Goldberc viertel, r woander bald gin< beerdigt begleitet Ferdinan kommen seinem £ neuen H> anzufanc gelang v etwas, » seinen vi 1 »Wie der rennt«, sagte die Wirtin vor sich hin und drehte langsam den Kopf. Ihr Blick war aus dem Fenster gerichtet. Keiner der paar vereinzelt stumm Herumhockenden reagierte darauf, niemand achtete darauf, jeder war in seinen eigenen ewigen zwei, drei Gedanken versunken. Aber es fiel der Wirtin nicht auf, dass niemand ihr zuhörte, denn sie redete auch gar nicht mit jemandem -bloß mit sich selbst. Jetzt verschwand er hinter der Mauer und tauchte einen Moment später im anderen Fenster wieder auf: ein wehender dunkler Fleck.. Er kam näher, lief an den wie mit Gewalt violett blühenden Fliederbüschen vorbei, die den Weg zum Gasthaus an einer Seite säumten. Sie blühten erst seit wenigen Tagen. Sogar die Luft schien violett, und das Gesicht des Burschen, wie die Wirtin über den längst über Zwanzigjährigen dachte, seine weißen Hände, seine dunkle, an allen Enden zu kurze Kleidung ebenso. Seit Krieg war, herrschte über die Wirtin der Zweifel. Er herrschte wie eine fremde, unbegreifliche Macht. Nie hatte sie zur Nachdenklichkeit geneigt - jetzt war sie nachdenklich, außerdem war sie langsamer geworden; das hing zusammen. Unter den Füßen des Burschen staubte der Schotter auf und hielt sich in der Luft wie gelber Nebel. Ja, sie war nachdenklich. Und in diesem Moment, heimgesucht von unzähligen, unbenennbaren Erinnerungen, wurde sie zusätzlich wehmütig, und sie murmelte: »Zum Teufel, nur die Wahnsinnigen rennen mit einer solchen Entschlossenheit.« Ihre Augen waren durch die ganze Gaststube gewandert, und ihr Blick lag nun auf der Tür und wartete. Als die Tür mit einem 9 dumpfen Laut aufflog, sah ihn die Wirtin nicht sofort; zu sehr blendete sie das noch in der einsetzenden Dämmerung silberweiße Licht, das seit kurzem herrschte und voreilig schon jetzt, Ende April, den Sommer ankündigte. Ein Licht wie ein Versprechen, so kam es der Wirtin vor, und sie fiel noch einmal tiefer in die Wehmut hinein. Sie spürte in den Eingeweiden, wie sie fiel. Staubteilchen tanzten von unten nach oben golden blinkend durch die Luft. Erst nachdem lilafarbener weicher und warmer Fliederduft die Gaststube erfüllt hatte, als gäbe es nicht den dichten grauen, fast stehenden Pfeifenrauch, sah sie sein Gesicht. Es zitterte als ganzes, die Stirn stand unter Schweiß, und von den schönen vollen weißverkrusteten Lippen hing ein dünner, noch in der dunklen Gaststube glänzender Speichelfaden. »Komm her, Franzi«, sagte die Wirtin mit milder Stimme, und der Bursche kam mit platten Schritten an sie heran. Sie stellte das dickwandige schwere Bierglas, das sie seit über einer Minute in der Hand gehalten hatte, ab und kam hinter der Theke hervor. Sie trat nah an ihn heran und wischte mit dem Rockzipfel den Speichel weg. Gleich darauf fuhr Franz sich mit dem Handrücken, offenbar plötzlich beschämt, über den Mund, einmal, und dann, mit der anderen Hand, noch einmal. Er schnaufte laut. Die Wirtin, abwesend und zärtlich zugleich, zupfte ihm hellgraue Pappelsamen aus den an den Spitzen schweißnassen hellen Haaren. War die Stirn von den Haaren oder waren die Haare von der Stirn nass geworden? Wenn sie ihn so vor sich hatte und ihn halb ansah, halb durch ihn hindurchsah und die gewichtslosen Pappelsamen auf ihren Fingerkuppen spürte, fühlte sie sich wie in einer anderen, besseren Zeit. Er erinnerte sie an unbeschwerte Tage - an die Zeit vor dem Krieg, die ihr jetzt ausnahmslos unbeschwert, farbenfroh und fröhlich, von lachenden Stimmen durchweht vorkam. »Was rennst du so, Franzi?«, fragte sie und dachte dabei, dass ihn in der Zwischenzeit niemand mehr so nannte, auch sie sonst nicht. Er war, ob man es ihm ansah oder nicht, längst ein erwachsener Mann. 10 Er stand da und starrte sie an. Dann drehte er sich um, streckte den Arm aus und stieß mit dem Finger mehrmals in die Luft; er zeigte nach draußen. »Was ist dort, Franzi?« Noch einmal stieß er in die Luft. Doch die Wirtin zuckte nur mit den Schultern, und Franz hörte auf zu zeigen. Obwohl er sie verstand, konnte er ihre Sprache nicht sprechen. Seine Zunge folgte ihm einfach nicht. Er konnte auch nicht zeichnen. Und seine Zeichen, Fingerzeige, Armbewegungen und anderes, die seine Sprache waren und alles enthielten, verstand fast niemand; nur seine Mutter, und, aber nur manchmal, sein Bruder. Und in seinen Augen, in denen seine Sätze, seine ausformulierten Gedanken noch einmal liefen, wusste gar niemand zu lesen. Die Wirtin seufzte, blies die Pappelsamen aus der Hand, verschwand wieder hinter der Theke und füllte ein kleines Glas Bier aus einer angebrochenen Flasche. Was soll es schon groß schaden, dachte sie und gab Franz das Glas. Blöder kann er nicht mehr werden. Das Glas war warm. Er nahm es mit beiden Händen, und dann, nach kurzem Zögern, stürzte er es hinunter. Er atmete schwer. »Oh!«, stieß er dann hervor. »Oh!« Er versuchte es noch einmal und blickte die Wirtin tief an. Und durch seine Augen lief, wieder und wieder, während er die Wirtin anstarrte: »Ein Ross! Ein Ross! Ich habe ein Ross gesehen! Komm mit! Ich zeige es dir! Es zieht einen Wagen. Ich sehe es seit Stunden kommen. Es taucht auf und verschwindet wieder zwischen den Hügeln und hinter Waldflecken und taucht wieder auf. Und manchmal bleibt es auch lange stehen. Zuerst wusste ich nicht, ob es kommt oder geht, aber jetzt weiß ich, es kommt. Es wird immer größer und zieht einen Wagen, und ein Mann sitzt auf dem Bock und bewegt sich nicht. Komm schon mit, ich will es dir zeigen!« Aber so tief sie in seine unergründlichen Augen auch blickte, die Wirtin konnte diese Sätze nicht lesen, und auch seine unmenschlichen, traurigen Laute verstand sie nicht. »Geh wieder an die Arbeit, Franzi«, sagte sie und lächelte ihn 11 an. Und von einem der Tische hörte man jemanden brummen: »Und mach die Tür hinter dir zu, du Narr. Es zieht wie in einem Vogelhaus!