EINS Also, es fängt damit an, daß ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke. Fisch-Gosch, das ist eine Fischbude, die deswegen so berühmt ist, weil sie die nördlichste Fischbude Deutschlands ist. Am obersten Zipfel von Sylt steht sie, direkt am Meer, und man denkt, da käme jetzt eine Grenze, aber in Wirklichkeit ist da bloß eine Fischbude. Also, ich stehe da bei Gösch und trinke ein Jever. Weil es ein bißchen kalt ist und Westwind weht, trage ich eine Bar-bourjacke mit Innenfutter. Ich esse inzwischen die zweite Portion Scampis mit Knoblauchsoße, obwohl mir nach der ersten schon schlecht war. Der Himmel ist blau. Ab und zu schiebt sich eine dicke Wolke vor die Sonne. Vorhin hab ich Karin wiedergetroffen. Wir kennen uns noch aus Salem, obwohl wir damals nicht miteinander geredet haben, und ich hab sie ein paar mal im Traxx in Hamburg gesehen und im PI in München. Karin sieht eigentlich ganz gut aus, mit ihrem blonden Pagenkopf. Bißchen zuviel Gold an den Fingern für meinen Geschmack. Obwohl, so wie sie lacht, wie sie das Haar aus dem Nacken wirft und sich leicht nach hinten lehnt, ist sie sicher gut im Bett. Außerdem hat sie mindestens schon zwei Gläser Chablis getrunken. Karin studiert BWL in München. Das erzählt sie wenigstens. Genau kann man sowas ja nicht wissen. Sie trägt auch eine Barbourjacke, allerdings eine blaue. Eben, als wir über Barbourjacken sprachen, hat sie gesagt, sie wolle sich keine grüne kaufen, weil die blauen 11 schöner aussehen, wenn sie abgewetzt sind. Das glaube ich aber nicht. Meine grüne Barbour gefällt mir besser. Abgewetzte Barbourjacken, das führt zu nichts. Das erkläre ich später, was ich damit meine. Karin ist mit dem dunkelblauen S-Klasse-Mercedes ihres Bruders hier, der in Frankfurt Warentermingeschäfte macht. Sie erzählt, daß der Mercedes ganz gut ist, weil der wahnsinnig schnell fährt und ein Telefon hat. Ich sage ihr, daß ich Mercedes aus Prinzip nicht gut finde. Dann sagt sie, daß es sicher heute abend regnen wird, und ich sage ihr: Nein, ganz bestimmt nicht. Ich stochere mit der Gabel in den Scampis herum. Ich mag die nicht mehr aufessen. Karin hat ziemlich blaue Augen. Ob das gefärbte Kontaktlinsen sind? Jetzt erzählt sie von Gaultier und daß der nichts mehr auf die Reihe kriegt, designmäßig, und daß sie Christian Lacroix viel besser findet, weil der so unglaubliche Farben verwendet oder so ähnlich. Ich hör nicht genau zu. Andauernd ruft jemand von Gösch über das Mikrophon irgendwelche bestellten Muschelgerichte aus und das lenkt mich immer wieder ab, weil ich mir vorstelle, daß eine der Muscheln verseucht ist und heute nacht irgendein chablis-trinkender Prolet ganz schlimme Bauchschmerzen kriegt und ins Krankenhaus gebracht werden muß mit Verdacht auf Salmonellen oder irgendsowas. Ich muß grinsen, wie ich mir das vorstelle, und Karin denkt, ich grinse über den Witz, den sie gerade erzählt hat und grinst zurück, obwohl ich, wie gesagt, gar nicht zugehört hab. Ich zünde mir eine Zigarette an, und während Karin weitererzählt, beobachte ich, wie ein schwarzer Windhund mit einem Halsband, auf das so winzige goldene Kühe geklebt sind, eine große Kackwurst neben einen Tisch setzt. Der Hund kackt komischerweise halb im Stehen, und ich kann genau erkennen, wie ein Viertel der Wurst an seinem Hintern klebenbleibt. Ich muß schon wieder grinsen, obwohl mir jetzt richtig schlecht ist, weil ja auch die Scampis irgendwie komisch geschmeckt haben, und ich unterbreche Karin und frage sie, ob wir nicht ins Odin fahren wollen, nach Kampen. Sie sagt ja, und ich trinke mein Bier aus, obwohl mir Jever eigentlich gar nicht schmeckt, und wir laufen zu ihrem Auto, da ich gerade keine Lust habe, in meinem engen Triumph zu sitzen. Sie schließt ihren Wagen auf, und wir steigen ein, und es riecht innen noch ganz neu, nach Leder. Ich werfe meine Zigarette aus dem Fenster, während Karin losfährt, weil ich diesen neuen Geruch nicht zerstören mag und weil sie nicht raucht. Sie legt eine Kassette ein, und während ein ganz schlechtes Lied von Snap aus den Boxen kommt, überholt sie einen Golf, in dem ein ziemlich hübsches Mädchen sitzt. Ich setze meine Sonnenbrille auf, und Karin erzählt irgend etwas, und ich sehe aus dem Fenster. Links und rechts der Straße rast Sylt an uns vorbei, und ich denke: Sylt ist eigentlich super schön. Der Himmel ist ganz groß, und ich habe so ein Gefühl, als ob ich die Insel genau kenne. Ich meine, ich kenne das, was unter der Insel liegt oder dahinter, ich weiß jetzt nicht, ob ich mich da richtig ausgedrückt habe. Ich kann mich natürlich auch täuschen. Kurz vor Kampen biegt Karin plötzlich rechts ab, auf den Parkplatz von Buhne 16, dem Nacktbadestrand, und ich denke, Moment mal, was kommt denn jetzt? Wir parken direkt zwischen einem Porsche und so einem blöden Geländewagen und steigen aus, und weil ich Karin durch meine Sonnenbrille etwas fragend ansehe, merkt sie, daß ich eben im Auto nicht zugehört hab. Sie lacht wieder auf ihre hübsche Art und erklärt mir, wir müßten vorher noch Sergio und Anne abholen, die gerade am Strand sitzen und daß die 12 13 beiden extra vorhin mit dem Mobiltelefon angerufen hätten, bei ihr im Mercedes, meine ich. Wir steigen aus, und ich denke daran, daß das Mobiltelefon sicher ziemlich versaut wird, dort am Strand, wegen dem Sand und dem Salzwasser. Karin drückt dem Parkwächter ein paar Mark in die Hand, und wir laufen auf dem Holzsteg durch die Dünen zum Strand. Während wir auf den verwitterten Holzbohlen laufen, redet Karin vom Schumanns in München und wie sie da neulich Maxim Biller kennengelernt hat und daß der so blitzgescheit gewesen ist und sie ein klein wenig Angst vor ihm gehabt hat. Ab da höre ich nicht mehr zu, weil mir plötzlich dieser Geruch der Holzbohlen und des Meeres in die Nase steigt, und ich denke daran, wie ich als kleines Kind immer hierher gekommen bin, und beim ersten Tag auf Sylt war das immer der schönste Geruch: wenn man das Meer lange nicht gesehen hatte und sich riesig darauf freute und die Holzbohlcn durch die Sonnenstrahlen so einen warmen Duft ausgeströmt haben. Das war ein freundlicher Geruch, irgendwie verheißungsvoll und, na ja, warm. Jetzt riecht es wieder so, und ich merke, wie ich fast ein bißchen heulen muß, also zünde ich mir schnell eine Zigarette an und fahre mir mit dem Ärmel meines Barbours über die Stirn. Ziemlich peinlich, das Ganze, aber Karin hat davon nichts mitbekommen, außerdem ist sie gerade mit dem Strandwächter beschäftigt, der die Kurkarten von den blöden Rentnern sehen will, die hier an den Strand wollen. Karin gibt dem Mann für uns beide zwölf Mark für eine Tageskarte, und ich will mich bei ihr bedanken, lasse es dann aber sein. Die Sonne fängt an, vom Himmel zu stechen, und mir wird heiß und Karin offenbar auch, weil sie ihren Barbour auszieht und ihren Pullover auch. Der Pullover ist wirklich hübsch. Darunter trägt sie nur einen Body, und ich sehe, daß sie ziemlich große, feste Brüste hat, und ich merke, daß sie 14 weiß, daß ich das sehe. Ihre Nippel stehen ein bißchen vor wegen dem Wind, der immer noch ziemlich kühl ist, obwohl die Sonne so sticht. Ich ziehe mir auch die Barbourjacke aus und das Jackett, und krempele mir die Hemdsärmel hoch. Gut, daß ich die Sonnenbrille dabei hab, denke ich. Der Seewind wirbelt meine zurückgegelten Haare nach vorne. Ich habe nämlich vorne ziemlich lange hellbraune Haare, und wenn ich mir sie runterziehe, dann gehen sie mir übers Kinn. In dem Moment fällt mir ein, daß ich in der Innentasche der Barbourjacke noch ein bißchen Haargel haben muß, und ich überlege, wann ich das Zeug benutzen könnte, ohne daß es gleich peinlich aussieht. Wir sind jetzt fast am Strand. Links und rechts sind die Dünen, und überall weht dieses Heidegras und der Strandhafer. Das sieht fast so aus wie Wellen an Land. Über uns kreischen Seemöwen, und ich denke daran, daß Göring, der hier auf Sylt Ferien machte, einmal seinen Blut-und-Ehre-Dolch hier verloren hat, mitten in den Dünen. Es gab eine riesige Suchaktion und eine hohe Belohnung für den Finder, und schließlich wurde der Dolch gefunden, von einem gewissen Boy Larsen oder so, einem Jungbauern. Das hieß damals so. Alle haben sich über den dicken Göring totgelacht, wie der beim Pinkeln in den Dünen seinen blöden Dolch verloren hat, nur der Boy Larsen nicht, weil der die Belohnung eingesackt hat. Erst danach hat er, glaube ich, herzlich gelacht. Ich denke an den Namen Boy und daran, daß nur hier oben auf Sylt die Menschen so heißen, als ob das gar nicht mehr Deutschland wäre, sondern so ein Mittelding zwischen Deutschland und England. Hier auf Sylt stand die Flak, sozusagen auf vorgeschobenem Posten, und die Engländer waren lange hier stationiert nach dem Krieg, und als kleiner Junge habe ich in den letzten deutschen Bunkern gespielt, bei Westerland. Inzwischen hat man sie, glaube ich, gesprengt. 