niederlassung, Wartefrist. Bis ich die Bedeutung dieser Wörter begriff, dauerte es lange, auch deshalb, weil meine Eltern sie auf ihre Art betonten oder unabsichtlich abänderten. Der Ausweis war der Eisweis, die Wartefrist die Wortfrisch und Niederlassung ldang aus ihrem Mund wie Niidär-lasso. Vater hatte fast ein halbes Jahr, ohne dass er es wusste, schwarzgearbeitet. Alles gut, sagte sein damaliger Arbeitgeber, der Metzgermeister Fluri, Papiere sind unterwegs. Ein Arbeitskollege, der meinen Vater mochte, hat ihm den Tipp gegeben, he, Mik, der Fluri verdient viel besser an dir, schwarz, verstehst du? Knappe neunhundert Franken hatte Vater am Monatsende in seinem Kuvert, Essen und Miete für das Zimmer oberhalb der Metzgerei wurden ihm vom Lohn abgezogen. Das sei wie eine Ohrfeige gewesen, der Tipp seines Kollegen, erzählte Vater, er habe eins und eins zusammengezählt, seinen ganzen Mut zusammengenommen und zu seinem Chef gesagt: Wenn kein Papier, Mik/ös gehen. Und Vater, der erstaunt war, dass sein kleiner Satz eine so grosse Wirkung hatte. Ein paar Wochen später habe er nämlich die Arbeitsbewilligung und eine kleine Lohnerhöhung bekommen, die er gar nicht gefordert hatte, damals habe er ja gar nicht gewusst, dass seine Kollegen mehr als das Doppelte verdienten: Warum 47 nicht? Wir reden hier nicht über den Lohn!, das sei einer der ersten Sätze gewesen, die er begriffen habe, so Vater. Was Vater damals auch nicht wusste, dass nämlich Schwarzarbeit den so genannten Familiennachzug hinauszögerte, die Familie, die man nach drei Jahren nachziehen konnte, wenn man eine Aufenthalts- und eine Arbeitsbewilligung hatte („Familiennachzug", und ich sehe ein glänzendes, frisch poliertes Auto eines Hochzeitspaares vor mir, das in die gemeinsame Zukunft fährt, und ich höre das scheppernde, billige Geräusch der Blechbüchsen, die, an Schnüren festgebunden, hinter dem Auto hergezogen werden). Und dann hat der Fluri schöne Briefe geschrieben für uns, an die Fremdenpolizei — ich bin ihm dankbar dafür, sagte Vater —, er ist schuld, dass unsere Kinder noch ein halbes Jahr länger nicht kommen konnten, fluchte Mutter, meine Eltern, die sich heimlich stritten, ich, die sie manchmal belauschte, so auch in dieser Nacht; ich war noch nicht lange in der Schweiz, und ich erinnere mich an viele schlaflose Nächte, und oft, wenn ich meine Eltern belauscht hatte, wirbelten die Wörter in meinem Kopf wie Laub an einem regnerischen, stürmischen Herbsttag, Wörter auf Ungarisch wie Papiere, Polizei, Briefe, dankbar, deutsche Wörter wie Familiennachzug, Schwarzarbeit, und wahrscheinlich hatte meine Mutter damals getrunken, was sie sehr selten tat, ich höre heute noch ihre Stimme, schrill in ihrer Verletztheit, drei Jahre, zehn Monate, zwölf Tage, bis die Einreisebewilligung endlich da war, für die Kinder. 48 Mit welchem Wort seid ihr gekommen, frage ich, als die Champagnerflasche leer ist, Vater aufsteht, um eine zweite zu holen. „Arbeit". Wir übernehmen alles von den Tanners: Büchsenbohnen, unzählige Beutel Bratensauce, gefrorenes Brät, Pommes Ducbesse, egal, auch wenn wir wissen, dass wir das meiste gar nicht brauchen können: Ravioli aus der Büchse, Fleischkonserven mit Sulz, Ochsenschwanzsuppe (was ist das überhaupt, kann man Ochsenschwänze essen?, ja klar, meinte Mutter, ihr kennt das, und sie übersetzte uns für ein Mal das Wort auf Ungarisch, ach so, sagten wir und fanden, dass „Ochsenschwänz" ungeniessbar klingt), wir übernehmen alles, weil wir mit diesem Geschäft ein Glückslos gezogen haben. Am dritten Januar 1993 eröffnen wir das Mondial, und während der Weihnachtszeit haben wir geputzt, gebügelt, Mutter hat zweitausend Mal in einen Mürbeteig gestochen und die Plätzchen mit selbstgemachter Aprikosenkonfitüre in