« Franz sah jetzt zum ersten Mal zu den Tischen, wo da und dort einer in sich zusammengesunken saß, ein Schnapsglas vor sich, mancher mit kurz- oder langstieliger, vielleicht seit langem erkalteter Pfeife in der Hand. Niemand sah her. Da begriff er, dass man ihn nicht verstehen konnte, und seine angespannten Arme wurden mit einem Mal locker. Die Fäuste öffneten sich. Er wartete noch einen, zwei Herzschläge lang, bevor er sich umdrehte und ging, das am Ortsrand stehende Gasthaus verließ, und hinter sich vorsichtig und fest die Tür schloss. Jedesmal Begreifen war wie das erste Mal; jede Enttäuschung war die erste. Er lief jetzt nicht mehr, sondern schritt langsam, antriebslos dahin, gehend allein deshalb, weil er nicht hatte stehenbleiben können und auch jetzt nicht stehenbleiben konnte. Wenn er lief, spürte er kaum ein Gewicht, ganz so, als flöge er. Wenn er ging, war ihm, als hätte er Holzscheite an den Fußsohlen angebunden. Er wackelte hin und her, und es sah oft aus, als gingen zwei, die an je einem Bein am anderen festgebunden waren - nur dass der eine eben unsichtbar war. Langsam und schwer geworden ging Franz an den duftenden Fliedersträuchern vorbei zu dem Feld zurück, auf das man ihn zum Arbeiten geschickt hatte. Dort angekommen nahm er seinen auf die in die Erde gerammte Gabel gehängten Hut, setzte ihn auf und schaute hartnäckig nicht mehr in die Richtung, in die er seit einigen Stunden immer wieder seinen Adlerblick geschickt hatte. Jetzt war es ihm einerlei, wer da daherkam, ob überhaupt jemand daherkam. Vielleicht würden sie vor dem Dorf abbiegen und eine andere Richtung einschlagen, noch weiter Richtung Süden. Vielleicht würde er sie nie wiedersehen. Es war ihm egal. Er wandte ihnen den Rücken zu. Wenn sie aber doch weiter auf das Dorf zuhielten und schließlich an ihm vorbeiführen, nahm er sich vor, er würde nicht einmal den Kopf drehen, geschweige denn hinschauen. Es dämmerte, und er hätte nach Hause gehen können. Aber selbst, als es schon dunkel geworden war, arbeitete er noch. Das näher und immer näher kommende müde, schwere gleichmäßige Hufschlagen, die hilflose Wut und sein Vorsatz, nicht hinzuschauen, hatten ihn vergessen lassen, aufzuhören und nach Hause zu gehen. Und dann schaffte er es doch nicht, seinen Vorsatz einzuhalten. Mittendrin hörte er auf in seiner Arbeit, ließ das Werkzeug aus der Hand fallen und ließ sich, nicht ganz mit Absicht, auf die kühle schwarze Abendluft ausatmende Erde nieder: Er machte eine Drehung auf einem Absatz, verlor das Gleichgewicht und plumpste nach hinten auf den Hosenboden. Ungeheuer groß war das fuchsfarbene, stämmige, heiß schnaubende Pferd geworden. Es hatte riesige zottelige Beine, die Franz im ersten Moment wie sich bewegende Baumstämme vorkamen. Es stampfte und schnaubte wie eine Maschine. Das Hufschlagen auf dem Schotter hallte sehr laut. Und jetzt hörte er auch die vier Räder des Wagens knirschen und die Achsen in einer bestimmten Regelmäßigkeit quietschen. Franz hob den Blick und wich sofort zurück; er beugte den Oberkörper so weit als möglich nach hinten, bis er auf den Ellbogen lag. Auf dem Bock saß ein uniformierter Mann und starrte ihn an. In der einen Hand hielt er einen Zettel. Die Zügel hingen lose. Der Mann hatte ein dunkles und, so empfand Franz es, böses Gesicht, wie vor Bosheit so dunkel geworden. Dass der Mann mit seinem schmalen Mund zu lächeln schien, änderte daran nichts. Er sah jeden Zug, jede Falte dieses regungslosen, wie gemalten Gesichts. Als fiele ein Schatten auf seine Seele und zöge unendlich langsam vorbei, war es Franz, und er atmete auf, als er das Gesicht nicht mehr sah. Es war bereits Nacht, aber jetzt war es noch einmal Nacht geworden. Der Mann mit dem Zettel hatte ausgesehen wie ein Bote, wie einer, der eine schlechte Nachricht bringt. Und irgendwie ausdruckslos und wissend zugleich, schwarz wie ein Vogel, wie ein schwarzer Vogel, eine Krähe. Nacht. Und doch wurde es einen Moment lang später wieder Tag: Denn als der schwere Wagen endlich an Franz vorbei- 12 15 gezogen war, tauchte, wie eine aufgehende kleine Sonne, ein Mädchen, eine junge Frau auf. Sie saß hinten im Wagen und erschrak nicht, als sie Franz sah, sondern lächelte. Wie viel anders dieses Lächeln war als das seltsame, undeutbare, ja Furcht einflößende von eben! Vielleicht war überhaupt das Lächeln das Furcht einflö-ßendste an dem Mann gewesen. Da, nach einer Schrecksekunde seinerseits, war es Franz, als würde es Tag, und er wollte zurücklächeln, aber seine Gesichtsmuskeln gehorchten ihm so wenig wie seine Zunge. Trotz der Dunkelheit hatte er alles genau gesehen. Und vor allem hatte er die Augen des Mädchens, das nur wenige Jahre jünger sein mochte als er selbst, gesehen. Etwas an ihnen hatte ihn angezogen. Aber er kam nicht dahinter, was es war. Er rappelte sich hoch, stand auf und sah sie in der Nacht verschwinden. Sie lösten sich gleichsam darin auf, wie Wasser in Wasser. Abend, Nacht, dann noch einmal Nacht, und gleich darauf Tag, und jetzt wieder Nacht. Wie verwirrend schnell die Zeit vergangen war! Den ganzen, eineinhalb Kilometer langen Nachhauseweg kam er nicht dahinter. Und als ihn zu Hause seine seit seiner Geburt - und seit dem Ausbruch des Krieges noch mehr, und endgültig -verzweifelte Mutter ausschimpfte, hörte er nicht hin, weil er nachdachte. Er hörte ihre Worte, die ihn sonst oft so verletzten, nicht, hatte auf einmal kein Gehör mehr für sie. In sich gekehrt aß er zu Abend. Lange blieb er sitzen. Irgendwann verschwand das rätselhaft verschlungene, verästelte Blauweiß, das er zuvor freigelegt und, zuerst mit Brot, dann mit seiner Zunge gesäubert und in das er dann gestarrt hatte, und als er ihm nachsah, sah er bloß seine Mutter, die ihn aufscheuchte, und er erhob sich endlich. Sie hielt den Teller in der Hand und schüttelte den Kopf. Warum, fragte sie sich jeden Tag aufs neue, hatte man nicht den anstelle des anderen eingezogen? Sie sah ihn mit erdverklebten Ellbogen und Unterarmen ins Badezimmer gehen. Die Hände waren ohnehin immer schmutzig. Aber was hatte er heute gemacht? Sich im Dreck gewälzt? Wie breit sein Rücken war. Breit wie ein brei- tes Brett, wie eine Kastenwand. Ein Kasten mit Beinen und dreckverschmierten Armen. Im Badezimmer stand Franz lange vor dem an den Rändern bleifarbenen, blind werdenden Spiegel und betrachtete sich und sein Gesicht, über das er keine Kontrolle erlangen konnte. Und wie er so stand und schaute, fiel es ihm auf einmal ein: die Augen des Mädchens - es war, als hätte er in einen