Speed Wir hatten viel Spaß zusammen, Speed und ich. Deshalb mochte ich mich nicht von ihm trennen. Es hat keinen Sinn, mich selbst zu betrügen mit heuchlerischem Gerede über Mitleid und Großzügigkeit oder so was. Die Wahrheit ist, daß ich ihn nicht fortschickte, weil ich ihn gern um mich hatte. Er war völlig im Recht, als er sagte, daß ich noch keinen wie ihn getroffen hätte. Tatsächlich war er etwas vollkommen Neues - ein mir ganz unbekannter Menschenschlag, mit all seinen Launen, seiner glatten und wilden Eleganz, seiner ungestümen Lebenskraft, seiner ungezügelten Phantasie, seinem boshaften Witz, seiner Grausamkeit, seiner unberechenbaren und kaum zu fassenden Ignoranz. Am Anfang versuchte ich noch, ihn zu erziehen und ihn zu «retten». Ich war schon immer an Pädagogik interessiert und hatte ursprünglich auch Lehrer werden wollen. Später, als ich heiratete, hoffte ich auf einen Sohn. Speed war natürlich nicht unbedingt so, wie ich mir meinen Sohn vorstellte. Trotzdem, hier war er - und da alles sich verrückt entwickelt hatte - in meinem Privaüeben und in der Welt sowieso —: warum sollte ich nicht auch einen leicht Verrückten als Sohn akzeptieren, zumindestens für einige Zeit? Sein absoluter Mangel an Bildung war etwas, das niemals aufhörte, mich zu erschrecken und auch zu kränken. Er wußte nicht, von welchem Land Paris die Hauptstadt war, und hätte ich ihm erzählt, William Shakespeare sei ein amerikanischer Industrieller, so hätte er mir sicher geglaubt. Er meinte, ich wolle scherzen, als ich in irgendeinem Zusammenhang erwähnte, daß gewisse Teile seines Landes einmal einer fremden Macht gehört hätten. - «Weißt du wirklich nicht, 138 Erzählung 1940 wer George Washington war?» fragte ich ihn völlig perplex. «Niemals vom Unabhängigkeitskrieg gehört?» - Er hatte ein listiges Funkeln in den Augen, als er mit einer seltsam tiefen, gedehnten Stimme sagte: «Sicher, ich weiß schon ...: Besteuerung ohne Mitbestimmung... Das war's, worüber sich diese alten Knacker in Boston so aufregten ...» Es war sehr merkwürdig, daß ersieh gerade an diesen einen Satz erinnerte, der für sich genommen sinnlos war, wie an eine Zauberformel. Ich mußte bald erfahren, daß es vollkommen hoffnungslos war, ihm etwas von fremden Ländern oder früheren Zeiten erzählen zu wollen. Es interessierte ihn einfach nicht. «Hör schon auf!» sagte er barsch. «Es juckt mich nicht, was vor Hunderten von Jahren passiert ist. Wir haben selbst Arger genug, heutzutage.» Er gähnte und schnitt Gesichter, wenn ich ihn aufforderte, in eine Zeitschrift zu schauen oder einen Zeitungsartikel zu lesen. Gedrucktes langweilte ihn nicht nur, sondern ekelte ihn geradezu. Das einzige, was er las, waren die Comic-Serien, die er eifrig in den Abend-Blättern studierte. Er kreischte vor Lachen und versuchte oft, mich an seiner überschwenglichen Freude teilhaben zu lassen: «Das ist wirklich gut - schau es dir an!» Er wollte mir immerzu die Dinge erklären, von denen er begeistert war: es lag etwas Rührendes in seinem unermüdlichen Eifer. Ich fürchte, daß ich auf meine Art ein ebenso hoffnungsloser Schüler war wie Speed seinerseits. Ich hatte nicht das gleiche Vergnügen an den Gangster-Filmen oder Western; die Baseball-Spiele langweilten mich, und über Comics konnte ich kaum lachen. Trotzdem schätzte ich Speeds ständiges Drängen, an seinen Vergnügungen teilzunehmen. Ich glaube immer noch, daß er mich als Freund angesehen haben muß, in einem verborgenen Winkel seines Herzens. Er trottete hinter mir her wie ein Hund: den Grund habe 139 Speed ich nie ganz verstanden. Denn er wußte mit Sicherheit, daß ich keine Reichtümer besaß - obgleich er sich wohl auch nicht vorstellen konnte, wie arm ich wirklich war ... Er hielt es für selbstverständlich, daß ich Geld genug hätte, um ihm gelegentlich einen halben Dollar zu schenken, und niemals bat er um mehr. Ich bezahlte für ihn Essen und Trinken und nahm ihn mit ins Kino. Das bedeutete ihm offensichtlich etwas. Auch daß er auf meinem Sofa schlafen konnte, wenn er für die Nacht keinen anderen Platz fand - was ziemlich oft vorkam, zwei oder drei Mal in der Woche. Denn sein früherer Zimmernachbar war noch immer wütend auf ihn, und die Wohnung seiner Schwester Lucy bot gerade Platz für einen einzigen Gast: «Deshalb will ihr Freund natürlich nicht, daß ich da herumhänge, wenn er selbst am Abend frei hat», erklärte Speed. Manchmal verschwand er für ein oder zwei Tage - entweder, weil er etwas zu «erledigen» hatte mit seiner Schwester oder ihrem Freund oder weil irgendwelche lustigen und abenteuerlichen Ereignisse seine ganze Zeit beanspruchten. Außergewöhnliches erlebte er, seinen dramatischen Berichten zufolge, oft. Junge Frauen in prächtigen Pelzmänteln nahmen ihn in riesigen, eleganten Autos mit und bewirteten ihn in ihren teuren Wohnungen. Manchmal rief er mich um vier oder fünf Uhr morgens an und beharrte mit der törichten Hartnäckigkeit des Betrunkenen darauf, daß es Mittag sei und die Sonne scheine. Am nächsten Tag wirkte er amüsiert und geschmeichelt, wenn ich ihn über seinen Irrtum aufklärte: «Ich muß völlig blau gewesen sein!» Er grinste kindisch zufrieden. Er kam immer zurück zu mir: Ich weiß nicht warum - aber er kam immer wieder. Vielleicht war es das