Ich habe gedacht, wenn ich mich schreibend verschenke, entfliehe ich dem Teufelskreis der Erinnerung. Schreibend bin ich tiefer ins Erinnern hineingeraten, als mir lieb ist. Schnee ist das Erste, woran ich mich erinnere. Verschneit liegt rings die ganze Welt, ich hab nichts, was mich freuet, verlassen steht der Baum im Feld, hat längst sein Laub verstreuet, der Wind nur geht bei stiller Nacht und rüttelt an dem Baume, da rührt er seinen Wipfel sacht und redet wie im Traume. Es schneit sanft in den Ort hinein. Danach gewinnt der Schneefall an Stärke. Es ist so oft Winter in meinem Kopf. Es schneit so häufig, dass ich denke, in meinen Kinderheimjahren hat es nur Schnee und Winter, Frost und Eiseskälte gegeben. Ich sehe mich eingemummelt. Frost und Rotz klebt an der Nase. Ich bin das ewige Winterkind unter Winterkindern beim täglichen Schneemannbauen. Es ist früh dunkel. Die Nacht hält lange aus. Die Sonne steigt nicht über den Horizont. Es schneit auf all meinen Wegen. Aus Schnee besteht der Sommer. Schnee ist nur ein anderer Name für die Sonne. Es ist November. Es ist Februar. Ich sitze in einem großräumigen Automobil, einer schwarzen Limousine. Ich bin vier Jahre jung und in dem riesigen Automobil. Schneeweiß ist die Landschaft, die ich in Erinnerung habe. Der Fahrer ist ein dunkler Schattenriss. Es ist der Tag, den ich als ersten Tag meines Lebens erinnere. Ein tiefgrauer Tag, der morgens rötlich aufzog und schön zu werden schien, sich dann aber verdunkelte. Ein Tag, der sich hinter einer Wolkendecke verkriecht, sich den Tag über als Tag nicht sehen lassen mag und dem Schnee das Terrain überlässt, der aus diesem grauen Himmel wie aus einer alten Pferdedecke geklopfter Staub umherwirbelt. Wie beim Hasen, der bei seinem Lauf über den Acker den Igeln nicht davonlaufen kann, ruft der Schnee mir zu: Bin schon da. Ach bittrer Winter, wie bist du kalt, hast entlaubet den grünen Wald, hast verblüht die Blümlein, die bunten Blümlein sind worden fahl, entflogen ist uns die Nachtigall, entflogen, wird je sie wieder singen. In der vergangenen Woche starb in Schwerin die fünf Jahre alte Lea-Sophie. Ihre Eltern hatten sie verhungern lassen. Eine Woche vor ihrem Tod hatte der zuständige Sozialarbeiter nicht darauf bestanden, das Kind zu sehen. Gegen das Jugendamt laufen Anzeigen wegen unterlassener Hilfeleistung. Ich befinde mich auf dem Weg zu einem Kinderheim. Ich habe keine Ahnung, wohin es mit mir geht. Ich weiß nicht, was mich am Ende der Fahrt erwartet. Ich sitze in einer Limousine. Der Frühnebel beherrscht die Landschaft. Im Nebel löst sich der ruhende Ackerstein auf. Im Nebel erscheinen all die Dinge in der Natur wie in eine milchige Glasschale hineingelegt. Im Nebel wird das Schwere leichter. Die Welt ist mir näher als unter der Sonnenbestrahlung. Das plan liegende, nur zu ahnende, weite Feld tritt geballt aus der Nebelmasse hervor, um sich betrachten zu lassen und wieder zu verschwinden. Das Unscheinbare ist erst in all seiner nebulösen Unklarheit innig zu erleben. Der an einem gewöhnlichen Tag ignorierte, große, stumme, unscheinbar am Wegrand schlafende Ackerstein tritt wacher aus dem Nebel hervor, gewinnt an Würde und Gewichtigkeit. Im Nebe! ruhet noch die Welt, noch träumen Wald und Wiesen: Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, den blauen Himmel unverstellt, herbstkräftig die gedämpfte Welt, im kalten Golde fließen. Leben ist Ne- bel und Nebel ist Leben. Rückwärts wie vorwärts gelesen mögen die zwei Worte Nebeleben und Lebenebel in Gold gefasst untereinander aufgeschrieben auf meinem Grabstein stehen. Nebel mögen, heißt Zuwachs durch Schwinden anerkennen. Nebel als Grundlage allen Seins zu werten heißt, Nebel als Dauerausstellung und Fingerzeig annehmen; das unerhörte Flüstern. Nebel weiß ich um mich, der es gut mit mir meint. Das Feld liegt wie ein gestärktes Nachthemd da. Mir ist, als hörte ich eine Krähe rufen. Ich verehre seither Krähen. Ich bewahre mir von diesem ersten mir bewusst werdenden Tage an Hochachtung vor Krähen und Nebelschwaden. Ich rede von Nebel und Krähen, wenn von Leichtigkeit und Erdschwere die Rede ist, vom Verschwinden der Dinge. Am schönsten ist mir im Nebel, wenn Krähen schreien, die nicht zu sehen sind und im Nebel gar nie nach wem rufen. Nebelkrähen sah ich zuerst. Nebelkrähen sollen also bis an mein Lebensende meine Schicksalsvögel bleiben. Nebelkrähen begleiten mich durchs Leben. Ich werde im Nebel befruchtet, durch Nebel gezeugt. Nebelschwaden sind die Fruchtblase, in der ich geworden bin. Im Nebel weiß ich den Vater geborgen, von dem niemand weiß. Im Nebel weiß ich die Mutter hinterlegt, die vergessen hat, wer ich bin. Ein aus dem Nebel gekrochener, nicht aus dem Gebärtrakt der Mutter gepresster Erdenbürger bin ich. Im März dieses Jahres wurde im hessischen Bromskirchen der Hungertod der vierzehn Monate alten Jacqueline bekannt. Das Mädchen wog mit sechs Kilo nur noch halb so viel wie andere Kinder in ihrem Alter. Das Kind hatte seit Monaten keinen Arzt gesehen. Es ist später Herbst. November. Es kann Januar, Februar, Juni, Juli, August sein. Es schneit nur in der Erinnerung so mütterlich sanft. Wir schreiben das Jahr 1954. Der Krieg ist neun Jahre vorbei. Der Krieg ist nie vorbei, sagt der Verstand. Der Schutt ist großteils beiseitegeschafft worden. Hinterm Dorf, hinter der Stadt, hinter den Metropolen, wo Kuhlen ausgehoben werden konnten, Schutt zu Bergen aufgeschüttet worden ist. Berge, die zum Landschaftsbild dazugehören wie all die Kriege, die in der Welt geführt werden, ununterbrochen, seit ich in diese Welt hineingeraten bin. Warschauer Pakt. Nationale Volksarmee. Aus Einheiten bestehender Bauch meiner Mutter. Eben war ich noch in ihm kaserniert. Im Bauch der Sowjetunion, die meiner Mutter weitreichende Souveränitätsrechte gewährt. Kurzzeitiger Berufswunsch: Volkspolizist. Im Alter dann von zwei Jahren von der Mutter Richtung Westen verlassen, im Kleinkinderheim verblieben, mitten hinein in die Entstalinisierung, auf den zwanzigsten Parteitag der KPdSU zu, in die Dekade der friedlichen Koexistenz geworfen wie in einen Würfelbecher mit nur einem roten Würfel ohne Zahlen versehen und lauter Hammersichelsymbole. Höfliche Begrüßungen werden Kampfansage. Schlagworte. Schlagbäume. Erlass. Reparation. Zahlungen. Schulden. Rückgabe. Aktien. Anhebung unterer Industrielohngruppen. Preise. Senkungen. Der Wagen heißt Tschaika wie Möwe. Gesamtproduktion