Spiegel geblickt. Da war die hilflose Wut darüber, dass er mit niemandem die Neuigkeit teilen konnte, ausgelöscht. Denn dass jemand durch das Dorf kam, war keine kleine Neuigkeit in diesen Jahren, in denen alle Bewegung auf ein Mindestmaß zusammengeschrumpft schien - beziehungsweise ausgelagert, und zwar an die unaussprechlichen, eisern und kalt klingenden Kriegsschauplätze, die man nur aus dem Radio und den Briefen der Männer, Söhne, Brüder halbwegs kannte; und aus den Todesanzeigen. Glücklich legte er sich zu Bett und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf. -Mit dem Augenaufschlagen im ersten Morgendämmer war er sofort wieder so glücklich wie am Vorabend; als wäre keine Zeit dazwischen vergangen. Ohne etwas zu essen ging er aus dem Haus. Er dachte einfach nicht daran; und es zog ihn magnetisch hinaus. Den ganzen Tag auf dem Feld waberte der schöne Traum der letzten Nacht durch ihn, der schöne Traum von einem hinten auf einem Wagen sitzenden, wie eine kleine rosarote Sonne aussehenden Mädchen, das seine Augen hatte. So war und blieb Franz Wagner der einzige Einheimische, der, weit, weit hinten in seinem oft so müden Kopf, wusste, wann die Goldbergers ins Dorf gekommen waren. Auch die Wirtin hatte den Tag vergessen, an dem der arme Schwachsinnige auf einmal aufgeregt dagestanden war; denn die mit Warten auf das Kriegsende leer ausgefüllten Tage zogen namenlos an ihnen allen vorbei. Aber sie hatte, vielleicht aus Langeweile, vielleicht weil sie etwas ahnte und es ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen war, doch davon erzählt, und so reimte man sich richtig zusammen, dass Franz Wagner es gewesen war, der sie als Erster sah. 14 15 2 Der Uniformierte lenkte den Wagen auf einem schmalen Weg mit breiter Grasnarbe am Dorf vorbei. Er blickte in den Himmel. Kein Mond war zu sehen; lockere weiße Wolken lagen wie Schleier im Himmel und verdeckten ihn. Die duftende Luft schlug von blauschwarz in schwarz um. Es musste gegen neun Uhr gehen. Dieses Dorf war, wie alle auf dem weiten staubigen Weg hierher, ausgestorben. Mit dem Einbruch der Dunkelheit wurden die Vorhänge vorgezogen, und niemand ging mehr auf die Straße. Es war nicht anders gewesen - dort, wo sie herkamen, aus der deutsch-österreichischen Grenzregion. Er konnte es sich nicht abgewöhnen, »Österreich« zu denken. Dabei gab es kein Österreich mehr, sondern nur noch ein einziges großes Reich, das Reich aller Deutschen, an das er glaubte. Sein Blut erhitzte sich, immer noch, wenn er über die Größe nachdachte und darüber, dass seine Heimat Teil dieser Größe war. Rätselhafte Erhitzung: ein Gedanke genügte. Und nicht nur das: Er, Ferdinand Goldber-ger, war selbst Teil dieser Größe, als wichtiges Rad im Verwaltungsapparat; er war Partei-Ortsgruppenführer. Auf der Fahrt hatte er sein Alter gespürt, fast übertrieben, wie ihm vorgekommen war. Er war Anfang sechzig. Wie große, scharf umrissene Schatten zogen in einiger Entfernung die Häuser vorbei, als wären sie es, die sich bewegten, als stummes Begrüßungskomitee vorbeidefilierten. Er sah die Menschen, Alte und Frauen und Kinder, hinter den gelben flackernden Fenstervierecken und genauso hinter den schwarzen Mauern. Innerlich nickte er ihnen zu. Das war also sein neues Dorf. Rosental. Der handgefertigte Plan, den man ihm zusammen mit der ihn als neuen Besitzer des Gutes ausweisenden Urkunde übergeben hatte, war leicht zu lesen, und er fand das Haus wie er das Dorf gefunden hatte, auf Anhieb und ohne nur ein einziges Mal fra- gen zu müssen. Es lag, gerechnet in dem Tempo, welches sie einhielten, eineinhalb Stunden außerhalb des Dorfes - Goldberger schätzte, und das stimmte auch ungefähr mit dem Plan überein: vier Kilometer - auf einer Anhöhe. Waren all die Häuser, an denen sie vorbeigekommen waren, schwärzer als die Nacht gewesen, begann dieses hier, auf das sie langsam, stet zuhielten, auf einmal kalkweiß zu leuchten. Der Mond hatte sich hinter den damit ihr Weiß verlierenden Schleierwolken vorbeigeschoben und stand nun, immer noch tief östlich, höher am Himmel. Goldberger achtete aber nicht auf den Mond. Ihm war, als leuchtete das Haus von sich aus. Sein Haus, natürlich leuchtete es! Und es war das einzige, das auf einem Hügel stand. Wieder loderte das Feuer in ihm auf, und sein Atem beschleunigte sich. Er zog die lange nicht benutzte Peitsche aus dem Stiefelschaft und trieb, während das Haus aus seiner Sicht schwand, den müden, unter den Schlägen überrascht aufwiehernden Noriker den Hügel hinauf. Wirklich, wenn auch lediglich für wenige Schritte, fiel es fast in etwas wie Trab; es wollte den Schlägen davonlaufen. Nun tauchte das Haus wieder auf. Oben angekommen nahm er die Zügel in die Hand und zog sie an; mit einem Ruck, einen Herzschlag nach dem Tier, kam der Wagen rumpelnd zum Stehen. Goldberger stand auf und blickte sich um. Alles war in Nacht getaucht; nur einzelne Bäume, und, Richtung Osten und Westen, Wände aus Nadelbäumen konnte er ausmachen. War das in der Ferne, fünf-, sechshundert Meter südlich von hier, ein Haus? Das einzige Licht, das zu sehen war, kam ebenfalls aus Süden, von den Bergen her. Goldberger nahm die Streichholzschachtel aus der Brusttasche, öffnete sie, fingerte ein Streichholz heraus, riss es an und besah den Plan. »Das«, murmelte er, blies das Streichholz aus und blickte wieder in Richtung des flackernden Lichts, vielmehr der Lichter, »das da muss Magdalenaberg sein.« Er nahm sich vor, diesen Wallfahrtsort bald aufzusuchen, vielleicht sogar zu Fuß, um zu beten. In tiefen Zügen atmete er die klare, kühle Nachtluft. »Sind wir da?« Das Mädchen stand, einen schon welken Strauß 16 17 Flieder in der Hand, neben ihm. Ihr Gesicht war im Mondlicht weiß wie die Hausmauern. Sie fragte, um irgendetwas zu sagen. Es war der erste Satz seit Tagen. Es war der einzige Satz, der ihr einfiel. Sonst hatte sie immer bloß geantwortet: »Ja.« »Nein.« Er hatte sie nicht abspringen gehört, ihre Schritte über den Erdweg nicht gehört. »Ja«, sagte er zu dem Mädchen und zu sich selbst. »Ja.