NJII_3544 Tendenzen in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa nach 2000 jaro 2013, 8.4.2013 Martina Trombiková, Vojtěch Trombik Die Gattungshybridität und Metaisierung im Roman Hoppe (2012) von Felicitas Hoppe Die Gattungshybridität und Metaisierung im Roman Hoppe (2012) von Felicitas Hoppe  1. Hoppe: eine Autobiographie oder ein Roman? Paratextuelle Hinweise Hoppe, so der Titel. Ein Buch mit dem Titel Hoppe von einer Autorin, die Felicitas Hoppe heißt. Eine Autobiographie?, fragt der potenzielle Leser. „›Hoppe‹ ist keine Autobiographie, sondern Hoppes Traumbiographie, in der Hoppe von einer anderen Hoppe erzählt [...]“[1]^1, informiert der Klappentext. Wirklich?, fragen wir. So einfach wird es der Leser mit diesem Buch nicht haben. Eine Autobiographie ist nach dem französischen Literaturwissenschaftler und Autobiographie-Spezialisten Philippe Lejeune ein „retrospektiver Bericht in Prosa, den eine wirkliche Person von ihrer eigenen Existenz gibt, wenn sie die Betonung auf ihr individuelles Leben, und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt“[2]^2. Nach Lejeune ist dabei der sog. autobiographische Pakt notwendig. Einerseits versichert der Autor, dass er nur tatsächliche Fakten des Lebens darstellt, sein Werk also autobiographisch ist. Andererseits akzeptiert der Leser diese Versicherung.[3]^3 Das notwendige Zusatzkriterium ist das des Eigennamens, wie er auf dem Titelblatt erscheint. Das Titelblatt eines Buches mit dem Namen des Autors ist ein Bestandteil des Textes, in dem sowohl der Erzähler als auch die Figur ebenfalls Träger dieses Namens sind. Man spricht über die Identität des Namens bei Autor, Erzähler und Figur.[4]^4 Auf dem Titelblatt des Buches von Felicitas Hoppe steht „Hoppe“, also ein unvollständiger Name der Autorin, da hier der Vorname fehlt. Ein erstes Signal, das den Leser in seiner Erwartung einer Autobiographie verunsichern kann. Er muss abwarten, wie es dann im Text selbst in Hinsicht auf den Erzähler und die Figur weitergeht. In diesem Moment (der Leser hat seine Lektüre noch nicht begonnen) weiß er nur das, was ihm der Paratext verrät. Erstens kennt er den Titel des Buches und zweitens, gleich darunter, die Gattungszuordnung: in diesem Fall die Bezeichnung „Roman“. Dies ist das erste eindeutige Fiktionssignal, das dem Leser sowohl vom Verlag als auch von der Autorin vermittelt wird. Eine weitere Warnung sollte dem Leser die anstelle der Widmung positionierte Botschaft für Hoppes Familienmitglieder sein: „Für Familienmitglieder gilt das gesprochene Wort!‟[5]^5 Und schließlich ist auch das nullte Kapitel[6]^6 (und überhaupt das Vorhandensein eines solchen) mit dem Wikipedia-Zitat, das dem auf dem hinteren Klappentext formal nicht ganz entspricht, durchaus Verdacht erweckend. Eine klassische Autobiographie, d. h. eine nicht-fiktionale Gattung, hält der Leser in seinen Händen wohl nicht.  2. Hoppe im Spannungsfeld zwischen (fiktionaler Meta-)Biographie, Autofiktion und fiktionaler Metaautobiographie  1. fh schreibt Biographie In den Roman Hoppe ist eine Biographie eingeschachtelt, in der Hoppes[7]^7 Leben seit ihrer Kindheit (etwa seit ihrem fünften Lebensjahr) geschildert wird. Wenn man in Betracht zieht, dass eine Biographie der Versuch ist, „ein fremdes Leben in einer zusammenhängenden (narrativen) Darstellung für Dritte zu präsentieren“[8]^8, stellt man fest, dass diese dem Roman einverleibte Biographie dieser Charakterisik nur teilweise entspricht. Die Autorin der Biographie fh präsentiert dem Leser das Leben von Hoppe, das zwar zusammenhängend, jedoch nicht ausschließlich konventionell realistisch erzählt wird. Es erfolgt chronologisch, Hoppes Leben wird jedoch immer wieder in den Zusammenhang mit ihrem späteren Werk gesetzt. Die „biographische Illusion“ (Bourdieu)[9]^9 wird durch illusionsstörende Verwendung