Spitzbuben verwandelt, Nomi und ich, wir haben Halbmöndchen geformt, Vanillekipferl, wir haben uns tagelang heiss gearbeitet, weil wir unsere Kunden eine Woche lang mit selbst Gebackenem überraschen wollen, wir wollen ihnen die Möglichkeit geben, uns von unserer besten Seite kennenzulernen, ihnen zeigen, dass wir Handarbeit von Grund auf kennen — wir, die von einer guten Fee geküsst worden sind, und es ist doch so, wie wenn wir jahrelang auf diese eine Gelegenheit gewartet hätten, sagt Mutter, es gab jede Menge Interessenten, die sind richtig Reihe gestanden, als 49 sie gehört haben, dass die Tanners das Geschäft Ende des Jahres aufgeben, das hab ich ja mitbekommen, als Buffettochter! Und Mutter erzählte es wieder und wieder, immer wieder spekulierten Vater und sie darüber, was wohl bei der Entscheidung der Tanners den Ausschlag gegeben habe, und sie geniere sich fast ein bisschen, wenn sie jetzt hinter dem Büffet arbeite, die Blicke der Gäste auf sich ziehe, ja, und die Schärers, die ein gut laufendes Sanitärgeschäft führten, die hätten jeden Tag angeklopft, an Frau Tanners Bürotür, weil sie es nicht glauben konnten, dass sie das Mondial nicht bekommen — und ich, die sich insgeheim vorstellt, dass Mutter durchs Dorf spaziert, es allen erzählt, wissen Sie es schon, ich bekomme die Cafeteria Mondial!, und wenn Mutter diesen Satz sagt, nimmt sie mit beiden Händen die Hand der Angesprochenen, einen Moment lang hält sie die fremde Hand; Mutter, die ich mir frei und unangreifbar vorstelle in ihrem stolzen Glück. Wir stehen alle sehr früh auf, um uns zu frisieren, zu dekorieren, es ist noch dunkel, wir haben Ringe unter den Augen, weil wir uns durch die Wände hindurch mit unserer Schlaflosigkeit angesteckt haben, aber wir reden nicht darüber, dass wir schwitzen, vor Müdigkeit und Aufregung, wir haben uns nicht abgesprochen, was wir anziehen sollen, ob es angebracht wäre, sich mit den Farben aufeinander abzustimmen, und meistens, wenn ich so aufgeregt bin, denke ich, dass dieser Tag gar nie kommt, dieser Tag, der diese ganze Aufregung verursacht, wahrscheinlich, weil die Zeit davor lang und länger wird, bis sie sich zu einer schlaflosen Nacht ausdehnt, und eigentlich kann ich gar nicht sagen, was sich in meinem Kopf abspielt, sicher denke ich darüber nach, ob wir ausreichend vorbereitet sind, aber ich denke auch darüber nach, dass so ein Tag, der mit einer solchen Aufregung erwartet wird, im schwarzen Loch der mit übertriebener Nervosität erwarteten Tage verschwindet, ich meine, so ein Tag wiegt schon schwer, obwohl er noch nicht einmal die Gelegenheit gehabt hat anzufangen — kann das gut gehen, frage ich mich, wir, unsere Familie, mit unserem Geschäft, in dieser prominenten Lage, in dieser Gemeinde, einer der reichsten Gemeinden am rechten Zürichseeufer, Nomi und ich, die nicht eigentlich ins Mondial passen, ich, die sicher auch daran denkt, was alles schon schiefgelaufen ist, eine ganze Menge!, oder doch nicht? Grundsätzliches? Kleinigkeiten? Hier wird nicht gepfiffen wie in Italien oder in der Mongolei, rief ein Nachbar, jedes Mal, wenn Nomi und ich durch die Zähne gepfiffen haben, Italien kann ich ja noch verstehen, sagte Nomi, aber Mongolei? Seit ihr hier seid, ist alles verludert!, und „verludert" fand ich gar nicht schlimm, aber „seit ihr hier seid" ging mir nicht mehr aus dem Kopf, ich, die in Tränen ausbrach, ich, die stolz darauf war, dass wir, Nomi und ich, offenbar etwas bewirken konnten; und andere, vor allem Kunden unserer Wäscherei, die immer wieder fragten, ob wir etwas brauchten, die uns dann Säcke brachten mit ausgetragenen Kleidern, so lernten wir die Namen von teuren Kleidermarken kennen, Gucci, Yves Saint Laurent, Feinkeller, Versace, danke schön!, und wir haben das meiste