« Die ganze Fahrt über hatte sie lautlos geweint. Hinten in dem Wagen, zwischen scheppernden Töpfen und rumpelnden Möbelstücken sitzend, hatte sie ihre Welt verschwinden sehen; die Hügel samt allem, was sie gekannt hatte, kennengelernt in einundzwanzig langen Jahren, verschwanden in der Ferne; sie fuhren, langsamer als Schritttempo, über ihre verebbenden Reste. Es war diese zähe Langsamkeit, die dem Verschwinden eine Endgültigkeit verlieh. Einzig der Flieder, der eines Morgens plötzlich und um Wochen zu früh aufgeblüht am Wegrand stand und alles in seiner Umgebung lilafarben machte, konnte sie ein wenig trösten. Jetzt war das, weshalb sie geweint hatte, weg; mit dem Stehenbleiben, mit der Ankunft war es ausgelöscht, zumindest für den Moment. Sie war ratlos: Wie gern wäre sie noch weitergefahren und hätte noch weitergeweint. Sie hatte sich daran gewöhnt. Vier Tage waren sie gefahren. Sie hatten oft gehalten. Das Pferd war nicht mehr ganz jung. An den Seiten war es durch das Fell hindurch wundgescheuert. Vier Tage, und sie wäre noch gern länger gefahren. Aber es war nichts zu machen. Von fern blinkten Lichter. Wie viele mochten es sein? Und woher kamen sie? Kamen sie von einem Berg herunter? Sie mochte keine Berge; sie fürchtete sie. »Martha«, sagte da Goldberger, der abgestiegen war, »hol die Kiste mit dem Essen. Und die Decken. Warte auf mich. Und dann gehen wir hinein.« - »Ja, Papa.« Und sie ging wieder um den Wagen herum, legte den Fliederstrauß auf die noch warmen Planken, auf denen sie gesessen war, und holte die Dinge. Inzwischen spannte Goldberger das Pferd aus, band ihm ein / Halfter um und führte es daran durch das große und hohe, offenstehende Holztor in den Innenhof, wo es eine Tränke gab. Goldberger hielt das vorwärtsdrängende Pferd zurück, beugte sich nach vorn und roch an dem schwarz glänzenden, ihm kühl ins Gesicht wehenden Wasser; es roch nicht faulig, es war sauber. Dann gab er dem Pferd nach, vertäute das Halfter mit einem von einem Eisenring neben der Tränke hängenden, mehrere Meter langen Seilstück, holte vom Heuboden einen Armvoll Heu, drückte das Gesicht hinein, sog den Duft ein und warf es dem saufenden Pferd hin, strich ihm behutsam über die Seite, sagte: »Brav. Brav«, und überließ es darauf sich selbst. Irgendwie durchlief ihn bei diesen ersten Handgriffen das leise und warme Gefühl, zu Hause zu sein. Martha stand vor dem Haus und wartete. Zusammen gingen sie hinein. Nachdem sie, nur von einer kleinen weißen, im eigenen Licht gelben Kerze beleuchtet, ein paar Scheiben Brot mit manchem über der Flamme angewärmten und glasig gewordenen Stück Speck gegessen hatten, legten sie sich, jeder auf eine Seite und ohne sich auszuziehen, auf die Eckbank, die verlassen in der, so viel bekamen sie immerhin mit, ziemlich leeren Küche stand. Nach wenigen Minuten schlief Goldberger. Martha spürte es, wenn er schlief. Sie jedoch fand keinen Schlaf. Seit vier Tagen hatte sie immer nur untertags, im Sitzen geschlafen; in den Nächten waren ihre Gedanken gekreist und hatten sie wach gehalten. Jetzt standen die Gedanken, kreisten nicht mehr; aber doch waren sie da und standen zwischen ihr und dem Schlaf, nach dem sie sich sehnte. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus, so unsinnig dazuliegen, rutschte lautlos von der Bank und schlich aus dem Haus. Es war ihr alles unheimlich; es schien hier keine Geräusche zu geben, nicht einmal Mausgetrappel. Es war jetzt kalt in der Nachtluft. Keine Sterne waren am Himmel, und auch der kalte Mond war wieder verschwunden. Martha wandte das Gesicht zum Himmel, schloss die Augen und betete. Sie nannte es 18 19 Beten, aber es war eigentlich nur Reden mit ihrer Mutter, die sie vor einem halben Jahr beerdigt hatten. Wie seltsam es Martha berührt hatte, sie da im offenen Sarg liegen zu sehen. Nicht vor allem, weil sie nicht mehr atmete; sondern vor allem, weil sie von dem Ohrensessel, in dem sie seit zehn Jahren sitzend ihre Tage gefristet hatte, losgelöst war. Die da Liegende war eine gespenstisch Unbekannte gewesen. Und die Mutter im Sessel einfach verschwunden. Wäre die Mutter im Ohrensessel in die Erde gelassen und begraben worden, hätte sie es eher begriffen; doch der leere Ohrensessel stand während der gesamten Fahrt neben ihr und polterte. Das vor allem anderen brachte Martha zum Weinen; sie begriff es einfach nicht, und so weinte sie. Als sie in die Küche zurückschlich, hörte sie ihren Vater schnarchen. Zwischen zwei Schritten von ihr dieses harte Schnarchen, das die Fensterscheiben leise klirren ließ. Sie wollte sich hinlegen, aber dann zog sie, selbst stumm überrascht, die Decke von der Bank, ging aus dem Haus und setzte sich wieder dorthin, wo sie die letzten Tage verbracht hatte. In diesem Moment, so schmerzhaft dieses Wissen in ihr zog, war das der vertrauteste Platz, der ihr auf der Welt geblieben war: die immer noch ein wenig warmen Planken zwischen dem Ohrensessel, anderen Möbeln und dem Geschirr. Sie setzte sich gedankenverloren auf den Fliederstrauch. Fest in die dicke graue Decke eingewickelt, sanft vor und zurück wippend, um sich warm zu halten, verbrachte sie die Nacht, auf nichts wartend, auch nicht auf den Morgen. Nicht einmal Mäuse, dachte sie leer und sinnlos. Und keine Vögel, nichts. Lange schon sah sie, wie der Horizont im Osten, hinter dem schwarzen Wald, heller und heller wurde; und sie sah graue Berge aus der Nacht heraustreten. Sie sah es unbeteiligt, war durch das stundenlange Vor- und Zurückwippen in einen Zustand, der j nicht Schlaf und nicht Wachsein war, gelangt. So sah Goldberger sie, als er im ersten fahlen Morgenlicht aus 20 der Haustür trat. Sie drehte sogar den Kopf. Beide blickten sich an wie aus fremden Welten; und beide dachten nichts dabei; es ging sie noch niemand etwas an, und sie sich selbst auch nur halb. Goldberger ging um das Haus in den Innenhof, band das Pferd, das sich nicht bewegt zu haben schien, los und schloss das große Tor vor dem Pferd, das ihm hinterhergetrottet war. Dann, den gelblichweißen, etwas zerknitterten Zettel, jetzt mit der Rückseite nach oben, in der Hand, machte er sich auf den Weg, seinen neuen Besitz zu besehen und abzuschreiten. Schon vom Haus entfernt, überlegte Goldberger eine Sekunde lang, zurückzugehen und Martha mitzunehmen; er verzögerte sogar seinen Schritt. Sollte sie nicht von Anfang an dabei sein? Würde ihr dann nicht alles leichterfallen, wenn er sie miteinbezöge? Aber