von Zitaten Hoppes früherer Manuskripten und späterer Werken, Hoppes allererster, jedoch verworfener Autobiographie, des Tagebuchs ihres Vaters, der Aussagen der Augenzeugen (mit denen Hoppe in Verbindung stand), der Rezensionen ihrer Kritiker gestört. Die gewonnenen Informationen werden immer wieder von fh kommentiert, ergänzt oder erklärt: Hoppes kanadische Kinderjahre dagegen sind verbrieft, das Haus in Brantford (Ontario) »mein erster Iglu«, der Eispalast des einzigen Kindes eines »Erfindervaters«, der morgens gegen sieben das Haus verlässt und selten vor sieben zurückkommt, während Felicitas vormittags in die Schule und nachmittags, ohne Wissen des Vaters, aufs Eis geht: »Es war Wayne (gemeint ist vermutlich der kanadische Eishockeyspieler Wayne Gretzky/fh), der mich überredete mitzukommen. Er war klein, dünn wie Docht (nur eine von zahlreichen Anspielungen Hoppes auf ihr Lieblingsbuch, Carlo Collodis Pinocchio/fh), [...]«[10]^10  1. fh hat Schwierigkeiten beim Schreiben der Biographie Immer wieder wird die Wahrhaftigkeit der Fakten als ambivalent dargestellt. Entweder wird sie in Zweifel gezogen oder mit Sicherheit bestätigt: Sowenig beglaubigt ist, dass Hoppe jene vielzitierte Reise um die Welt auf einem Containerfrachtschiff tatsächlich persönlich unternahm, ist bekannt, dass sie bereits als Kind mehrfach die Weltmeere befuhr.[11]^11 Oder ein anderes Beispiel: Ob Hoppe selbst vorankam, lässt sich kaum sagen. Sicher ist einzig, dass sie die 80er Jahre fast ausschließlich in den USA verbrachte, dabei ständig in Bewegung war […] und, wie der Briefwechsel mit Viktor Seppelt belegt, sich ständig an anderen Orten aufhielt.[12]^12 Aus den zitierten Stellen geht hervor, dass ein Biograph immer mit einem unvollständigen Bild der Wahrheit arbeitet. An einer Stelle thematisiert fh eins der Probleme des biographischen Schreibens – die Stille als eine leere Stelle der Biographie, der es an Belegen mangelt: Und plötzlich tritt jene Stille ein, die Biographen bekanntlich seit jeher beunruhigt, weil sie so schlecht recherchierbar ist. Hier seht ihr mich (hier meint fh offenbar sich selbst/fh), aber wo steckt Felicitas? Vermutlich sitzt sie, nachdem Viktor endlich abgereist ist, immer noch im Frühstücksraum […].[13]^13 An einer anderen Stelle deutet fh die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen Erfahrenem und Angelesenem im Werk von Hoppe an: Zwar ist ihr Werk vollgestopft mit Anspielungen auf ihre vermeintliche Geburtsstadt, die Beschreibungen der Stadt und ihrer Umgebung aber bleiben durchgehend allgemein und vage. An keiner Stelle lässt sich ausmachen, ob sie tatsächlich auf eigener Erfahrung beruhen oder nicht doch nur angelesen sind. Man tappt hier vor allem deshalb im Dunkeln, weil der Charakter des Angelesenen ein insgesamt prägendes Element in Hoppes Werk ist […].[14]^14  2. Biographie im Roman: eine fiktionale Metabiographie? Diese trotz den erwähnten Schwierigkeiten durchaus gelungen und faktisch wirkende Biographie über Hoppe befindet sich jedoch in einem Roman. Wäre es eine klassische Biographie, wäre fh die textuelle Sprecherin und damit der heterodiegetische Erzähler in der dritten Person, der am Geschehen nicht beteiligt, also keine Figur der erzählten Welt ist. Das ist hier aber nicht der Fall. fh weicht von der Perspektive des heterodiegetischen Erzählers mehrmals ab. An manchen Stellen hat der Leser das Gefühl, dass sie in der Figurenwelt anwesend ist. So z. B. wenn sie die Zeugen besucht und über Hoppe ausfragt: Der Abend endet am frühen Morgen unvermutet damit, dass Lucy sich plötzlich entschlossen erhebt und die Tür zu jenem Hinterzimmer öffnet, »in das man durch die Küche gelangte«, wie Hoppe in Buch L berichtet. Ein kleiner fensterloser Raum mit niedriger Decke, der entfernt an Gretzkys Garage erinnert, in dem die kinderlose Wirtin Erinnerungen wie Trophäen aufbewahrt, »die ich mit niemandem teile. Aber da Sie nun mal auf die Wahrheit aus sind, will ich Ihnen nichts vorenthalten.