15 Da vorne, am Strand, in einem blau-weiß gestreiften Strandkorb, sitzen Sergio und Anne. Ich sehe die beiden sofort, weil ich Anne erkenne. Ich hab einmal im PI versucht, sie aufzureißen, und das ist damals ziemlich in die Hose gegangen, da ich betrunken war und kotzen mußte, und als ich vom Klo zurückkam, war sie verschwunden. Jedenfalls glaube ich, daß es so war. Karin und ich steuern auf den Strandkorb zu. Wir sagen hallo, aber Anne erkennt mich nicht, oder sie tut so, als ob sie mich nicht erkennen würde. Die beiden haben zwei Flaschen Champagner dabei und bieten uns zwei Plastikbecher an. Karin redet mit Anne, also fange ich mit Sergio ein Gespräch an. Sergio, das ist so einer, der immer rosa Ralph-Lauren-Hemden tragen muß und dazu eine alte Rolex, und wenn er nicht barfuß wäre, mit hochgekrempelten Hosenbeinen, dann würde er Slipper tragen von Alden, das sehe ich sofort. Um irgend etwas zu sagen, sage ich, daß es nachher regnen wird, und Sergio meint, daß das Wetter ganz bestimmt so bleibt. Ich merke, daß er einen Akzent hat, und frage ihn, woher er kommt, und er sagt: aus Kolumbien. Dann geht uns irgendwie der Gesprächsstoff aus, und Sergio redet nicht weiter, also zünde ich mir eine Zigarette an und sehe erst auf meine Fingernägel und dann aufs Meer. Es gibt ein Geheimnis, das wir Kinder, die früher auf Sylt Ferien machten, immer erzählt bekamen, hinter vorgehaltener Hand: Weit draußen, vor Westerland, wo heute die riesige Nordsee liegt, gab es einmal eine Stadt, die Rungholt hieß. Diese Stadt war früher Teil der Insel, bis vor zweihundert Jahren oder so eine große Sturmflut kam und alles ins Meer zog, in den blanken Hans, so hieß das Meer nämlich damals. Jedenfalls sind alle Einwohner damals ertrunken, und das Geheimnis dabei war, daß man, wenn man bei Westwind genau hinhörte, die Kirchturmglocken von Rungholt hören konnte, wie sie unter dem Meer den Christen zum Gebet 16 läuteten. Das hat uns immer eine Heidenangst eingejagt, diese Vorstellung, aber oft sind wir Kinder an den Strand gegangen, nachts, um zu lauschen, die Ohren ganz dicht in den Sand gepreßt. Sergio nimmt sich inzwischen das Mobiltelefon und telefoniert auf spanisch mit irgend jemand und sieht mich dabei immer an, und das irritiert mich, also wende ich mich Karin und Anne zu. Wir trinken alle drei wie auf Kommando einen Schluck Roederer, und das sieht so komisch aus, daß Karin wieder lachen muß. Ich glaube, ich mag Karin ganz gerne. Danach brechen wir auf, zurück zum Parkplatz. Karin und ich steigen in ihren Mercedes und Sergio und Anne in den Land Cruiser, neben dem wir vorhin wie zufällig geparkt haben. Anne und Karin sind ziemlich angetrunken und fahren auch so. Ich erzähle Karin, daß das mein letzter Tag auf Sylt sei und daß ich morgen abfahre, und Karin nickt und sagt: Schade, und dann sieht sie mich an und lächelt. Es ist ein sehr schönes Lächeln. Kurz hinter dem Kampener Ortsschild überfährt sie um ein Haar einen Rentner, der dort über die Straße läuft und das Auto nicht kommen sieht. Der Rentner trägt ein Cordhütchen und ein auberginefarbenes Blouson, und er schimpft wie ein Berserker hinter uns her, und ich sage zu Karin, daß das sicher ein Nazi ist, und Karin lacht. Wir biegen in die Whiskystraße ein. Die Sonne steht schon tief am Himmel und taucht die Whiskystraße in ein goldenes Licht. Vielleicht heißt sie deswegen so, denke ich, nicht nur wegen den vielen Kneipen, sondern auch, weil sie so goldgelb aussieht, wenn die Sonne so schräg drauffällt wie jetzt. Ich bin ganz schön angetrunken, daß ich so einen Unsinn denke. Wir parken den Wagen, steigen aus und laufen zum Odin. Unterwegs streift Karins Hand ganz kurz meine Hand, und ich bekomme einen Hustenanfall. 17 Das Odin ist rappelvoll, obwohl es noch früh am Abend ist. Normalerweise bekommt man hier erst ab elf, halb zwölf Uhr keinen Platz mehr, aber heute ist schon alles belegt. Karin kennt die Besitzerin der Bar, und sie winkt freundlich und scheucht einen Kellner zu uns hin. Ich denke daran, daß die Bedienung im Odin immer gut aussieht, braungebrannt und so, und daß die immer extrem gutgelaunt sind, und ich überlege, woher das wohl kommt. Der Haushund ist ein dunkelbrauner Labrador namens Max, und Karin gibt ihm anscheinend immer ein Brötchen, wenn sie im Odin ist, der Hund kennt das nämlich schon. Da kommt er auch schon angelaufen, drückt sich an den vielen Beinen vorbei und schnappt sich das Brötchen, das Karin ihm hinhält. Danach bestellt sie zwei Flaschen Roederer, und als sie kommen, trinken wir jeder ein Glas auf ex, und jemand hinter der Bar legt Hotel California von den Eagles auf, und wie die Musik so spielt und der Hund Max sein Brötchen zerkaut und draußen die Sonne untergeht, fühle ich mich auf einmal so verdammt glücklich. Ich bekomme ein dämliches Grinsen, weil ich so glücklich bin, und Anne merkt das und fängt auch an zu grinsen, und jetzt grinst auch Karin und sogar Sergio muß lächeln. Das Odin wird langsam zu voll. Am Nebentisch stehen drei Männer und reden ziemlich laut über ihren Testarossa. Sie tragen alle Cartier-Uhren, und man sieht ihnen förmlich an, daß sie Golf spielen. Die haben eine Behäbigkeit, die sich nach dreißig einstellt, so eine braungebrannte, unsympathische Behäbigkeit. Der eine wischt sich immer an der Nase herum, und tatsächlich verschwindet er alle zehn Minuten aufs Klo und kommt dann immer ganz erfrischt zurück und klatscht sich in die Hände und sagt immer so Zeug wie: Bestens, Männer! Karin und ich sehen uns an, und Karin verdreht die Augen. Irgendwie ist es besser, man geht. Wir verabschieden uns von Sergio und von Anne, weil die noch bleiben wollen, und ich zahle die zwei Flaschen Roederer, damit ich vor Sergio angeben kann, obwohl mir das im gleichen Moment wieder extrem peinlich ist, und ich kaufe dann gleich noch eine dritte Flasche, die wir mitnehmen, und die Chefin küßt Karin dreimal auf die Wange, genau wie in Frankreich, und dann gibt die Chefin uns noch zwei Sektgläser mit. Karin und ich laufen zu ihrem Wagen, und unterwegs sehe ich, wie ein völlig betrunkener junger Mann auf die Tür seines maulbeerfarbenen Porsche-Cabrios kotzt, während er versucht, den Wagen aufzuschließen. Ich sehe schnell auf die Autonummer. D wie Düsseldorf. Aha, ein Werber, denke ich. Das muß man sich mal vorstellen: Ein maulbeerfarbener Porsche. Mehrere Leute sehen sich von der gegenüberliegenden Straßenseite das Ganze an und lachen hämisch, und ich glaube, da drüben auch Hajo Friedrichs zu erkennen, aber ich bin mir nicht ganz sicher, da ich gehört habe, daß der inzwischen so aufgeschwemmt ist im Gesicht. Ich frage Karin, ob ich nicht lieber fahren soll, da sie ganz schön betrunken ist, aber sie sagt nein, sie könne noch fahren, und ich setze mich auf den Beifahrersitz, und jetzt riecht es wieder nach Leder und ein bißchen nach Parfüm. Karin fährt los, und während der Fahrt erzählt sie irgend etwas, und ich bemühe mich zuzuhören, es gelingt mir aber nicht, und so starre ich sie von der Seite an. Wie ihr buntes Hermes-Halstuch sich gegen ihren braunen Hals abzeichnet und wie ihr braungebrannter Arm auf dem Lenkrad ruht, dieser Arm, der bedeckt ist mit kleinen goldenen Härchen, und ich erinnere mich daran, wie ich einmal, als kleiner Junge, neben einem kleinen Mädchen auf einem Handtuch am Strand von Kampen gelegen habe, wir beide auf dem Bauch, und das kleine Mädchen war eingeschlafen, und ich habe ihr den weißen Sand über den Arm rieseln lassen und beobachtet, wie 18 19 sich der feine Sand in ihren Armhärchen verfangen hat. Davon ist sie aufgewacht, und sie hat mich angelächelt, und dann haben wir zusammen am Meer mit bunten Plastikschaufeln eine Sandburg gebaut. Ich hatte eine orangefarbene Schaufel, das weiß ich noch genau. Vor der Kupferkanne rollt der Mercedes langsam aus. Die Reifen knirschen auf dem Kies, und Karin stellt den Motor ab. Ich höre ein Rauschen im Ohr und bilde mir ein, es wäre das Meer, aber das kann es ja gar nicht sein, weil wir hier auf der Wattseite sind. Wir sehen uns an, steigen aus und setzen uns auf einen der grünen Hügel vor der Kupferkanne. Karin macht die Flasche Roederer auf, und sie läßt den Korken nicht knallen, und ich denke daran, wie sehr ich Menschen hasse, die einen Champagnerkorken ordentlich knallen lassen, damit sich alle umdrehen. Wir trinken aus den mitgebrachten Sektgläsern und beobachten die Leute, die in die Kupferkanne gehen. Danach sehen wir aufs Wattenmeer. Karin legt ihre Hand auf meine Schulter, und da, wo ihre Hand ist, wird es warm, und dann küßt sie mich auf den Mund. Sie schmeckt nach Champagner und nach warmer Haut. Ich schließe die Augen, aber dann wird mir schwindelig, weil ich zuviel getrunken habe, also mache ich die Augen wieder auf. Wir küssen uns, und ich sehe ihr dabei in die blaugefärbten Kontaktlinsen, obwohl es schwierig ist, auf die kurze Entfernung die Sehschärfe zu behalten. Ich glaube, Karin ist auch ein bißchen schwindlig. Wir hören auf, uns zu küssen. Dann sieht sie mich an und sagt allen Ernstes, wir sollten uns morgen abend treffen, im Odin. Das sagt sie wirklich. Dabei habe ich ihr doch erklärt, daß ich morgen abfahre. Na ja, vielleicht hat sie das schon wieder vergessen. Jedenfalls steht sie ziemlich schnell auf, stellt das Sektglas auf einen flachen Stein und läuft zu ihrem Auto. Sic steigt ein, läßt den Motor an und fährt los. Ich bleibe eine Weile auf dem Hügel sitzen, das leere Glas in der Hand. Etwas weiter entfernt studiert ein Rentnerpaar die Kuchenkarte. Kuchen jetzt? Es ist doch schon viel zu spät dafür, denke ich. Ich schenke mir aus der Champagnerflasche nach, aber der Roederer perlt nicht mehr, und als ich einen Schluck davon trinke, schmeckt er schal und flach und abgestanden und nach Asche. Ich glaube, ich werde nicht mehr nach Sylt fahren. 