dreitausendeinhundertneunundsiebzig Stück. Viertürig oder fünftürig. Ich kann es nicht mehr sagen. Auf jeden Fall innen mit sieben Sitzplätzen versehen. Hat an die zweihundert Pferdestärken unter der Haube, prahlt der Fahrzeuglenker. Acht Zylinder. V-Motor. Dreiganggetriebe. Hydraulischer Drehmomentwandler. Klimaanlage. Servolenkung. Höchstgeschwindigkeit hundertsechzig Kilometer die Stunde, die ist er auf einem Fluggelände ein-, zweimal voll ausgefahren. Ein Gefühl, kann er sagen, sagt der Kraftfahrer und knutscht sich im Spiegelbild, dass es laut schmatzt. Durchs ganze Land würde er mich am liebsten chauffieren, abheben, aufsteigen und die überall Ruh über den Wipfeln stören, den Krähen ,, es zeigen, ihnen den Fliegermarsch blasen: Kerzengrad steig ich zum Himmel, flieg ich zur Sonn direkt, unter mir auf das Gewimmel, da pfeif ich mit Respekt, wenn wir dann so oben schweben, mein Freund, das ist ein Leben, da fühl ich mich wie ein junger Gott, Kreuz Himmeldonnerwetter sapperlot, in der Luft gibts keine Räuber, kein Bezirksgericht und auch keine alten Weiber, sieht man oben nicht, da oben gibts kein Hundefutter und keine Schwiegermutter, in der Luft gibts keine Steuer, keine Kaution, auch der Zins ist nicht so teuer, und kommt der Schneider mit der Rechnung, fliegt man bitte ganz gemütlich ihm davon, Freunderl, drum sei nicht dumm, drum drum drum, sei nicht dumm /komm und sei mein Passagier, fliege fliege flieg mit mir, droben, wo die Sterne stehn, wollen wir spazieren gehn, schmeiß hin all Dein Gut und Geld, einen Fußtritt dieser Welt, in der Luft, in der Luft fliegt der Paprika, auf zum Himmel, Himmel, Himmel, Hipp, hipp, hurra. Luxuriöses Fahrzeug, Staatskarosse. In der Sowjetunion hergestellt, Privatpersonen zugedacht, höheren Behörden, Funktionären. Automatikgetriebe, Antrieb auf die Hinterräder übertragen, Hydraulikwandler, kinderleicht über einen Wahltaster am Armaturenbrett zu schalten. Schon schwebt man in der zweieinhalb Tonnen schweren Limousine, die schwarz und geheimnisvoll glänzt. Ein Hingucker, ein Augenschmaus, ohne Frage: Stimmt es, dass der Stachanow-Ar-beiter Iwan Iwanowitsch Iwanow auf der Allunionsausstel-lung in Moskau ein Automobil der Luxusklasse Seemöwe gewonnen hat? Antwort: Im Prinzip ja, aber es handelte sich nicht um den Stachanow-Arbeiter Iwan Iwanowitsch Iwanow, sondern um den Alkoholiker Pjotr Pjotorwitsch Petruschkin, und der hat kein Automobil der Luxusklasse Seemöwe gewonnen, sondern ein Fahrrad gestohlen. Hawita HaHKa HawKa schmettert der Mann am Lenkrad mit erhobenen Augenbrauen, ich soll es keinem verraten, die schicke Seemöwe HaÜKa hätte sich ins amerikanische Modell Packard Patrician verguckt, beide sähen sich vom Typ her ähnlich. Nebel oder Schnee ist draußen zu sehen. Aus dem Schneefall hervor klatscht Schnee gegen die Scheiben. Novemberschnee, jubelt das Kind, das im vierten Jahr seines Lebens partout nicht redet, in sich gekehrt erscheint, alles versteht und jedes Wort aufnimmt, von dem, was der Chauffeur ihm erzählt und eines auch weiß, dass nämlich der neugierige Schnee mitgehört hat und nunmehr das in sich hineinstum-mende Kind, die muttervaterlose Waise ansehen will und herzlich begrüßen. Die Jahre stehen wie Schneemänner in Reihe, mit nichts angekleidet als löchrigen Töpfen auf ihren Köpfen und Rüben, wo sonst Nasen im Gesicht stecken. Es schneit ins Wageninnere meiner Kindheitslimousine hinein. Schnee fällt innen wie außen. Mein Leben kennt keine andere Jahreszeit als den Winter. Das Jahr hindurch herrschten Vorwinter, Winter, Nachwinter. Und ewig ist Nebel um mich herum. Nebelschneejahre. Schneenebeltage. Ich richte mich an Hirngespinsten auf. Mir ist keine Tür zu einer Limousine von einem Chauffeur auf getan worden. Viele Türen blieben dem Ankömmling verschlossen, dem Kind verboten. Ich sehe mich an die Hand genommen, in hinteren Winkeln; in Räumen ohne Glanz. Alltag und Rhythmus. Sammeln und Hände fassen. Anmarschieren, abmarschieren, stehen, auf der Stelle treten, links um, rechts um, drei Schritte vor, zwei zur Seite, Hände voneinander lösen, hinterm Stuhl die Lehne mit beiden Händen fassen, aufhören zu sprechen, nicht grinsen, ruhig zum Stuhl gehen, nicht laufen, auf seinem Stuhl Platz nehmen, nach vorne sehen, auf den eigenen Teller blicken, den Löffel erst benutzen und anfangen mit dem Essen, wenn es gesagt wird. Alles auf dem Teller Befindliche schön brav aufessen. Sitzenbleiben, bis der Letzte mit seinem Essen fertig ist. Formeln des Dankes sagen. Antreten, abtreten, aufs Zimmer gehen, mit dem Bettenmachen fertig werden, auf Kommando einschlafen, nach dem Erwachen zur Toilette gehen. Nicht alle zugleich an einem Wasch- becken stehen. Zurück und Haare kämmen. In drei Minuten auf dem Flur sein. Um zu wissen, was mit mir war, gehe ich durch hermetische Barrieren in gesicherte Strukturen, mir meiner Erinnerungen sicher zu werden, Beleg zu erlangen, wo nicht die Spur von Gold an den verbotenen Räumen nachweisbar ist und es an Zuneigung mangelt, Zuneigung nicht gibt und auch sonst keinen Freiraum, jahrzehntelang, bis in die heutige Zeit hinein. In die Vergangenheit, das Heimleben, die Tristesse der abspulenden Tage. Du bleibst vor Erinnerungspforten, vor verschlossenen Türen, vor Toren von Unmöglichkeit, weil der Alltag Trott und Vorschrift war. Du hast funktioniert und in den angesagten Freizeiten in Gruppe Bastelarbeiten absolviert. Du warst von Beginn an chancenlos, das ausgeschlossene Kind in deinem Kinderheim, weil Heimkindsein Ausschluss und Gewahrsam meint. Du warst die Waise neben anderen Waisenkindern und lebtest gut unter dem Deckel zum Topf, solange du mit der Außenwelt nicht in Berührung gebracht wurdest. So lange war dein Heim ein Kuvert mit einem glatten Siegellack versehen. Celestine erträgt Handwerkermärktc nur schwer. Als die zwölfjährige Berlinerin vor ein paar Monaten in einem Bauhaus war, sah sie in den langen Regalen ein silberfarbenes Klebeband liegen und musste das Gebäude sofort verlassen. Das Klebeband erinnerte sie an ihr Martyrium, das sie einst mit knapper Not überlebt hat. Weil sie so laut war, hatten ihre Eltern ihr wochenlang, vielleicht länger, mit einem solchen Tape den Mund zugeklebt. Es blieb nur ein kleines Loch, damit sie noch atmen konnte. Die Vernunft verdammt das von mir erinnerte Bild, im großen Luxuswagen vorgefahren zu sein, als Einbildung. Dreizehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wird kein vierjähriger Schutzbefohlener