dann, ohne wirklich überlegt zu haben, schüttelte er einmal kurz den Kopf und marschierte weiter. Nach wenigen Metern hielt er noch einmal inne. Seit nun schon einigen Jahren hatte er diesen militärischen Gang, zu dem er sich stets anhalten musste; er war ihm nicht selbstverständlich, und in all den Jahren hatte er sich im Grunde nicht an ihn gewöhnt. Wusste hier irgendjemand, wie sein Gang war? Nein. Da ging er mit leichter, nahezu federnder Sohle weiter. Man hatte ihm das Gut skizziert, und wie er nun über die verwilderten Wiesen und Felder - kaum auseinanderzuhalten, was Wiese und was einmal Feld gewesen war - marschierte, sah er, dass die Skizze sehr präzise gemacht war; es war nicht viel weniger als ein Plan. Ja, der an vier Seiten geschlossene Hof stand auf dem oben flachen Hügel, und er stand ziemlich genau in der Mitte des Geländes. Er war umgeben von Wiesen und Wäldern, einer Streuobstwiese und einzelnen Obstbäumen, und an drei Seiten mit Wald begrenzt, in dem durcheinander vor allem Eichen, Fichten, Buchen und Birken wuchsen, und an den Säumen da und dort Weiden und Erlen. Die Grundgrenzen verliefen durch die Waldstücke. Nur Richtung Süden war die Sicht unverstellt und frei; ein einziger, weniger mächtig als in der Nacht 21 wirkender Hof war zu sehen; und dahinter türmte sich, noch schwarz-weiß und kein bisschen blau, das wuchtige, seinem Auge und seiner Seele ungewohnte Gebirge auf. Scharf stanzte es den Horizont aus dem Himmel. Es mochte fünfundzwanzig Kilometer entfernt sein, schätzte Goldberger. Er war ein guter Schätzer. Auch deshalb wusste er, wie lächerlich wertlos war, worauf er ging, verglichen mit dem, was er zurückgelassen hatte. Sie waren, nicht viel, aber immerhin, bergab gefahren; stetig unmerklich bergab, wie ein Fluss; hier war die Vegetation schon weiter fortgeschritten. Im Gegensatz zu der Heimat war diese Gegend hier flach. Jetzt begannen die Vögel zu erwachen und zu singen, und ein leichter Wind kam auf, der die frischen grünen Blätter der Bäume erzittern und im rasch heller werdenden Morgenlicht blinken ließ. Goldberger sah sich um und dachte, sehr tief einatmend: Der Ferdl wird das schon machen hier. Wenn er zurück ist, wird er es schon machen. Mein Ferdl. Ja. Komm gut zurück. Es wird dir gefallen, wie flach es hier ist, du Hosenscheißer. Goldberger lachte auf. Dann wendete er sich der eben an dem östlichsten noch sichtbaren Bergrücken emporwachsenden, den weißen Himmel rosarot anhauchenden Sonne zu, kniete auf seinem neuen Besitz nieder und betete in der klaren, kühlen blassblauen Luft mit leiser Stimme für eine Zukunft, die glücklich sei, zumindest besser als die Vergangenheit, und dafür, dass sein Sohn, der Ferdinand hieß wie er selbst, gesund von der Front heimkehre. Er betete zwei Mal dasselbe. Seine Knie wurden eiskalt und dann nass. Noch dampfte der Atem morgens. Auf dem Weg zurück sah er Martha schon von weitem; sie hatte sich nicht fortbewegt und saß immer noch sanft vor- und zurück wippend hinten im Wagen zwischen dem Inventar. Ihre Beine hingen in der Luft, und die kleinen Füße schauten unter der schweren Decke hervor. Goldberger, bei ihr angekommen, strich ihr vorsichtig über die Wange. Sie sah aus, wie ihre Mutter ausge- sehen hatte. Er betrachtete sie wie ein Bild, wie eine Erinnerung. Die wilden, immer etwas strähnigen schwarzen Haare; die blassen Lider; ach, alles. Ihm fehlte seine Frau. Sie fehlte ihm immer noch. Dabei hatte sie ihm schon vor ihrem Tod zehn Jahre lang gefehlt. Nach dem Frühstück und sobald er seine Schreibsachen gefunden hätte, nahm er sich vor, schriebe er Ferdinand. Doch zuerst wollte er sich einmal im Haus umsehen. Er fasste Martha unter den Armen und sagte: »Und ho-o-opp!«, und hob sie vom Wagen. »Mein Kind«, sagte er, sie im Arm haltend und ihre kühle Wärme und ihrer beider heißen Atem spürend, und sie kam halbwegs zu sich, schlüpfte aus seiner Umarmung und ging neben ihrem Vater hertorkelnd zum ersten Mal bei Tag in dieses weiße Haus. Über den kleinen Fenstern fanden sich gelbe gemalte Bögen. Über der Haustür ein Betender im Profil; vor dem Gesicht hochgezogene, gefaltete große Hände. Die Farbe war jedoch schon dermaßen stark abgeblättert, dass man Mühe hatte, es zu erkennen. Kurz vor dem Eintreten warf Goldberger noch einen Blick zurück und nach oben: Allmählich blaute der Himmel auf. Blind durch zu schwachen Kerzenschein und nächtliche Müdigkeit, hatte man nicht sehen können, wovor man nun, der eine fassungslos, die andere gleichgültig-verwundert, stand. Freilich, Goldberger hatte nach allem keinen Königspalast erwartet; aber auch keine so leeren und verwahrlosten Räume und Zimmer, durch die er jetzt, von Martha wie einem schweren Schatten gefolgt» ging- Abgesehen von der Eckbank und dem in der Stube umgekippt liegenden Küchentisch fand sich kaum ein Möbelstück, und wenn, dann nur ein kaputtes. Ein Bett, das, ohne Lat- 23 ten, mit zwei abgebrochenen Beinen im Boden zu stecken schien und aussah wie ein leckes Boot in einem Tümpel. In einer Ecke eines der oberen Zimmer türmten sich aufgerissene weiße Strohsäcke. Von den Wänden fiel der Putz in Brocken ab. In dem blechernen Badezuber klaffte neben dem Abfluss ein lang gezogenes rostumrändertes Loch. Fliesen fehlten im Boden. Türchen fehlten der verbliebenen Kredenz in der Küche. Und ausnahmslos überall, am Boden, an den Wänden, an jedem Wasserhahn und Türgriff Schmutz, Mist, Dreckspuren. Immer heftiger nickend ging Goldberger von einem Raum in den nächsten. Schließlich nahm er sich zusammen und sagte: »Sieh mal, ob du den Kaffee wo findest. Wir sollten etwas essen.