20 21 ziemlich heftig geklatscht, so als ironischer Kommentar, daß wir zu lange in der Warteschleife in der Luft gesessen haben. Ich denke an die Hände der Geschäftsleute und an die der Betriebsräte, wie sie aufeinanderprallen beim Klatschen, die fetten Wursthände, die ganz rosa werden vom vielen Klatschen, und ich wünsche ihnen, mitsamt ihren Swatch-Understatement-Uhren, die sie auf dem Rückflug von Pattaya im Dutyfree in Bangkok gekauft haben, den Tod. VIER Der Frankfurter Flughafen ist so wuchtig, der erschlägt mich jedesmal wieder. Immer, wenn ich da ankomme, denke ich, der Flughafen wird so schwärze Noppen auf dem Fußboden haben, aber ich kann mich später nie daran erinnern, ob es diese Noppen wirklich gibt, oder ob ich sie mir immer nur vorstelle. Es wird einem einiges vorgegaukelt auf diesem Flughafen, so eine große Welt, die im Innersten von Mannesmann und Brown Boveri und Siemens zusammengehalten wird, weil ja überall diese hintergrundbeleuchteten Reklameschilder hängen, die die ankommenden Geschäftsleute darauf hinweisen sollen, was für ein großartiger Industriestandort Deutschland ist. Jedenfalls laufe ich durch diese Gänge, vorbei an den Schildern, die alle in leicht schlechtem Englisch abgefaßt sind, und rauche eine Zigarette nach der anderen. Die Tasche der Bar-bourjacke mit den Joghurts drin tropft zum Glück noch nicht, aber ich finde es extrem unangenehm, die Jacke zu tragen, und wenn ich es mir recht überlege, dann gefällt mir die Jacke eigentlich auch nicht mehr so richtig. Ich setze mich also auf eine der Bänke, wo um diese Uhrzeit immer die ganzen Menschen schlafen, die aus Übersee kommen, mit Handtüchern über den Augen. Neben mir schläft ein chinesischer Geschäftsmann, den Mund weit geöffnet, seinen billigen Aktenkoffer zwischen die Waden geklemmt. Aus seinem Mund kommen Schnarchgcräusche. Ich ziehe meine Barbourjacke aus und lege sie vor mir auf den Fußboden. Dann zünde ich mir noch eine Zigarette an, 62 63 und werfe das brennende Streichholz auf das blöde Innenfutter der Jacke. Weil nichts passiert, beuge ich mich hinunter, zünde noch ein Streichholz an und halte das brennende Hölzchen an die Barbourjacke. Irgendwie will das Ding nicht Feuer fangen, es riecht nur ein bißchen wie verbrannte Haare, also zünde ich das ganze Päckchen Streichhölzer an und lege es ins Innenfutter. Dann stehe ich schnell auf und laufe zum Ausgang. Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie der Geschäftsmann immer noch schläft, mit offenem Mund, und die Streichholzköpfe haben alle Feuer gefangen, und das Innenfutter leuchtet so gelblichorange, und eine kleine schwarze Rauchsäule steigt aus der Jacke hoch, und in dem Moment fällt mir ein, daß ich meine Sonnenbrille in der Tasche der Barbourjacke vergessen habe. Scheiße, denke ich, aber eigentlich ist es so ja besser, weil die Sonnenbrille im Grunde häßlich und affig war. Draußen steige ich in ein Taxi. Ich weiß nicht genau, wohin ich fahren soll, und der Taxifahrer sieht mich mit seinem halb nach hinten gedrehten Kopf so dämlich an, also sage ich schnell, ich möchte zum Hotel Frankfurter Hof, und der Taxifahrer nickt jetzt verständnisvoll, weil er ja nun weiß, daß ich ein ehrenwerter Gast seiner schönen Stadt bin und hier viel Geld ausgeben werde, was ja ihm auch irgendwie wieder zugute kommen wird, und er denkt an seinen Bausparvertrag und an seinen Traum vom S-Klasse-Mercedes-Taxi, und dann fahren wir los. Unterwegs sehe ich aus dem Fenster, und ich muß wieder mal erkennen, daß keine Stadt in Deutschland häßlicher und abstoßender ist als Frankfurt, nicht mal Salzgitter oder Herne. Ich habe mir überlegt, in Frankfurt den Alexander zu besuchen. Wir haben uns ja, wie gesagt, etwas aus den Augen verloren, und das finde ich schade, weil Alexander immer ein feiner Kerl, ein guter Freund war, und einen klugen Kopf hatte. Während wir durch Frankfurt fahren, versuche ich, mir Alexanders Gesicht vorzustellen, aber es gelingt mir nicht so richtig. Es ist ein längliches Gesicht mit einer großen Nase, und irgendwie sieht er mittelalterlich aus, wie auf einem Bild von Walther von der Vogelweide oder Bernard von Clairvaux. Das sind beides mittelalterliche Maler, das weiß ich. Nicht, daß ich genau wüßte, wie diese Menschen, die die gemalt haben, aussehen, aber ich stelle mir das Mittelalter immer so vor wie in dem Film Der Name der Rose, der ja eigentlich als Film recht dämlich war, aber der Alexander hätte in diesem Film mitspielen können, weil er einfach nicht aussieht wie aus dieser Zeit, in der wir jetzt leben, sondern eben wie aus dem Mittelalter. Obwohl, wie ich gerade daran denke, entsteht Alexanders Bild in meinem Gehirn nur so in Einzelteilen, da fügt sich nichts zusammen, es ergibt kein Ganzes, das ich mir vorstellen könnte, nur einzelne Teile seines Gesichtes oder seine Art zu gehen oder zu sprechen. Ein paarmal hat er mir Fotos geschickt, von irgendwelchen Urlaubsorten. Auf einem, da ist er zu sehen, wie er an Deck so einer Holzyacht steht, irgendwo in den Kykladen oder bei Juan-Les-Pins, und er hat ziemlich lange Haare, schulterlang und fettig, und er ist sehr braun auf dem Foto und hält ziemlich lässig einen riesigen Joint in der Hand, leicht angewinkelt. Als ich dieses Foto mit der Post bekam und einen Brief in seiner üblichen krakeligen, furchtbaren Handschrift, merkte ich plötzlich, wie verdammt fremd er mir geworden war, weil er mir Dinge schrieb, die ich nicht verstanden habe. Das hat mich nicht traurig gemacht, damals, aber irgendwie hat es das doch. Ich weiß auch nicht wieso. Auf einem anderen Foto, da steht er auf einer Brücke in Kairo mit einem FC-St.-Pauli-T-Shirt, hinter ihm ist ein Muezzin-Turm zu sehen, und sein rechter Arm ist ausge- 64 65 streckt, und er deutet mit dem Zeigefinger auf etwas außerhalb des Bildes, aber er sieht dabei in die Kamera. Dann habe ich noch eins von ihm, da ist er in Afghanistan. Er trägt so ein Tuch um den Kopf geschlungen und steht vor einem Gemüselaster und grinst. Neben ihm steht ein Mudjahedin, der seine Kalaschnikow hochhält, und Alexander hat den Arm um ihn gelegt, und der Mudjahedin grinst auch, obwohl es ein bißchen so aussieht, als ob die beiden nur grinsen, weil die Sonne sie blendet. Was ich eben meinte mit den Briefen, die ich nicht verstanden habe, muß ich noch mal erklären. Also: Der Alexander ist jahrelang nach dem Abitur nur herumgereist, in der ganzen Welt, und er hat mir zum Beispiel geschrieben, er wäre auf der Suche nach den Spuren des Liedes You 're my beart, you 're my soul von Modern Talking, das ja nun wirklich ein sehr, sehr schlechtes Lied ist, aber er wäre jedenfalls unterwegs, um zu sehen, wie weit You Ve my beart, you 're my soul verbreitet ist, nicht in Orten wie Fuerteventura und so, das weiß man ja eh, daß da sowas gerne gehört wird, sondern eben in Pakistan und in Bangladesch und in Kambodscha. Alexanders Eltern sind früh gestorben, beide bei einem Autounfall, und so hat er ziemlich viel Geld geerbt, und anstatt es anzulegen oder sich sieben Porsches zu kaufen oder Gott weiß was, gibt er eben das Geld seiner Eltern dafür aus, durch die Welt zu reisen und sehr seltsamen Theorien nachzugehen über die Verbreitung der Popmusik. Einmal, und deswegen komme ich überhaupt darauf, da hat er mir einen längeren Brief geschrieben, aus Indien. Er war, so steht es in dem Brief, kurz hinter der pakistanisch-indischen Grenze in ein kleines Wüstendorf gestolpert, hatte sich dort in diesem Dorf, dessen Name mir nicht mehr einfällt, in eine Bar gesetzt, um ein Bier zu trinken oder irgendwelchen Wüstenschnaps, der aus Kakteen gebrannt wird, da es ja in Pakistan keinen Alkohol gibt. 66 Also, er sitzt da in der Bar, und irgendein Inder plänkelt in der Ecke auf einer Wandergitarre herum, die ihm, dem Inder, so ein durchreisender Hippie verkauft hat für