in luxuriöser Würde von einem Kleinkindkinderheim ins nächste Vorschulkinderheim chauf- fiert. Ich aber will mir die Einbildung nicht aus dem Kopf schlagen. Ich will nicht als die schweigende Waise auf einem knatternden Motorrad hinter diesem Ledermantelmann geklemmt ins Kinderheim gebracht worden sein. Ich bin auf keinem Krad herangekarrt worden. Ich fahre Limousine. Ich bin eine Waise. Die Vernunft lehnt sich gegen die Wirklichkeit auf. Eine schändliche Neigung ist die Vernunft. Kein größeres Laster gibt es in unserer Welt als den Hang zur Vernunft. Kein größeres Übel weiß ich. Richtlinien werden für die Vernunft erdacht, die nichts weiter wollen als eine bessere Lebensführung, unter Vermeidung von Verfehlung. Gegen die Natur ist die Vernunft in Stellung gebracht. Ein Panzerbrecher ist die Vernunft, die keinen Müll anerkennt, die den Dreck nicht sieht, den Abfall nicht liebt. Gegen jedwede natürliche Ordnung ist die Vernunft uns Menschen mahnend vorgesetzt wie eine dunkle Scheibe, in die wir Löcher kratzen müssen, wollen wir nicht von Dummheit geprügelt sein. Eine Spießrute ist die Vernunft, eine schmerzende Gerte, die Maß nimmt, den, der sich einsauen will und unvernünftig suhlen, zu züchtigen sucht. So verrottet ist unsere Welt, so durchsotten sind die Gesellschaftsformen, dass die Vernunft höchstes Menschengebot geworden ist. Das Motorrad ist durch die Limousine ersetzt. Die Erinnerung übermalt. Bockig widersetze ich mich der Vernunft. Bockig bestehe ich auf die mit sechs oder dreizehn Seitentüren versehene Cabrio-Limousine unter meinetwegen einem Schiebedach, das sich nach Herzenslust schließen und öffnen lässt, auch wenn man im Zusammenhang mit der in der Sowjetunion gebauten fahrenden Seemöwe nichts von einem Schiebedach weiß. Wann immer ich Lust darauf verspüre, stehe ich auf dem Hintersitz. Wann immer ich will, schiebe ich das Dach auf und zu, dass der liebe Schnee zu mir findet. Ich rücke mit meinen Erinnerungen gegen jedwede innere Vernunft vor. Wunschdenken verhilft mir als vierjährigem Jungen zu Besinn meiner Erinnerungsreise gegen alle Vernunft in die eingebildete Limousine. Ich mag nicht mit einem Sammeltransporter, in keinem Kranken- oder Viehwagen gekarrt oder in einem gewöhnlichen Überlandbus ins Kinderheim transportiert worden sein. Wenn ich der leiblichen Mutter etwas verdanke, dann mein intimes Empfinden für Schnee, das ich meine Schneesensibilität nennen möchte. Es war eine Mutter, die hatte vier Kinder, den Frühling, den Sommer, den Herbst und den Winter, der Frühling bringt Blumen, der Sommer den Klee, der Herbst bringt Trauben, der Winter den Schnee. Ich sitze am Fenster und sehe zum Garten meines ersten Kinderheimes hin, wo seit Tagen Schnee aus allen Wolken herabfällt, wo Schnee auf Schnee liegt und kleine Vögel zu beobachten sind, die im Schnee kein Futter vorfinden, sich um das Vogelhaus herum versammeln, sich von den Sonnenblumenkörnern im Schmalztopf ernähren. Schmalz, von mir unter den wachsamen Augen der Köchin mit Namen Frau Blume ausgelassen und in den Blumentopf eingelassen, mit Körnchen versehen. Am Schreibtisch über der Schreibarbeit zerplatzt der Traum von meiner Limousine. Ich komme an. Ich werde vor das Kinderheim gefahren, von dem ich nicht weiß, dass es ein Kinderheim ist, das ich in der Erinnerung als Bühne erlebe. Egal von welcher Seite ich mich in meine Anfangsjahre hineinversetze, Schnee fällt und rot wie Blut sind die Backsteinziegel des Hauses. Der Vorhang öffnet sich zur kleinen Bühne, auf der es zu schneien beginnt. Blutrot ist die Bühne in glänzenden Stoff gehüllt. Als blickte ich in den aufgerissenen Mutterbauch, die Mutterhöhle. Der Ledermantelmann fährt vor. Ich höre den Ton seines Fahrzeuges von hinter der Bühne her. Das Geräusch hat sich über die Jahrzehnte allmählich von dem eines Motorrades zu dem einer Limousine verändert. Eine dreistufige Steintreppe, auf ihr drei Krankenschwestern ste- hend, wird von kräftigen Bühnenarbeitern vor die Hausfassade geschoben. Der wuchtige Ledermantelmann, bis zu den Waden in schweres Leder gehüllt, tritt auf und zieht diesen kleinen Jungen hinter sich her, der vier Jahre alt ist. Ich werde vom Ledermantelmann vor das Heim geführt, vor dem ich erst wieder dreiunddreißig Jahre später, nur wenige Monate nach dem Fall der Mauer in Berlin, so neugierig und fassungslos stehe. Wie eine Ware angeliefert. Ich gehe an der Hand des Ledermantelmannes, der ein Berg ist, dessen Gipfelkopf ich nicht sehe, wie sehr ich mich auch mühe, mir den Hals verrenke. Er zieht mich nach, schleppt mich im Tau, betätigt nicht einmal eine Klingel. Ihm wird die Tür aufgetan, bevor wir auf der Treppe sind. Der Ledermantelmann wünscht den Frauen einen schönen Tag. Ich will nicht sehen müssen. Ich dränge mich hinter den Ledermantelmann, der ein Etui zückt, in dem sich Tabak und Papier befinden, woraus er sorgsam eine Zigarette dreht. Drei Frauenstimmen vereinen sich zum Sprechgesang. Ein dominantes, zentrales Singen, umweht von zwei unterwürfigen Tonlagen, die sich einklinken, der Vorsängerin beipflichten: Da sind Sie ja endlich. Bei so einem Wetter. Was für eine Kälte. Wir dachten schon, Sie kommen gar nicht an. Wir warten bereits eine Stunde. Zum Glück ist Ihnen nichts passiert. Drei Armpaare sind vor die Brüste gekreuzt. Die Frauen sind dünn angekleidet, sie frieren. Was für ein Jahr dies Jahr, sagt die eine. Völlig verrückt, unmöglich, stimmt die zweite ein. Dieser Schnee mit einem Mal, schließt die dritte die Einlage ab. Schon entsteht eine lange Pause. Schweigen folgt, bis der Ledermantelmann das Wort nimmt, zum Jahr sagt, dass es ein Jahr ist wie jedes Jahr; nicht besser, nicht schlechter als die Jahre zuvor. Nur weil dieser Schneenebel herrsche, die Damen, so ein Nebelschnee sei nichts, keine enorme Sache im Vergleich zu den Nebeln auf blanker See, die ihm vor Neufundland passiert seien, mit gefrorenen Händen auf Kabeliaufane, den Blauen Wittling haschen, den Schellfisch, die Makrele, den Hering aus Netzmaschen tütern. Wenn die Hände Fischkrallen sind, das heiße ich Kälte. Wenn Schnee wie ein Mantel wärmt, das heiße ich Gestöber. Wenn Nebel reine Atemluft ist, das heiße ich Nebelgüte. Rauch steigt zu seinen Worten über die Hünenschultern. Er ascht in den Eimer für die Kippen. Im Heim darf nicht geraucht werden. Die Frauen achten darauf sehr. Das Haus heißt Haus Sonne. Der Ort, an dem das Heim steht, ist ein Ideines Ostseebad, zwischen