gewisse Minimum an Sicherheit - etwas wie ein Heim, das ich ihm bot. Vielleicht war es dieses kleine bißchen Behaglichkeit und Frieden, was 140 Erzählung 1940 er schätzte oder sogar brauchte, trotz all seiner Freiheitsliebe. Er war unglaublich arm - so extrem und absolut, wie es unvereinbar schien mit jeder noch menschlich zu nennenden Lebensweise. Er war wirklich arm wie die Tiere des Waldes. Glücklicherweise machte er sich seine elende Lage niemals bewußt - obwohl er sie gespürt haben mag, manchmal, in einer kurzen und erschreckenden Ahnung. Immer wieder faszinierte und verwirrte er mich, und er rührte mich oft durch seine natürliche Freundlichkeit, die sanfte Heiterkeit seines Lächelns. Ein andermal war er eine richtige Nervensäge, dann stieß er mich durch unmäßig grobes Verhalten ab. Ich geriet nicht selten in arge Verlegenheit, wenn er den «starken Mann» spielte, in einem Restaurant oder in einer Bar, oder wenn er sich produzierte, um ein Mädchen am Nebentisch zu beeindrucken. Aber dann versöhnte und bezauberte er mich aufs Neue mit einem Lächeln oder einem Wort - einem Wort vielleicht, das seine Schwester Lucy betraf... Ich war immer noch begierig, sie kennenzulernen. Er nutzte meine Schwäche und Neugier ganz offenkundig aus und setzte seine unsichtbare Schwester als Lockvogel ein. Er präsentierte mir ihr Foto - dasselbe, das er mir schon früher gezeigt hatte -, und grinste reichlich sentimental, als er sagte: «Behalt es als Andenken, Clarence! Es ist alles, was ich habe ... Ohne das Bild werde ich mich wohl ziemlich einsam fühlen ...» Manchmal konnte er so ganz beiläufig vorschlagen: «Komm, wir schauen bei Lucy vorbei. Sie arbeitet noch in derselben Kneipe.» - Aber dort war keine Lucy ... Was für ein Leben führte sie? Wie stand es um diese sagenhaften Freunde, die eine so beherrschende Rolle in Speeds Gesprächen spielten? Er sprach von ihnen wie von einer überaus mächtigen und gefürchteten Geheimorgani- 141 Speed sation. Einmal bat er mich, einen Brief aufzugeben, den er geschrieben hatte, während er auf mich wartete. «Aber vergiß es nicht!» ermahnte er mich. «Er ist an Lucys Freund, und er macht mir die Hölle heiß, wenn er ihn nicht bekommt. Er ist ein gefährlicher Gangster - mit dem legst du dich besser nicht an ...» Zuerst hielt ich das für einen Scherz, aber mir verging das Lachen, als ich merkte, daß Speed es unheimlich ernst meinte. Mochte Lucy wohl ebenso starke Parfüms, wie Anna sie liebte? Hatte sie auch dieselbe kindische Schwäche für grelle Farben? War sie fähig, ihren Mann zu betrügen, auf diese gnadenlose Art wie Anna, die mich verlassen hatte, mich ganz allein gelassen hatte in diesem riesigen, fremden Land? .... Ich war tatsächlich mehr und mehr geneigt, Lucy und Anna in meinem verwirrten Kopf gleichzusetzen. Beide verschmolzen allmählich zu einer einzigen erstaunlichen und verführerischen Person —: Anna, die ich verloren hatte, und Lucy, die ich überhaupt nicht kannte ... Ich lebte in einem ständigen Dunstkreis von Lügen und Wahnphantasien, völlig berauscht von der billigen Romantik der Unterwelt. Meine Lage wurde natürlich noch alarmierender, als ich begann, dieses teuflische Zeug zu rauchen. Zuerst weigerte ich mich standhaft, es zu probieren, und ich wurde sogar ziemlich ärgerlich, als mir Speed anvertraute, was für eine besondere Sorte «Tabak» es war, die seine Freundin, das Barmädchen, verkaufte. «Marihuana», sagte ich, «das ist doch ein Rauschgift, wenn ich mich nicht irre. Das ist gegen das Gesetz ...» - aber Speed reagierte nur mit einem Achselzucken: «Ist mir doch egal. Ich hab's schon als Kind geraucht, unten im Süden - und alle anderen Kinder auch. Es macht einfach Spaß -: du fühlst dich ganz leicht dabei ... Du solltest es mal versuchen, Clarence!» Aber noch wollte ich es nicht. 142 Erzählung 1940 Ich hatte Mr. Prokoff danach gefragt - «aus rein wissenschaftlichem Interesse», Er runzelte die Stirn und wiegte bedenklich den Kopf: «Marihuana?» sagte er und machte ein säuerliches Gesicht dabei, als ob er einen bitteren Geschmack im Mund hätte. «Hände weg, Mr. Kroll! Es .» Ich war natürlich sehr besorgt. «Es ist also wirklich gegen das Gesetz?» fragte ich. - «Sicher ist es das», beteuerte er, düster nickend. «Lassen Sie sich nicht in solche dreckigen Drogengeschichten verwickeln, Mr. Kroll! Ein Gentleman wie Sie ...» - «Natürlich nicht», beeilte ich mich, ihm zu versichern. «Ich wollte nur wissen, was es damit auf sich hat...» Ich kann nicht sagen, daß er nach diesem Gespräch reservierter oder weniger freundlich geworden wäre. Aber manchmal hatte ich den Eindruck, als ob mich sein sorgenvoller Blick wie eine stumme und doch beredte Warnung durchbohrte. Zur selben Zeit zeigte Mrs. Prokoff überraschende Zeichen von neuer Sympathie und Aufmerksamkeit. Sie klopfte plötzlich an meine Türe und fragte mit gurrender, leiser Stimme, ob ich irgendwelche Wünsche hätte: ein Sandwich - schlug sie vor, beinahe freundlich -, oder eine Tasse Tee ... «Eine Tasse Tee!» wiederholte Speed mit einem idiotischen Kichern. Meistens war Speed zufällig bei mir, wenn Mrs. Prokoff hereinschaute, um mit flötender Stimme ihre liebenswürdigen Angebote zu unterbreiten. «Immer munter», bemerkte sie, wenn sich Speed vor Lachen