einen Batzen Heroin, und plötzlich streckt der Inder dem Alexander die Gitarre hin und fragt ihn, ob er nicht was vorspielen kann. Das Interessante daran ist, daß Alexander eigentlich nur genau zwei Lieder auf der Gitarre spielen kann. Das eine ist £5 geht voran von den Fehlfarben, und das andere ist Brother Louie von Modern Talking. Jedenfalls schnappt Alexander sich die Gitarre und fängt an, die ersten blöden Akkorde von Brother Louie zu spielen. Der Inder grinst und schnippt mit den Fingern und stampft mit den Füßen auf dem Lehmboden der Bar herum, und plötzlich füllt sich die ganze Bar mit Indern, die sich, angelockt von der Musik, alle um Alexander scharen, und, jetzt kommt's: Alle kennen das Lied ganz genau, und durch die dreckige Bar mitten in der Wüste erschallt ein Männerchor: Brother Louie, Louie, Louie... How you douie, douie, douie. Das hat er mir jedenfalls so geschrieben und daß er das Stück den ganzen Abend spielen mußte und daß er und die Inder dann ein Spiel gemacht haben, bei dem derjenige, der am leisesten Brother Louie mitsingt, einen Schnaps kippen muß, und am Schluß waren alle mächtig betrunken, und alle haben vor Freude und vor Glück geweint. Was ich sagen will, ist: Ich habe das ja verstanden, was der Alexander damit meinte, aber eben auch wieder nicht. Es gibt so Momente, in denen ich alles genau verstehe, so, wie mit Nigel und seinen T-Shirts, und dann plötzlich entgleitet mir wieder alles. Ich weiß, daß es mit Deutschland zu tun hat und auch mit diesem grauenhaften Nazi-Leben hier und damit, daß die Menschen, die ich kenne und gern habe, so eine bestimmte Kampfhaltung entwickelt haben und daß es für sie nicht mehr anders möglich ist, als aus dieser Haltung heraus zu handeln und zu denken. Das verstehe ich ja noch. Aber 67 manchmal verstehe ich den Ansatz dieser Haltung nicht, die Herangehensweise, und dann frage ich mich, ob das immer schon so war und ob ich nicht vielleicht auch so bin, eben für die anderen überhaupt nicht mehr nachvollziehbar. Draußen rauscht Frankfurt vorbei. Die Hochhäuser und der Messeturm, wo ja niemand drinnen ist, weil niemand die Mieten bezahlen kann, und ich sehe alles und muß an Alexander denken, wie er auf dem Deck dieser Yacht steht, den Joint in der Hand, lässig angewinkelt. Das Licht ist so hell auf diesem Foto, alles ist so gut ausgeleuchtet und klar zu sehen. Ich würde ihn gerne wiedersehen, denke ich. Ja, das würde ich wirklich gerne. Ich muß gerade daran denken, wie dieser ganze Streit mit ihm eigentlich genau entstanden ist, und als wir vor dem Frankfurter Hof ankommen, bin ich ganz in Gedanken, und der Fahrer gibt meinen Koffer dem Hotelpagen, und ich bezahle den Fahrer, und dann melde ich mich an der Rezeption, immer noch vollkommen abwesend, weil ich ja an den Streit mit Alexander denken muß, und dann sitze ich im Hotelzimmer, und der Page zieht demonstrativ die Vorhänge auf und zu und öffnet die Minibar und knipst das Badezimmerlicht an. Diese Art von Herumfisteln kann ich nicht haben. Soll er doch sagen, was er will. Also setze ich mich demonstrativ auf das Bett und starre den Hotelpagen an, und der wird unsicher, und dann räuspert er sich, guckt leicht betreten und irgendwie auch pikiert, und dann zieht er die Zimmertür hinter sich zu, ohne mir einen angenehmen Aufenthalt gewünscht zu haben. Blödmann, denke ich, und dann schalte ich den Fernseher ein und drehe den Ton ab und lege mich auf das frisch bezogene Bett und schließe die Augen. In meinem Kopf summt es. Ich bin müde, aber ich weiß, daß ich nicht schlafen kann. Ich denke an den Streit mit Alexander und wie es dazu kam, und dann fällt mir Varna wieder ein. Varna, das war so ein Mädchen damals, mit dem sich Alexander angefreundet hatte. Varna ging immer auf Vernissagen, wurde überall eingeladen und kannte so ziemlich jeden in diesen furchtbar heruntergekommenen Szene-Bars, von denen ich ja vorhin schon erzählt hatte. So wie das Cool in Hamburg oder der Sorgenbrecher. Nur wohnte Varna in Frankfurt, und sie ging immer ins Romantica und in ähnliche Läden. Hauptsache, die Bars waren fertig, und Hauptsache, es stank da nach ausgelaufenem, vier Tage alten Bier, das ja ein bißchen wie alte Kotze riecht, wenn man es lang genug liegenläßt. Aber sowas gefällt manchen Menschen, es gefällt ihnen sogar sehr gut, und ich erzähle auch gleich warum. Also, Varna ging jeden Abend aus, und wenn sie nicht ausging, dann ging sie auf Vernissagen. So eine Person war das. Ich war ein paarmal mit auf diesen Vernissagen, zusammen mit Alexander. Manchmal, in Hamburg, da traf ich sie, wenn Nigel mich auf so eine Ausstellung mitschleppte. Das Interessante daran war, daß Varna einen nie länger als 34 Sekunden beachtete. Dann nahm sie einen Zug aus der Bierflasche, die sie immer auf Vernissagen mit sich herumtrug und die nie leer zu sein schien, wirklich nie, und verschwand in Richtung irgendeines Künstlers, der sich absichtlich schlecht anzog. So mit Cordovcrall, häßlichen, dicken Turnschuhen, fettigen Haaren und Arbeiterkappe. Diese Künstler hatten manchmal Farbspritzer auf ihren Turnschuhen, aber die meisten arbeiteten eh mit Installationen und hatten nicht viel zu sagen. Wenn man mal genau hinhörte, dann hatten die eigentlich überhaupt nichts zu sagen. Im Grunde haben diese Menschen nur nachgeplappert, was sie in diesen Heften, Texte zur Kunst hießen die, glaube ich, gelesen hatten, und das, was in diesen Heftchen stand, 68 69 war auch nicht besonders interessant. Jedenfalls rannte Varna immer auf diese Menschen zu, und man hatte das Gefühl, daß es ihr furchtbar peinlich war, vorher 34 Sekunden lang bei mir gestanden zu haben, weil ich rahmengenähte Schuhe trage und mich weigere, über Kunst zu diskutieren oder über irgendwelche Independent-Bands, die im Spex erwähnt werden, oder über den aufkeimenden Rechtsradikalismus, die braune Scheiße, wie Varna immer sagte. Noch schlimmer war es, wenn sie über Hip-Hop redete. Hip-Hop, das wäre die neue Punk-Musik, die echte Auflehnung und so weiter, in einem fort, ohne Ende. Alexander hatte an Varna einen Narren gefressen. Ich weiß auch nicht mehr, wie das kam. Alexander war doch sonst immer so ein kluger Kopf. Er war in Varna verliebt. Er schrieb ihr lange Briefe von seinen Reisen durch Afghanistan und Gott weiß wohin, wahrscheinlich längere Briefe als er mir damals schrieb. Er rief sie an, und wenn er wieder in Deutschland war, dann verabredete er sich mit ihr in Elendskneipen, in denen Menschen mit langen Koteletten herumstanden und Bier aus der Flasche tranken und gelangweilt aussahen und jeden musterten, der zur Tür hereinkam, um sich dann wieder gelangweilt über ihr Bier zu beugen und mit ihren noch blöderen Freunden das letzte Public-Enemy-Konzert zu besprechen oder den letzten Text von Diedrich Diederichsen. Anfangs habe ich ihn noch gewarnt, aber bei Alexander nützt das nichts. Er ist so ungefähr der sturste Mensch, den ich kenne. Er hat sich also Hals über Kopf in Varna verliebt. Dabei fällt mir ein, daß ich noch nicht erzählt habe, warum Varna Varna heißt. Das ist wegen der Stadt am Schwarzen Meer, in der sich ihre Zonen-Eltern kennengelernt haben. Als die Eltern dann in den Westen kamen, wurde Varna auf der Schule immer gehänselt wegen ihres Namens. Die Kinder haben immer gesungen und sie gepiesackt im Schulhof, und daher hat Varna ihren Knacks weg, daß sie immer beliebt sein will, auf Vernissagen und in Szenekneipen und so. Das Wichtigste damals war, daß ich Varna nicht akzeptiert habe. Ich habe ihr nie zugehört, obwohl ich sonst eigentlich allen zuhöre, weil ja alles irgendwie interessant ist. Alexander hat das nicht wahrhaben wollen, daß ich seiner großen Liebe nicht zuhöre. Ich konnte es einfach nicht. Varna war so billig, so vorhersehbar, so liberal-dämlich, daß es einfach nicht möglich war, sich ihre blöden Ideen anzuhören, ohne auszurasten und sie zu treten oder ihr zumindest aufs Maul hauen zu wollen. Und das konnte ich ja nun nicht, weil Alexander mein Freund war, also habe ich einfach nicht hingehört und manchmal etwas völlig Konträres gesagt, nur um irgend etwas zu sagen, aber das paßte dann nicht in die Unterhaltung hinein, die meistens um so Sachen ging wie: Daß man ja eigentlich doch die Grünen wählen müßte, oder Man müsse ein Beispiel setzen und kein Auto mehr fahren, nach der ultra-dämlichen Devise Think globally, act locally, und so weiter. Ich hab dann immer so Sachen gesagt, daß man zum Beispiel eine Einlaufanstalt in jedem Bundesland bauen müßte und daß da jeder, der sich aufregt über politische Verhältnisse, einen polizeilich verordneten Einlauf bekommen müßte. Varna hat dann immer gesagt, ich wäre ja ein Nazi und vollkommen unpolitisch, und ich wollte sie dann eigentlich immer fragen, wie das denn gehen soll, gleichzeitig Nazi und vollkommen unpolitisch zu sein, aber das habe ich