Rostock und Wismar gelegen und hört auf den Namen Nienhagen. Schneeweiß liegt die Selbstgedrehte in der Hand des Ledermantelmannes. Schneeweiß glüht sie zwischen seinen Fingern, wenn er mit dem Arm gestikuliert. Das alles sehe ich und sehe ich nicht, obwohl ich fast nichts von allem sehe. Josephimonat März, sagt der Mann, stößt Rauch zu seinen Worten aus. Rauch, der in turbulenter Strömung über dem kopflosen Mann in krauser Bewegung aufsteigt, über dem Schulterbuckel instabil wird und im Dunst des Tages verschwindet. An Gregor kommt die Schwalbe über des Meeres Port. An Benedikt sucht sie im Haus ihren Ort. An Bartholomäus ist sie wieder fort. Alte Bauernregeln, sagt der rauchende Mann, sagt, dass man am Neunzehnten des Monats ins Freie treten soll, um den Himmel anzuschauen. Ist er klar, bleibt er es im ganzen Jahr. Die korpulente Frau nickt: Wenn Sie es sagen. Sie haben sich noch nie geirrt. Der Mann pafft und redet und pafft. Die Zigarette hört nicht auf zu qualmen. Die Erzieherinnen lächeln wohlgefällig. Sie wollen das Kind des Tages in Empfang nehmen. Den lütten Butscher häw ick bi, sagt der Ledermantelmann. Greift hinter sich ins Leere, weil ich mich seinem Greifversuch entziehe, der plumpen Hand ausweiche. Ich kann mich nicht in Luft auflösen. Es gelingt mir nicht, in den Mantel einzusteigen, der aus einem harten, störrischen Material gegossen scheint. Nicht einen Spalt kriege ich zu fassen. Nirgendwo hinein kann ich mich verkriechen. Nix da mit Verstecken. Frisch hergezeigt, was für ein Prachtkerlchen du bist. Mit der Griffsicherheit des Mannes, der einen zappelnden Dorsch bei dessen Kiemen packt, fasst der Mantelmann mich beim zweiten Versuch hinterrücks, zieht mich hervor, präsentiert den Fang seinen erstaunten Erzieherinnen, die ihre Hände an die Wangen schlagen, aus einem gemeinsamen Mund rufen: Nicht doch, dieser da, wohl nicht der. Man verabschiedet den rauchenden Mann so rasch es geht. Man führt das Kind in sein neues Reich. Ein wohlriechendes Heim. Das empfindet das Kind augenblicklich. Dünn bin ich. Unglaublich zurückgeblieben, schimpft mich die Heimleiterin. Zurückgeblieben bin ich, denkt der Junge, der ich bin: Die Kunde, dass dem Haus ein Zurückgebliebener gebracht worden ist, ruft Personal um den Neuankömmling herum, der im Mittelpunkt des unverhohlenen Interesses steht: Ich finde, der Kopf passt nicht zum Rest. Gott, schaut euch nur die Füße an. Was für dünne Armchen der hat. Ich finde seine Ohren schön. Und die Rippen erst. Die Erzieherinnen stehen mit schief zur Seite gelegten Köpfen vor mir. Sie blicken von ihren zur Seite gelegten Köpfen aus an mir herunter, herauf. Sie heben mich an: Wie leicht er ist. Wie eine Feder, man spürt kaum was auf seinem Arm. Ich werde in die Wanne gestellt, mit harter Bürste geschrubbt. Mir werden die Ohren durchgepustet. Ich bekomme die Haare geschnitten, die Fingernägel gestutzt. Der Doktor kommt. Sie streichen mir liebevoll das Haar. Sie wollen mir die Angst vor dem Doktor nehmen, der einen schneeweißen Unschuldskittel trägt. Andere Kinder schreien, dass der Doktor den Kittel auszieht. Bei mir löst der weiße Kittel keinerlei Angst aus: Du bist wohl Kittel gewohnt? Sie fassen meinen rechten Arm am Handgelenk. Sie sagen das Wort Mutter. Sie fühlen meinen Puls. Er regt sich nicht, bleibt konstant, wenn sie das Wort Mutter aussprechen. Das Wort Mutter ist ein meine Person nicht erregender Begriff. Das Wort fliegt durch meinen Kopf hindurch wie ein Pfeil durch eine leere Halle. Mit den Worten Wiese, Strand, Ball, Haus weiß ich mehr anzufangen. Wiese ist Spiel und Bienengesumm, im Freien essen. Der Kopf auf meinem Hals ist deutlich zu groß. Der Körper zum Kopf ist spindelmickrig und dürr. Sie nennen mich Spinne. Sie rufen mich der dünnen Ärm-chen, Beine wegen Weberknecht, Gottesanbeter. Ich stehe nackt auf dem Tisch. Die Liste fälliger Reparaturen ist lang. Ich bin ein ramponiertes Kind, bin ein untauglicher Kahn. Das Heim ist mein Reparatur-Dock. Damit das Schiff ins Dock einfahren kann, werden die Tanks des Docks geflutet. Das geflutete Schiff kommt auf Dock. Sie pumpen die Tanks leer. Das Dock hebt sich mit dem lädierten Schiff aus dem Wasser. Sie nennen diesen Vorgang in der Werftbranche Lenzen. Vom Wasser aufs Trockene bugsiert, stehe ich nackt vor dem Doktor. Der Doktor fordert mir ab, kräftig durchzuatmen, die Luft in meiner Lunge zu stauen. Der Doktor betastet mich von Halswirbel zu Halswirbel, die Wirbelsäule entlang bis zu den Pobacken. Er tastet mit spitzen Fingern die Innenschenkel entlang, prüft meine Waden, Knöchel. Ich habe meine Zehen zu spreizen. Der Doktor drückt mir in den Bauch, sucht mit den Fingerkuppen hinter meine Rippen zu kommen, fasst hinter meine Rippen, presst seinen Fingerballen in meine beiden Schlüsselbeinkuhlen. Ich lasse mir den Kopf verbiegen, den Hals dehnen. Ich stehe gerade und krumm und höre meine Gelenke knacken. Ich bin Prozeduren gewöhnt, jammere nicht, tue wie mir befohlen, schaue am Doktor vorbei, zum Fenster in die Gegend hinaus. Blicke den Frauen von oben herab auf ihre Blusen, Broschen, Finger, Hände, Röcke, Gürtel, Falten, Hüften, Strümpfe, Haar- oder Schuhspitzen. Tut das weh? Ich schüttle den Kopf. Tut das weh? Ich schüttle den Kopf. Tut das weh? Ich schüttle zu allen Fragen den Kopf. Ich sehe den Doktor bedenklich gucken. Ich sehe ihn sich jäh abwenden. Er redet im leisen Ton. Die — Erzieherinnen mustern mich und blicken den Doktor an, ehe sie gleichzeitig nicken. Eine Erzieherin schnäuzt in ihr Taschentuch. Der Doktor bespricht die Befunde und gibt Taktiken vor. Sie nehmen mich spät vom Tisch herunter. Sie stehen noch lange vor mir. Sie stehen und legen die Köpfe noch schiefer. Drei Jahre, heißt es, wird es dauern. Die Zeit geht schnell um. Aus dem Zurückgebliebenen muss ein Nichtzurückgebliebener geformt sein, ehe ich ins Schulheim darf. Die Heimleiterin kommt hinzu: Reden magst du nicht? Nun gut. Mit niemandem? Ich bin die Banni. Darfst Banni zu mir sagen. Ziehst vor zu schweigen. Ist manchmal besser, schweigsam sein. Der Fisch dort im Aquarium redet auch nicht viel. Im thüringischen Sömmerda verdurstete der neun Monate alte Leon. Die Mutter hatte ihn und seine zweijährige Schwester in der Wohnung zurückgelassen. Das Mädchen wurde nach vier Tagen gerettet, nachdem sich Mitarbeiter des Jugendamtes Zugang zu der Wohnung verschafft hatten. "Wir schreiben das Jahr 1958. In den westdeutschen Kinos läuft der Film