davon entsorgt, in Jugoslawien oder bei der Caritas - ich, die gelernt hat, dass es Schweizer gibt, die sich ganz grundsätz- 51 lieh fürs Gute zuständig fühlen, schwitze, weil ich schlafen sollte, weil ich schon lange weiss, dass man nicht zuviel denken sollte, wenn man nicht schlafen kann. Es ist so offensichtlich, dass niemand von uns geschlafen hat, deswegen wäre es sinnlos zu sagen, ich habe kein Auge zugedrückt, oder, wie man auf Ungarisch sagt, meine Augen sind traumlos geblieben; auf in den Kampf, sagt Vater, als wir das Licht im Korridor löschen, die Wohnungstür schliessen, und wir gehen, von einer herb süs suchen Wolke begleitet, über die stillen Parkplätze, zur Garage hinunter, wir steigen fast laudos ins Auto, Vater dreht das Radio an, fährt rückwärts fast in die Schneeräummaschine, dieser Idiotenkopf von Abwart, flucht Vater, ich hab ihm schon oft gesagt, er soll seine Spielzeuge korrekt abstellen — und wir, einschliesslich Vater, wissen, dass es um etwas anderes geht, mit einem leichten, nicht ernst gemeinten Fluch kann der Tag endlich beginnen, und wir fahren den Hang hinunter, rollen unwiderruflich auf unseren Eröffnungstag zu. „Herzlich willkommen!" schreibe ich auf die Schiefertafel und stelle sie vor die Eingangstür (und mir fällt ein, dass ich mir beim Kippen der Lichtschalter, die sich direkt beim Büffet befinden, vorstelle, dass unsere Cafeteria jetzt hell leuchtet, unübersehbar, von jedem Punkt des Dorfes aus zu sehen, Starkstrom, denke ich, lache, weil ich gar nicht genau weiss, was Starkstrom ist). Wir, die nicht nur Ochsenschwanzsuppe, Brät, Bratensauce, Ravioli und Bohnen aus der Büchse von unseren Vorgängern übernommen haben, son- dern auch die beiden Serviertöchter, Anita und Christel, und Marlis, die Küchenhilfe, nur Dragana, die Hilfsköchin, haben wir neu eingestellt. Das Mon-dial wird ab dem 3. Januar 1993 von der Familie Koc-sis im gewohnten Stil, mit unveränderten Öffnungszeiten weitergeführt — so schreibt die Dorfpost über unsere Geschäftsübernahme —, wir kennen die Familie Kocsis von der örtlichen Wäscherei, die sie sieben Jahre lang vorbildlich geführt hat. Die Familie, die aus dem ehemaligen Jugoslawien stammt, hat sich gut integriert und hat vor sechs Jahren die Schweizer Staatsbürgerschaft erhalten. Die direkte Demokratie, meine eigenwillig komische Vorstellung, damals, als ich in der Primarschule davon gehört habe, wir sind das Sinnbild der Urde-mokratie, sagte mein Lehrer, und weil er „wir" sagte, gehörte ich natürlich auch dazu, obwohl „wir" damals noch einen jugoslawischen Pass hatten, ich also noch keine Papierschweizerin war, wie man später da und dort sagen würde. Mein Primarlehrer hatte nichts gegen Ausländer, wie er einmal sagte, für ihn zähle nur die Leistung, das gehöre dazu, zu einem Menschen, der urdemokratisch eingestellt sei, gleiche Chancen für alle!, mein Lehrer, der sicher damit zu tun hatte, dass ich mir die direkte Demokratie als ein Heer vorstellte, viele, wehrhafte Soldaten, die in Reih und Glied standen, mit einem unbestechlichen Gesicht, weil sie etwas Wichtiges verteidigen mussten, nämlich die Idee, dass alle die gleichen Chancen haben. 52 53 Wir arbeiten heute in doppelter Besetzung, ausnahmsweise, Mutter hilft Vater in der Küche, sie bestreichen die Brezeln mit Butter, diskutieren darüber, wie dick die Butterschicht sein soll, das ist zu mastig!, und das zu trocken! Vater und Mutter, die uns Kostproben reichen, sich auf einen Kompromiss einigen, Mutter, die dann hundert Croissants auf die geflochtenen Körbchen verteilt; Nomi und ich lassen die Kaffeemaschine ein Mal leer laufen, prüfen, ob genügend Kaffee gemahlen ist, wir füllen den Rahm in den Portionierungsbehälter, schneiden Zitronen in Schnitze, füllen die Glasschale