Tauben fliegen auf (2010) Melinda Nadj Abonji Lyrik und Diskriminierung: ein Widerspruch? •Wie? •„Stimmungszauber“ •„Was für eine Fantasie!“ •Was? •Diktatur •Auswanderung, Heimatverlust •Selbstverleugnung, Überanpassung •Demütigung •Balkankrieg •Entwurzelung •Orientierungsverlust Vielleicht lass ich Sie noch kurz in gespannter Erwartung Melinda Nadj Abonji •Geb. 1968 in der Vojvodina •Familie Mitte 70er in die Schweiz ausgewandert •Musikerin, Performerin •Tauben fliegen auf (2010) ist ihr erster Text, der das Thema Migration bearbeitet •Deutscher Buchpreis und Schweizer Buchpreis 2010 • Tauben fliegen auf: Figuren und Handlung •Familie Kocsis: Einwanderergeschichte •Großeltern, Vorgeschichte in Titos Vojvodina •Heimat auf Distanz •Schweiz –Generationskonflikte –Cafeteria als Parallelwelt –Dalibor VS. Schweizer Freiheitskämpfer –Ein mögliches Dazwischen? – • Erzählen: „Ausschussfotos“ (312) •„Und zuoberst liegt der gelbe Briefumschlag, in dem ich meine Fotos aufbewahre; ich die Fotos nie einkleben oder einrahmen wollte, suche ein paar heraus, befestige sie mit Stecknadeln über dem Kopfende meines Bettes, ich, die kein bestimmtes Ordnungsprinzip hat, achte nur darauf, dass die Fotos sich berühren, und als ich vierzehn war, habe ich angefangen, Fotos zu sammeln, die meine Eltern weggeworfen hätten, ……….. „Ausschussfotos“ •„… Ausschuss steht auf dem gelben Briefumschlag, angeschnittene Köpfe, Fotos ohne erkennbare Sujets, und ein verwackeltes Foto mit starkem Gelbstich, das ich besonders gern mag: Nomi und ich, wie wir uns gerade wegdrehen (ein plötzlicher Windstoß, der uns Sand ins Gesicht wehte), unsere Körperhaltung, die eine abrupte Bewegung erahnen lässt; vor allem aber erinnert mich das Foto daran, wie wir mit Sand in Augen, Nase, Mund gelacht haben, endlos lange.“ (312) Nichts bleibt hier harmlos •„Hier bleibt nichts im Ungefähren stecken, nichts bleibt harmlos, die Dinge werden beim Namen genannt. Es tut der Geschichte gut, dass nicht Wetterlagen, Tiere oder Gegenstände herhalten müssen, um Konflikte und Ängste zu verkörpern.“ (FAZ-Rezension, September 2010) –Beispiel: die Tauben? S. 20, 112, 117, 152, 190, 232 Erzählweise •Atemlos •„…ich, die mit einem Ohr meinen Eltern zuhört, unterhalte mich fast lautlos mit Nomi darüber, wie unsere Freundinnen auf unser Traubisoda reagieren würden, Betty sagt bestimmt, nicht schlecht, aber nichts Besonderes!...“ (S. 16) VERSUS •S. 293f.: Abschied vom Mondial und den Eltern • Sprache als Musik, als kreativer Fehler •„Schreiben ist für mich auch Musik, immer.“ •„Wie muss ich die Satzzeichen setzen?“ •„Magerdeutsch“ •„Eine ungarische Melodie im Deutschen hörbar zu machen.“ •„Die Schönheit der Fehler hörbar zu machen.“ Kein Widerspruch: Sprache •„Ich habe es nie jemandem gesagt, aber ich liebe diese Ebene, die sich zu einem trostlosen Strich verdünnt, nicht das sie einem schenkt; vollkommen allein in dieser Ebene, von der du nichts wollen kannst, auf die du dich höchstens legen kannst, mit ausgebreiteten Armen, und das ist der Schutz, den sie dir gewährt.“ Kein Widerspruch: Sprache •„Wenn ich gesagt hätte, dass ich Matteo liebe, dann hätten mich womöglich die meisten verstanden, aber wie sagt man, dass man eine Ebene liebt, die Pappeln, staubig, gleichgültig, stolz, und die Luft dazwischen? Im Sommer, wenn die Eben um ein Stockwerk gewachsen ist, Sonnenblumen-, Mais- und Weizenfelder, wo du nur hinblickst, und man erzählt, dass immer wieder Menschen in den endlosen Feldern verschwinden, wenn du nicht aufpasst, packt dich die Ebene und frisst dich auf, sagt man, und ich glaube nicht daran, ich glaube, dass die Ebene ein Meer ist, mit eigenen Gesetzen.“ „Alles noch da?