Diebe habens schwer, eine Komödie über Kleinkriminelle, die vom großen Geld träumen. Im Osten Deutschlands feiern die Bürger den Sputnik 1, von sowjetischem Boden aus in den Kosmos gesandt. Wir sind im Osten Deutschlands. Der Segen hängt schief zwischen Ost und West. Die Berlinkrise, ausgelöst durch die ultimative Forderung der Sowjetunion nach der Entmilitarisierung Westberlins, und die gewaltsame Kollektivierung in der Landwirtschaft lassen den Flüchtlingsstrom aus der DDR in die Bundesrepublik wieder anschwellen. Am Ende sind seit der Gründung des Staates bis zum Mauerbau nicht weniger als 2,7 Millionen DDR-Bürger in den Westen geflohen. Don ziehn sie hin auf wilden Meereswogen, arm kommen sie im fernen Weltteil an, und unterm fremden, weiten Himmelsbogen erwartet sie ein neues Schicksal dann, Elend, Armut und Kummer wiegt sie 1 gar oft in Schlummer, oh armes Deutschland, kannst du ohne Graun die Flucht der armen Landeskinder schaun. Um mich herum Bedürftigkeit, Fantasie durch Mangel. Der Staat ist die Luft um uns herum. Wir atmen den Staat. Der Staat lässt uns nicht dick werden, im Hirn nicht und nicht am Bauch. Der Fußballgott des Jahres heißt Pele und ist so jung wie die älteste Tochter der Heimleiterin. Ohne Mutter, ohne Vater aufgewachsen, bin ich belastet genug und weiß ein paar Jahre später, dass ich später Schriftsteller werden muss, dafür einzustehen, dass ich in der schönen Limousine sitzen bleiben darf und nicht Gleisarbeiter, Knastbruder, Militär werden muss wie so viele Jungen im Heim, denen nichts anderes übrig blieb. Traumhaftes Ende einer langen Suche: Nach sechsundsiebzig Jahren hat eine im Krieg heimatvertriebene Frau ihre dreiundneunzigjährige leibliche Mutter wiedergefunden. Hartnäckige Recherchen ihrer Schwiegertochter und die Fachkunde des Kirchlichen Suchdienstes führten die beiden Mitte August nach jahrzehntelanger Trennung zusammen. Beim Suchdienst in Passau war von einem Jahrhundertereignis die Rede. Anhand der Geburtsurkunde sei die Gesuchte in einem Seniorenheim ausfindig gemacht worden. Familienmitglieder sind erstaunt über die verblüffende Ähnlichkeit der beiden Damen. Die Seniorin hatte als sechzehnjähriges lediges Mädchen im heutigen Tschechien ihre einzige Tochter zur Welt gebracht und ins Waisenhaus geben müssen. Sechs Jahre später kam das Kind zu Pflegeeltern und landete nach der Vertreibung 1945 in einem schwäbischen Flüchtlingslager. Zu ihrer Familie gehören zwei Töchter, ein Sohn, fünf Enkel und ein Urenkel, der sich über eine neue, äußerst seltene Verwandte freuen darf: die Ururoma. Durch kirchliche Suchdienste sind nach dem Zweiten Weltkrieg an die 19 Millionen Menschen ausfindig gemacht worden. In der Kartei befinden sich nach den Wohnorten in den Vertreibungs- gebieten erfasst zwanzig Millionen Namen, das Schicksal von mehr als fünfhunderttausend zivilen Vermissten bleibt unaufgeklärt. Die Heimleiterin hegt eine Vorliebe für Sonderfälle. Ich bin ein vierjähriger, der Zuwendung würdiger Fall. Ich muss vor ihr stehen, dass sie den Sonderfall überblickt. Zwei Mädchen stehen dabei. Sie sind die Töchter der Heimleiterin, Rosa und Lena. Brav stehen sie, andächtig mit staunenden, offenen Mündern. Sie tuscheln leise. Ich verstehe nicht, was unter den Mädchen getuschelt wird. Sie lachen mich an. Ich lache die beiden Mädchen nicht an. Sie nehmen mich links und rechts bei den Händen. Ich gehe mit den Mädchen unter Achtungshinweisen die schmale Treppe empor in deren Kinderzimmer. Oh, diese Helle, denkt es in mir. Welch eine Farbenpracht. Ich soll den Sessel besteigen. Ich soll in ihm Platz nehmen. Ich sitze wie in Gips gegossen. Ich wage nicht, mich zu bewegen. Ich erstarre vor Glück. Ich hocke steif und angefroren. Ich kauere im Sessel. Die Mädchen reden wechselseitig auf mich ein. Brauchst nicht bei den anderen sein. Wohnst bei uns. Freust du dich? Schau, was wir für dich vorbereitet haben. Welch ein Singen, Musizieren, Pfeifen, Zwitschern, Tirilieren, Frühling kommt mit Sang und Schalle. Wie sie alle lustig sind, flink und froh sich regen, Amsel, Drossel, Fink und Star und die ganze Vogelschar, wünschen dir ein frohes Jahr. Ich bekomme ein Bett zugewiesen. Ich darf im Mädchenzimmer schlafen. Ich erlebe wundervolle Tage, Wochen, Monate. Die Ärzte besuchen mich im Mädchenzimmer. Ich werde im Beisein der Mädchen untersucht und vermessen, gewogen und betastet, mal mit gerunzelter, mal mit nicht gerunzelter Stirn vom Arzt begutachtet. Die Mädchen ergehen sich an meinem Dasein, finden süß und bezaubernd. Ich bin ihnen ein Püppchen. Sie binden mir Schleifen ins Haar. Sie ziehen mir Mädchenkleider an, benehmen sich hefhWlr Ia«4»>n und albern viel; eine Heiterkeit herrscht, die leise auf mich überspringt. Ich lache nicht, ich lächle kurz. Ich esse bei den Mädchen am Kinderzimmertisch. An Feiertagen bekomme ich Extraportionen. Was die Mädchen nicht mögen, schieben sie mir hin, was ich nicht aufessen mag, teilen sie unter sich auf. Alle wolln wir lustig sein, lustig wie die Vögelein, hier und dort, feldaus, feldein, springen, tanzen, scherzen. Kannst Schwester zu jeder von uns beiden sagen. Bist unser kleines Brüderchen. Wir tun ja nur so. Ich mag meine beiden Schwestern. Ich gefalle den beiden Mädchen sehr. Ich darf mit ihren Spielsachen spielen. Sie stellen mir ihre Spielutensilien zur Verfügung. Ich nenne einen hölzernen Traktoren mein. Sag, das ist ein Traktor. Sprich uns nach. Sag Traaak-tooor. Sag Tuff. Ich rede nicht. Ich grinse die Mädchen an. Sie einigen sich rasch. Sie sagen: Dann eben nicht. Und wenn ich weine, sagen sie: Weine nicht, kleiner Bruder. Und dann sagen sie wieder: Sag Tute, Tuuu-teee. Im Oktober starb im sächsischen Zwickau der vierjährige Mehmet an Hirnblutungen. Sein Stiefvater hatte das Kind unter anderem mit einem Bambusstock geschlagen und ihn nachts an sein Bett gefesselt. Die Eltern mussten sich wegen Totschlags verantworten, dem Jugendamt konnte kein Fehlverhalten nachgewiesen werden. Mehmets drei Geschwister leben heute bei Pflegefamilien. Die leibhaftige Mutter hat mich verlassen. Ich werde in das nach Krankenhaus riechende Säuglingsheim überführt. Ich dämmere hinter weißen Gitterstäben eines Kinder-hausbettes. Ich bin im wahrsten Sinne flach auf den Rücken gelegt und gelte als Kümmerling. Ich starre die Zimmerdecke über mir an, blicke auf Wasserflecken und Schattierungen, verfolge Schattenspiele, die sich mühen, mir Abwechslung zu bringen. Helle und