mit Orangen, und um Viertel vor sechs sitzen wir am Personaltisch, am Tisch eins, trinken noch rasch einen Kaffee, als die Serviertöchter eintreffen, Anita und Christel, gut aufgestanden?, gut geschlafen?, und schon sind wir wieder auf den Beinen, warten auf die ersten Gäste, die kurz nach sechs eintreffen, das sind immer die gleichen, sagt Anita, ein paar Frühaufsteher, zwischen sechs und sieben, da gibt es kaum eine Veränderung, und wir trippeln hin und her, Nomi und ich, zwischen Küche und Büffet, fragen ständig, ob wir noch etwas helfen können, aber es gibt schon längstens nichts mehr zu tun, und manchmal füllt sich die Cafeteria um acht, aber meistens erst um neun, dann umso zackiger, sagt Anita, und Christel stellt das Radio an, damit uns Madame Etoile mit hauchender Stimme erzählt, wie die Sterne stehen, für diese Woche, Mutter, die bereits die frischen Kuchen bringt, sie auf das Tischchen neben der Vitrine stellt, selbst gebacken?, fragt Christel, ja!, es wird jeden Tag frischen Kuchen geben, und ich liebe ihn, diesen Moment, wenn Mutter die Kuchen bringt, die halbierten Aprikosen und Pflaumen, die geraffelten Äpfel, von einem süssen Guss ertränkt, Mutter, die mich mit einem lächelnden Blick anschaut, sieht gut aus, nicht?, nachdem sie die Kuchenplatten vorsichtig hingestellt hat, und bis jetzt läuft alles gut, ein paar Gäste, die unsere Guet^-lis loben, unsere neue Tapete geschmackvoll finden (unsere Gäste, die so ruhig und gelassen auf ihren Stühlen sitzen, als hätte sich für sie gar nichts verändert, denke ich, nur ab und zu blinzelt jemand verhalten neugierig über eine Zeitung hinweg zu uns, zu den Töchtern — aber warum sollten sie auch aufgeregt sein, unsere Gäste?), Christel, die uns erzählt, dass sie sich für Astrologie interessiert, die Sterne lügen nicht, Anita, die das alles für Humbug hält, Blödsinn, damit wird nur Geld gemacht! Wir können uns immer wieder unterhalten, weil wir auf Nummer sicher gehen wollten und, wie gesagt, in doppelter Besetzung arbeiten, und jetzt wissen wir nicht, wohin mit so vielen Armen und Beinen, sagt Nomi, wir schauen uns an, mit unseren bleichen, übernächtigten Gesichtern, Anita, die jetzt zwei mittlere Schalen bestellt, uns korrigiert, zuviel Mich, zu wenig Kaffee, das seien ganz wichtige Kunden, flüstert sie, Tisch sieben, die Zwickys, kommen jeden Tag und am Samstag mit ihren Enkeln, dann frühstücken sie sogar; wir versuchen, uns ein paar Dinge zu merken, vor allem die Spezialwünsche der komplizierten Kunden, die aber ganz nett sind, sagt Christel, den koffeinfreien Kaffee mit einem Schuss kalten Wasser für Frau Hunziker, und Tisch zwei, der Herr Pfister, Chef eines gigantischen Zügelunternehmens, der täglich kommt, manchmal auch zwei Mal, einen 54 55 superhellen Milchkaffee trinkt, meistens, nicht immer, der es mag, wenn man ihm seinen Wunsch von den Lippen abliest, sagt Anita, und in ihrem Blick glimmt etwas auf, das finde ich auch toll, wenn man mir meine Wünsche von den Lippen abliest, sagt Nomi und bringt uns alle zum Lachen. Kurz nach acht drehen sich die Köpfe Richtung Eingangstür, Frau Köchli und Frau Freuler, die beiden verwitweten Schwestern, bleiben einen Moment lang in der Eingangstür stehen, Papiersäcke, die an Frau Freulers Händen baumeln, Frau Köchli, die immer einen extravaganten Hut trägt, breitkrempige Hüte mit Schleifen, grossen, farbigen Blumen oder Tieren (eine Schlange, die am Hutrand züngelt, ein Vogel, der mit jedem Schritt wippt), Frau Freuler stellt ihre Säcke ab, winkt mir zu, mir oder Nomi oder uns beiden, Frau Köchli, die auf einen freien Platz zeigt, und Frau Freuler, die fast doppelt so breit ist wie ihre Schwester, packt ihre Säcke wieder, und sie gehen an den Tischreihen vorbei, schütteln da und dort