« Damit ging er in den Hof, wo das Pferd sich eben hingelegt hatte, aber aufstand, sobald es seine Schritte hörte. Er versuchte sich zu beruhigen. Es war ein großes Haus, immerhin. An allen Seiten geschlossen. Das große hölzerne Tor Richtung Osten. Von außen sah der Hof nicht verwahrlost aus. Der Heuhaufen neben dem Ross war verschwunden, dafür lagen nun zertretene Haufen gelber Pferdeäpfel herum. Wieder stieg Goldberger in den Heuboden hinauf. Hier war alles, wie es sein sollte. Zwar gab es nur noch wenig, auf zwei mannshohe Haufen zusammengeschobenes Stroh und Heu, aber was es gab, war nicht vergammelt. Er untersuchte es nach Schimmel - kein Schimmel. Durch das Dach fiel kaum Licht, nur an zwei Stellen konnte Goldberger einen kaputten Ziegel ausmachen: scharf strahlte dort geschlitztes Licht durch; der Dachstuhl trug, schien nirgendwo nachzugeben und durchzuhängen. Hierauf stieg er wieder hinab und besah sich die Ställe - die anderen, dachte er voll jähem Sarkasmus, sich an die Wohnräume erinnernd. Es gab einen großen Kuhstall mit elf Standplätzen und leer herabhängenden, Glied für Glied mit feinem braunem Rost überzogenen Ketten, einen Schweinekoben mit zwei langen Trögen, einen Hühnerverschlag und drei Boxen mit schmalen Türen und hohen Wänden für Rösser. Keiner der Ställe war ausgemistet. Schwarzer hart zusammengesunkener, stellenweise r mit kalkweißem Schimmel überzogener Mist, der kaum noch einen Geruch hatte. Keine Fliegen - im Haus hatte er eine gehört. Aber ansonsten? Die Ställe schienen einwandfrei, die starken lär-chenen Trennwände intakt, an keiner Stelle verfault, nur im Schweinekoben war da und dort das oberste Brett angenagt und zerfasert. Die Bestürzung von vorhin, die verhältnismäßige Zufriedenheit von jetzt - sie fanden nicht zusammen auf ein Mittel; und doch war Goldberger beruhigt, als er von der großen, leeren, mit dichten, staubbedeckten Spinnweben verhangenen Tenne in die Küche zurückging und sich setzte. Sie hatten den Tisch in die Küche geschafft. Martha brachte den dampfend heißen Kaffee. Sie saßen und tranken, aßen dazu eine Scheibe Brot. Es war keine Bestürzung aufgrund der Umstände, nein. Goldberger vermochte sich unglaublich schnell, und immer auf seine zähe Art hoffnungsfroh, neuen Umständen anzupassen. Er war, so hatte schon seine Mutter gesagt, ein Stehaufmännchen. Noch nichts hatte ihn dauerhaft niederbiegen können. Und dabei hätte es manches gegeben, was ihn sogar hätte brechen können. Es war auch nicht die Bestürzung darüber, dass er seinen riesigen, neunzig Hektar umfassenden waldreichen Besitz gegen diesen hier, der dreimal kleiner war, fast ein Nichts, hatte eintauschen müssen. Was heißt eingetauscht!, dachte er verächtlich. Hergeschenkt habe ich es. - Doch er wusste nur allzu gut, dass nichts anderes übrig geblieben war. Er musste froh sein um dieses Fast-Nichts, dessen einzige Alternative das Garnichts gewesen wäre. Er musste es, ob er wollte oder nicht, als Geschenk sehen, das ihm gemacht wurde, als er eigentlich schon nichts mehr hatte. Nur ging es gegen seinen Stolz, es so zu sehen. »Hast du den Kaffee gefunden?« - »Ja, Papa.« - »Ah ja.« - »Den Brunnen auch.« - »Ah ja.« Sie rührten im Kaffee. Die schwarz beschlagenen blechernen Löffel schlugen gegen die Keramik. Goldberger war, als höre er eine ganze Geschichte; jedes kurze Klimpern war wie ein Satz, 24 25 der alles enthielt, die ganze vergangene Vergangenheit. Die Tassen waren, zusammen mit anderem, Teil der Mitgift gewesen. Jetzt rührten Vater und Tochter zerstreut und aus Gewohnheit -es gab keinen Zucker. Martha: wie ein schwerer Schatten. Seine Frau, Marthas Mutter, hatte keine Kraft für die Kinder gehabt; war schon zuvor, schon kurz nach der Heirat, so zart, zerbrechlich und kraftlos gewesen, und war es mit jeder Geburt noch mehr geworden -zum Schluss hin fast durchsichtig. Seit Ewigkeiten waren sie wie schwere Schatten, die auf Goldberger lasteten. Sogar Ferdinand. Warum? Goldberger wusste es nicht. Als Ferdinand eingezogen wurde, hatte Goldberger eine seltsame, schmerzhafte Erleichterung gefühlt. Jedoch hatte er irgendwie erwartet, hier so weitermachen zu können, wie er dort aufgehört hatte, in allem. So hatte er es sich auf der Fahrt hier herunter vorgestellt: Wie aus einem schlechten, ja einem Albtraum aufzuwachen und weiterzumachen. Sogar noch mehr: Ihm war, als erwache er tatsächlich aus einem Albtraum, etwas schrecklich Unwirklichem und auch Unbegreiflichem. Nur, von Weitermachen unter veränderten Umständen konnte keine Rede sein. Gewiss, der Albtraum war vorbei. Doch er müsste neu anfangen, und das ohne Hilfe. Das machte die eigentliche Bestürzung aus. Ohne darüber gesprochen zu haben, begannen Vater und Tochter nach dem Kaffee, die Küche zu kehren und zu putzen. Dann folgte das Badezimmer. Dann die Stube. Dann die Zimmer im Obergeschoß, die Schlafzimmer. Dann noch die Hohe Stube. So vergingen mehrere lange Tage. Genauso, wie sie schweigend gefahren waren, putzen sie nun; es war gar nicht zu sagen, wer damit begonnen hatte; alles folgte unausgesprochenen Regeln. Die Nächte verbrachten sie auf der Eckbank. Auch Martha konnte jetzt, müde von der Arbeit, endlich wieder schlafen. Vorbei war es mit dem endlosen Warten auf den Morgen, das sie in den Gasthauszimmern auf der Reise so gequält hatte. Sie dachte 26 nicht mehr nach - nur noch über die Arbeit; ihre schwarzen Augen wurden heller. Das Pferd stand, immer unangebunden, unterdessen im Hof, fraß Heu und etwas von dem Hafer, der noch von der Fahrt geblieben war, rupfte das erste frische Gras und soff Unmengen Wasser. Oft streichelte Martha es, damit es sich nicht einsam fühle. Jedesmal, wenn Goldberger das Tier sah, dachte er seufzend: So ein Ross müsste man sein ... Hin und wieder führte er es einen halben Tag lang auf eine Wiese hinter dem Haus, wo niemand, höchstens ein Flieger, es sehen könnte. Und nachts brachte er es in den Stall. Es waren trockene Tage, obwohl es oft nach Regen aussah. Als alles geputzt war, räumten sie den Wagen aus und trugen die Dinge in das Haus. Sie richteten sich ein. Den leeren Wagen schob Goldberger in den bis auf Gerumpel - Eisenringe, Fassdauben, staubige Kummets - leeren Schuppen, der gut dreißig Schritte vom Haus entfernt im Südosten stand. In ihm waren, sauber geschlichtet, in einem separaten Teil noch - schätzte Goldberger nach einem langen Blick - knapp Tausend Armbeugen Holz eingelagert. Geschlägertes Holz maß er, wie jeder, in Festmetern, die er Meter nannte; für Scheiter hatte er dieses eigene Maß. Schon sein Vater hatte so gerechnet. Goldberger band die hellbraune Plane von dem Wagen los, zog sie behutsam ab, wusch sie, ließ sie in dem leichten frischen Wind, der seit ihrer Ankunft wehte und die Wolken am Himmel vor sich hertrieb, zusammentrieb und wieder zerzauste, trocknen und legte sie dann zusammengefaltet auf die Werkbank in der Werkstatt, die sich dem Wohntrakt gegenüber, in dem Trakt zwischen Stallungen und Tenne, befand. Erst nachdem das alles getan war, fühlte er sich in der Lage, an den Sohn zu schreiben. Er nahm die Schreibutensilien und setzte sich an den Küchentisch. Doch wie sollte er diesmal beginnen? Es handelte sich nicht um einen gewöhnlichen Brief. Er schrieb: »Lieber Sohn!