dunkle, harte und weiche Strukturen. Tröstende und Angst einflößende Deckenlichtspiele, die Stadt vergessen machen wollen. Schatten. Animation. Licht. Gewicht. Gaukeleien gegen die Trostlosigkeit und Abnabelung, die nicht zu heilen ist, die mit mir überlebt und wächst und groß wird und erst zum Lebensende hin, am Schluss mit mir absterben wird. Ich halte meine Faszination fürs Zimmerdeckenschattenspiel für den Grund dafür, dass ich so ein stilles Kind geworden bin. Das unansprechbare, das abweisende, unantastbare Schweigekind. Ein einziges Verstummen. Wenn ich heutzutage auf dem Rücken liege, was äußerst selten geschieht, wenn ich nur den Versuch unternehme, fange ich an zu stammeln. Ich höre dann Musik dazu, von Clara Schumann, weil ich von unser beider Kindheit weiß, der ihren und der meinen, dass auch sie erst spät, im Alter von vier Jahren, zögerlich zu reden begann. Man hatte sie vom Vater getrennt und bei ihren Großeltern untergebracht. Sie sagen, dass die Verzögerung psychische Ursachen hat, aber sie können es nicht eindeutig nachweisen. Und sagen: Gott zum lobenden Dank hob Clara im Alter von fünf Jahren an, intensiv Klavier zu spielen und sich unterrichten zu lassen, wie ich mich in der Sprache der Blaumeisen einfühlte und es zur Meisterschaft brachte. Nur trete ich mit meinem Können nicht öffentlich auf wie Clara und keine Zeitung schrieb: Bewundernswert und angenehm, der erst fünfjährige Junge aus dem Kinderheim Haus Sonne, mit so herrlichen Anlagen ausgestattet, Vogelstimmen perfekt zu imitieren und in erstaunlicher Vielfalt wie Variationen zu Gehör zu bringen. Unvergessen seine kleine Schneepolka der frierenden Blaumeisen, zu Recht der allgemeine herzliche, wohlverdiente Beifall zum Ende der Aufführung. Unter der Leitung seiner vogelstimmenerfahrenen Erzieherin dürfen wir jetzt von einer größeren Hoffnung reden. Als Artikulationsorgane oder Sprechwerkzeuge bezeichnet man Körperteile, die für die Erzeugung von Sprache zum Einsatz gebracht werden. Die Nase. Der Gaumen. Die Zunge. Der Rachen (Pharynx). Der Kehldeckel (Epi-glottis). Der Kehlkopf (Larynx) mit den Stimmfalten oder Stimmbändern. Die Luftröhre (Trachea). Die Lunge und das Zwerchfell. Ihre Anordnung im menschlichen Körper ist von Bedeutung. Würde der Kehlkopf eines Hundes eine Position wie beim Menschen einnehmen, so könnte der Hund ähnliche Laute produzieren. Laute sind Schallwellen. Um Schallwellen zu produzieren, setzt die Lunge einen Luftstrom in Bewegung. Laute werden produziert, indem Luft von der Lunge durch den Kehlkopf in den oberen Artikulationstrakt (Mund, Nase, Rachen) gedrückt wird. Man nennt diesen Luftstrom egressiv. Der egressive Luftstrom wird in Schwingungen versetzt. Die Schwingungen entstehen im Kehlkopf. Knorpel lenkt die Schwingungen der Stimmbänder. Den Freiraum zwischen den Stimmbändern nennt man Stimmritze (Glottis). Stimmbänder und Stimmritze bilden die Stimme, ihre Tonhöhe und Lautstärke. Stimmhafte Laute, Vokale und Konsonanten wie [m], [bj, [d] entstehen, wenn die Stimmritze zu einem Spalt verengt ist und die Stimmbänder schwingen. Nach dem Defilieren des Kehlkopfs und der Stimmbänder sprudelt die Luft in den Artikulationstrakt. Man unterscheidet zwischen beweglichen (aktiven) und unbeweglichen (passiven) Artikulatoren. Zu den unbeweglichen Artikulatoren zählen die oberen Zähne, der Knochendamm (Alveolarkamm) hinter den oberen Zähnen, der Gaumen, die Wölbung hinter dem Knochendamm. Als bewegliche Artikulatoren sind zu nennen: der Rachen, der sich verengen oder erweitern lässt. Der weiche Teil unseres Gaumens (Velum), der mit dem Zäpfchen (Uvula) endet. Der weiche Gaumen wird gehoben. Der Nasenraum ist somit verschlossen. Die Luft kommt nicht durch die Nase, sondern entweicht in den Mundraum. Es entstehen Orallaute: Mit Ausnahme von [n], [m] und [n] sind alle Konsonanten und Vokale im Deutschen Orallaute. Der weiche Gaumen wird gesenkt. Die Luft will nun durch Mund und ~Na*r pnt- weichen. Es werden nasalisierte Vokale erzeugt. Der weiche Gaumen wird gesenkt. Der Mund ist geschlossen. Die Luft fließt durch die Nase. Es werden nasale Konsonanten [n] und [m] gebildet. Die Lippen legen sich aufeinander, [m] und [p] können manipuliert werden. Die Lippen klaffen weit, [u] und [o] die Worte Uhr und Ort entstehen. Der Unterkiefer dirigiert die Lippen. Die Zunge ist ein beweglicher Artikula-tor. Man kann die Zunge nach vorne schieben und nach oben drücken, für das [i] wird die Zunge nach hinten gestaucht, für das [u] leicht angehoben, nach hinten und unten drückt der Mensch die Zunge, will er [a] sagen. Charakteristisches Symptom des Wohlbefindens bei Säuglingen ist das Lallen. Das Kind lallt aus einem spielerischen Selbstzweck heraus. Das Kind lallt zur Erprobung und Eroberung seiner Artikulationsorgane. Die endlose Wiederholung einzelner Silben, deren freie Modulation schaffen großartige Lallmonologe, die sich auf die Artikulationsorgane auswirken, sie trainieren, schleifen. Das Kind ist sein eigener Sprachpädagoge. Ich artikuliere mehr von außen her nach tief innen. Ich bin kein zappliges Kind. Ich bin des Lebens zu müde und eher apathisch. Ich liege, wie gesagt, auch heute noch nicht gerne auf dem Rücken. Ich erlebe in dieser Körperlage all die auditiven Wahrnehmungsstörungen frühester Kindheitstage wieder. Ich durchstehe nur schlecht all meine organischen Einschränkungen, all die nie verheilten Behinderungen meiner Artikulationsorgane, dieser so fehlerhaften Sprechwerkzeuge. Man nennt die sich daraus ergebenden Folgen kognitive Entwicklung. Zu meinem Selbstschutz gegen die mich anspringenden, mir allzu bekannten Gefühle ersinne ich seit jenen Kindheitstagen Melodien. Ich summe eine Art perpedomobile Melodie, ahme fernes Klimpern nach, presse ein immerwährendes Schrammein und Zupfen von Alltagsgeräuschen hervor, wie von einer kaputten Geige. Ich sage Worte wie ule und uhe statt Schule und Schuhe. Ich säusele leise Texte: bule, sule, wule, kule, mule, tule, fule, dule, pule. Ich beherrsche augenblicklich den S-Laut nicht, spreche immer falscher zu mir, bilde liegend meine Sprechorgane zurück, beginne schrecklich zu lispeln. Auch heute noch befällt mich in Rückenlage aufflammendes babyhaftes Stammeln. Alles Folge von nicht ausgestandener, verzögerter Sprachentwicklung des Kindes, das in einem Gitterkindsbett an die Gitterstäbe gefesselt daliegt. Unerhört dicht an die Latten gebunden in einer eigens paraten Windel, mit einer