Papa ging hinein; und einen Augenblick später kam er ' zurück, mit einem Gesicht, das wohl trösten wollte und sich scherzend stellte. „Siehst du?" flüsterte Raffael mit feierlichem Grauen. Papa sah stumm umher. Endlich äußerte er: „Es ist gut, mein Lieber. Du kannst zum Doktor laufen. Ich hole ihren Mann heraus. Zur Polizei gehe lieber nicht, das hat keinen Zweck; aber gleich neben dem Doktor wohnt eine Frau, der kannst du vielleicht auch Bescheid sagen. Ihr ' Name steht auf dem Schild: Frau Schlei, Hebamme . . . Siehst du, jetzt geht dir ein Licht auf. Du bist ja auch kein Kind mehr. Nun, irren ist menschlich. Deswegen brauchen 1 wir uns nicht so aufzuregen. Hörst du? Mach, bitte, ein ver- j nünftiges Gesicht! — Was ist dir denn? Nimm dich zusammen, keine Dummheiten! Das ist doch keine Sache, um An- , fälle zu bekommen und kraiik zu werden. Stütze dich auf mich — und tue mir den Gefallen, schreie Heber, aber mach nicht solch Gesicht. Ich weiß längst, daß deine Nerven nicht j iu Ordnung sind. Warum hast du kein Vertrauen zu mir? j Herrgott, ist es denn so schlimm? Raff ael! Raff ael!" J ABDANKUNG Alle wollten Fußball spielen; Felix allein bestand auf einem Wettlauf. „Wer ist hier der Herr?" schrie er, gerötet und bebend, mit einem Rück, daß der, den er traf, sich in einen Knäuel von Freunden, verkroch. „Wer ist hier der Herr!" — es war das erste Wort, das er, kaum in die Schule eingetreten, zu ihnen sprach. Sie sahen verdutzt einander an. Ein großer Rüpel musterte den schmächtigen Jungen und wollte lachen. Felix saß ihm plötzlich mit der Faust im Nacken und duckte ihn. „Weiter kannst du wohl nichts?" ächzte der Gebändigte, das Gesicht am Boden. „Laufe mit mir! Das soll entscheiden." „Ja, lauf!" riefen mehrere. „Wer ist noch gegen das Laufen?" fragte Felix, aufgereckt und ein Bein vorgestellt. „Mir ist es Wurscht", sagte faul der dicke Hans Butt. Andere bestätigten: „Mir auch." Ein Geschiebe entstand, und einige traten auf Felix' Seite. Denen, die sich hinter seinen Gegner gereiht hatten, ward bange, so rachsüchtig maß er sie. „Ich merke mir jeden!" rief er schrill. Zwei- gingen zu ihm über, dann noch zwei. Butt, der sich parteilos herumdrückte, ward von Felix vermittels einer Ohrfeige den Seinen zugesellt. Felix siegte mit Leichtigkeit. Der Wind, der ihm heim Dahinfliegen entgegenströmte, schien eine begeisternde Melo- 91 die zu enthalten; und wie Felix, den Rausch der Schnelligkeit im pochenden Blut, zurückkehrte, war er jedes künftigen Sieges gewiß. Dem Unterlegenen, der ihm Vergeltung heim Fußball verhieß, lächelte er achselzuckend in die Augen. Als er aber das nächste Mal einen, der sich seinem Befehl widersetzte, niederwarf, war's nur Glück, und er wußte es. Schon war er verloren, da machte sich's, daß er loskam und dem anderen einen Tritt in den Bauch geben konnte, so daß er stürzte. Da lag der nun, wie selbstverständlich — und doch fühlte Felix, der auf ihn herabsah, noch den Schwindel der schwankenden Minute, als Ruf und Gewalt auf der Schneide standen. Dann ein tiefer Atemzug und ein inneres Aufjauchzen; aber schon murrte jemand: Bauchtritte gälten nicht. Jawohl, echote es, sie seien feige. Und von neuem mußte man der Menge entgegentreten und sich behaupten. Bei den meisten zwar genügten feste Worte. Die zwei oder drei kannte Felix, mit denen er sich noch zu messen hatte; die anderen gehorchten schon. Zuweilen überkam ihn — nie in der Schule, denn hier war er immer gespannt von der Aufgabe des Herrschens, aber daheim —, ihn überkam Staunen, weil sie gehorchten. Sie waren doch stärker! Jeder einzelne war stärker! Wenn dem dicken Hans Butt eingefallen wäre, daß er Muskeln hatte! Aber das war auch so ein weicher Klumpen, aus dem sich alles machen ließ. Felix war allein; sein Geist prüfte, in unruhigen Sprüngen, alle die Entfernten; und seine erregten Hände kneteten an seinen Gesichten und stießen sie fort. Dabei fand er für den und jenen geringschätzige Namen. Fast allen schon hatte er sie aufgenötigt, und als der neue Klassenlehrer fragte, wie sie hießen, hatte jeder den seinen angeben müssen: Klops, Lump, Pithekos. Ja, da stand der englisch gekleidete Weeke als Pithekos, und Graupel, dessen Vater der Bürgermeister war, schimpfte sich Lump, weil Felix es ihnen befohlen hatte. Felix aber trug einen gewendeten Anzug; und seit auf der letzten ihrer abenteuerlichen 92- ;, ■ Fahrten sein Vater — er konnte nur ahnen, wie — ums Leben : ■ gekommen war, beherbergten seine Mutter und ihn drei dürf- tige Zimmer in dieser Stadt — wo nun geschah, was er wollte. Denn wie er den Kameraden die Spitznamen auferlegte, !