Hände und setzen sich schliesslich an Tisch drei, direkt gegenüber dem Büffet, Frau Freuler, die ihrer Schwester den Mantel abnimmt, den Schal, und sie geht mit zackigem Schritt zur Garderobe, guten Morgen!, ruft Frau Köchli zu mir, zu Nomi, und ich spanne sofort den doppelten Espresso ein für Frau Freuler und den hellen Milchkaffee für Frau Köchli; wir bedienen Tisch drei, sagt Nomi zu Anita, und ich bereite ein Tellerchen vor, mit den Spitzbuben und Kipferln, rufe kurz in die Küche, dass die Schwestern da seien, komme gleich, antwortet Mutter, und bevor sie die Schürze auszieht, sich ein paar Minuten stehend mit den Schwestern unterhält, begrüssen Nomi I und ich die beiden, wir servieren ihnen den Kaffee, stellen die Süssigkeiten auf den Tisch, Frau Köchli und Frau Freuler, die uns die Hände drücken, wir gratulieren Ihnen ganz herzlich zur Eröffnung, und wir wünschen Ihnen die grösste Portion Glück!, und sie überreichen uns, mit Gesichtern, als hätten sie sich gerade frisch verliebt, Blumen, Frau Freuler, die sich über ihre Papiersäcke beugt, um einen Strauss in Gelb der Frau Nomi zu übergeben, den zweiten in Gelb der Frau Udikö, den dritten in Rot für Frau Rözsa — wer sind die beiden Damen, fragt Anita, als wir wieder hinter dem Büffet stehen, was?, du kennst die beiden nicht?, und Nomis Stimme tut charmant entrüstet, Ildi wird dich aufklären, und Nomi verschwindet in der Küche, um Vasen zu holen, und ich habe keine Lust, viel zu erzählen, sage nur, dass wir die Schwestern schon lange kennen, seit unserer Wäscherei, und in unserer letzten Cafeteria waren sie Stammkundinnen, ah so, sagt Anita, sie habe die beiden Damen noch nie gesehen, aber sie wohne ja auch nicht im Dorf. Jetzt sieht Mami viel jünger aus, sagt Nomi zu mir, ja, stimmt, und über die Kaffeemaschine hinweg sehe ich in Mutters Gesicht, ihre leicht geröteten Wangen, wie sie sich abwechselnd zu Frau Köchli und Frau Freuler hindrehen (und was macht es denn aus, dass Mutters Augen jetzt fliegen?), und Nomi stellt unsere Sträusse auf die Kuchenvitrine, ein wunderschönes, gelbes Meer, sagt sie, und wir spannen wieder Kaffee ein, erhitzen Milch, lassen heisses Wasser in Teegläser laufen, kontrollieren die Bons, die uns Anita und Christel hinstellen. Man sagt, jemand gibt einem ein gutes Gefühl, 56 57 wahrscheinlich gibt es nichts Schöneres, als wenn einem jemand (grundlos) ein gutes Gefühl gibt, Frau Köchli und Frau Freuler, die uns damals, als ihre Ehemänner noch lebten, deren Hemden zum Bügeln brachten, und ich erinnere einzelne, wenige Sätze, wenn man so bügeln kann wie Frau Rözsa, und auch der Herr Miklös, mit seinen breiten Fingern!, die beiden Schwestern, die immer zusammen gekommen sind, es nie eilig hatten, Frau Freuler, die den Korb trug mit den Hemden, weil sie kräftiger ist als jeder Kerl, sagte Frau Köchli über ihre Schwester, die im Winter die riesige, klobige Eismaschine bestieg, um die Kunsteisbahn zu putzen, und im Sommer, da sass sie auf einem erhöhten Posten, unter einem Sonnenschirm, Frau Freuler arbeitete als Bademeisterin im grössten Strandbad der Gemeinde, und niemand machte sich über sie lustig, über ihre unsportliche, unvorteilhafte Figur, ich bin eine überreife Birne, sagte sie lachend über sich selber, sondern alle hatten Respekt vor ihr, weil man wusste, wie schnell die Birne sein konnte, wenn es darum ging, jemanden aus dem Wasser zu ziehen; Frau Köchli, die im Dorf deswegen bekannt war, weil sie als Bibliothekarin arbeitete und Haare auf den Zähnen hat; vor allem aber wird über Frau Köchli erzählt, sie habe während des Zweiten Weltkrieges in Basel gelebt und Flüchtlinge bei sich versteckt — und kaum standen die beiden Schwestern in unserer Wäscherei, Frau Köchli mit ihrer auffälligen Kopfbedeckung, Frau