wohlgeübten Bindetechnik fixiert, wie sonst nur die zappligen Kinder gebunden und ruhiggestellt. Je länger die Rückenlage andauert, umso intensiver töne ich. Mein ängstliches Schrammein geht dann in bebende Stimmstärken über. Mein Summen wird zum verbalen Klopfen, als klopfte da der Kolkrabe in mir leise gegen Gitterstäbe, als drückte da ein Irrer auf einem Klavier die ewig gleichen Tasten. Das grausame Pochen von metallischen Barren erzeugt. Ich habe nicht Stimme. Ich klinge wie Gurgeln eines Naturvolkes. Didjeridu, ich bin die Holztrompete der australischen Ureinwohner. Didjeridu, ich bin ein von Termiten ausgehöhlter Eukalyptusast ohne separates Mundstück. Didjeridu, man nutzt mich zu Gesang und Tanz bei Feiern, Festen und Zeremonien. Didjeridu, sie schlagen auf das Rohr und imitieren meine Laute. Didjeridu, sie heilen sich an meinem inneren Stammeln, verjagen alle Art von Krankheiten. Didjeridu, ich werde im Zuge des gesteigerten Interesses an meiner Kunst ein deutscher Ureinwohner, ein führender Kehlkopf in den Alternativkulturen des Landes, zu einem beliebten Instrument in der modernen Musik, in der Meditation. Ich bin aufgenommen. Ich bin in einem Haus untergebracht. Basierend auf dem Gedanken Fröbels, dass dem Spiel der Kinder Bedeutung beizumessen ist, verbringe ich den Tag unter Kindern im Spielraum. Man schickt mich mit den Kindern hinter das Haus. Ich verhalte mich in der abgeschlossenen Gartenatmosphäre hinter hohen Hecken nicht kinderheimgerecht. Ich stehe da. Ich nehme nicht teil. Man versucht mich zu motivieren. Da ist aber noch nichts an mir zu motivieren. Ich stehe steif und still, wie ich will. Ich entwickele mich unter bedürftigen Knospen zur Knospe. Ich bin angehalten, mich vollends zu entfalten. Meine Blütenblätter sind zu ungelenk. Im Schnee, dichtet Trakl, der Wahrheit nachsinnen, viel Schmerz! Endlich Begeisterung. Bis zum Tod. Winternacht. Ich sitze am offenen Fenster. Ich sende Gedanken zum Wald vor meinen Augen hin. Ich höre Bäume reden. Bäume sprechen mit mir. Ich bin Baum unter Bäumen, sagt ein Baum. Die anderen Bäume bestätigen seine Worte, mit ihren Blättern raschelnd. Ich träume mich als Baum unter Bäumen. In der Nacht steht der Wald an meinem Bett. Nächtliche Bäume reden auf mich ein. Wir sind vom Wind bestäubte, haben wie du keinen Vater und keine Mutter nicht. Besteige uns, wenn du groß bist. Klettere über unsere Zweige bis ans Himmelszelt. Tritt in den von Sternen, Kosmonauten, Insekten und Vögeln bevölkerten Himmel. Unsere Brüder sind Eichen, Ahorn, Buchen, Fichten, Tannen. Wir schütteln und wir rütteln uns dir zur Freude. Fledermäuse wohnen in unseren Armen. Wir wollen Freund dir sein. Wir leiten dich. Die Bremer Polizei findet den zwei Jahre alten Kevin tot in einem Kühlschrank. Sein Ziehvater soll den Jungen brutal misshandelt und schließlich getötet haben. Der Fall sorgte bundesweit für Entsetzen, weil der Junge unter der Vormundschaft des Jugendamtes gestanden hatte. Ein Urteil in dem Prozess steht noch aus. Ich frage nicht nach einer Mutter. Ich frage nicht nach einem Vater. Du fragst nicht nach der Mutter, wenn die Mutter nicht in dir spricht. Du weißt von nichts, wenn du von nichts gesagt bekommst. Du sehnst dich nicht nach Familie und Geborgenheit, wenn du von den Begriffen kei- nen Begriff hast. Du fühlst kein Muttersehnen, wenn du ein Rehkitz bist, vom Mutterreh im hohen Gras hinterlassen. Man nimmt dich auf oder du kommst um. Ich sehe mich in mutterlose Einsamkeit gehüllt; treibe meine Einsamkeit hinaus; steuere den Mutterpool an, um Last abzuwerfen, die nicht abzuwerfen ist; die Schmach meines Lebens, meine Lebenshaut, die mir nicht abgenommen werden kann, die ich nicht abstreife. Ich bin keine Schlange, kann mich nicht häuten. Ich enge mich ein, um der Mensch zu werden, der das Kind zu seinem Lebensende hin im Alter endlich sein kann, wenn der verlassene Mensch nur reichlich in sich gebunden existiert, seine eigene mutterlose Mumie wird. Ich glänze, was eine Mutter anbelangt, durch Mutterfehlen. Mein Hirn bleibt mutterrein. Wir sind nichts; was wir suchen, ist alles. Hölderlin. Das Wort Heimsuchung habe ich nie als einen mir und meinem Leben zugedachten Ausdruck interpretiert. Es fehlt mir auf bewundernswerte Weise an Muttersucht, mich lenkt der nicht auf die Mutter gerichtete Singleinstinkt. Ich trage keinen Mutterruch in meiner Nase. Ich sehe keinen Mutterschatten an mir vorbeihuschen. Ich weiß nicht einmal, dass ich eine Mutter haben muss. Ich weiß nicht einmal, dass sie fort ist. Also spiele ich unbekümmert und muss nicht aufmerken, der Nase nach kriechen. Ich weiß nicht von meinen mutterlosen ersten vier Lebensjahren. Es ist niemand da, mir Vorfälle zu überliefern. Es ist niemand da, sich für mich zu erinnern. Da ist kein Onkel, keine Tante, die mich »typisch« nennt, einen Urgroßvater zum Vergleich anführt, gewisse Verhaltensweisen mütterlicherseits erkennt. Kein Familienmitglied erinnert sich für mich, sagt zu mir, ich wäre so und so gewesen, hätte dieses und jenes getan. Nichts ist von meinen vier ersten Lebensiahren überliefert, außer. Hass die. viVr An- fangsjahre durch Schweigen und Leere gekennzeichnet sind. Ich weiß nichts von Heimsuchung, nichts von der Maria und Verkündigung, Geburt Jesu, dem Erzengel Gabriel, Marias froher Botschaft, dass sie von Gott zur Mutter seines Sohnes erwählt worden sei, denn: Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten; darum wird auch das Heilige, das von dir geboren wird, Gottes Sohn genannt werden und: Der Verkündigung nach soll das Kind Jesus genannt werden und der verheißene Messias sein. Ich kenne die Schrecken und Bedenken angesichts der göttlichen Offenbarung nicht. Maria geriet mir nicht zur Mutterschaft, nahm mein Unheil nicht an, machte die andere Möglichkeit nicht möglich. In Hamburg verhungert die siebenjährige Jessica. Zum Todeszeitpunkt wog sie nur noch 9,6 Kilo, konnte weder sprechen noch gehen. Die Eltern wurden wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Stadtregierung gestand eine Mitverantwortung ein. Mehrfach hatte ein Mitarbeiter der Schulbehörde an der Tür geklingelt, weil Jessica nicht in der Schule erschienen war, und war unverrichteter Dinge wieder gegangen. Andere Kinder werden beim Wort Mutter durchweg erregt. Ich sehe die Frauen, die uns Kinder im Heim aufsuchen. Tränen zwingen sich den armen Kindern auf. Das Kind steht neben sich und ist völlig unkonzentriert. Das Kind