sie nicht gefragt, weil ja Alexander dabei war, und der hat Varna doch so sehr geliebt. Das Ganze ist immer weiter eskaliert, ich konnte nicht anders. Die Frau war einfach zu dumm. Irgendwann kam es zum richtigen Streit, und Alexander hat sich für Varna entschieden. So war das. 70 71 Also, ich liege da im Hotelzimmer in Frankfurt auf dem Bett, und von draußen scheint die Sonne durch das Fenster, und ich will ein bißchen schlafen, kann aber nicht schlafen, weil in meinem Kopf die Gedanken so hin- und herrasen. Komischerweise ist mir auch leicht übel, und ich denke, das kommt wohl noch von dieser Droge, die Nigel mir gestern in Hamburg gegeben hat. Ich drehe mich auf die Seite und rieche an dem frischen weißen Laken, und dann zünd* ich mir eine Zigarette an, und dann denke ich, daß ich gerne eine Cola hätte, nehme den Hörer ab, um den Zimmerservice anzurufen und wähle aus Versehen Alexanders Nummer. Es knackt in der Leitung, und dann tutet es, und dann höre ich Alexander, der sich meldet. Meine Fland, die den Telefonhörer hält, zittert, und unter meinen Achseln läuft so ein dünner Schweißtropfen bis zur Hüfte, und ich sehe links an mir herunter, und tatsächlich verfärbt sich das hellblaue Hemd da unten kurz vor dem Hosenbund an einer Stelle dunkel. Ich ziehe an meiner Zigarette, und Alexander sagt: Hallo, wer ist da, und auf einmal wird alles schummrig in meinem Gehirn. Ich habe das Gefühl, als ob ich nach hinten kippe. Ich sehe so schwarze und gelbe Dinge, und ich weiß nicht, was es für Dinge sind. Hallo, kommt noch einmal aus dem Hörer, aber von ganz weit weg über mir oder von hinten. Dann macht es klick in der Leitung, und Alexander hat aufgelegt. Ich stehe auf, und der Hörer fällt mir aus der Hand. Er knallt gegen den Holztisch aus Mahagoni. Ein paar schwarze Plastikteile splittern ab und bilden ein seltsames Muster auf dem hellgrauen Teppich. Die Plastikteile sehen so aus wie der Umriß von England oder wie eine Landkarte von England. Ich starre auf diesen Umriß, und dann muß ich mich übergeben. Große gelbe Kotzschwälle platschen auf den Teppich, direkt neben den kaputten Telefonhörer. Ich würge ein paar mal trocken, und dann schießt dummerweise die beißende Kotze wieder hoch und bedeckt mein Jackett und das Hemd mit einer übelriechenden, gelben Soße. Ich sitze eine Weile auf der Bettkante. Es geht mir bedeutend besser, wie immer, kurz nachdem man sich übergeben hat. Das Jackett und mein Hemd und die Hose sind vollkommen ruiniert, also ziehe ich mich aus, gehe zum Koffer, den der Hotelpage auf so ein Podest neben dem Fernseher gestellt hat, öffne ihn, schnapp, schnapp macht das, und ich nehme mir ein frisches Oberhemd, ein paar beige Hosen und das Tweedjackett, und ich lege alles auf das Bett, auf die Seite, die keine Kotze abgekriegt hat. Dann gehe ich ins Badezimmer, schalte dort das Radio ein, und während / am sailing von Rod Stewart läuft, seife ich mich mit der Hotelseife unter der kochendheißen Dusche ein. Nachdem ich mich ganz gesäubert habe, mache ich den Abfluß zu und lasse die Badewanne vollaufen, und dann mache ich das Radio aus und lege mich in die Wanne, und weil das so schön warm ist und sauber und behaglich da drinnen, schlafe ich ein und merke es noch nicht mal, daß ich einschlafe. Irgendwann wache ich wieder auf. Das Wasser in der Badewanne ist kalt. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich geschlafen habe. Einen Kater bekomme ich ja nicht mehr. Anfangs habe ich noch gedacht, daß ich Alkoholiker geworden sei, aber inzwischen denke ich das nicht mehr, auch wenn ich zwei Tage und zwei Nächte durchgetrunken habe und immer noch keinen Kater hab. Ich steige aus der Wanne und trockne mich ab mit den schönen weichen Handtüchern des Hotels und versuche, dabei nicht in den Spiegel zu sehen. Dann gehe ich ins Schlafzimmer, um mich anzuziehen. Während ich in der Wanne lag, hat irgend jemand das Bett aufgeschlagen, die Kotze vom Teppich weggewischt, das kaputte Telefon ausgewechselt und meine vollgekotzte Klei- 72 73 dung abgeholt. Das finde ich irgendwie wahnsinnig rührend und nett, und ich setze mich nackt auf die Bettkante, und plötzlich muß ich daran denken, wie ich als Kind auf Sylt mal bei Hansens in Kampen eingeladen war. Hansens waren so eine Sylter Familie. Ich glaube, der Vater hatte einen Getränkemarkt oder so etwas ähnliches. Jedenfalls habe ich am Strand den Henning Hansen kennengelernt, beim Burgenbauen, und wir kamen gut miteinander aus, vor allem, weil Henning ein Fahrrad mit Bananensitz hatte und wir immer zu zweit mit dem Ding zum Kiosk gefahren sind und Grünofant gekauft haben. Na ja, eigentlich war das ja so, daß er sich nur Berry leisten konnte, und ich, da ich natürlich immer mehr Geld hatte, habe uns dann jedesmal Grünofant gekauft. Das haben wir immer in den Dünen gegessen. Damals, ich erinnere mich, schien mir das eine so erschreckend normale Tätigkeit, so, als ob alle Jungen in meinem Alter sich die ganze Zeit nie Gedanken machen würden über Dinge, sondern nur mit Fahrrädern mit Bananensatteln spielen und Grünofant essen würden, und zwar alle, ohne Ausnahme. Ich fand das großartig, daß Henning sich nur mit solchen Dingen beschäftigte. Das Leben war eben normal für ihn. Einmal, ich erinnere mich, da war es schon Herbst. Es war schon richtig kalt draußen, und wir hatten natürlich wieder Grünofant gegessen und jeder auch noch zwei Berrys, und dann sind wir zu Henning Hansen nach Hause gefahren, obwohl ich das ja eigentlich nicht durfte, zu fremden Leuten ins Haus, und dann saßen wir zusammen im Keller und haben Zigaretten gegessen. Ich erinnere mich noch genau an den Geschmack. Henning mußte immer Markstücke in die Heizung werfen, das war so ein Gerät von kurz nach dem Krieg, und neben der Heizung stand ein Einmachglas mit Markstücken, die waren alle von Hennings Vater abgezählt, und die mußte Henning in die Heizung tun, damit sie lief. Wir haben jeder mindestens drei Zigaretten gegessen, und dann hatten wir natürlich noch das Eis im Bauch. Mir wurde zuerst schlecht, und ich bin rausgerannt, vor die Tür, ohne Jacke, und dann habe ich bei Henning Hansen in den Garten gekotzt. Der einzige Gedanke, den ich dabei hatte, war: Oh Gott, ich darf doch nicht ohne Jacke aus dem Haus. Wir haben danach noch ein paarmal Eis gegessen am Kiosk, aber irgendwie war die Luft raus. Henning ist auch von seinem Vater dabei erwischt worden, wie er aus dem Einmachglas neben der Heizung Geld genommen hatte. Heute glaube ich, daß es daran lag, daß er es einfach nicht ertragen konnte, daß er immer nur Berry hat kaufen können und ich immer Grünofant. Wir haben uns dann immer weniger gesehen und am Schluß gar nicht mehr. Während mir das alles einfällt, muß ich lächeln, so ein richtig freundliches Lächeln. Ich sehe mich im Spiegel nackt auf der Bettkante sitzen, und ich lächle mich an. Eine ganze Weile bleibe ich so sitzen, weil das so ein netter Moment ist, und dann stehe ich auf, suche mir meine Kleidung zusammen, die ich mir vorhin zurechtgelegt hab und ziehe mich an. Draußen ist es schon dunkel, ich habe aber keine Ahnung, wie spät es ist. Dann stecke ich mir meinen Zimmerschlüssel in die Jackettasche, verlasse das Hotel und nehme ein Taxi zum Cafe Eckstein. Unterwegs sehe ich auf die Uhr auf dem Armaturenbrett, und danach sehe ich mir meine Fingernägel an. Es ist schon ziemlich spät am Abend, das Eckstein ist voll. Unten, im Keller, spielt irgendwelche Billig-Techno-Musik. Ich setze mich auf einen Hocker an der Bar oben und bestelle einen Apfelwein. Ich trinke immer Apfelwein, wenn ich in Frankfurt bin. Ich liebe diesen stechenden Schmerz hinter dem linken Auge, der sich nach dem zweiten Glas einstellt. 