« Der Gast betritt einen schwach beleuchteten Raum, an dessen hinterer Wand [...].[15]^15 Hinter den Pronomina „Sie‟ und „Ihnen‟ vermutet der Leser fh, genauso wie man „Der Gast betritt...‟ mit „Ich (fh) betrete...‟ ersetzen könnte. Das hartnäckige Bemühen, sich selbst aus der Geschichte rauszulassen, soll den Schein eines objektiven Betrachters hervorrufen. Im folgenden Zitat wechselt fh kurz in die erste Person, wodurch sie zu einem homodiegetischen Erzähler und somit zu einer Figur des Romans wird: Und plötzlich tritt jene Stille ein, die Biographen bekanntlich seit jeher beunruhigt, weil sie so schlecht recherchierbar ist. Hier seht ihr mich (hier meint fh offenbar sich selbst/fh), aber wo steckt Felicitas? Vermutlich sitzt sie, nachdem Viktor endlich abgereist ist, immer noch im Frühstücksraum […].[16]^16 Da fh sich in einem Roman als Figur befindet, können weitere Zweifel an der Wahrhaftigkeit der von ihr präsentierten Fakten in der Biographie entstehen. Würde man die Biographie als faktuale Biographie und nicht im Kontext eines fiktionalen Romans lesen, würde man alles für wahrhaftig halten, weil durch Quellen belegt. fh stellt scheinbar, wie andere Biographen, nur das dar, was empirisch durch Quellen belegt und damit nachprüfbar ist.[17]^17 Das Mischungsverhältnis zwischen fiktiven und realen Entitäten[18]^18 ist ein weiterer Beweis für einen fiktionalen Text. Es kommen reale Personen (Wayne Gretzky, Glenn Gould), existierende Orte (Hameln, Brandfort, Adelaide), genaue Zeitangaben (wie einige Erscheinungsjahre der Bücher von der realen Autorin Felicitas Hoppe) vor und werden mit fiktiven Figuren (Hoppes Vater als Erfinder, der blinde Freund Joey Blyton, der Kommilitone Viktor Seppelt oder der Professor Hans Hermann Haman), erdichteten Begebenheiten (eigentlich die ganze Geschichte von Hoppe) und erfundenen, jedoch genauen Zeitangaben (22.12.1974 wachte Hoppe in Port Adelaide auf) vermischt. Die Aufmerksamkeit des Lesers verlagert sich hier von der Darstellung von Ereignissen aus dem Leben einer Persönlichkeit auf die Metaebene der Reflexion über deren Rekonstruktion und Repräsentation im Medium der Biographie.[19]^19 Einen solchen Texttypus nennt der deutsche Anglist und Literaturwissenschaftler Ansgar Nünning fiktionale Metabiographie.[20]^20 Nach Nünning kann es durch die Verlagerung des Akzents von der Ebene des Was auf die Ebene des Wie zu einer Entwertung und Relativierung der jeweils erzählten Lebensgeschichte kommen, „die als eine Version von mehreren möglichen erkennbar wird“.[21]^21 In Hoppe werden die potenziellen Alternativen von erzählten Lebensgeschichten sichtbar. Bereits im Rahmen von Hoppes Lebensgeschichte wird in der Biographie explizit auf zwei Varianten aufmerksam gemacht: erstens auf die – nach der Biographin – von Hoppe erfundene Hamelner Familie (der Vater als Erbauer des ersten Kaspertheaters, die Mutter als Gastgeberkönigin, die vier Geschwister): Weltweit, egal welcher Zeitung, hat Hoppe immer dieselbe Geschichte erzählt: wie sie als Ratte mit Schnurrbart und Schwanz versehen, Wurst in der Linken, Brot in der Rechten, den Marktplatz ihrer Heimatstadt Hameln betritt, um sich im Freilichttheater unter der Führung des Rattenfängers vor Touristen aus aller Welt ein Taschengeld zu verdienen. Wie sie das Verdiente sofort auf den Kopf haut, Blumen für ihre Mutter (»die Gastgeberkönigin«) und ein Päckchen Zigaretten für ihren Vater (»den Erbauer des ersten Kaspertheaters«) kauft, um danach mit dem verbliebenen Rest ihre vier Geschwister zu einem Ausflug ins Miramare zu überreden, eine Hamelner Eisdiele, »die sommers floriert und sich winters, wenn sich die Italiener saisonbedingt nach Süden verziehen, in einen Ausstellungsraum für Pelze verwandelt«.