krümmte. «Glückliche Jugend! Immer ausgelassen .,.» Er kreischte geradezu vor Freude, als Mrs. Prokoff schließlich verschwand - überschwenglich belustigt durch ihr komisches Verhalten und ihre Tee-Einladungen im Besonderen. Denn in Speeds Kreisen war aus irgendeinem geheimnisvollen Grund Tee die gebräuchliche Bezeichnung für Marihuana. — «Gib mir ein paar Kröten», sagte er zu mir, «ich will Tee 143 Speed besorgen.» — Und ich gab ihm das Geld, obwohl ich es mir eigendich nicht leisten konnte. Ich gab viel mehr aus, während all dieser Zeit, als ich mir erlauben konnte. Ich wurde ziemlich unbekümmert - nicht nur, was meine Finanzen betraf. Auch wirklich wichtige Dinge nahm ich auf die leichte Schulter. Etwas in mir war zerbrochen - empfindungslos geworden und abgetötet, als ich durch eine lapidare Benachrichtigung von Anna unterrichtet wurde, daß sie wieder geheiratet hatte und daß ihr zweiter Ehemann ein hoher Funktionär der Nazipartei sei. Es war diese abstoßende Neuigkeit, die mir den entscheidenden Schlag gab. Ich erhielt ihn gerade ein paar Tage nach meiner Unterhaltung mit Mr. Prokoff über Marihuana. Und als Speed wieder drängte: «Du solltest es probieren, Clarence! Nur einen kleinen Zug ...», gab ich schließlich seinen Überredungskünsten nach. Am Anfang fand ich es ziemlich schwierig, die aromatischen Zigaretten mit der richtigen Technik zu rauchen. Ich schluckte den Rauch falsch: er kitzelte in meinem Hals, ich mußte husten, mir wurde schwindlig. Speed, der inzwischen bereits fünf oder sechs geraucht hatte, war außer sich vor Vergnügen, als er meine unbeholfenen Versuche beobachtete. «Du bist eine komische Nummer!» neckte er mich und erstickte dabei fast vor Lachen. Und dann wiederholte er immer wieder, völlig verzückt, diese sinnlosen und kindischen Worte: «Was für eine komische kleine Nummer bist du doch! Was für eine komische Nummer ...» Schließlich zeigte er mir, wie man es macht. Ich mußte den Rauch tief einatmen! Ungefähr so! - Und ich sollte dabei die Lippen spitzen -: so etwa; es war ausgesprochen einfach ... Er jedenfalls war ein Meister in der Kunst des Rauchens. Sein Gesichtsausdruck wurde ganz ernst, ja feierlich, wenn er an seiner Zigarette saugte wie ein Kind an seinem Schnuller. 144 Erzählung 1940 Er sah sehr verderbt aus, und doch auch so kindlich - ein pausbäckiges, verkommenes Kindergesicht. Ich versuchte mein Bestes, es ihm nachzumachen, und nach einer gewissen Zeit wurde ich recht erfolgreich dabei. Nach der zweiten Zigarette fühlte ich mich leicht betrunken, und nach der dritten war ich ganz schön berauscht. Was für eine merkwürdige Erfahrung! - beunruhigend und bezaubernd! Alle Dinge, mich eingeschlossen, verloren an Gewicht, wurden unwirklich; die Wände, die Stühle, meine Hände, meine Füße, das Bett, der Fußboden, die Zimmerdecke - alle Gegenstände und Gedanken, die Luft, die Probleme; die ganze Welt schien sich aufzulösen in einem Silbernebel - entrückt, verklärt, unbeschreiblich liebenswert, schön. Die Gesetze der Schwerkraft waren aufgehoben. Ich war ein Vogel, ein Engel, ein Flugzeug, ein springendes Pferd, ein Tänzer. Ich war vollkommen glücklich. Andere Vögel, andere Engel sangen mit mir - ein hinreißender Chor. Sie kicherten, sie kitzelten mich und sie zwitscherten. «Das tut dir endlich einmal gut», sangen die Engelsstimmen. Und der Chor wiederholte: «Was für eine komische kleine Nummer du bist...» Ich weinte vor Freude. Es war der Himmel. Es war die Hölle. Ich litt. Das Wunder verkam zum Laster; das Laster begann zur Gewohnheit zu werden. Es gab übrigens gewisse Bemerkungen, die Speed auf eine beiläufige und doch unheilvolle Weise fallen ließ, eindeutig geeignet, meine Befürchtungen zu verstärken. Er informierte mich darüber, daß der «Tee» sich verteuert habe: «Das Mädchen ist verhaftet worden - Du weißt, wen ich meine: die uns immer das Zeug verkauft hat...» Mein Herz setzte aus. «Verhaftet?» fragte ich. «Warum?» - «Wie soll ich das wissen?» Er schien an der ganzen Sache kaum interes- 14B Speed siert. «Ich nehme an, sie haben sie einfach verhaftet, weil sie herausgefunden haben, daß sie Geschäfte gemacht hat mit Tee und solchem Zeug. - Gut, jeder von uns muß schließlich sein Glück versuchen ...» bemerkte er mit heroischer Gleichgültigkeit, und dann fuhr er fort, mir auf plötzlich sehr distanzierte und abschreckende Weise alles über die Foltern und erniedrigenden Strafen zu erzählen, die die New Yorker Polizei auf Lager hätte für die, die sich Drogen besorgten und in den Drogen-Handel verwickelt wären. Es gäbe gräßliche alte Verliese - nach Speeds Schilderung - auf einer verlassenen Insel, speziell für Rauschgiftsüchtige. Er kam auf grausige Einzelheiten zu sprechen und beschrieb das Ungeziefer und die hungrigen Ratten, von denen es in diesem schauderhaften Gebäude nur so wimmelte. «Dort werden sie uns festhalten, für drei Jahre oder so», schloß er mit bitterem Humor und verlangte dann erneut «ein paar Kröten», weil er nach Hartem gehen wolle. Er hätte dort einen neuen Geschäftsfreund: «Ist auch so ein dreckiger alter Ganove», erklärte er in einem vergnügten Ton, als sei diese Aussage vorzüglich geeignet, mich zu beruhigen und meine Sorgen zu zerstreuen. Wie oft nahm ich mir vor, diesen teuflischen «Tee» nicht mehr anzurühren. Aber meine guten Vorsätze erwiesen sich als beklagenswert schwach. Ich war nicht stark genug zu widerstehen, wenn Speed vorschlug: «Nehmen wir eine Tasse Tee ...» Es war der exotische Duft, dieser aromatische Geruch -mild und doch durchdringend -, was ich an Marihuana am liebsten mochte. Es war der einzige Geruch, der sogar die übelriechenden Ausdünstungen von Mr. Prokoffs Haus übertönen konnte. Wenn Speed mit einer neuen Lieferung «Tee» erschien - wenn wir beisammensaßen und rauchten, kicherten, schwatzten -, dann verschwand die öde Behaglichkeit des kleinbürgerlichen Heims. An ihre Stelle trat, wie von Gei- sterhand herbeigezaubert, eine berückende Aussicht - eine Trauminsel, voller Geschrei und Gesang und würzigen Düften; bewohnt von drolligen Riesen und schelmischen Zwergen; es wimmelte von allen möglichen spaßigen, verführerischen Wesen. «Ich bin ein Papagei», krähte Speed. «Schau! - mein wunderbar buntes Gefieder ...» Ich selbst verkündete, daß ich ein riesiger Fisch sei - genauer gesagt ein gigantischer Wal -, und ihn verschlingen würde wegen seiner vielen Sünden. «Und diese große, glitzernde Schlange dort!» jauchzte Speed, «das ist Lucy! ... Siehst du nicht ihre Augen und das kleine Goldkettchen um ihren Hals?» «Ich hatte noch nicht die Ehre, dem königlichen Untier vorgestellt zu werden», kicherte ich. Speed schüttelte sich vor Lachen ... «Du solltest sie kennenlernen, Glarence ... Im Ernst! Du solltest es wirklich.» Das einzige Mitglied seiner Familie, das ich kennenlernte, war sein Cousin. Wie deutlich erinnere ich den Augenblick, als er mein Zimmer betrat... Komischerweise habe ich ein wesentlich genaueres Bild von Jims Erscheinung als von Speeds - obwohl ich Speed mag und Jim unsympathisch finde. Und doch, wenn ich versuche, mir die Einzelheiten von Speeds Zügen vorzustellen, bleiben alle Formen unscharf und verschwommen - vage und zugleich übertrieben leuchtend - beinahe blendend; in andauernder Veränderung, sich auflösend, geheimnisvoll bewegt wie die Oberfläche eines trüben kleinen Sees, aufgewühlt von einer ständigen Brise ... Mit Jim ist es anders. Er ist breit, stiernackig und bullig -aus einem reizlosen und kompakten Material gemacht. Er ist groß, eindeutig größer als Speed -, aber ziemlich gebeugt, 146 Erzählung 1940 147 Speed mit einem aufgedunsenen Gesicht. Er hat in meinen Augen ein häßliches Gesicht - und, noch schlimmer, es liegt etwas abstoßend Unehrliches in seinem stumpfsinnigen Ausdruck. Diese überbetonte Simplizität - diese Unschuld-vom-Lande-Attitüde - unbeholfen und selbstzufrieden -; diese linkisch tastenden Gesten - das ganze Auftreten machte mich irgendwie nervös, und gleichzeitig erschreckte es mich ein wenig. «Das ist Jim», erklärte Speed, und sein Lächeln war halb entschuldigend, halb beschwichtigend - genau die Art von Lächeln, mit dem Damen der Gesellschaft einen Verwandten aus der Provinz einem ihrer reizenden Freunde vorstellen. -«Er ist mein Vetter - soeben aus Carolina gekommen. Ist zum ersten Mal in einer wirklich großen Stadt wie New York. Fühlt sich verloren hier, denke ich - oder nicht, Jim? - Besser wir kümmern uns um ihn, für'n Weilchen.» Mit einem aufmunternden kleinen Lachen schlug er Jim auf die mächtigen Schultern. Wie zungenfertig und gewandt wirkte Speed im Vergleich zu diesem ungehobelten Cousin! - «Wir werden dich nicht allein lassen», versprach er Jim, dessen Antwort ein idiotisches Grinsen war. - «Clarence ist ein prima Kerl», fuhr Speed fort, und nun erhielt ich einen herzlichen Klaps auf die Schulter. «Er ist übrigens mein bester Freund: der beste, den ich jemals hatte. Er wird uns mit in eine Show nehmen, wenn du eine sehen willst.» «Klar doch, immer», bellte der Cousin. Seine Stimme war noch entsetzlicher als sein Gesicht -: eine dumpfe Stimme, rauh und dröhnend: völlig unmenschlich, wie die Stimmen dieser «Sprechenden Hunde», die man manchmal im Zirkus sehen kann. Dann verkündete er, daß er sich am ganzen Körper drek-kig fühle - «wie ein altes Schwein». Als er fort war, um sein Gesicht in meinem Bad unters Wasser zu halten, informierte 148 Erzählung 1940 mich Speed heimlich und schnell darüber, daß sein Cousin ein bißchen «beschränkt» sei, aber sonst wirklich kein übler Kerl. Er warnte mich nachdrücklich davor, in Jims Gegenwart etwas von unseren «Tee-Partys» zu erwähnen. ... Jim hatte natürlich niemals irgendeine Droge angefaßt: «Er weiß gar nicht, was das ist...» Nach dem Abendessen nahm ich die beiden Jungs mit in eine Show, und Jim taute auf, als die Stripperinnen das Publikum mit ihren freizügigen Gesten und ihrem gefrorenen Lächeln animierten. «Toll - wirklich» grinste er. Aber sogar sein Lachen klang unheilvoll, wie das Donnern eines herannahenden Gewitters. Speed schien unterdessen sehr unruhig zu werden, und schließlich flüsterte er mir ins Ohr, daß er sich beeilen müsse - sonst würde er eine Verabredung mit seinem Freund in Hartem verpassen. «Gib mir schnell drei Kröten, oder fünf! Du weißt wofür ...» Dann warf er einen raschen Blick auf Jim, der unsere Verschwörung nicht bemerken sollte. «Ich werd ihm sagen, daß ich etwas zu erledigen habe», flüsterte er, während sich sein Cousin diebisch über die glitzernde Parade der