hat einen Mann und eine beim Manne eingehakte Frau das Heimgelände betreten sehen. Das Kind weiß, was kommt und passieren kann. Die beiden sollen das Kind erspähen. Die Frau kniet vor dem Kind nieder. Die Frau streichelt die Wange des Kindes mit ihrem weichen Handschuhrücken. Das Leder duftet. Die Frau sieht dem Kind einmal nur zu tief in die Augen, schon ist die Sache entschieden, die Frau dem Kind verfallen. Es stellt sich eine übersinnliche Verbindung her. Die Frau Ironn cicln Apr Tränpn ans Ianrpr Ergriffenheit nicht erwehren. Die ergriffene Frau muss sich aufrichten. Der Mann hilft ihr hoch. Sie wird vom Manne fest an die Schulter gedrückt. Sie senkt ihren Kopf zum Hals des Mannes. Der steht steif und still herum. Verwirrte Blicke irren im Raum. Die Heimleiterin schaut das Kind an. Der Mann blickt über den Kopf der Frau hinweg zur Heimleiterin, die nickt und lächelt, während das Kind die Szenerie weiterhin gebannt verfolgt. Alles Weitere könnte dann klargehen. Das Kind könnte auserwählt sein und das Heim bald verlassen. Deswegen rennt dieses Kind so hektisch im Raum umher, seit Stunden nun am Fenster, Ausschau zu halten, nach der eventuellen Mutter, die kommen soll, die kommen wird, die kommen muss. Ich gruppiere mich nicht freudig in die Riege der Heimkinder. Ich werde als sonderbar eingestuft. Man lässt mich am Fenster stehen und nimmt wahr, dass mein Gesicht sich erhellt, wenn die Vögel im Vorgarten um das Vogelhaus flattern. Es ist Winter. Ich stehe in Pudelmütze, Winterjacke, Handschuhen und dickem Schal am offenem Fenster. Ich rühre mich nicht. Auf dem Fensterbrett liegen Samen ausgestreut. Die Vögel kommen und holen sie sich. Ich habe Blickkontakt zu ihnen. Wir reden in einer geheimen Sprache. Wir stummen und tauschen uns lebhaft aus. Ich habe in den Winterwochen bis zum Frühling hin mit den Blaumeisen eine spezielle Form der Verschwiegenheit ausgeübt. Die Sprache der Vögel, je öfter wir uns trafen und ausgetauscht haben, wurde mir vertraut. Ich hätte mich mit den Vögeln mühelos besprechen können, wenn es mir nur vergönnt gewesen wäre, die Lippen zu öffnen und zu tschilpen. Muttersprache, Mutterlaut, wie so wonnesam, so traut, erstes Wort, das mir erschallet, süßes erstes Liebeswort, erster Ton, den ich gelallet, Sprache, schön und wunderbar, ach wie klingest du so klar, will tiefer mich in Schweigen vertiefen, in den Reichrum, in die Pracht, ist mirs doch, als ob mich riefen, Väter aus der Grabesnacht, ach wie schwer ist mir der Sinn, der ich in der Fremde bin, der ich fremde Zungen höre, fremde Worte sprechen muss, die ich nimmer mehr kann lieben. Die Lippen fest verschweißt, habe ich mit meinen blauen Meisen die stille Art der gemeinschaftlichen Konversation getätigt, die beherrscht, wer zu den Tieren Kontakt pflegt. Heimlich treffe ich mich mit meiner dankbaren Blaumeise hinterm Heim im Garten. Sie ist zögerlich, auf Abstand bedacht, sitzt hinter den Ästen in der Hecke versteckt, wo ich sie als Schatten hin und her hüpfen sehe, wenn sie mir Abenteuer unterbreitet. Lauter unglaubliche Anekdötchen ihrer Umtriebigkeit, diesem Wesenszug, den sie mit den Meisen dieser Welt teilt, wie sie sagt; und verliert ihre Menschenfurcht, hüpft jeden Tag ein Stückchen näher an mich heran, der ich steif vor ihr sitze, unbeweglich bin; eine kindliche Statue, die den Finger ausstreckt. Dann erobert der Vogel meine Fingerkuppe, meinen Arm, springt kühn auf meine Schulter, piept mir ins Ohr, flüstert, dass wir gute Freunde sind. Ist ständig auf meiner Schulter. Hat seinen Lieblingsplatz in der Kuhle meines Schlüsselbeins. Spricht von seiner liebsten Tante, der Tannenmeise. Spricht von der kecken Federhaube, der Haubenmeise, die die Sumpfmeise nicht mag. Spricht über die Weidenmeise, die mit der Schwarzkopfmeise befreundet ist, will eine Höhlenmeise kennen, wohnhaft in einem morschen Baum hinter der nahen Gärtnerei. Nennt von der Blaumeise, der Tannenmeise, der Haubenmeise, der Sumpfmeise, der Weidenmeise, der Schwarzkopfmeise, der Sultansmeise die lateinischen Kosenamen, spricht sie fehlerlos aus. Parus caeruleus, Parus ater, Parus cristatus, Parus palustris, Parus montanus, Parus atricapillus und Melanochlora sultanea. Ich sehe mich kopfüber mit nackten Zehen am Vogelhausbrett gekrallt hängen, bin ein Vogelkind unter Fledermäusen, in der Kunstfertigkeit unterwiesen, die mir behilflich ist, an der Schmalztopfglocke zu hängen, um mich von Sonnen-blumenschmalzkernen zu ernähren. Einfach ist es nicht, kopfüber zu hängen. Das Blut staut sich. Man ist stets der Ohnmacht nahe, muss sich fallen lassen, wenn es nicht mehr anders geht, die Kräfte nicht hinreichen; am liebsten in weichen, sanften Schnee. Im Geäst entdecke ich auf Empfehlung meiner ldeinen Blaumeise zwischen Zweigen und Blättern den winzigen Zaunkönig, belesen, äußerst klug, wie die Meise lobt. Die Zeit ist günstig, kalt wie es ist, wird der Vogel Hunger haben. Wenn du Glück hast, freundet er sich mit dir an. Streue Haferflocken aus. Zaunkönige sind scheu. Ich muss das Fenster öffnen, abwarten, dass sich der Vogel nähert. Ich sitze mit Pudelmütze, Fäustlingen, Wintermantel am Fenster in meiner geheimen Dachstubenkammer, hole mir Rotwangen, Kaltnase, Frostbeulen, kriege nach dem Warten mit meinen steifen Fingern das Fenster kaum verriegelt. Es kostet mich das Dutzend Haferflocken. Es vergehen nur einige Tage. Schon sind wir in Kontakt. Es saß ein schneeweiß Vögelein, auf einem Dornensträucheiein, din don deine, din don don, sag, willst du nicht mein Bote sein, ich bin ein zu klein Vögelein, din don deine, din don don, bist du auch klein, so bist du schnell, du weißt den Weg, din don deine, weißt den Weg, din don. Der Zaunkönig kommt angeflattert. Er springt auf dem Fensterbrettchen hin und her. Er fiept im leisen, hohen, vornehmen Ton. Er ist so in Eile, wie bei einem Zwischenaufenthalt auf dem Durchreisebahnhof. Er hört sich so gebildet an, was daran liegt, dass er mich siezt. Er kommt rasch zum Punkt und zielt gleich auf das Thema, was darauf schließen lässt, dass die Blaumeise den ldeinen König vorher instruiert hat. Sie wissen, dass ich unterrichtet bin, nehme ich an, der Herr, sagt der Zaunkönig wohlerzogen. Ich müsse ihm nichts bedeuten. Er wird mir sagen, wovon zu reden sein wird. Über den Aufenthalt Ihrer Frau Mutter, dass Sie noch nichts von Ihrer Frau Mutter wissen. Er hat eine Karte bei, sie liegt vor mir ausgebreitet im Schnee. Das Spiel mit Unbekann-