[22]^22 Zweitens auf die – nach der Biographin – wirkliche Familie (der Vater als Patentagent, der mit der kleinen Tochter nach Amerika und dann nach Australien fährt; die Mutter als Klavierlehrerin, die die Familie verlassen hat; Hoppe als Einzelkind): Das Tagebuch des einzigen Vaters seines einzigen Kindes, akribische Auflistung äußerer Ereignisse unter entschiedener Weglassung der inneren, gibt Aufschluss über Arbeitsaufenthalte auf höchst unterschiedlichen Kontinenten.[23]^23 Über Hoppes leibliche Mutter wissen wir wenig, aber genug, um mit Sicherheit sagen zu können, dass sie, eine erzkatholische und hochtalentierte Klavierlehrerin aus Breslau, weder Sahne schlug noch jemals auf Tournee durch Niedersachsen gegangen sein dürfte, sondern sich nach der Trennung von Hoppes Vater in umgekehrter Richtung auf den Weg durch die Welt machte und bald aufhörte, Briefe zu schreiben.[24]^24 Nicht nur die von fh präsentierten Fakten und die Aussagen Hoppes über ihre eigene Kindheit sind inkompatibel. Im Verlauf des Romans wird auch die Unfähigkeit der Biographin sichtbar, das Erfundene von dem Wirklichen zu unterscheiden: Picknick der Friseure, erschienen 1996, brachte der bis dahin vollkommen unbekannten deutschen Autorin Felicitas Hoppe, geboren als drittes von fünf Kindern in Hameln an der Weser, immerhin einen Achtungserfolg ein.[25]^25 Das, was von Anfang an von fh für erfunden gehalten wurde, präsentiert sie zum Schluss ganz selbstverständlich als Fakt. Oder anders perspektiviert: Das, was in der Biographie von fh die ganze Zeit als objektive Wirklichkeit demonstriert wird, erweist sich am Ende als unsicher. An dieser Stelle wird die implizite metabiographische Fragestellung sichtbar.  3. Sind fh und Hoppe eine und dieselbe Figur? fh schreibt Biographie über Hoppe: eine Autofiktion? Die Verwirrung der Biographin quillt also aus der Unmöglichkeit der Abgrenzung der Fakten von den Fiktionen hervor. Dieses Erkenntnis würde die These stützen, dass es sich im Fall von Roman Hoppe um eine fiktionale Metabiographie handelt, die ins Zentrum die Problematik des biographischen Schreibens rückt. Dabei kann es jedoch nicht bleiben, wenn man Eins in Betracht zieht: Die Biographin trägt verdächtige Initiale: fh. Diese können zwar auch etwa für Franziska Hellbach oder Ferdinand Hollert stehen, hier sei aber die Möglichkeit erwogen, die Initiale fh beziehen sich auf den Namen Felicitas Hoppe. Dies ändert dann die Situation. Ein Text, in dem eine Figur, die eindeutig als der Autor erkennbar ist (u. a. durch eine unverkennbare Ableitung von seinem Namen), in einer offensichtlich als fiktional gekennzeichneten Erzählung auftritt, wird als Autofiktion bezeichnet.[26]^26 Es gibt zwei Ebenen, die im Hinblick auf die Autofiktion untersucht werden müssen: Erstens ist es auf der textuellen Ebene innerhalb des Romans die Identität von fh mit Hoppe und zweitens die Identität der realen Autorin Felicitas Hoppe mit fh und darüber hinaus die Komplexität dieser Beziehungen (Felicitas Hoppe – fh – Hoppe) und ihre Funktion im gesamten Roman. Es ist nicht gleich von Anfang an klar, dass es sich bei fh und Hoppe um eine und dieselbe Person handelt. fh kommt als eine gewissenhafte, an der Beschreibung der Wirklichkeit interessierte Biographin vor, während Hoppe (sowohl als Kind als auch als Erwachsene) als eine Autorin charakterisiert wird, die stark fabuliert, die Wirklichkeit mit Phantasie in ihrem Werk vereint und letztendlich zum Schreiben einer (Auto-)Biographie gar nicht fähig ist: „»Hoppe, wir wissen es längst […] kann weder Biographie noch Autobiographie. [...]«“[27]^27 fh unterscheidet zunächst ihren in ihren Augen faktualen Text von den fiktionalen Hoppetexten: „Zurück vom Hoppetext zu den Fakten.