Freuler mit ihrem kurz geschnittenen, schwarzgrauen Haar, da kam es mir so vor, als stünden die Fenster unserer Wäscherei weit offen, die beiden alten Frauen, die von draussen immer etwas mitbrachten, den Duft nach Äpfeln, frisch gemähtem Gras, einen Streit, den sie gerade gehabt hatten, mit einem ihrer Ehemänner oder sonst wem, die Vorfreude darüber, dass es bald wieder Frühling ist, und es hat mich beeindruckt, als Frau Köchli sagte, sie fühle den Frühling jedes Jahr genau gleich, im Frühling bin ich so alt wie du, sagte sie zu mir, und ihre Schwester lachte, warum lachst du?, weil es stimmt, antwortete Frau Freuler; und wenn sich die Schwestern auf die Stühle neben dem Bügeltisch setzten, war es nicht deswegen ausserge-wöhnlich, weil sie so lange da sitzen blieben, bis der nächste Kunde kam, sondern weil Mutter und Vater mit den beiden Schwestern auf eine Art scherzten, wie sie es hier nur ganz selten taten, die Schwestern, die mir jetzt, am Eröffnungstag, das Gefühl geben, es gäbe nichts Logischeres, als aufgeregt zu sein, an so einem Tag, das sagen sie mir mit ihrer Herzlichkeit, meine Aufregung, die in ihren sprudelnden Gratulationen eine erlösende Entsprechung findet. * Eröffnungsmenü * Kalbshaxe mit Kartoffelstock und Rübli Dessert Surpris schreibe ich auf die Tafel, stelle sie um halb zwölf vor die Tür, und Vater rüstet mit Dragana den ganzen Morgen Salate, Zwiebeln, Knoblauch, Karotten, Vater, der Dragana zeigt, wie sie die Orangen und Grapefruits zuschneiden soll für das Dessert, wir erwarten keine Armee, sagt Mutter, als sie den grössten Topf sieht, der randvoll mit Kalbshaxen gefüllt ist, die Hälfte würde vollkommen ausreichen, 58 59 wir werden sehen, sagt Vater und verzieht sich beleidigt hinter seinen Topf, Vater, der erst wieder versöhnt ist, als wir ihm sagen, dass seine Haxe hervorragend schmeckt (aber Mutter hat natürlich Recht, wir werden die nächsten Abende zu Hause Haxe essen, weil Vater unter kochen die Töpfe füllen versteht, so Mutter, und es wird Monate dauern, bis Vater sich mässigt, bis Mutter ihm einigermassen das Kalkulieren beibringen kann, Vater, der ausserdem glaubt, dass alle Gäste sein Menü essen sollten, und wenn nicht, dann bringt es ihnen bei, dass es für sie am besten ist, Toast, Bouillon, Salat, hat man denn damit gegessen?, eine Auseinandersetzung, die wir täglich führen werden, weil Vater tatsächlich glaubt, es liege an uns, wenn die Gäste nicht das Menü, sein frisch zubereitetes Menü bestellen). Wo hast du so gut schreiben gelernt, fragt Anita, als wir uns am Mittag gegenübersitzen, ich, mit einem Stück Haxe im Mund, meinst du das im Ernst, frage ich. Ja, im Ernst, antwortet Anita, sie könne sich die Fremdwörter beim besten Willen nicht merken. Das könne sie gut verstehen, meint Nomi, sie könne sich gar nichts merken, sie müsse aufpassen, dass sie Haxe nicht mit ks schreibe, nein wirklich, sagt Nomi, Anita, die den Kopf schüttelt, weil sie vieles kompliziert finde, beim Schreiben, aber Haxe würde sie nie im Leben mit ks schreiben, und Christel, die gerade eine Diät macht und an ihrem Salat knabbert (und Vater damit, für sie unsichtbar, auf die Palme bringt, weil die Frauen, die ständig damit beschäftigt sind, schlank zu sein, ihn fast so nerven wie verhätschelte Hunde und Politiker, wenn sie einen nur zum Gähnen bringen), es gäbe Menschen, sagt Christel, die hätten ein fotografisches Gedächtnis, Ildi, vielleicht hast du ein fotografisches Gedächtnis für Buchstaben, und sie, sie würde sich gern Gesichter für immer und ewig merken, das schon, so Christel! Marlis, die sich mit einer grossen Portion Mittagsmenü hinsetzt, einen guten Appetit wünscht, sich dann dem Essen hingibt, Marlis, die, wenn sie nicht am Essen ist, ständig vor sich