Nacktheit freute. «Ich treff dich bei dir zu Hause, um Mitternacht.» - Und er schlich sich aus dem dunklen, schwülen Raum. Jim, vollständig gefesselt von der Show, hatte sein Gehen kaum bemerkt, und als ich ihm zehn oder fünfzehn Minuten später sagte, ich sei müde und müsse ins Bett, blickte er mich nur mit wäßrigen Augen an und lachte glucksend, wobei sein breiter Daumen auf die strahlende Darbietung weiblichen Fleisches wies. «Alle nackt», kicherte er schwachsinnig. «Ganz ohne Kleider ... Magst du sie nicht, Clarence?» - Es war gut, für eine Weile allein zu sein. Zum ersten Mal, seit ich in Mr. Prokoffs Haus gekommen war, machte mir die Einsamkeit meines Zimmers nichts aus. Erst als Mitternacht 149 Speed vorüber war, begann ich, leicht nervös zu werden. Was mochte mit Speed passiert sein? - Ein Uhr - zwei - halb drei - und kein Speed. - Nicht, daß ich wirklich beunruhigt gewesen wäre. Ich kannte immerhin sein seltsames Verhalten schon. Vielleicht hatte er sich mit einem Kumpel betrunken oder seine Schwester getroffen. An Lucy dachte ich auch, als ich schließlich zu Bett ging. Würde ich sie jemals sehen? ... Es war spät am folgenden Nachmittag, als Speed endlich auftauchte. Er sah bleich und ernst aus, und ausnehmend hübsch. Seine Gesichtsfarbe hatte einen Perlmuttschimmer, um seine hellen, schmalen Augen lagen Farbringe. Er lächelte gequält und war ganz niedergeschlagen, als er mich um ein Glas Milch bat. Seine Geschichte war rührend, obgleich ein wenig konfus. Es hatte eine Razzia in Hartem gegeben, dort, wo er normalerweise den «Tee» kaufte. Er hatte zu fliehen versucht, vergeblich. Sie faßten ihn, als er gerade den berüchtigten Stoff schlucken wollte. Die peinlich genaue Überprüfung auf der Polizeistation dauerte mehr als fünf Stunden. Es war höllisch, wie die ganzen Bullen und Kommissare auf ihn einschrieen, ihn unbarmherzig ohrfeigten und mit allen möglichen heimtückischen Fragen marterten. War er ein Drogensüchtiger? Wer hatte ihn geschickt, den Stoff zu kaufen? Hatte er gewohnheitsmäßigen Umgang mit Kokain und auch Morphium? War er Mitglied einer Geheimorganisation? Wer hatte ihm das Geld gegeben, das sie bei ihm gefunden hatten? - Sie versprachen ihm Zigaretten und Schnaps, sogar Marihuana, wenn er nur den Namen des Großen Unbekannten nannte - seinen geheimnisvollen Auftraggeber. — «Und das bist du, Clarence!» Er wies in einem plötzlichen Lachausbruch auf mich. «Du bist der Geheimnisvolle!» Dann wurde er wieder ernst, fast feierlich. «Aber ich würde es ihnen nicht sagen», versicherte er mit treuherziger Entschlossenheit. «Ich würde dich da nie reinreißen, Clarence -, ehrlich, das würde ich niemals. Du bist mein Freund, und ich will nicht, daß du in diesem Dreck landest. Das wäre ziemlich schlimm für einen Ausländer - sagte mir Lucy. Es würde sehr schlimm ausgehen, sagt Lucy ...» Ich mochte diesen drohenden Ton überhaupt nicht, mit dem er seine letzte Bemerkung hervorhob. Es klang wohl reichlich irritiert, als ich zu ihm sagte, daß ich nicht ganz verstanden hätte, wovon er eigentlich spreche; denn ich hätte doch im Grunde nichts mit der ganzen Sache zu tun und niemals Stoff gekauft. - «Es ist schlimm genug, daß du ihn überhaupt geraucht hast», entgegnete er mit einem schiefen Grinsen, und dann fuhr er fort, mir zu erzählen, daß seine tüchtige Schwester ihn gegen eine Kaution frei gekauft habe - genauer gesagt, daß sie ihren Freund dazu gebracht habe, das zu erledigen. Speed war entlassen worden auf sein Ehrenwort hin, daß er sich am kommenden Morgen einem Sondergericht stellen würde. Ich gab ihm mein schönstes Hemd, eine Krawatte und ein paar Socken, damit er bei dieser wichtigen Angelegenheit anständig aussähe. «Mach dir keine Sorgen», sagte ich hilflos. «Alles wird in Ordnung gehen.» - Er lächelte bloß, matt und traurig: «Klar doch, Clarence! Ich hoffe es ...» - Er war voller Selbstmitleid und ehrenwerter Absichten. In dieser Nacht würde er früh ins Bett gehen, in der Wohnung seiner Schwester. Sie würde ihn zum Gericht begleiten, wo sein Fall für acht Uhr angesetzt war. Und am Mittag, wenn alles vorbei war, würden wir ein entzückendes Mittagessen einnehmen, alle zusammen - Lucy, Jim, er und ich. Er wollte gerade gehen, als Jim erschien — finster und mürrisch. Wo Speed gewesen sei, die ganze Zeit? - fragte er verärgert. «Mich alleine zu lassen in dieser besch... Stadt!» - Seine ISO Erzählung 1940 151 Speed dumpfe, jammernde Stimme klang unmenschlicher denn je. - «Er ist hilflos wie ein Baby - nicht wahr?» stellte Speed mit einer Art zärtf icher Befriedigung fest; dann stürzte er sich in eine absurde Geschichte über «irgendeinen widerlichen Kerl», der ihm einen Job versprochen hätte und ihn dann die ganze Nacht aus reiner Bosheit hätte warten lassen -: «Du weißt ja, wie sie sind, die Dreckskerle ...» Bevor sie gingen, Arm in Arm, fragte mich Speed, mit eigenartig boshaftem Grinsen: «Man sollte es kaum glauben, daß wir Vettern sind - he? Schauen uns nicht ähnlich, Jim und ich. Denkst du, er gereicht mir zur Ehre, Clarence?» Er lachte lang und herzhaft, dann erklärte er seinem Cousin: «Vor ein paar Wochen hat er nicht verstanden, was ich meinte, als ich ihn dasselbe über Lucy fragte. Er ist eben ein Fremder, wie du