74 75 Das ist fein, weil Äbbelwoi so etwas wie einen Kater gibt, bevor man überhaupt betrunken gewesen ist. Hinter der Bar ist so ein großer Spiegel, und während ich hineinsehe und mich dabei beobachte, wie ich die Augenbrauen hochziehe, um zu sehen, wieviele Falten ich schon auf der Stirn habe, sehe ich hinter mir ein paar hübsche Mädchen hereinkommen. Ich zünde mir eine Zigarette an und trinke einen Schluck Apfelwein aus dem geriffelten Glas.Jch denke daran, daß diese einfachen, in sich gemusterten Äppelwoi-Gläser wirklich sehr hübsch sind und daß ich mir eigentlich welche kaufen sollte, aber ich weiß nicht, wohin ich die Gläser stellen würde, und dann denke ich daran, daß es eigentlich ziemlich albern ist, sich irgendwelche Gläser kaufen zu wollen. Währenddessen beobachte ich, wie die hübschen Mädchen von eben sich an einen Tisch setzen, sich Zigaretten anzünden und herumalbern. Frankfurter Mädchen haben immer so eine Selbstverständlichkeit, die man nirgendwo sonst in Deutschland findet. In Flamburg sind alle Mädchen barbourgrün, in Berlin ziehen sie sich betont schlecht an, damit sie so aussehen wie Künstler, und in München haben die Mädchen wegen dem Föhn so ein seltsames inneres Leuchten. Aber in Frankfurt, da sind die Mädchen einfach lässig. Ich meine jetzt nicht solche wie Varna, die habe ich ja vorhin schon beschrieben, sondern Mädchen, die Kleider anhaben und halblange, hellbraune Haare und leicht nach oben zeigende Nasen und die in Kneipen herumsitzen und lachen. Während ich mir das so überlege, bemerke ich, wie eines von den Mädchen am Tisch immer in den Barspiegel sieht, und zwar durch den Spiegel mir direkt in die Augen. Sie macht das ziemlich offensiv, und ich sehe ein paarmal demonstrativ weg, um dann ganz schnell wieder hinzuschauen. Sie sieht mir immer noch in die Augen, und mir ist das fast etwas peinlich, weil ich mit so aggressiver Flirterei nie viel anfangen kann. Ich trinke noch einen großen Schluck Apfelwein, drücke die Zigarette in den Aschenbecher und lächle dann in den Spiegel hinein, und zwar in meiner charmantesten Weise, so halb von unten. Das Mädchen lächelt zurück, nein, eigentlich strahlt sie zurück, und ich sehe im Spiegel ihre extrem weißen Zähne, und tatsächlich fehlt ihr vorne am Schneidezahn ein kleines Stückchen. Mir läuft ein kleiner angenehmer Schauer den Rücken herunter, der gleiche Schauer übrigens, den ich auf öffentlichen Pissoirs bekomme, wenn ich auf die Duftwürfel pisse und dann den süßlichen Geruch der Duftwürfel, gemischt mit dem etwas schärferen Geruch des Urins, einatme. Der gleiche Schauer ist das. Er beginnt irgendwo in der Wirbelsäule hinten und saust dann hoch und endet bei den Ohren, und dann muß ich mich immer so wohlig schütteln. Ich schüttle mich also, sehe bestimmt nicht allzu gut aus dabei, drehe mich dann auf dem Barhocker um, das Äbbelwoi-Glas in der Hand, mit einem überaus charmanten Lächeln im Gesicht, das kann ich nämlich ganz gut, und ich stelle gerade die Füße auf den Boden und will zu dem Mädchen an den Tisch gehen und mich vorstellen, als die Tür des Ecksteins aufgeht und Alexander hereinkommt. Er trägt eine völlig verwarzte grüne Barbourjacke mit einem Eintracht Frankfurt-Aufnäher dran und hat fettige, schulterlange blonde Haare, die beim Gehen hin und her wippen. Das haut mich natürlich um. Ich stehe völlig verdutzt da, und einerseits bin ich wahnsinnig froh, andererseits erschreckt mich das zu Tode, weil ich da ja überhaupt nicht drauf vorbereitet bin, ihn zu treffen, meine ich. Das Beste kommt jetzt aber noch: Er sieht mich nicht. Er sieht mich überhaupt nicht, das muß man sich mal vorstellen. Er geht einfach an mir vorbei, obwohl ich direkt an der Bar auf dem blöden Barhocker sitze und ihn anstarre. 76 77 Alexander geht durch das Eckstein, und ich verfolge ihn mit meinem Blick. Vielleicht sieht er es ja, denke ich, vielleicht sieht er es, wenn ich ihn ansehe. Vielleicht habe ich mich so verändert, daß er mich nicht erkennt, vielleicht liegt es daran. Aber er dreht sich nicht um, wirklich nicht. Er zieht seine Barbourjacke aus und legt sie über eine Stuhllehne, plaudert mit den Jungs und trinkt dabei ein paar Bierflaschen leer, die noch auf dem Tisch stehen. Das ist der alte*Alexander, denke ich. Er hat immer die Reste ausgetrunken von anderen Leuten. Dann geht er zur Treppe, nach unten, wo die Techno-Musik läuft, und verschwindet im Keller. Ich zahle meinen Abbelwoi an der Bar und laufe zu dem Tisch, an dem Alexanders Jacke hängt. Ich denke gar nicht lange nach, sondern nehme die Barbourjacke von der Stuhllehne und ziehe sie an. Keiner sieht mir zu, ich merke aber, wie meine Ohren trotzdem rot und heiß werden. Ich klappe den braunen Cordkragen hoch, obwohl ich das normalerweise nie mache und laufe aus dem Eckstein raus. Keiner kommt mir nach, keiner ruft mir hinterher. Die Barbourjacke ist schön warm, auch wenn kein Futter drinnen ist, und ich stecke die Hände in die Außentaschen und laufe auf dem Kopf Steinpflaster. Klack Klack macht das, weil ich ja unter meinen Schuhen so Metallteile habe. Wie die genau heißen, hab ich vergessen. Ich versuche, mich daran zu erinnern, aber es fällt mir wirklich nicht mehr ein. FÜNF Ich bin dann ziemlich schnell weg aus Frankfurt. Nicht, weil es so deprimierend gewesen ist, das mit Alexander, sondern weil ich überhaupt nicht wußte, was ich in dieser Stadt soll. Frankfurt ist ja auch so extrem abstoßend, das habe ich ja schon mal gesagt. Ich nehme also einen Zug nach Süden, einen dieser Interregios, und löse im Zug beim Schaffner, der ein bißchen nach Schweiß riecht und sich ziemlich umständlich aufführt, eine Fahrkarte nach Karlsruhe. Es gibt Städte in Deutschland, da war ich noch nie. Aachen und Düsseldorf, aber eben auch Karlsruhe. Ich werde mir jetzt mal so richtig Karlsruhe ansehen. Also sitze ich wieder in diesem unfaßbar häßlichen Bord-Treff, der genauso aussieht wie das Bistro im ICE, nur, daß der Bord-Treff noch etwas grauenvoller gestaltet ist, und trinke ein Christinen-Brunnen-Mineralwasser, weil mir vorhin auf dem Frankfurter Hauptbahnhof etwas schummrig war und ich das Gefühl habe, ich könnte jetzt absolut keinen Alkohol vertragen. Christinen-Brunnen ist natürlich so ein gräßliches Proleten-Wasser, aber es ist immer noch besser als diese neuen schwedischen oder belgischen Wasser, Spa, zum Beispiel, oder Ramlösa oder wie die alle heißen. Außer mir sitzt niemand im Bord-Treff. Das nennt sich wirklich so. Bord-Treff. So eine Frechheit. So eine niederträchtige riesengroße Frechheit. Ich überlege mir, wer sich wohl diesen Namen ausgedacht haben mag. Ich meine, saßen da irgendwelche Menschen mit bunten Brillen in einem Designbüro in Kassel und haben sich tatsächlich darüber den werde. Einmal drehe ich mich noch um. Er steht immer noch da, die Hände in den Taschen seines Anzugs. Seine Schultern zucken ganz leicht, so, als ob ihm kalt wäre. Er sieht auf den See, auf das blinkende grüne Licht da draußen, aber ich glaube nicht, daß er es wirklich sieht. In meinem Zimmer packe ich den Koffer. Dann gehe ich in Rollos Zimmer und suche in seinen Sachen nachdem Auto-schlüssel. Er liegt in seinem grünen Jackett, in der Innentasche. Ich stecke ihn ein, nehme meinen Koffer und gehe hinaus, auf den Hof, wo die vielen Autos der Gäste stehen. Ich schließe Rollos Porsche auf, setze mich hinein und starte den Motor. Langsam, im Rückwärtsgang, fahre ich über den knirschenden Kies. Ich kurbele beide Fenster herunter, lege den ersten Gang ein und fahre los, durch das große Tor, auf die Hauptstraße, durch Meersburg hindurch, durch die Nacht, am See entlang. Irgendwo an einer Tankstelle fülle ich für vierzig Mark Benzin nach, und um halb zwei Uhr nachts überquere ich in der Nähe von Singen die Schweizer Grenze. Langsam werde ich wieder nüchtern. Nach meinem Paß fragt mich niemand. ACHT Seit zwei Tagen wohne ich im Hotel Baur au Lac in Zürich. Morgens esse ich ein paar Spiegeleier mit Toast. Dazu trinke ich einen ausgepreßten Grapefruitsaft und zum ersten Mal in meinem Leben Kaffee. Ich mag gar keinen Kaffee. Mein Herz fängt an, wie blöd zu rasen, und ich fühle mich schwindlig, aber ich trinke trotzdem morgens zwei große Tassen. Zürich ist schön. Hier gab es nie einen Krieg, das sieht man der Stadt sofort an. Die Häuser drüben in Niederdorf, auf der anderen Seite des Flusses, haben so etwas Mittelalterliches, ein bißchen wie Heidelberg, aber ohne Fußgängerzone. Hier in Zürich ist vieles weiß: die Schwäne, die am Ufer des Zürichsees auf die Großmütter warten, mit ihren Plastiktüten voller Sonntagsbrot, die Tischdecken überall vor den Cafes und die hohen Wölkchen am blauen Himmel über dem See. Heute morgen spaziere ich also die Bahnhofstraße hoch und sehe mir die Schaufenster an. Das habe ich ja schon oft gehört, daß die Straßen in Zürich so sauber und appetitlich sind, und ich muß sagen, es stimmt wirklich. Alles ist in Häppchen zu haben, in lauter ganz leckeren Häppchen, und obwohl ich mir ja nichts aus Essen mache, habe ich das Gefühl, ständig hungrig zu sein. In den Feinkostläden riecht es gut und in den Blumenläden auch, und die Menschen sind freundlich. Das Feine an der Schweiz ist, daß auf den Türen der Geschäfte Stossen steht und nicht Drücken, und daß hier nichts plattgebombt worden ist und vielleicht auch, daß hier die Trambahnen auf Asphalt fahren, der nicht aufgerissen 140 141 worden ist im Krieg, sondern die Füße der Menschen seit Jahrzehnten trägt. Die Bäume sind schön und manchmal rauschen sie, und das Bier, das schmeckt ganz anders. Während ich spazierengehe, rauche ich Zigaretten, aber irgendwie paßt es nicht so richtig, hier zu rauchen. Den Porsche habe ich vor zwei Tagen am Züricher Flughafen geparkt. Die Autoschlüssel habe ich ins Handschuhfach gelegt und dann ein Taxi zurück zur Innenstadt genommen. Ich denke, daß ich alles richtig gemacht habe. Sogar das Lenkrad habe ich mit einem Tuch abgewischt, obwohl ich mir dabei idiotisch vorgekommen bin. Ich denke daran, daß