Russischer Formalismus Russischer Formalismus ist die Bezeichnung für eine Bewegung von Literaturkritikern und Literaturwissenschaftlern, die zwischen 1916 und 1930 wirkten und starken Einfluß auf die Entwicklung des Strukturalismus in der Literaturwissenschaft ausgeübt haben. Formalisten wie Viktor Šklovskij, Roman Jakobson, Osip Brik, Jurij Tynjanov, Boris Ejchenbaum oder Boris Tomasevškij betrachteten Literatur als eine besondere Art der Sprachverwendung, welche die Alltagssprache intensiviert, von ihr abweicht und sie verändert. Ihr Interesse richtet sich auf die Verfahren, in denen die poetische Funktion (Jakobson) der Sprache zum Ausdruck kommt: die Eigenschaft, selbstreflexiv auf ihre formale Gestaltung zu verweisen. Mit diesem linguistisch orientierten Ansatz, der die literarischen Verfahren und Wirkungstechniken zum ausschließlichen Gegenstand der Literaturwissenschaft und zur Kennzeichnung der Literarizität überhaupt macht, wenden sich die Formalisten gegen gängige Vorstellungen von literarischen Werken als Träger von Ideen oder als realistische Widerspiegelung der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die bis dato übliche Ansicht zum Verhältnis von Ausdruck(sträger) und Inhalt wird von ihnen umgekehrt: "‚Don Quijote‘" beispielsweise "handelt nicht ‚von‘ der gleichnamigen Figur: Die Figur ist nur ein Verfahren, um die verschiedenen Erzähltechniken zusammenzuhalten." (Eagleton, S. 3) Den literarischen Verfahren (Klang, Metrum, Bildlichkeit, Erzähltechniken etc.) ist ihre Fähigkeit zur Verfremdung gemeinsam. Sie ermöglichen die bewußte Wahrnehmung der sonst automatisch verwendeten Alltagssprache. Dabei gehen die Formalisten allerdings nicht von einer statischen, sondern von einer dynamischen Sprache aus, die sich ständig wandelt: Nur vor dem Hintergrund einer Norm kann die Normbrechung verfremdend wirken. Im Laufe der Zeit wird die Normbrechung allmählich zur Norm; nun kann sogar die alte Norm wieder verfremdende Funktion erhalten. Zweck der Verfremdung ist es, die (im Werk gerade nicht thematisierte) konventionelle Wahrnehmung der eigenen Umwelt und andere Lebensgewohnheiten bewußt zu machen und alternative Vorstellungen anzuregen. Dies bedeutet, daß sich nur vor einem bestimmten (sozialen, historischen) Hintergrund feststellen läßt, ob eine Aussage literarisch ist oder nicht: "literarische Evolution als eine ‚Tradition des Traditionsbruchs‘: Da jedes Kunstwerk nur als Form, jede Form aber nur als ‚Differenzqualität‘, als ‚Abweichung‘ von einem ‚geltenden Kanon‘ angemessen wahrgenommen werden kann, muß das Vorgegebene jeweils mit berücksichtigt werden. Das bloße Konstatieren bestimmter Verfahren genügt nicht mehr, zusätzlich ist nach ihrer jeweiligen Intention und Funktion im Kunstwerk zu fragen; diese ist aber nur feststellbar im Bezugssystem der literarischen Evolution, wodurch der literaturhistorische Blick unerläßlicher Bestandteil formaler Analyse wird." (Striedter, S. XXIV u. XXX-XXXI)) Auch für die Abfolge von Stilen und Gattungen werden Gesetzmäßigkeiten formuliert. Im Russischen Formalismus ist also – anders als oft behauptet – sowohl die synchrone Untersuchung der literarischen Kunstwerke als einer Summe von Verfahren (Šklovškij) als auch eine diachrone Betrachtung des Einzelwerks im Verlauf des Wandels des Literatursystems angelegt. Damit sind die Russischen Formalisten wichtige Wegbereiter einer Literaturwissenschaft, die über spekulative Aussagen und "das bloße Sammeln wenig relevanter biographischer, historischer und soziologischer Fakten" (Striedter, S. XV) hinausweist: Sie haben Fragestellungen und methodische Ansätze entwickelt sowie eine weitreichende Selbstreflexion über den wissenschaftstheoretischen Status philologischen Arbeitens ausgelöst, die noch heute andauert. Erfahrungsbezogene, einfühlende Verstehensmethoden werden von ihnen allerdings zu stark vernachlässigt. © pflug Wichtige Schriften: o V. Šklovškij: Die Kunst als Verfahren, in: J. Striedter (Hg.): Russischer Formalismus, München 1994, S. 3-35. o R. Jakobson: Über den Realismus in der Kunst, in: J. Striedter (Hg.): Russischer Formalismus, München 1994, S. 373-391. o J. Tynjanov: Über die literarische Evolution, in: J. Striedter (Hg.): Russischer Formalismus, München 1994, S. 433-461. Sekundärliteratur: 1. T. Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart 1994. 2. V. Erlich: Russischer Formalismus, Frankfurt am Main 1973. 3. J. Striedter: Zur formalistischen Theorie der Prosa und der literarischen Evolution, in: Ders. (Hg.), Russischer Formalismus, München 1994. ein Nachtrag: OPOJAZ: Obščestvo izučenija teoriji poetičeskogo jazyka. Bohumil Mathesius übersetzte Šklovskijs Über die Theorie der Prosa ("Teorie prózy", Praha 1933). Šklovskij war Mitbegründer der „Gesellschaft zur Erforschung der poetischen sprache, die sich 1916 in Petersburg bildete und 1917 mit dem Moskauer Linguisten-Zirkel verband. Als eine Art Manifest des Russischen Formalismus kann man Šklovskijs Text Kunst als Verfahren aus dem Jahre 1917 betrachten. Es wendet sich gegen jede Art von Imitations- bzw. Wiederspiegelungskonzeptionen. Verfremdung ist die Befreiung der Sachen vom Automatismus. der Wahrnehmung und impliziert immer die Verletzung einer Norm: - Abweichung von den konventionalisierten Darstellungsformen (Tolstojs neue Darstellung von Eigentum, Krieg, Oper) - Erschwerung automatisierter Darstellungsvorgängen - Fremdmachen vertrauter Gegenstände, Begriffe, Formen. Šklovskij schreibt der künstlerischen Erschwerung der Wahrhnehmung zwei Wirkungen zu: – ein bewusstes Erleben, Sehen des dargestellten Gegenstandes, das anders als das automatisierte Wiedererkennen den Wahrnehmenden vor dem Schwund der Realitätserfahrung bewahrt; – die Hinwendung der Aufmerksamkeit auf die Weise der Darstellung, wobei der dargestellte Gegenstand unwichtig ist. An unterschiedlichen Gattungen demonstriert er Manifestatioen des Verfremdungsprinzips im Sujetbau der Prosa: - variierende Wiederholung von Motiven - Bremsung der Sujetentwicklung - „Ausfaltung“ von Wortmotiven zu Sujets. Der Russische Formalismus wurde nach 1929 in der Sowjetunion verfolgt, weil es ihm angeblich an einer politischen Perspektive mangelte. Vor allem die Persůnlichkeit von Roman Jakobson vermittelte seine Kenntnis im Westen. 1927 veröffentlichten die ehemaligen Formalisten unter der Redaktion von Boris Ejchenbaum den Poetik des Kinos.