■' machte er die der Lehrer unmöglich. Niemand konnte sie mehr '" ohne Scham aussprechen. Dem Schreiblehrer, an dem solange :*: der Feigste sein Mütchen gekühlt hatte, erzwang er eine I: . achtungsvolle Behandlung. Durch Einschüchterung und Spott '.Ii brachte er es in Mode, sich auf die Mathematikstunden nicht i': vorzubereiten. Als aber der Professor, dem jemand geklatscht i haben mußte, die Klasse warnte, sich von einem Unbegabten zur Trägheit verfuhren zu lassen, erkämpfte Felix in acht ' Tagen die beste Note und erklärte es für Kinderspiel. In Wirklichkeit hatte er seinem Kopf Gewalt angetan und wußte nicht wohin vor Gereiztheit. Dem Professor, der ihn durch Auszeichnungen zu gewinnen suchte, begegnete er beflissen ■ und unnahbar. Bis zur nächsten Stunde setzte er durch, daß das eiserne Lineal erhitzt werden sollte. Das geschah hinter der Turnhalle. Wie Felix die Zweifler überzeugen wollte, ijj • daß der Professor immer im Eifer der Demonstration plötz- ;'|.: lieh mit ganzer Hand nach dem Lineal fasse, tat unbedacht l : er selbst den Griff und schrak zurück. Es ward gelacht. „Wer anderen eine Grube gräbt", hieß es, und: „Er kann es selbst ■r nicht aushalten." j Felix' Augen, die die Runde machten, wurden dunkel. Als das heiße Eisen zwischen Hökern hineingetragen ward, '': ging er stumm hinterher. Alle saßen auf den Plätzen, der :'; Schritt des Professors war zu hören; da nahm Felix das Lineal vom Pult und stieß es in sein aufgerissenes Hemd, Wie Rau- f: sehen ging's durch die Klasse. Was sie hätten, warum nie- mand1 aufmerke, fragte der Professor. Felix meldete sich und J gab, mit weißen Lippen, die Antwort. Dann saß er wieder da und hatte, hinter seinem gekrampften, einsamen Lächeln, das eine, manchmal von den Schmerzen übertobte Bewußtsein, daß sie alle, die er nicht ansah, voll Grauen, in Unterworfen- heit und mit Walltaigen der Liebe durch die Finger zu ihm herschielteii, und daß er hoch über ihnen schwelge und sie maßlos verachte. „Feuer ist nichts für. euch", sagte er, als er nach drei Tagen wiederkam, „aber Wasser!" Er öffnete den Brunnen. „ButtfUnter die Pumpe!" Butt gab faul seinen Kopf her. „Weeke! Graupel!" Sie kamen. Einer nach dem andern duckte sich unter den Strahl: albern lachend und knechtisch; weil auch der vorige es getan hatte; weil es ein Witz sein konnte; weil Felix zu widerstehen gegen Klugheit und Sitte ging. Wie es von allen Schöpfen auf die Dielen tropfte und der erbitterte Ordinarius vergeblich nach dem Anstifter umherfragte, stand Felix auf. „Ich habe sie alle getauft", erklärte er gelassen und nahm sechs Stunden Karzer entgegen. Er stand auch auf, weil einer „Kikeriki" gerufen hatte und niemand sich meldete. Nicht er war's gewesen. Das nächste Mal zog er sich einen Tadel im Klassenbuch zu dadurch, daß er seine Grammatik dem Hintermann zum Ablesen hinhielt. Wenn er sie tyrannisierte, fühlte er sich auch verantwortlich für ihre Sünden und für ihr Wohlergehen. Er konnte sie nur als Sklaven ertragen; aber wo nicht er selbst befahl, hielt er eifersüchtig auf ihre Würde. Ein kürzlich eingetroffener Landjunker überhob sich. Felix kam darüber zu, wie er in der Mitte eines neugierigen Kreises stand, seinen ausgestreckten Arm für den Radius erklärte und ihn plötzlich rundum über die Gesichter fegte. „Von welchem Hundekerl laßt ihr euch da ohrfeigen?" schrie Felix glühend. „Nimm dich in acht, guter Freund", sagte der junge Graf, mit einem Blick von oben nach unten. Felix stieß, außer sich, die Arme in die Luft. . 94 *' ■ „Sprich so mit deinem Kuhjungen, nicht mit mir, nicht mit -" Die Sprache versagte ihm. „Du möchtest wohl Prügel?" fragte sein Feind. Der Kreis öffnete sich und wich zurück. „Und du?" — vorspringend. Plötzlich bezwang er sich, schob die Hände in die Taschen. „Prügel von mir sind zu gut für dich; aber ich lasse dich 3 prügeln!" Zu den andern: „Verhaut ihn! — Nun? Er hat euch beleidigt. Macht euch das nichts? Er hat auch mich beleidigt. Ihr kennt mich. Nun?!" Von seinen Worten, seinen Blicken kamen sie ruckweise ' in Bewegung. Sie lugten einer nach dem andern aus, suchten mit den Ellenbogen Fühlung: da, alle auf einmal, warfen sie sich auf den Angreifer ihres Herrn, Er fiel um; ihr Erfolg machte sie wild. Felix lehnte an der Mauer und i] sah zu. I „Genug! Er blutet! Jetzt vertragt euch wieder!"