ich mir das Rauchen abgewöhnen sollte. Ich nehme meine angebrochene Schachtel Zigaretten und lege sie im Vorbeigehen auf den Tisch eines Straßencafes. Danach fühle ich mich besser, aber nach zehn Minuten hätte ich gerne wieder eine Zigarette. Ich drehe um und gehe zu dem Straßencafe zurück, aber die Schachtel liegt nicht mehr auf dem Tisch. Ein paar junge Geschäftsmänner haben sich hingesetzt, und sie trinken Bier mit einer roten Brause drin, obwohl es noch nicht einmal Mittag ist, und einer von ihnen raucht tatsächlich meine Zigaretten. Das sind solche mit teuren Anzügen von der Stange und Mobiltelefonen, so halbe Banker eben. Kurz, wirklich nur ganz kurz, bekomme ich eine furchtbare Wut, und ich will schon hingehen und ihm meine Zigarettenschachtel aus den Fingern reißen, aber ich lasse es dann doch, weil ich nicht weiß, wie Schweizer auf so etwas reagieren. Ich kann ja auch gar nicht beweisen, daß es meine Schachtel war. Ich meine, mein Name stand ja nicht drauf oder sowas. Ich drehe mich wieder in die andere Richtung. Weil die Sonne so schön scheint, ärgere ich mich nicht mehr. Ich überquere eine Brücke, die über einen Fluß geht, und marschiere auf einen Kiosk zu. Dort kaufe ich eine neue Schachtel Zigaretten und eine deutsche Tageszeitung, obwohl ich überhaupt nie Zeitungen lese. Ich weiß auch nicht, warum ich sie kaufe. Vielleicht, weil Deutschland auf einmal nicht mehr da ist. Es ist so, als habe sich das ganze riesengroße Land einfach verflüchtigt, und obwohl die Menschen hier auch noch Deutsch sprechen und auf den Schildern überall deutsche Sätze stehen, scheint es mir so, als ob Deutschland nur noch eine Ahnung wäre, eine große Maschine jenseits der Grenze, eine Maschine, die sich bewegt und Dinge herstellt, die von niemandem beachtet werden. Ich setze mich mit meiner Zeitung an den Tisch eines Cafes, zünde mir eine Zigarette an und lasse den Rauch aus dem Mund heraus, ganz langsam. Auf einmal habe ich einen Rauchring gemacht, und dann noch einen, und dann einen dritten. Ich bekomme einen kleinen Adrenalinstoß, weil mich das so irre freut, und ich puste noch einen Ring in die Luft. Es ist wirklich furchtbar einfach. Man muß nur die Zunge benutzen, und zwar muß man sie so ganz leicht nach vorne schnalzen lassen, im Mund. Der Kellner kommt an den Tisch und fragt mich, was ich haben möchte, und ich sage, ich möchte so ein Bier mit dieser roten Brause drinnen, die ich vorhin in dem anderen Straßencafe gesehen habe. Er versteht nicht, was ich will, und ich mache noch einen Rauchring, und dann versteht er plötzlich doch, was ich meine. Bier mit Grenadine heißt das Zeug. Eine Panache, mit der Betonung auf dem ersten A. Das Getränk kommt. Es schmeckt wie Bier mit Sirup. Es ist ein bißchen zu süß, aber das liegt daran, daß der Sirup sich unten im Bierglas sammelt und man mit dem Strohhalm rühren muß, sonst kommt wirklich nur Sirup durch. Ich schlage die Zeitung auf und lese ein paar Artikel über irgendwelche 142 143 Theateraufführungen in München, und dann blättere ich die Zeitung zurück, auf die ersten paar Seiten. Und dann lese ich den Artikel über den Millionärssohn, der während einer Party am Bodensee ertrunken ist. Ich sehe immer wieder Rollos Namen auf der Seite. Rollo, der erst morgens früh um acht gefunden worden ist, nachdem sich sein Abendanzug in den Asten eines Baumes verheddert hat, der direkt am Wasser stand. Rollo, in dessen Magen man eine Überdosis Valium gefunden hat und eine viel zu große Menge Alkohol. Rollo, der Gastgeber der Party, der es allen immer recht machen wollte. Rollo, der junge Millionärserbe, dessen Vater in Indien ist und dessen Mutter in einer Anstalt in der Nähe von Stuttgart. Der rote Sirup klebt mir im Mund. Ich denke an Rollos Wagen, der am Flughafen steht, und daran, wie lange der da jetzt wohl stehen wird. Das ist das erste, woran ich denke. Ich reiße den Artikel aus der Zeitung heraus, falte ihn und stecke ihn in die Tasche meines Jacketts. Dann lege ich einen Zehn-Franken-Schein auf den Tisch, unter das leere Bierglas, stehe auf und marschiere die Straße hinunter, am Fluß entlang. Eine kleine Gasse führt hinauf ins Niederdorf, da biege ich rechts ab, und dann bin ich auf einem Platz, zwischen lauter alten Häusern und einer steinernen Kirche. Ich denke, da gehe ich jetzt mal hinein, vielleicht wegen Rollo, aber leider ist die große Eingangstür geschlossen, weil es eine protestantische Kirche ist, und die müssen nicht immer offen haben, so wie die katholischen Kirchen. Ich laufe auf dem ausgetretenen Kopfsteinpflaster kleine Hügel hinauf und hinab, und das ist ganz schön anstrengend. Links und rechts sind Buchhandlungen und Elektrofach-geschäfte in den alten Häusern, und ein Pornokino sehe ich auch. Oben sind Inschriften von 1561 in die Hauswände eingelassen, und unten sind Pornokinos. In Deutschland wäre das alles viel schlimmer. Hier in der Schweiz macht es nicht so viel aus. Ich denke daran, daß die Schweiz so ein großes Nivellier-Land ist, ein Teil Deutschlands, in dem alles nicht so schlimm ist. Vielleicht sollte ich hier wohnen, denke ich. Die Menschen sind auch auf eine ganz bestimmte Art attraktiver. Die Frauen haben so komische Himmelfahrtsnasen, und sie tragen alle Kleidung, die japanisch aussieht. Alles erscheint mir hier ehrlicher und klarer und vor allem offensichtlicher. Vielleicht ist die Schweiz ja eine Lösung für alles. Meine einzige Erinnerung an die Schweiz ist eine Autofahrt mit meinem Vater. Ich war vielleicht sechs oder sieben, und wir fuhren am Genfer See entlang, nach Genf. Die Autobahnschilder waren grün und nicht blau, wie in Deutschland, und auf der rechten Seite gab es Weinberge, und links unterhalb der Autobahn ragten alte Schlösser in den See hinein. Ich saß hinter meinem Vater und guckte aus dem Fenster, spielte dabei mit einer Wollmütze, an der so Troddel befestigt waren. Irgendwann wurde es mir langweilig hinten im Auto, und ich nahm die Mütze und zog sie meinem Vater von hinten über den Kopf und auch über die Augen, bei Tempo 120. Das Auto fing an zu schlingern, und es gab riesigen Ärger. Was weiter passiert ist, habe ich vergessen, aber einen Unfall gab es nicht. Auf einmal habe ich Lust, zurück ins Hotel zu gehen. Es ist warm auf den Straßen, und ich denke an die Kühle meines Hotelzimmers und an die Klimaanlage und an einen Drink in der Lobby. Ja, ich brauche unbedingt etwas zu trinken. Ich laufe also die Gassen wieder hinab, links, und dann rechts, bis ich ans Flußufer komme und gehe über die Brücke. Ein paar Fahnen mit Wappen drauf flattern im Wind. Diese Wappen sind mir alle fremd, aber sie sind hübsch. Stiere sind drauf und blau-weiße Muster. Ich glaube, das sind die Wappen der Schweizer Kantone. 144 145 Die vielen Schwäne sind immer noch da, unter der Brücke. Jetzt, wo es Abend wird, kommen sie vom See den Fluß hinaufgeschwommen. Es wird richtig Sommer. Eigentlich könnte man schon im Oberhemd herumlaufen, so warm ist es geworden in den letzten paar Tagen. Während ich zur Bahnhofstraße zurücklaufe, denke ich an die Berge, die irgendwo hinter dem Zürichsee anfangen. Dort oben müßte man wohnen, auf einer Bergwiese, in einer kleinen Holzhütte, am Rande eines kalten Bergsees, der unterirdisch mit Schneewasser gespeist wird. Vielleicht müßte ich noch nicht mal auf diese Insel mit Isabella Rossellini, vielleicht würde es auch reichen, wenn ich mit ihr und den Kindern in dieser kleinen Hütte wohnen würde. Jetzt, wenn der Sommer kommt, würden die Bienen summen, und dann würde ich mit den Kindern Ausflüge machen bis an die Baumgrenze, durch die dunklen Wälder streifen, und wir würden uns Ameisenhaufen ansehen, und ich könnte so tun, als würde ich alles wissen. Ich könnte ihnen alles erklären, und die Kinder könnten niemanden fragen, ob es denn wirklich so sei, weil sonst niemand da oben wäre. Ich hätte immer recht. Alles, was ich erzählen würde, wäre wahr. Dann hätte es auch einen Sinn gehabt, sich alles zu merken. Ich würde ihnen von Deutschland erzählen, von dem großen Land im Norden, von der großen Maschine, die sich selbst baut, da unten im Flachland. Und von den Menschen würde ich erzählen, von den Auserwählten, die im Inneren der Maschine leben, die gute Autos fahren müssen und gute Drogen nehmen und guten Alkohol trinken und gute Musik hören müssen, während um sie herum alle dasselbe tun, nur eben ein ganz klein bißchen schlechter. Und daß die Auserwählten nur durch den Glauben weiterleben können, sie würden es ein bißchen besser tun, ein bißchen härter, ein bißchen stilvoller. Von den Deutschen würde ich erzählen, von den Nationalsozialisten mit ihren sauber ausrasierten Nacken, von den Raketen-Konstrukteuren, die Füllfederhalter in der Brusttasche ihrer weißen Kittel stecken haben, fein aufgereiht. Ich würde erzählen von den Selektierern an der Rampe, von den