“[28]^28 Allmählich wird der Leser mit der Tatsache bekannt gemacht, dass die kleine Hoppe an ihrer eigenen Autobiographie gearbeitet hat: […] vor allem der Entwurf zu einer allerersten Autobiographie, die folgendermaßen beginnt: »ICH. Meine Familie. Mein Name und meine Wünsche und mein Leben. Felicitas Hoppe. Das bin ich. Im Augenblick, in der Zeit wo ich meine Erlebnisse schreibe, bin ich zehn Jahre alt. Ich habe trotz meiner erst zehn Jahre doch schon eine Menge erlebt.« (Zitiert nach dem handschriftlichen Manuskript.) Wenige Zeilen später bricht die Autobiographie ab, vermutlich weniger aus Mangel an Stoff […] als aus Mangel an Ausdauer.[29]^29 Sowie an einer Biographie über ihren Vater: Buch K, begonnen in einem Heft der Marke Mead Composition, ist trotz (oder gerade wegen) seiner poetischen Anteile ein sentimentales Fragment geblieben, weit davon entfernt, auch nur in Ansätzen der angekündigten Biographie über Hoppes Vater nahezukommen.[30]^30 Bereits an diesen zwei Stellen werden Hoppes Strapazen mit dem Genre (Auto-)Biographie angedeutet („bricht die Autobiographie ab“, „Fragment geblieben“). Denn wie kann man eine (Auto-)Biographie schreiben, wenn man sich nicht an der Wirklicheit hält, sondern – so wie es Hoppe von fh zugeschrieben wurde – einen starken Hang zum Fabulieren hat: „Bereits hier wird Hoppes sich später immer nachdrücklich ausprägender Hang zur Erfindung familiärer Idyllen deutlich [...].“[31]^31 Oder an einer anderen Stelle: „Hoppe war, was ihr Werk betrifft, damals wie später gar nicht daran interessiert, Schnittmengen mit der Wirklichkeit zu bilden.“[32]^32 Allmählich geschieht jedoch etwas Ähnliches auch in der Biographie von fh. Nicht nur, dass sie, wie bereits oben erörtert, Fakten und Fiktion nicht auseinander halten kann. Sie verlässt stellenweise ihre Position der textuellen Sprecherin der Biographie und rutscht in den Stil einer literarisch Schreibenden[33]^33, wobei sichtbar wird, dass sich unter der Biographin-Tarnung Hoppe versteckt: Nicht nur, dass nichts mehr zu sehen ist, es ist auch nichts mehr zu hören, nur irgendwo in der Ferne das leise Klingeln des letzten Pucks, den irgendein Blinder, nach einer kurzen und fast vollkommenen Pause, über das ferne kanadische Eis schiebt bis auch der Puck verstummt, weil er für immer im Tor ist, das es nicht gibt, so wie es auch keinen Ton mehr gibt, es ist endlich für immer totenstill.[34]^34 Nicht nur durch die Inkompetenz der Biographin entpuppt sich fh als Hoppe, sondern auch durch ihre emotionelle Teilnahme an einem Ereignis, das sie in der Biographie genau schildert, jedoch ohne es mit einer einzigen Quelle zu belegen. Es handelt sich um die Hochzeit von Wayne Gretzky, der damaligen Liebe von Hoppe aus der Zeit ihres Kanada-Aufenthaltes: Die Nachricht von Wayne Gretzkys Hochzeit mit der amerikanischen Schauspielerin Janet Jones trifft Felicitas vollkommen unvorbereitet, eiskalt von hinten. Unter der Überschrift 99 endlich unter der Haube und neben dem Bild eines strahlenden Hochzeitspaares (ach, diese strahlenden dritten Zähne!) liest Felicitas Folgendes […].[35]^35 Aus der Biographie erfährt der Leser, dass Hoppe, nachdem sie diese Nachricht erfahren hatte, einen Brief an ihre Hamelner Geschwister schrieb. In ihm kommt eine Stelle mit der Stille-Problematik vor, die in der Biographie selbst bereits einmal von fh thematisiert wurde. Hoppe schreibt in ihrem Brief: »[...] Und plötzlich tritt jene Stille ein, die Biographen seit jeher beunruhigt, weil sie so schlecht recherchierbar ist, nur irgendwo in der Ferne das leise Klingeln des letzten Pucks, den irgendein Blinder, nach einer kurzen und fast vollkommenen Pause, über das ferne kanadische Eis schiebt, bis auch der Puck verstummt, weil er für immer im Tor ist oder weil es das Tor gar nicht gibt und auch keinen Ton, es ist einfach still. [...]