siehst, und es gibt eine Menge Wörter, die er nicht versteht. Ich habe ihm einiges beigebracht, aber es gibt vieles, wovon er noch nie gehört hat. Was ist er doch für eine komische kleine Nummer! Er tut mir richtig gut...» Ich erwartete nicht, ihn vor dem nächsten Mittag wiederzusehen, wenn er von der Gerichtsverhandlung zurück sein mußte. Aber es war halb drei am Morgen, und ich lag im Tiefschlaf, als mich der grelle Ton der Türklingel weckte. Ich fühlte etwas wie einen scharfen Schmerz im Magen, und mein Herz setzte für einen Schlag aus. Ich wußte natürlich, daß es Speed war, der klingelte, lauter und lauter - und ich fühlte, daß etwas Furchtbares geschehen würde. Doch ich rührte mich nicht - so, als könnte ich das herannahende Unglück bannen, indem ich mich nicht bewegte, mich versteckte, mich ruhig verhielt. Schließlich hörte ich, wie die Haustüre aufflog - und das Heulen des Sturms von draußen ... Was für eine Nacht! - eisig kalt, unheilvoll und stürmisch, mit starkem Schneefall. Ich hatte schon einige Stunden, bevor ich zu Bett gegangen war, bemerkt, daß ekelhaftes Wetter herrschte. Aber ich erkannte erst jetzt, wie miserabel es wirklich war, als ich in meinem Morgenmantel nach unten eilte, um herauszufinden, was los war. Die Haustüre stand weit offen. Der tobende Sturm wehte haufenweise Schnee in den Hausflur. Die Straße schien in eine Eis-Wildnis verwandelt - eine Polarlandschaft, erstarrt und zugleich prunkvoll verschönert durch diese gewaltigen Massen von bleichem, flockigem Stoff. Gegen diesen verblüffenden Hintergrund aus wehendem Weiß hoben sich die beiden schwarzen Silhouetten von Speed und Jim ab, die sich in verzweifelter Zärflichkeit aneinanderklammerten: beide torkelnd gegen die Wand gelehnt - beide kurz vor dem Umfallen. Einige Schritte von ihnen entfernt, mitten im Hausflur, stand Mr. Prokoff, in einem abgetragenen Pyjama aus Brokatstoff - dem merkwürdigsten Pyjama, den ich je gesehen habe -; die Arme zu einer theatralischen Geste überschwenglicher Verzweiflung ausgebreitet, schimpfte, fluchte, klagte er: «Ach, mein Teppich, meine Vorhänge, mein Haus! Alles kaputt, versaut! - Mein anständiges Haus - verwüstet von diesen dreckigen Schuften! Unerhört, hierherzukommen - mitten in der Nacht, in diesem skandalösen Zustand! Eine Unver-schämthäü ... Ach, alles voller Schnee! ... Meine Teppiche! Der gepflegte Parkettboden! - Was wird Anita sagen! ...» Er sah höchst mitleiderregend aus, wie er so da stand, einem monströsen Vogel gleich, der wild den Kopf bewegte und mit seinen langen flügelhaften Armen flatterte. Ich flehte ihn an, sich zu beruhigen und sein Zimmer aufzusuchen. Aber er klagte weiter und schüttelte seine kraftlosen Fäuste. Erst als ich die Türe schloß, begann er sich schließlich zurückzuziehen. Er sah schrecklich alt aus, wie er langsam davonwankte und panische kleine Gesten gegen die 152 Erzählung 1940 153 Speed zwei Eindringlinge machte, als ob sie böse Geister wären, die er zu vertreiben suchte. Beide waren entsetzlich betrunken. Speed - sein Gesicht, hager und unrasiert, dampfte vor Schweiß - sah verdorbener und wilder aus als je zuvor, und was Jim anbetraf, so schien sein Äußeres noch beunruhigender. Sein Gesicht war blutüberströmt und entstellt von einer schauderhaften Wunde, die seine Oberlippe spaltete. Unaufhörlich rann Blut aus einem klaffenden Riß an seinem Hinterkopf. Es färbte seine Schläfe mit schmutzigem Purpur und hinterließ auf seiner Wange breite Streifen. Sein Mantel war von großen Blutflek-ken verunreinigt, und an seinen schweren Schuhen klebten aufgeweichter Schnee, Blut und Matsch, vennengt zu einem ekelhaften Brei. Als ich ihn an den Schultern rüttelte, spuckte er eine Menge Blut, und ich konnte sehen, daß einer seiner Zähne fehlte. Hatte er gerade einen Mord begangen? War er selbst gefährlich verletzt? Er könnte sterben - jetzt, in diesem Haus und in diesem Flur - und ich würde verdächtigt werden, ihn getötet zu haben ... Zweifellos suchte ihn die Polizei: sie könnte ihn hier finden ... Was für ein Skandal! Welche Katastrophe! Ich dachte an alles und an nichts. Ich frage mich, wie ich es fertiggebracht habe, die zwei taumelnden Trunkenbolde in den zweiten Stock hinaufzuschaffen. Ich wollte mein Zimmer erreichen - so verzweifelt, wie ein Schiffbrüchiger nach einem schwimmenden Holzstück greift. Alles würde besser werden - glaubte ich -, das Schlimmste könnte verhindert werden, wenn es mir gelänge, meine zwei grauenhaften Gäste nach oben zu bringen. Ich erinnere mich nicht, wie mir der entsetzliche Transport gelang; alles, was ich weiß, ist, daß die Szene noch schlimmer wurde, als wir schließlich mein Zimmer erreichten. Speed warf sich auf mein Bett, während Jim stöhnend auf das Sofa niedersank, seihe Beine ausstreckte und seinen Oberkörper wie eine leblose, schwere Masse umkippen ließ. Ich bat ihn, seine Wunden zu säubern und seine schmutzigen Schuhe auszuziehen. Aber er schlug nur den Kopf vor und zurück wie ein Verrückter. «Kann mich nicht bewegen ... Kann nicht...» stammelte er. «Fühl mich elend ... Kaputt ~ so fühle ich mich ...» Während ich noch versuchte, seinen schwankenden Kopf auf ein Kissen zu betten - und überlegte, wo ich ein Stück Watte finden könnte, um das aussickernde