Geschäftsleuten mit ihren schlechtsitzenden Anzügen, von den Gewerkschaftern, die immer SPD wählen, als ob wirklich etwas davon abhinge, und von den Autonomen, mit ihren Volxküchen und ihrer Abneigung gegen Trinkgeld. Ich würde auch erzählen von den Männern, die nach Thailand fliegen, weil sie so gerne mächtig und geliebt wären, und von den Frauen, die nach Jamaica fliegen, weil sie ebenfalls mächtig und geliebt sein wollen. Von den Kellnern würde ich erzählen, von den Studenten, den Taxifahrern, den Nazis, den Rentnern, den Schwulen, den Bausparvertrags-Abschließern, von den Werbern, den DJs, den Ecstasy-Dealern, den Obdachlosen, den Fußballspielern und den Rechtsanwälten. Das wäre aber alles eigentlich auch etwas, das der Vergangenheit angehören würde, dieses Erzählen da oben an dem Bergsee. Vielleicht brauchte ich das alles nicht zu erzählen, weil es die große Maschine ja nicht mehr geben würde. Sie wäre unwichtig, und da ich sie nicht mehr beachte, würde es sie nicht mehr geben, und die Kinder würden nie wissen, daß es Deutschland jemals gegeben hat, und sie wären frei, auf ihre Art. Ich gehe durch die Lobby des Hotels, laufe am Zeitungsstand vorbei und setze mich in einen der Sessel. Ein Hotelkellner kommt, und ich bestelle einen Scotch mit Soda, schreibe ihn auf die Zimmer-Rechnung und trinke ihn aus. Eine Silberschale mit Salznüssen steht auf dem Tisch, aber ich esse keine davon. Diese leichte Klaviermusik, die in fast jeder Hotellobby zu hören ist, die gibt es hier nicht. Ich glaube, deswegen ist es ein gutes Hotel. 146 147 Ich sitze noch eine Weile herum und bestelle mir einen zweiten Scotch mit Soda. Irgendwo habe ich mal gelesen, daß das Grab von Thomas Mann in der Nähe von Zürich liegt, oben, auf einem Hügel über dem See. Thomas Mann habe ich auch in der Schule lesen müssen, aber seine Bücher haben mir Spaß gemacht. Ich meine, sie waren richtig gut, obwohl ich nur zwei oder so gelesen habe. Diese Bücher waren nicht so dämlich wie die von Frisch oder Hesse oder Bürrenmatt oder was sonst noch so auf dem Lehrplan stand. Ich bestelle beim Portier ein Taxi, und als es kommt, drücke ich ihm fünf Franken in die Hand. Er hält mir die Tür auf, ich steige ein und sage dem Fahrer, ich möchte nach Kilchberg, zu dem Friedhof dort. Während wir aus der Stadt herausfahren, redet der Taxifahrer über die Steuern, und da er aus dem Tessin kommt, merkt er nicht, daß ich kein Schweizer bin. Er schimpft und schimpft, aber nicht so richtig, eher so, als wolle er nur reden. Ich sage immer ja, und dann hake ich manchmal so nach, obwohl es mich nicht interessiert. Es stört mich aber auch nicht. Wir fahren links am See vorbei. Die Straßen haben merkwürdige Namen. Mythenquai heißt eine Straße, und ich denke daran, wie charmant und antiquiert die Dinge hier klingen, so, als würden die Schweizer mit der deutschen Sprache ganz anders umgehen, aus dem Innersten der Sprache heraus, meine ich. In dem Moment fällt mir ein, daß ich Alexanders Barbour-jacke im Hotel zurückgelassen habe, weil es vorhin zu warm war. Jetzt wird es draußen Abend, und ich hätte sie gerne dabei. Ich überlege ganz kurz, ob ich dem Fahrer nicht sagen soll, er möge doch umkehren, damit ich die Jacke holen kann, aber er redet immer noch über seine Steuererklärung in seinem schönen italienischen Schweizerdeutsch, und deswegen lasse ich es sein. Die Fahrt geht an alten Fabriken vorbei, und rechts der Straße kommt jetzt tatsächlich die Lindt-Schoko-ladenfabrik. Als wir vorbeifahren, riecht es nach dicker, brauner Schokoladenmasse, die in riesengroßen Metall-Bottichen vor sich hin köchelt. Dann biegen wir rechts ab und fahren den Hügel hoch, Richtung Kilchberg. Ich zünde mir eine Zigarette an. Der Fahrer sieht einmal so halbkritisch in seinen Rückspiegel, aber ich tue so, als hätte ich es nicht gesehen, obwohl unsere Augen sich ja im Spiegel getroffen haben. Wenn es ein Nichtrauchertaxi ist, dann soll er es doch sagen, anstatt so strafend in den Rückspiegel zu schauen. Wir fahren durch ein kleines Dorf, biegen an der Kirche links ab, der Fahrer hält und sagt, da hinten sei der Friedhof. Ich gebe ihm sein Geld, schlage die Wagentür zu und gehe auf dem kleinen Kiesweg durch das Friedhofstor. Die Sonne ist schon untergegangen. Es wird jetzt ernsthaft Abend. Die Luft wird von Minute zu Minute kühler. Vom Friedhof aus kann man über den ganzen Zürichsee blicken. Eine alte Frau auf Krücken geht zwischen den Gräberreihen hin und her, und bleibt dann vor einem Grab stehen. Eine ihrer Krücken legt sie auf den Rasen, mit der anderen Krücke stützt sie sich auf. Sie steht halb zur Seite gebeugt. Irgendwo bellt ein Hund. Es ist schwierig, auf einem Friedhof ein ganz bestimmtes Grab zu suchen, wenn man nicht weiß, wo man suchen soll. Ich habe einmal ein Foto gesehen, auf dem war das Grab abgebildet. Es muß so ein großer grauer Steinblock sein, wo Thomas Mann draufsteht, und natürlich auch Katia Mann und noch jemand aus der Familie. Ich laufe umher und suche, aber es wird immer dunkler. Dann suche ich die Frau mit den Krücken, weil sie mir sicher sagen könnte, wo genau das Grab liegt, aber sie ist weggegangen. Schließlich nehme ich meine Schachtel Streichhölzer und zünde eines nach dem anderen an, vor jeder 148 149 Grabinschrift. Die Schachtel ist bald leer, deswegen nehme ich eine kleine Grableuchte aus Plastik, zünde die Kerze darin an und laufe weiter zwischen den Reihen hin und her. Ich beuge mich hinunter und versuche zu lesen, was da steht. Es hat keinen Zweck. Ich sehe nichts mehr. Das Kerzchen ist nicht hell genug. Das kann doch einfach nicht wahr sein. Ich finde das blöde Grab von Thomas Mann nicht. Jetzt ist es fast Nacht. Ich setze mich an den «Rand eines Grabes, um erst einmal in Ruhe eine Zigarette zu rauchen. Der Hund, der vorhin gebellt hat, streunt dort hinten herum, bei den etwas neueren Gräbern, dort, wo die Blumen etwas frischer sind. Es ist ein großer, schwarzer Hund. Ich kann ihn fast nicht erkennen. Eigentlich ist er nur der Schatten eines Hundes, der sich bewegt. Ich höre aber, wie er schnuppert, wie seine Schnauze zwischen den Blumen hin und her fährt. Dann ist es still. Der Hund setzt sich hin, und er kackt tatsächlich auf eines von den Gräbern. Das kann ich genau erkennen, ich schwöre es. Ich mache ein paar Geräusche, um ihn wegzuscheuchen, aber er geht nicht weg. Er kackt da einfach friedlich vor sich hin. Ich nehme die kleine Grableuchte, zünde mir daran eine Zigarette an und werfe sie in Richtung des Hundes. In der Luft geht die Kerze aus, und ich höre sie fallen, aber ich bin mir sicher, daß ich den idiotischen Hund nicht treffe. In dem Moment fällt mir ein, daß der Hund vielleicht auf Thomas Manns Grab gekackt haben könnte, und ich stehe auf und laufe in die Richtung, in die ich das Kerzchen geschleudert habe. Die Plastik-Grableuchte liegt da, aber der große schwarze Hund ist verschwunden. Ich gehe zu dem Grabstein hm und fahre mit den Fingern über die Inschrift, aber es fühlt sich wirklich nicht so an wie der Name von Thomas Mann. Schade. Streichhölzer habe ich keine mehr. Ich hätte gerne gesehen, wer da begraben liegt. 150 Weil es wirklich ziemlich kühl geworden ist, knöpfe ich mir mein Tweedjackett zu, stecke die Hände in die Hosentaschen, gehe durch das Friedhofstor wieder hinaus und marschiere den Hügel hinab, zum See. Ich hatte gedacht, der Weg wäre kürzer. Die Straße macht immer wieder eine Kurve, wie mir scheint, immer in die falsche Richtung. Ab und zu fährt ein Auto vorbei und blendet mich, und ich halte mir den Arm vor die Augen. Rechts unter mir ist ein kleiner Bahnhof, und ich überquere die Gleise. Dann kommen ein paar Geschäfte und eine Dorfkneipe, und schließlich eine Hauptstraße, und da ist dann der See. Drüben am anderen Ufer leuchten die Lichter. Ich setze mich eine Weile an den Rand des Sees. Rechts neben mir ist so eine Anlegestelle für Ausflugsdampfer, bloß um die Uhrzeit kommt kein Schiff mehr. Am Schiffsanleger sitzt ein Mann in einem Ruderboot und raucht eine Zigarette. Die rote Glut leuchtet, wenn er an seiner Zigarette zieht, und das Leuchten spiegelt sich im Wasser des Sees. Ich beobachte ihn eine ganze Weile, vielleicht zehn Minuten, wie er raucht und wie er die Asche ins Wasser fallen läßt, so daß es zischt. Als er fertig geraucht hat, gehe ich auf ihn zu. Das Boot dümpelt im Wasser vor sich hin. Ich sage guten Abend, und der Mann sieht hoch und guckt mich an. Ich mache meine Schultern gerade, so, als ob ich mehr Mut hätte, und frage den Mann, ob er mich auf die andere Seite des Sees rudern würde, für zweihundert Franken. Er überlegt eine Weile und dann sagt er ja, er würde es schon machen. Ich steige ins Boot und setze mich auf die Holzplanke, und der Mann schiebt die Ruder durch diese Metalldinger und rudert los. Bald sind wir in der Mitte des Sees, Schon bald. 151