hinmurmelt, und wenn man sie anspricht, von ihrem „Hochzeiter" erzählt, der sie bald entführen wird, und sie werde uns alle zur Hochzeit einladen, der „Hochzeiter" habe ihr versprochen, dass es ein riesiges Fest gebe, Marlis, die mit ihren lichtblauen Augen neben der Welt lebt, denke ich, die seit Jahren verheiratet ist und der das Sorgerecht für ihre beiden Kinder entzogen worden ist, wie uns die Tanners erzählt haben, eine arme Seele, sagte Frau Tanner, aber sie tut ihre Arbeit, und es berührt mich auf eine seltsame Art, wie sie Vater Schaff nennt, ihm jeden Tag behutsam auf die Schulter klopft und sagt, Schaff Sie müssen dann kochen, für uns, für meinen „Hochzeiter" und mich! Sprichst du Deutsch, fragt Anita Dragana, die ein bisschen abseits sitzt, noch kein Wort geredet hat, und Dragana lässt sich Zeit mit der Antwort, spreche ich Deutsch, sagt sie dann und zwackt von ihrer Brotscheibe Stückchen ab, lässt sie in die Sauce fallen, nicht viel, aber versteht sie alles, sagt Dragana über sich, tunkt die Brotstückchen und lässt sie rasch im Mund verschwinden (ich schaue weg, weil ich nicht zusehen kann, wie irgendwer irgendwas tunkt, am schlimmsten finde ich, wenn das Croissant sich im Kaffee aufweicht, tropfend in den Mund gesteckt wird), Draga- 60 61 na, die mich überrascht, weil sie ihr Wasserglas ein bisschen in die Luft hebt, mit einer feinen Stimme sagt, Gluck, für euch, für Erofnung! Marlis, die sofort ihre Gabel fallen lässt, „Glück" ruft, Glück hat ein schönes langes Kleid, und von der Seite, da sieht man das Glück gar nicht, und wir lächeln, ein bisschen irritiert, Nomi und ich, wir bedanken uns für die Wünsche, und Christel steht auf, um uns allen einen Kaffee zu machen, bevor es dann losgeht. Da wir, ausser im Service, in doppelter Besetzung arbeiten, kommen wir am Mittag nur massig unter Druck, Anita, die am Mittag so richtig auf Touren kommt, nicht müde wird, darauf hinzuweisen, dass heute nicht soviel los sei wie sonst, dass ein paar Stammgäste ausgeblieben seien (Christel, die meint, der Montag sei doch schon immer labil gewesen), der Salatteller sei kleiner als bei den Tanners, aber gleich teuer, findet Anita, die nicht für sich spricht, sondern für die Gäste, sagt sie, als sie uns vom ersten Tag an mit forschem Schritt und mindestens knielangem Rock alles überbringt, was die Gäste sagen oder wissen wollen: Herr Leuthold meint, der Kaffee sei nicht mehr so stark wie bei den Tanners. Wer ist Herr Leuthold? Der Herr da drüben, in der Ecke. Der Kaffee ist immer noch genau so stark, sagt Nomi, das kannst du Herrn Leuthold gern sagen (Nomi, deren Stimme nicht einmal im Anflug zittert). Frau Zwicky finde die neue Tapete ausserordentlich schön und festlich, was Geschmacksache sei, sagt Anita. Danke, dass du uns auf dem Laufenden hältst, aber wir müssen nicht alles wissen, und Nomi weicht Anitas Blick nicht aus, bleibt freundlich; ich verstehe das nicht, ihr könntet doch daraus lernen, von dem, was die Gäste sagen, so Anita, ja, stimmt, Anita, danke! Und bereits am Abend, nach unserem Eröffnungstag, als wir mit Mutter und Vater erschöpft am Personaltisch sitzen, den Tag nochmals rekapitulieren, alle der Meinung sind, dass es eigentlich ziemlich gut gelaufen sei, zwar nicht ganz so viele Gäste gekommen seien, wie wir erwartet hätten, aber die Schwestern, ja, die Schwestern, und dass sie am Nachmittag nochmals gekommen seien, um Kuchen zu essen (wir werden schön rund und dick — wenn wir jeden Tag zu Ihnen kommen, doch das können wir uns leisten — in unserem Alter!, eine Eigenart, die wir an Frau Köchli und Frau Freuler lieben, dass die eine einen Satz beginnt, die andere ihn beendet), schon an diesem Abend, als wir noch lange Zeit brauchen, um den Tag abzuschliessen, machen Nomi und