«; aber das strich er aus und schnitt einen Streifen 27 von dem-Bogen. Dann schrieb er: »Mein lieber Ferdinand!«; auch das strich er aus und schnitt wieder einen Streifen weg. »Sohnemann!«, schrieb er kurz und bündig beim dritten Anlauf, und das kam ihm noch am brauchbarsten, ungezwungensten vor, bis er auch das nicht gelungen fand. So hatte er ihn noch nie genannt. Der Papierbogen wurde kleiner und kleiner. Schließlich schrieb er einfach und wie immer: »Lieber Ferdinand!« Und weiter: »Du darfst Dich nicht wundern, wenn ich Dir heute von einem anderen Ort als dem gewohnten aus schreibe. Bitte, wirklich nicht! Das ist nicht erforderlich. Ich werde übrigens nur noch von hier aus schreiben. Denn, Sohn, um es kurz zu machen: Ich habe den Hof oben verkauft und einen anderen gekauft. Er steht in Rosental unten - Du kennst es aus Erzählungen. Eure Mutter hat manchmal von hier geredet, wo sie als Kind hin und wieder gewesen war. Im Nachbarort war sie. Ja. Bei Verwandten. Erinnerst Du Dich noch? Du wirst Dich schon erinnern. Sie hat es immer gemocht. Und Du wirst es sicherlich auch mögen. Ich war zu diesem Schritt gezwungen. Du weißt, dass ich es nicht gemacht hätte, wenn es nicht unbedingt hätte sein müssen. Es war eine einmalige Gelegenheit, die ich nicht ungenützt lassen konnte. Andernfalls hätten wir vielleicht alles verloren. Eigentlich habe ich weder ver- noch gekauft; es war vielmehr ein Tausch. Das nur unter uns. Du wirst aber alles genau erfahren, wenn Du erst wieder gesund hier bist. Ich füge Dir die Anschrift extra bei, falls der Umschlag nass oder schmutzig wird. Hierher komm, wenn alles gut vorbei ist. Wir warten auf Dich. Heil Hitler! Und Gottes Segen. Dein stolzer Vater Ferdinand Goldberger, Ortsgruppenführer Rosental.« Eigentlich hatte er schreiben wollen: »Dein auf Dich stolzer Vater«. Kurz störte er sich daran, dann dachte er, es sei auch so deutlich, wie es gemeint sei. Aber ansonsten glaubte er noch beim zweiten und dritten Mal Durchlesen, sich klar ausgedrückt zu haben. Mehr gab es im Moment nicht zu sagen und nicht zu wis- sen. Einmal noch überflog er den Brief. Er hielt inne, nahm wieder die Feder und unterstrich »Rosental«. Dann halbierte er einen der abgeschnittenen Papierstreifen und schrieb die Anschrift darauf. Daraufhin steckte er den Brief in ein Kuvert, verschloss und adressierte es und schob es schließlich zwischen zwei auf der Kredenz stehende deckellose Einmachgläser. Bald wollte er den Brief abschicken. Ja, sehr bald schon. Jetzt, wo das Haus einigermaßen ordentlich war, die Ställe ausgemistet, gekehrt und gewaschen, das Pferd eingestellt, konnte er allmählich weiterdenken. Längst hatte er alles geplant. Schon in dem Moment, in dem die Entscheidung getroffen war und er sämtliche Papiere unterschrieben hatte, begannen in seinem Kopf eifrige Rädchen zu laufen. Das alte Leben war mit diesen Unterschriften, diesen Stempeln - weg, Erinnerung. Das wusste er, fast mehr instinktiv als verstandesmäßig. Mit heißem Atem und seiner ihm eigenen Hartnäckigkeit plante er. Es war Teil des Planes, dass sie erst nach Einbruch der Dunkelheit in das Dorf gekommen waren. Niemand sollte ihre Ankunft bemerken. Und niemand hatte sie bemerkt - nahm man den sabbernden Idioten auf dem Feld aus, und den durfte man wohl ruhigen Gewissens ausnehmen. Goldberger war sicher, dass auch von dem einen Nachbarn, der in Sichtweite war, niemand sie gesehen hatte. Martha hatte den Ofen zwar geheizt, aber bestimmt heizte man auch dort, um zu kochen und es morgens und abends warm zu haben - und weder Goldberger noch seine Tochter hatten je erkennen können, ob dort Rauch aus dem Schornstein kam oder nicht. Beide hatten scharfe Augen. Und auch gerochen hatten sie keinen Rauch von woandersher. Die Entfernung war zu groß. Was Goldberger plante, war ein Auftritt, und was er brauchte, eine Gelegenheit dazu. Sie bot sich schon am folgenden Sonntag, kurz vor Mittag. Etwa sechzig Stunden zuvor, in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, erhob Goldberger sich leise von seinem Bett - zwei 28 29 zusammengeschobene, breite, auf mehrere Ziegelsteine aufgebockte Eichenbretter, auf denen ein Strohsack lag - nahm Stiefel und Uniform und schlich nach unten. Vor dem Haus zog er sich an und lief in das Dorf. Die Müdigkeit, die, er wusste es, nichts als eine Schwere der Jahre war, hatte ihn vollständig verlassen. Er fühlte sich wie vor dreißig, vierzig Jahren. Ja, genau wie damals, als er in den Nächten heimlich die paar Kilometer zu dem Haus, in dem seine spätere Frau bei ihren Eltern lebte, gelaufen war. Wie schön und beglückend es war, in dieses Leben zurückzulaufen! Er lief und lief auf den weißen leuchtenden Straßen, ganz ohne seine Lungen heiß werden zu spüren. Sein Speichel schmeckte süß wie Speichel - und nicht bitter, nicht wie warmes, flüssiges Eisen. Er spürte das Laufen so wenig, als würde er durch Flusswasser getrieben. Sein Herz wurde leicht. Die wunderbar heißen Schenkel trugen ihn, von ihrer eigenen Hitze befeuert. Die Häuser näherten sich ihm schnell und wie aus der Nacht ausgeschnitten. Es war eine mondhelle Nacht, und Goldberger, einmal im Dorf, lief, sich eng an die Hausmauern haltend, von Schatten zu Schatten. Er lernte das Dorf - die Straßen, die paar Kreuzungen, die wichtigsten Gebäude - so gut er konnte auswendig. Es war nicht schwierig, das Dorf nicht sehr groß. Im Grunde gab es nur zwei wichtige Straßen, und wo sie sich kreuzten, wichen die Häuser zurück; das war der Hauptplatz, an dem die Kirche stand. Dort blieb er am längsten stehen. Er stellte sich vor die Kirche und blickte auf die andere Seite des Platzes, dann lief er hinüber und blickte auf die Kirche. Mehrmals lief er hin und her. Der Hauptplatz mit der Kirche war seine letzte Station. Dann lief er zurück. Der Mond war weit gewandert. Noch in der Nacht duftete der