«[36]^36 Aus dieser Sicht erweist sich die Biographie von fh als ein gescheiterter und paradoxer Versuch von Hoppe, eine Biographie über sich selbst zu schreiben, also eine Art Autobiographie, und keine von fh beabsichtigte und verfasste Autofiktion.  4. Felicitas Hoppe-fh-Hoppe: eine fiktionale Metaautobiographie? Zurück zu der Ausgangsfrage: Welches Genre hat dem Leser die reale Autorin Felicitas Hoppe vorgelegt? Hoppe ist ein Text, dessen einzige Hauptfigur sowie die reale Autorin Hoppe heißt, auch wenn sie sich selbst als fh zu tarnen versucht. Der Roman lässt den Leser durch die Diskrepanz der Übereinstimmung der Namen auf der einen und der Bezeichnung Roman auf der anderen Seite im Unklaren darüber, ob es sich um einen autobiographischen oder um einen fiktionalen Text handelt. Er bietet ihm sowohl den autobiographischen als auch den Fiktions-Pakt an. Der Leser findet in der fiktionalen Erzählung Fakten aus dem Leben der realen Autorin Felicitas Hoppe wieder (z. B. ihr Geburtsdatum und -Ort, die Titel ihrer Bücher und manche von ihren Erscheinungsjahren, die Schifffahrt, die Themen und Motive ihrer Werke), die mit Erfundenem (wie die Bekanntschaft mit Wayne Gretzky oder andere, nicht übereinstimmende Erscheinungsjahre ihrer Bücher) vermischt werden. Solche Texte werden als Autofiktionen bezeichnet. Im Fall von Hoppe geht es noch einen Schritt weiter. Nicht die Darstellung des Lebens von Felicitas Hoppe steht im Zentrum, sondern die Auseinandersetzung mit dem autobiographischen Schreiben. Die Problematik des autobiographischen Schreibens wird erstens in der Geschichte der kleinen Hoppe thematisiert (die versucht, ihre Autobiographie zu schreiben[37]^37), zweitens dadurch, dass Hoppe – unfähig eine Autobiographie zu schreiben – über sich selbst aus der Distanz eine Biographie unter dem Pseudonym fh zu schreiben versucht. Darüber hinaus wird auf den Schreibprozess (ob den des autobiographischen oder rein fiktionalen Schreibens sei dahingestellt) durch die nicht-literarischen Beschäftigungen der Romanfiguren aufmerksam gemacht. So ist Hoppes Vater Erfinder und Hoppes literarische Kreationen werden oft Erfindungen genannt. Ihr Großvater ist Schneider, der Stoffe auswählt und zusammenschneidet[38]^38, wie Hoppe wiederum ihre Stoffe zur Literatur macht. Die Parallelen dieser Berufe seien hier mit folgendem Zitat belegt: »[…] Um die Dinge verstecken zu können, muss man allerdings wissen, wie sie beschaffen sind. Erst dann kommt die alles entscheidende Frage: Wie korrigiert man die kleinen Missgriffe Gottes? Mein Vater wusste genau, wie das geht, weil er nicht nur Erfinder, sondern ein Künstler war, der verbesserte, was sich verbessern ließ, weil er alles sah und genau wusste, wie man das Auge betrügt. […] Papiere wechselten plötzlich die Farbe, Rucksäcke und Taschen erhielten doppelte Böden (niemand nähte wie er), Pässe schrieben sich wie von selbst um, erhielten neue Besitzer mit neuen Gesichtern und neuen Namen. […]«[39]^39 Hoppe selbst studiert Musik, was auch Raum zu zahlreichen Paralellen zum Schreiben bietet, hier nur ein Beispiel für alle: Was die Größe betrifft, dürfte Felicitas dem Cello allerdings jenes Instrument vorgezogen haben, […] die Orgel nämlich, »weil man hier alle Register ziehen kann, Pomp und Posaune, Kirmes und Kirche, Gott und den Teufel! Und weil man mit Händen und Füßen spielt«.