ich Sprüche über Anita, wir nennen sie Hanuta, die keinen einladenden, sondern ausladenden Hintern habe, sie habe jeden zweiten Satz mit „also bei den Tanners war das" ... angefangen, Anita, die eine Nullnummer sei, die sich ständig aufspielen müsse, weil sie ja den Betrieb, im Gegensatz zu uns, in- und auswendig kenne ... Wir sind noch nicht fähig zu erkennen, wer Anita ist, aber in den nächsten Tagen und Wochen werden ihre Sätze immer unmissverständlicher: Ich wäre auch gern ein Asylant, fünf Franken am Tag, Ildi, damit lässt es sich doch leben, oder?, Anita, die laut darüber nachdenkt, ob wir den Tanners Schmiergeld bezahlt hätten, ansonsten hätten sie doch nicht ausgerechnet uns das Mondial übergeben (das sage ja nicht sie, sondern die Gebrüder Schärer und ein paar andere). Als Nomi anfängt, 62 63 ihr mit weit aufgerissenen Augen unsinnige Antworten zu geben wie: Das ist so, wir müssen die Antarktis retten, im Winter tue ich nichts lieber als Kerzenziehen — und ich, die Anita zusieht, wie sie bei gewissen Gästen lange stehen bleibt, abgedreht, ein bisschen zu nah an Köpfen, Ohren, und die Irritation, dass Anitas Gesicht mich immer an die Kunststoffhemden erinnert, die man nach dem Waschen nicht bügeln muss — als wir uns fast schon an Anita gewöhnt haben, kündigt sie, auf Ende Januar, was deswegen möglich ist, weil sie mit Mutter eine einmonatige Probezeit ausgehandelt hat, in der sie innerhalb der Monatsfrist kündigen kann, und Mutter zeigt mir im Büro den eingeschriebenen Brief: Sehr geehrter Herr Kocsis, sehr geehrte Frau Kocsis, hiermit kündige ich meine Anstellung als Serviertochter auf den 31. 1. 1993. Mit freundlichen Grüs-sen, Anita Kunz. Ein paar Tage später kündigt Christel, und es vergeht kaum ein Tag, an dem sie nicht entschuldigend erklärt, warum sie gekündigt hat, ihr Freund sei sehr eifersüchtig, er wolle nicht mehr, dass sie im Service arbeite, sie habe vor, eine neue Ausbildung anzufangen, im Bereich Astrologie, was ich denn eigentlich für ein Sternzeichen sei, Zwilling? Das habe sie sich schon gedacht, und sie habe schon lange einen Kinderwunsch, und sie habe das Gefühl, sie werde nicht schwanger wegen ihrer Arbeit, und ehrlich gesagt finde sie es auch schwieriger, im Mondial zu arbeiten, seit die Tanners weg sind, die Leute würden sie so viel fragen, und am Abend habe sie manchmal einen ganz wirren Kopf, sie könne sich nicht helfen, aber die Leute machten sie ganz schwindlig mit ihrer Fra- gerei, sie wisse manchmal selbst nicht mehr, wie sie heisse. Christel, die ich gern gemocht habe. Erst später erfahren Nomi und ich, wie es zu Anitas Kündigung gekommen ist; Anita, die zu Vater gesagt hat, die Waren würden vom Fliessband fallen, wenn er mit diesem Tempo in einer Fabrik arbeiten würde, und Anita klopfte ein paar Mal mit der flachen Hand auf das Brett, wo Vater normalerweise das Brot schneidet, und sie hat ihm zugezwinkert, lachend, als er nicht reagierte, weiter in seinem Topf rührte. Herr Kocsis, das war doch nicht ernst gemeint, nur ein blöder Witz, sagte Anita, die offenbar darüber erschrak, dass Vater sie ignorierte, ihr dann die Kochkelle hinstreckte und fragte, warum sind Sie noch hier, wollen Sie meine Sauce probieren? Mutter, die Vater von seiner Entscheidung, Anita zu kündigen, hatte abbringen wollen, obwohl sie wusste, dass es unmöglich war, ihn aber davon überzeugen konnte, es sei besser, wenn Anita nahegelegt werde, selber zu kündigen, dann werde auch nicht soviel geredet im Dorf. Vater war zwar darüber aufgebracht, dass Anita ihn mit ihrem Spruch bezüglich seines Arbeitstempos beleidigt hatte, aber nicht das hat den Ausschlag gegeben, sondern dass Vater grundsätzlich humorlosen Menschen misstraut, wenn sie sagen, das war nichts, nur ein Witz. 64 65