Flieder. Er rannte nicht mehr so wie auf dem Hinweg. Nun bewegte er sich Richtung Südosten. Die Straße machte auf dem letzten Stück einen lang gezogenen Bogen und führte schließlich von Süden her zum Hof. Das letzte Stück ging er gemächlich; immer noch blieben ihm über drei Stunden bis zum 30 Sonnenaufgang. Als er Wasser hörte, hielt er inne. Er blieb stehen und horchte. Und erst jetzt bemerkte er den Bach so richtig, der den Besitz im Süden begrenzte. Er hatte ihn zwar auf der Skizze symbolisch eingezeichnet gesehen; und auch hatte er die breiten Holzpfosten der Brücke, irgendwo weit hinten in seinen Ohren, gehört, als er, Peitschenschläge austeilend und jähe, kurze Rufe aus der Kehle stoßend und den Blick auf das kalkweiß aus der Nacht heraustauchende und gleich darauf, mit Beginn der Steigung im Hügelrücken wieder versinkende Haus vorausschickend, mit Pferd und Wagen darübergepoltert war; und vorhin, den Hügel hinabeilend, hatte er vor sich ein breites schwarzes, in die Wiese eingelassenes Band im Mondlicht glitzern gesehen. Das fiel ihm jetzt alles auf einmal ein. Bei jeder Gelegenheit hatte er den Bach bemerkt, sich aber nie damit aufgehalten. Eigenartig, dachte er und blieb auf der Brücke stehen. Aber so ist es manchmal. Vielleicht sogar immer. Es geht nicht alles auf einmal. Man sieht nicht alles auf einmal. Der Bach murmelte. Die Kämme der winzigen Wellen glänzten wie Quecksilber. Das schwarze Wasser, dann und wann glucksend, als verschluckte es sich genussvoll, ja kichernd an sich selbst, floss von Ost nach West. Einmal hoch über dem ins Wasser starrenden Goldberger ein einzelner dumpfer Flügelschlag, und nach einer viel zu kurzen Zeit, als dass es derselbe große Vogel hätte sein können, ein zweiter. Goldberger war es, als höre er ein Echo. Er hob den Blick. Auf dem Magdalenaberg flackerten die Lichter. Bisher hatte er, was seinen Grund im Süden begrenzte, nicht wahrgenommen. Denn kaum blickte er in diese Richtung, war er abgelenkt von den Ber-\ gen. Irgendwie waren sie bisher seine Grenze gewesen. Sonntagfrüh, als der Morgen noch dicht grau auf den Feldern lag, ließ Goldberger Martha die Uniform zweimal gründlich ausbürsten. In der Zwischenzeit polierte er seine Stiefel, seinen Gürtel und dessen Schnalle; sogar seine Pistole samt Halfter polierte er. Von Martha war in diesen Tagen nicht viel zu vernehmen. Es 31 war, wie es in den Jahren zuvor gewesen war. Sie kümmerte sich um den Haushalt, kochte das täglich gleiche Kartoffelgericht, wusch die Wäsche, und zudem versorgte sie das Pferd. In den Nächten schlief sie, zusammengekauert wie ein Ungeborenes, bewegungslos wie ein Stein. Als sie noch auf der Eckbank geschlafen hatten, war ihr Atem nur zu hören, wenn man sich anstrengte und selbst die Luft anhielt; und dann wusste Goldberger immer noch nicht sicher, ob es der Atem der Tochter war, den er hörte - oder das Rauschen des eigenen Blutes in den Ohren. Später, als sie die Zimmer im Obergeschoß bezogen hatten, hörte er sie nachts gar nicht mehr. Kaum je ein Gespräch. Einmal nur, Freitagabend bei Tisch, sagte sie: »Papa.« Goldberger hob, gedankenverloren, den Blick und fragte: »Ja?« Er war in Gedanken halb beim Sonntag, halb bei seinem nächtlichen Ausflug. »Glaubst du ... glaubst du, dass es ihm gutgeht?« - »Ferdinand?« - »Ja.« Er überlegte kurz. »Ja. Sicher.« Martha lächelte der braunen, an allen Seiten mit tiefen und weniger tiefen Kerben versehenen Tischplatte zu. Es war nicht zu sehen, dieses Lächeln, aber sein Strahlen doch, und so sah Goldberger es. Eine Sekunde später jedoch lag Marthas Stirn wieder in feinen Falten, und sie sagte: »Und Mama?« Goldberger schluckte. Er sah den leeren, mit dunkelbraunem Leder tapezierten Ohrensessel vor sich, den er in sein Zimmer, neben sein Bett geschafft hatte und über dem nachts, sorgfältig und vorsichtig deponiert, seine Kleidung hing und tagsüber sein Nachtgewand, sah den leeren, sinnlosen Stuhl, in den er sich niemals setzen würde, und er sagte: »Ja, Herz. Ihr auch. Sie ist beim Vater.« Er wusste selbst nicht, welchen Vater er meinte, seinen Schwiegervater, seinen eigenen oder den himmlischen Vater. Er wusste es nicht einmal, wenn er betete. Immer sah er dann wechselnde, ineinander wachsende Gesichter vor sich. Aber Martha lächelte mit faltenloser Stirn. Martha hängte ihm die Uniform auf eine Leine, die sie vor dem Haus aufgespannt hatte. Sie glaubte, herausgefunden zu haben, dass Frühlingssonne Stoffe glänzen lasse. Sie wusste nicht, was ihr Vater vorhatte, spürte jedoch, dass es etwas Wichtiges war. Die Uniform ließ er sich öfters von ihr ausbürsten; doch er kam ihr nervöser vor als sonst. Sie fragte nichts - sie fragte ihn fast nie etwas. Manchmal hätte sie ihn gerne etwas gefragt. Aber was nur? Ihr fiel so selten etwas Neues ein. Von der Stube aus blickte sie aus dem Fenster und sah die Uniform zwischen zwei jungen Bäumen hängen und glänzen. Sie war seit langem und immer wieder neu stolz auf dieses Wissen, das keiner ihr beigebracht hatte. 4 Wirklich hatte niemand die spätabendliche Ankunft der Gold-bergers, dieser winzigen, unvollständigen Familie, in Rosental bemerkt. Der späte Abend hatte sie verborgen. Vielleicht hatte jemand das Hufschlagen gehört, das Ächzen der Achsen, aber, müde-hoffnungslos, weil wieder ein Tag leer vergangen war, gedacht, es sei bloß Einbildung, der Rest von Hoffnung. Selbst Franz Wagner, der arme Schwachsinnige, der täglich, sogar sonntags, auf dasselbe, scheinbar niemandem gehörende, seit Jahr und Tag brachliegende Feld, eineinhalb Kilometer von seinem Zuhause geschickt wurde, wo er etwas tat, von dem wohl lediglich er selbst und sein Schöpfer wussten, was es war, träumte nur noch selten von irgendetwas mit einem rosaroten Wagen. Einen Einzigen hatte es gegeben in jenem anderen Dorf, dem Heimatdorf nahe der alten Grenze, der noch mit Ferdinand Goldberger gesprochen hatte; und auch der tat es nur noch heimlich. Ihm hatte Goldberger anvertraut, wohin er gehen werde. Und dessen Sohn hatte er eine große goldene Münze in die Hand gedrückt und mit leiser Stimme gesagt: »Und in zehn Tagen erzählst du es. Bis dahin sagst du, du weißt es nicht. Sag, ich hätte dir geschrieben aus Rosental.« Der andere nickte, und sein Sohn 52 33