[40]^40 Später unterrichtet Hoppe einen Deutschkurs in Oregon, die Studentin Bojana vergleicht ihre Tätigkeit als Lehrerin mit der einer Dirigentin: »[…] Der Sprachunterricht war für sie offenbar eine Art musikalische Veranstaltung, sie die Dirigentin und wir, ihre Studenten, das Orchester. (Tatsächlich teilte sie, wie ihre privaten Klassenbücher zeigen, die einzelnen Studenten verschiedenen Instrumenten und/oder Stimmlagen zu: Jim die Trompete, Bojana erste Geige, Terry am Schlagzeug, Phyllis Mezzosopran und so weiter./fh) […]«[41]^41 Diese Arbeit mit Menschen als Instrumenten in einem Orchester wird in der letzten Szene des Romans weiter modifiziert: Ein etwa fünfjähriges in ein wasserdichtes graues Rattenkostüm eingenähtes Mädchen betrete, auf dem Rücken einen Rucksack und auf dem Kopf einen Adventskranz mit vier brennenden Kerzen, das Erfinderzimmer (durch welche Tür, wisse niemand) und laufe, als ginge es um ihr Leben, immer wieder von vorn, die endlose Reihe ihrer Erfindungen ab, wobei sie ihnen, in alphabetischer Reihenfolge, abwechselnd Farben, Tonarten, Ziffern und Buchstaben zuweise: Lady Helena Ayrton (A), Bojana Baton (Grün), Alexander Bell (a-Moll), Lucy Bell (Schwarz), Joey Blyton (C-Dur), […].[42]^42 Das kleine Mädchen, ein Spuk Hoppes, gekleidet in ein von ihr erdichtetes Kostüm mit von ihr erfundenen Attributen, betritt hier den Raum ihrer Phantasie, in dem sich alle von ihr erfundenen Figuren ihrer Lebensgeschichte befinden, die ihr als Instrumentarium für ihre literarische Kompositionen dienen. Die letzten Überlegungen führen zu der Ansicht, dass die erzählte Lebensgeschichte Hoppes in dieser Autofiktion nicht im Vordergrund steht, sondern vor allem ein weiterer Beitrag zur Metaisierung des Romans ist. Der Aspekt der Selbstreflexivität macht die Autofiktion zu einer fiktionalen Metaautobiographie, wie sie Ansgar Nünning definiert: Fiktionale Metaautobiographien weisen eine ausgeprägte Dominanz der fiktionalen und metafiktionalen Elemente gegenüber Aspekten der außertextuellen Realität auf. „Diese Verlagerung auf metafiktionale Komponenten und Reflexionen über Probleme des autobiographischen Schreibens geht oft einher mit einem hohen Grad an Explizität der erzählerischen Vermittlung, die nicht mehr als ein transparentes Medium fungiert, sondern so auffällig gestaltet ist, dass sie gegenüber der Ebene des Geschehens in den Vordergrund rückt.“[43]^43  3. Statt eines Fazits: Hoppe als Tendenz der deutschsprachigen Gegenwartsprosa Am Beispiel des Romans Hoppe lassen sich mindestens zwei Tendenzen der Gegenwartsprosa beobachten. Erstens ist es die sog. Gattungshybridität. Der Begriff „hybrides Genre‟ wird vor allem in Bezug auf den zeitgenössischen Roman verwendet, „und zwar insbes. wenn eine über die realistische Darstellung hinausgehende Mischung von Fakt und Fiktion vorliegt. Dies ist z. B. der Fall, wenn [...] der Roman selbstreflexiv auf den Prozess des Schreibens verweist.‟[44]^44 Hoppe befindet sich im Spannungsfeld der traditionellen Gattungen Autobiographie, Biographie und Roman. Die faktualen Gattungen Autobiographie und Biographie werden mit der fiktionalen Gattung Roman vermischt, wodurch eine neue Form entsteht, in diesem Fall eine fiktionale Metaautobiographie. Zweitens ist es die mit der Gattungshybridität zusammenhängende Tendenz zur Metaisierung der Literatur. Das Interesse rückt auf die Ebene der Reflexion über das Erzählen, in diesem Fall über die Möglichkeiten und Grenzen der (Auto-)Biographie, in anderen Romanen der Gegenwart über die Möglichkeiten und Grenzen der Geschichtsschreibung oder/und des fiktionalen Schreibens. Literaturverzeichnis Primärliteratur: Hoppe, Felicitas: Hoppe. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2012. 4. Auflage. Sekundärliteratur: Ernst, Jutta: Hybride Genres. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart, Weimar, 2008. 