Blut abzuwischen -, befleckte Speed für seinen Teil mein Bett auf ganz unbeschreibliche Weise. Ich wollte ihm zu Hilfe eilen; aber Jims Faust, feucht und massig, hielt mich zurück, gnadenlos wie eine eiserne Klaue. Er zwang mich niederzuknien, bis mein Ohr in der äußerst unangenehmen Nähe seines Mundes war - dieses stammelnden, mit Blut gefüllten Mundes. Mir wurde ganz übel beim Anblick seiner dicken, plumpen Zunge, die sich, wie ein hilfloses, gräßliches Tier, mühsam in einem klebrigen Fluß von Blut und Speichel bewegte. Ich schauderte bei dem Gedanken, daß dieser entstellte Mund meine Stirn oder Schläfe berühren könnte, während er mir inbrünstig ins Ohr brummte: «Ich bin Speeds Vetter ... bin ich, ehrlich ... Glaubst du mir nicht, Clarence?» fragte er in einem plötzlichen Ausbruch von Mißtrauen. Dann beharrte er erneut mit einer Art winselnder Emphase: «Speeds Vetter - das bin ich ... Speeds Vetter, von zu Hause ...» - Zur selben Zeit kam ein anderes Flüstern von meinem besudelten Bett: es war Speed, der kicherte und stammelte: «Hat mir das gutgetan! ... Mordsmäßig gut... Einfach das Tollste, was ich je erlebt habe ...» Ich werde es nie vergessen - niemals. In meiner Erinnerung ist alles lebendig, und alles wird bleiben -; die Dialogfetzen der beiden Stimmen - diese wenigen, schwachsinnigen 154 Erzählung 1940 155 Speed Wörter, endlos wiederholt mit wahnsinniger Monotonie -; der ekelhafte Geruch, das Stöhnen, die schmerzverzerrten Gesichter der beiden Sünder - und das Blut... Meine Hände, meine Kleider, die Möbel, der Teppich - alles von Blut befleckt; eine klebrige Blutpfütze bedeckte große Teile des Bodens - und wuchs ständig: nahe daran, den gesamten Raum zu überschwemmen. Ich bin kein Held. Ich fürchtete mich zu Tode vor diesen wilden Burschen, die nun in ihrem eigenen Dreck schnarchten. Ich fand sie nicht lustig. Zweitausend von diesen Typen -stellte ich mir vor - wären in der Lage, eine Stadt zu zerstören: zwei Millionen - könnten einen Kontinent verheeren ... Die beiden, Speed und Jim, hatten eine teuflische Fähigkeit bewiesen, mein Zimmer in ein stinkendes Chaos zu verwandeln. Ich war ihr Gefangener - gefesselt durch meine Furcht vor diesen zwei jungen Ungeheuern, die aufwachen und ihr Zerstörungswerk fortsetzen könnten. - Wie quälend lang war die Nacht! Sie schien endlos ... Ich versuchte, mit einem Lappen und einem Fetzen Papier den Boden zu säubern, das Bett und das Sofa! Die beiden schliefen wie Säcke - Jim lehnte noch in der Sofaecke - mit offenem Mund, die blutigen Hände über dem Bauch gefaltet, ein seltsam frommes Bild; Speed ruhte friedlich mitten im abscheulichsten Morast. Nachdem ich die erniedrigende Arbeit beendet hatte, die darin bestand, die augenfälligsten Spuren der vandalischen Raserei zu beseitigen, sank ich - völlig erschöpft - in den Sessel, der in der Nähe des offenen Fensters stand. Es war eiskalt; aber als ich das Fenster schloß, wurde der Gestank unerträglich. So saß ich da, frierend, und starrte in den engen Hinterhof. Schneefall und Sturm hatten aufgehört. Es herrschte vollkommene Stille. Mit traumverlorener Aufmerksamkeit beobachtete ich das geheimnisvolle Spiel der Schatten, das 1BÜ Erzählung 1940 die Höhlen und kleinen Schluchten des zusammensinkenden Schnees mit seinen vielfältigen, wechselnden Färbungen ausfüllte. Allmählich trat der fahle Schimmer der Morgendämmerung an die Stelle der nächtlichen Symphonie aus tiefem Blau, purpurnem Schwarz und melancholischem Grau. Ich mußte etwas eingenickt sein, trotz der beißenden Kälte und der unbequemen Lage. Das Flüstern, das mich weckte, war das von zwei gerissenen Verschwörern. Sie hockten beieinander, Speed und Jim, auf meinem zerwühlten Bett. Jim hatte sein Gesicht gewaschen. Seine Wunde sah weniger gefährlich aus als noch vor wenigen Stunden. Seine Lippen waren böse geschwollen, und auf seiner Wange zeigte sich eine häßliche Schramme. - Speeds weißes Gesicht schien gehärtet und gestrafft, so, als wäre er älter geworden und erfahrener durch die vielen bösen Taten während dieser schrecklichen Nacht. Seine Stimme klang seltsam dumpf und ausgedörrt -die Stimme eines Lügners, der von seinen eigenen Erfindungen gelangweilt oder sogar angeekelt ist -, als er mir, flüchtig und verschwommen, eine komplizierte und phantastische Geschichte von einer «Spelunke» erzählte, wo sie mit einigen Kerlen Karten gespielt hätten. Sie hätten wirklich Glück gehabt und eine Menge Geld gemacht, es sei ihnen aber prompt geraubt worden, und zwar von derselben Bande, die es zuvor an sie verloren hatte. Es hätte sehr böse ausgesehen -: vier mächtige Kerle hätten sie in einer dunklen Straßenecke angesprungen. Ein schrecklicher Kampf - das sei es wirklich gewesen. «Und die Bullen haben auch mitgemacht dabei», beendete Speed seinen Bericht geheimnisvoll. «Und warum sind wir in diesen Schlamassel geraten?» fragte er mich nach einer theatralischen Pause. «Nur wegen dir, Clarence!» - «Bestimmt», beharrte er, als ich mit einer Geste des Erstaunens und des Protestes reagierte, - «Es ist deine Schuld, daß ich blau war und mit diesen Schweinehunden 157 Speed aneinandergeraten bin, und überhaupt das ganze Affentheater. Ich konnte nicht schlafen - ehrlich, ich konnte nicht -, weil ich immerzu an dich gedacht habe: Was wird mit dir passieren, wenn ich den Richtern erzähle, für wen ich den Tee gekauft habe? - Und wenn ich es ihnen nicht sage - was wird dann mit mir geschehen? Mann, ich kenne die Tricks, mit denen sie jeden zum Sprechen bringen. Sie schlagen mich zusammen, Tag und Nacht. Sie werden mich nicht schlafen lassen und mir Fragen stellen, Stunden um Stunden - bis ich den Verstand verliere und zusammenbreche und ihnen am Ende erzählen werde, was sie hören wollen.» Das klang natürlich furchtbar. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Aber da Speed gnadenlos schwieg, mußte irgend etwas gesagt werden. So murmelte ich schließlich: «Was wirst du jetzt tun?» Speed zuckte die Schultern, spitzte seine Lippen, als ob er pfeifen wolle, und erklärte dann, beiläufig und doch bestimmt: «Es gibt nur eins zu tun. Ich muß die Stadt verlassen. Das ist alles.» Die Stadt verlassen? - Ich war ziemlich verblüfft. Würden sie ihn nicht genausogut in einem anderen Staat fangen? Und was war mit der Kaution, die seine Schwester bezahlt hatte? Er erläuterte - immer auf diese merkwürdig distanzierte, geschäftsmäßige Art -, daß alles berücksichtigt und bestens arrangiert sei. Er hätte beschlossen, nach North Carolina zurückzukehren, mit seinem Vetter Jim. Lucy hätte dieser einzig vernünftigen Lösung zugestimmt. Sie würde kein Geld verlieren - nicht Lucyl Ihre ausgezeichneten Verbindungen zu gewissen großen Tieren im Polizeihauptquartier schützten sie gegen jede Gefahr und jeden Verlust. «Wir brauchen nur zu verschwinden, Jim und ich - und alles ist in Ordnung», schloß er und sah dabei gefaßt und bitter aus. Alles, was er brauchte, waren fünfzig Dollar - für die Busfahrt und verschiedene andere Auslagen. Glücklicherweise hatte ich gerade Geld, weil es Monatsende und die Miete fällig war. Ich sehe noch Speeds Gesicht - blaß und konzentriert -, wie er das Geld zählte. Er hielt zwei Streichhölzer zwischen den Zähnen, die er nervös von einem Mundwinkel zum anderen schob - duftlose, winzige Blüten, verdorrt von der Hitze seiner gierigen Lippen. Er rief die Busgesellschaft an - der Bus fuhr in ungefähr einer Stunde - und dann seine Schwester Lucy. Der Abschied war erstaunlich kurz und schmerzlos. «Auf Wiedersehn, meine Liebe. Bleib gesund. Ich werd dir schreiben.» Als er die merkwürdige Unterhaltung beendet hatte, fragte ich ihn unvermittelt - und ich wunderte mich sofort, warum ich es tat -: «Hast du keine Angst vor dem Jüngsten Gericht, Speed?» Sein Gesicht wurde kalkweiß - wie erleuchtet, für einige atemberaubende Augenblicke, durch den Widerschein einer mächtigen, weißen Flamme. Zugleich lächelte er -ein schmerzliches, verzerrtes Lächeln. Dann sagte er, sehr kurz und ohne mich anzuschauen: «Du weißt nicht, wovon du redest.» Für eine Weile schwiegen wir alle drei. Schließlich machte Speed eine ungeduldige Bewegung, als wolle er etwas beiseite wischen - einen Schatten oder eine Eingebung, die er störend fand. - «Ich denke, ich sollte meine Sachen packen», sagte er, während er ziellos durch den Raum wanderte. Aber es gab nichts zu packen. Inzwischen bürstete Jim geschäftig seine Kleidung. Als er entdeckte, wie schmutzig sein Mantel war, brach er in ein Klagegeschrei aus: «Wie kannst du mich nur in so einem dreckigen Zeug reisen lassen?» - Seine lauten Vorhaltungen schienen Speed auf die Nerven zu gehen. - «Sei still!» schrie iss Erzählung 1940 159 Speed Speed und wirkte dabei plötzlich außerordentlich nervös; dann erklärte er, wieder ruhig, mit verletzender Gleichgültigkeit: «Er wird dir seinen Mantel geben, nicht wahr, Clarence?» Als ich zögerte, fuhr er mit erschreckender Liebenswürdigkeit fort: «Natürlich wirst du, du kannst dir einen neuen leisten, oder nicht? Du willst doch nicht, daß sich mein Cousin erkältet...» Ich nahm meinen Mantel aus dem Schrank. Es war ein schönes, gediegenes Stück, mit Seide gefüttert, sehr bequem und warm. Anna hatte ihn für mich gekauft, in Wien, vor vielen Jahren. - «Hier ist er», sagte ich. Jim betastete das gute Material mit einem zufriedenen Grinsen: «Modisches Zeug -nicht wahr?» «Ist schon gut», sagte Speed voller Ungeduld. Schließlich gingen sie. «Adieu», murmelte Speed, hastig und irgendwie verschämt. «Halt die Ohren steif.» An der Tür blieb er stehen und zögerte einen Moment. Dann drehte er mit einer scheuen und anmutigen Bewegung den Kopf und sagte schnell: «Sei mir nicht böse, Karl.» Es war das erste Mal, daß er mich mit meinem richtigen Namen ansprach. Es klang merkwürdig und rührend, wie er ihn aussprach — langsam und vorsichtig, als wäre er etwas Kostbares, das er nicht verletzen wollte. Draußen schneite es wieder. Ich dachte an Speed, der keinen Mantel hatte. Ich hätte ihm den Mantel geben sollen, wenn ich ihn schon verschenken mußte ... Aber Speed braucht wohl keinen Mantel. Allein. So war ich wieder allein. Allein mit dem Gestank, dem dunklen Zimmer, den vertrauten Erinnerungen ... Ein abgetragener Mantel, blutverschmiert, und der vulgäre Glanz von Miss Lucys Bild - das sind die armseligen Trophäen meines Abenteuers. Innerlich fühlte ich eine Leere - die mich traurig machte und zugleich erleichterte: Das seltsame Zwischenspiel war vorbei... So dachte ich. 160 Erzählung 1940