“: Die Unruhe des Ankommens •„… und ich, die in ängstlicher Genauigkeit das Zimmer inspiziert, mit einem Blick die Kredenz, den Haussegen, die Flickenteppiche sucht, hoffe, dass alles noch so ist wie früher, weil ich, wenn ich an den Ort meiner frühen Kindheit zurückkehre, nichts so sehr fürchte wie die Veränderung: Das Erkennen der immergleichen Gegenstände, die mich vor der Angst schützt, als Fremde in dieser Welt dazustehen …“ (S. 13) Balkan-Bild •„ob alles noch so ist wie im letzten Sommer und all die Jahre zuvor“ (S. 5) VERSUS •Schweizer Chevrolet als „Zivilisation, hier zum Stillstand gebracht“ (S. 12) •Balkankrieg (S. 156) und Real Big Men (S. 219) •Zielgruppe? •„postkartenhaft“? Vater sagt das mit „kleiner Stimme“ Erinnerung •„Erinnerung ist ja auch Verunsicherung, das Entgleiten von Erinnerung“ –Die Fahrt nach Belgrad (S. 173, S. 212) •„Ein enger Schauplatz, von dem aus auf andere Schauplätze verwiesen wird: so funktioniert ein Erinnerungstext“ •„Es soll nicht das Gefühl entstehen, das ist eine nostalgische Erinnerung, sondern ein Raum“ Kapitel „Die Familie Kocsis“: •1. Anpassung (Kosten und Erwartung): 44 unten, 45 Mitte, 49 oben, 51 unten) •2. Kränkungen, Demütigungen (47 Mitte bis 48 unten, 51 Mitte, 62 bis 63 oben) –2.a Kündigungen (63-65) •3. Sprache und Erzählstil (46 Mitte, 47) •4. „Die direkte Demokratie“ (S. 53) Überanpassung •„Wir haben hier noch kein menschliches Schicksal, wir müssen es uns zuerst noch erarbeiten.“ (S. 85) Schweiz-Bild •Kapitel „Familie Kocsis“ –Anpassung –Aufnahme •Einbürgerungsprüfung (S. 147f.) •Jugendrevolte •„Hände in der Luft“ (vorletztes Kapitel) •Danksagung! „Hände in der Luft“ •„Fräulein, darf ich Ihnen etwas sagen?“ •„Wir sind ein Herz und eine Seele geworden, ich und das Fräulein.“ •„… und das Wasser erweckt die fast schon eingetrocknete Scheiße zu neuem Leben, ein Dorf, fast eine Kleinstadt“ •„Wer für die Einbürgerung der Familie Kocsis ist, erhebe die Hand“ •„Ich will einen eindeutigen Hass empfinden gegen jemanden.“ •„Ich verbringe ab jetzt meine Zeit mit den Toten.“ •„Morgen werde ich nicht die Tafel schreiben, sondern Anzeige erstatten gegen unbekannt.“ •„Das nette Fräulein endlich abschütteln, will verschwinden aus dem halbierten Leben.“ •„Wenn wir uns jetzt nicht wehren, dann sind wir niemand mehr.“ • •„Großbuchstaben aus Vollrahm“ Letztes Kapitel: „November“ •Motivisch parallel zum ersten Kapitel aufgebaut (9f. und 314f.): –Ebene, Bäume mit „Platz zum Wachsen“ –Allerheiligen, Friedhof, Blumen für die Toten – „Geglückte Integrationsgeschichte“? •Loskommen von den Eltern, Wiederaufnahme der Beziehung zu der Schwester •„Melting pot“ Europa • •Haus an der West-Tangente („Attraktion am Fenster, weil ich da wohne, wo man bloß eines will: ungehindert weiterfahren, vorbeifahren.“, 302) •Friedhof Sihlfeld Letztes Kapitel enthält viele Parallelen zur Vojvodina (Hausmeisterin Frau Gründler X Mamika, Friedhof Sihlfeld X die nordserbische Ebene, Tote hie und da). Hier kommt also Ildiko an. Ildi: sammelt „Ausschussfotos“ (312). Letztes Kapitel: Frau Gründlers Bemerkungen über Ausländer, frz. Gitarrenspieler, span. Cafe, tschech. Trödler, japanische Bäume. Die Westtangente: Ildi sitzt dort fast ständig, keine Fenstervorhänge, wird als Frau Kotschi angesprochen. Tauben und Tendenzen •„Erinnerungsliteratur“ •„Familienroman“ (von Töchtern) •„Migrantenliteratur“ –„Klug wie seine Erzählerin ist der Roman selbst, der auf innige Bilder eines verwehten Glücks scharfsichtig kritische Passagen folgen lässt. Melinda Nadj Abonji ist ein starker Beweis dafür, dass es längst die Immigranten sind, die der deutschsprachigen Literatur neue Themen, Schauplätze, Klänge gewinnen.“ (Karl Markus Gauß, SZ, Oktober 2010) •