4. Auflage. Holdenried, Michaela: Autobiographie. Reclam, Stuttgart, 2000. Nünning, Ansgar: Fiktionalität, Faktizität, Metafiktion. In: Klein, Christian (Hrsg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart, Weimar, 2009. Nünning, Ansgar: Fiktionale Metabiographien. In: Klein, Christian (Hrsg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart, Weimar, 2009. Nünning, Ansgar: Metaautobiographien: Gattungsgedächtnis, Gattungskritik und Funktionen selbstreflexiver fiktionaler Autofiktionen. In: Parry, Christoph; Platen, Edgar (Hrsg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Band 2: Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung. IUDICIUM Verlag, München, 2007. Scheuer, Helmut: Biografie. In: Lamping, Dieter (Hrsg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 2009. Zipfel, Frank: Autofiktion. In: Lamping, Dieter (Hrsg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 2009. [45]1Klappentext von: Hoppe, Felicitas: Hoppe. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2012. 4. Auflage. [46]2zitiert nach: Holdenried, Michaela: Autobiographie. Reclam, Stuttgart, 2000. S. 20. (Aus dem Französischen übersetzt von Michaela Holdenried.) [47]3vgl. ebd. S. 27. Vgl. auch Zipfel, Frank: Autofiktion. In: Lamping, Dieter (Hrsg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 2009. S. 33. [48]4Holdenried, Michaela: Autobiographie. S. 27. [49]5Hoppe, Felicitas: Hoppe. S. 5. [50]6vgl. ebd. S. 13. [51]7Um Klarheit zu schaffen, nennen wir sie in unserem Text folgend nur Hoppe, obwohl sie im Text einmal als Hoppe, ein anderes Mal als Felicitas oder als Felicitas Hoppe genannt wird. Die reale Autorin wird folgends als Felicitas Hoppe und die Biographin fh als fh bezeichnet. MT, VT. [52]8Scheuer, Helmut: Biografie. In: Lamping, Dieter (Hrsg.): Handbuch der literarischen Gattungen. S. 65. [53]9vgl. Nünning, Ansgar: Fiktionale Metabiographien. In: Klein, Christian (Hrsg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart, Weimar, 2009. S.134. [54]10Hoppe, Felicitas: Hoppe. S. 17/18. Fett markiert von MT, VT. [55]11ebd. S.13/14. Fett markiert von MT, VT. [56]12ebd. S. 249. Fett markiert von MT, VT. [57]13ebd. S. 246. Fett markiert von MT, VT. [58]14ebd. S. 25. Fett markiert von MT, VT. [59]15ebd. S. 153/154. Fett markiert von MT, VT. [60]16ebd. S. 246. Fett markiert von MT, VT. [61]17vgl. Nünning, Ansgar: Fiktionalität, Faktizität, Metafiktion. In: Klein, Christian (Hrsg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. S. 26. [62]18vgl. ebd. S. 26. [63]19vgl. Nünning, Ansgar: Fiktionale Metabiographien. In: Klein, Christian (Hrsg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. S. 132. [64]20vgl. ebd. S. 132-136. [65]21ebd. S. 134. [66]22Hoppe, Felicitas: Hoppe. S. 13. Fett markiert von MT, VT. [67]23ebd. S. 14. Fett markiert von MT, VT. [68]24ebd. S. 17. Fett markiert von MT, VT. [69]25ebd. S. 327. Fett markiert von MT, VT. [70]26vgl. Zipfel, Frank: Autofiktion. In: Lamping, Dieter (Hrsg.): Handbuch der literarischen Gattungen. S. 31. [71]27Hoppe, Felicitas: Hoppe. S. 294. [72]28ebd. S. 146. Fett markiert von MT, VT. [73]29ebd. S. 34. Fett markiert von MT, VT. [74]30ebd. S. 294. Fett markiert von MT, VT. [75]31ebd. S. 35. Fett markiert von MT, VT. [76]32ebd. S. 33. Fett markiert von MT, VT. [77]33vgl. ebd. S. 246-247. [78]34ebd. S. 247. Die Markierung wird folgends im Zusammenhang mit einem kommenden Zitat gebracht. MT, VT. [79]35ebd. S. 314. Fett markiert von MT, VT. [80]36ebd. S. 319. Fett markiert von MT, VT. Die unterstrichene Schrift zeigt die Ähnlichkeit mit dem Zitat unter Anm. Nr. 34. MT, VT. [81]37vgl. ebd. S. 34. [82]38vgl. ebd. S. 244. [83]39ebd. S. 281. Fett markiert von MT, VT. [84]40ebd. S. 187. Fett markiert von MT, VT. [85]41ebd. S. 305. [86]42ebd. S. 328/329. [87]43Nünning, Ansgar: Metaautobiographien: Gattungsgedächtnis, Gattungskritik und Funktionen selbstreflexiver fiktionaler Autofiktionen. In: Parry, Christoph; Platen, Edgar (Hrsg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Band 2: Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung. IUDICIUM Verlag, München, 2007. S. 278. [88]44Ernst, Jutta: Hybride Genres. In: Nünning, Ansgar (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart, Weimar, 2008. 4. Auflage. S. 296.