6.7 Sozialgeschichic der Literatur/Literatursoziologie In scharfer Entgegensetzung zu einer Geistes- und Ideengeschichte der Literatur sowie zu den in den I 950er und frühen 1 960er Jahren in der LiteraturwissenschafI und im Literaturunterricht der Bundesrepublik dominanten formanalytischen und textimmanenten Deutungsansätzen etablierte sich mit Beginn der 1970er Jahre eine sozialgeschichtliche Betrachtungsweise der Literatur, die, zunächst sehr verallgemeinernd gesagt, die gesellschaftlichen Bedingungen und Bezüge literarischer Texte ins Zentrum ihrer Überlegungen stellte. Sozialgeschichtliche Literaturwissenschaft untersucht generell das Zustandekommen, die Distribution und auch die Rezeption von Texten unter historisch sich wandelnden sozialen Bedingungen. 6.7.1 Zur Vorgeschichte sozialgeschichtlicher Literaturwissenschaft Die Vorstellung, dass Literatur mit Gesellschaft und Geschichte eng verknüpft ist, ist alt. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik, die er erstmals im Semester 1817/ 18 hielt, die Antike gefeiert als eine Epoche, in der jeder Mensch ganz mit sich identisch, an einem sinnvollen Ort in Gesellschaft und Geschichte und als harmonisch-ganzer Mensch habe leben können. Kunst habe hier diese individuell-gesellschaftlich-geschichtliche Ganzheit, diese Totalität darstellen können. Über seine gegenwärtige bürgerliche Gesellschaft führt Hegel aus, wie der Einzelne sich »äußeren Einwirkungen, Gesetzen, Staatseinrichtungen, bürgerlichen Verhältnissen, welche er vorfindet und sich ihnen, mag er sie als sein eigenes Inneres haben oder nicht, beugen muss« (Hegel: Ästhetik, 225 f.), die moderne Gesellschaft zwinge also zur Entfremdung, reduziert den (angeblich) in der Antike noch »ganzen« Menschen auf seine gesellschaftlichen Rollen. Interessanterweise resümiert Hegel: »Dies ist die Prosa der Welt« (ebd., 227). Die moderne, bürgerliche Gesellschaft mit allen ihren »Gesetzen, Staatseinrichtungen, bürgerlichen Verhältnissen«, das ist für Hegel Prosa - und im Gegensatz dazu ist die Antike >die Poesie selbst<. Indem Hegel seine Erfahrung bürgerlicher Gesellschaft im Bild der >Prosa< fasst, stiftet er eine Beziehung zwischen der spezifischen Verfasstheit der modernen Gesellschaft und einem Teilbereich der Literatur. Und mit Blick auf den Roman schließt er: »Der Roman im modernen Sinne setzt eine bereits zur Prosa geordnete Wirklichkeit voraus« (Hegel: Ästhetik 111,177). Georg Lukács schließt in seiner Theorie des Romans von 1916 unmittelbar an Hegels Vorstellung einer in der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr erfahrbaren Totalität an: »Der Roman ist die Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat (Lukács: Theorie des Romans, 47). Totalität und >Sinn< haben sich aus der Offenheit des antiken >goldenen Zeital-ters< zurückgezogen hinter die Strukturen einer komplexen Gesellschaft. Der Roman, so folgert nun Lukács, sei die literarische Form, die sich auf die Suche nach der Totalität begebe, die versuche, den verlorenen Sinnzusammenhang zu rekonstruieren. Ausgangspunkt des Romans sei die Entfremdung des Individuums in der >prosaischen< Moderne. Der Roman ist bei Lukács die literarische Form der »transzendentalen Obdachlosigkeit« (ebd., 32). Aus der Analyse der Mangelhaftigkeiten der modernen bürgerlichen Gesellschaft schließt Lukács auf eine angemessene literarische Form: den biografischen Roman. In diesem ist Sinn nun nicht mehr fraglos gegeben, der Romanheld wird auf die Sinnsuche in einer unendlich komplex und entfremdet gewordenen Gesellschaft geschickt. Zwischen einer gesellschaftlichen Organisationsform und deren literarischer Gattung vermittelt also der >Sinn<, der in jener fehlt und von dieser rekonstruiert wird. »Der Roman ist die Form des Abenteuers des Eigenwertes der Innerlichkeit; sein Inhalt ist die Geschichte der Seele, die da auszieht, um sich kennenzulernen, die die Abenteuer aufsucht, um an ihnen geprüft zu werden, um an ihnen sich bewährend ihre eigene Wesenheit zu finden« (ebd., 78). In den 1920er Jahren radikalisierte Lukács seine literatursoziologische Theorie: Vor allem Einflüsse des Marxismus werden mehr oder weniger doktrinär umgesetzt. Lukács fordert von der Literatur, sie müsse die Wirklichkeit widerspiegeln (Widerspiegelungstheorie) und, etwa durch eine präzise konzipierte Figurenkonstellation, gesellschaftliche Verhältnisse abbilden. Lukács verstand allerdings unter Widerspiegelung nicht das naive >Abmalen< gesellschaftlicher Wirklichkeit etwa der Klassengesellschaft, der Sozialistische Realismus hat aber in der eher platten Auslegung des Widerspiegelungstheorems dieses Missverständnis umgesetzt. Bei Hegel und erst recht bei Lukács war die Beziehung zwischen Gesellschaft und Literatur gewissermaßen inhaltlich bestimmt: Der Roman bezieht sich in seinen Inhalten auf die entfremdete Gesellschaft, in der der oder die Einzelne nach dem verloren gegangenen Sinn sucht. Zwei weitere Theoretiker haben die Versuche gemacht, die Beziehung zwischen Gesellschaft und Literatur nicht inhaltlich zu bestimmen, sondern haben gefordert, man müsse auf der Ebene der Form, der >inneren Logik des Textes< nach Korrelationen zwischen Kunstwerk und Gesellschaft suchen: Theodor W. Adorno und Walter Benjamin. Benjamin gehörte ins weitere Umfeld, Adorno zum engsten Mitarbeiterkreis der so genannten Frankfurter Schule, eine soziologisch, sozialpsychologisch, philosophisch und auch ästhetisch arbeitende Forschergruppe am Frankfurter Institut für Sozialforschung, das in den 1920er Jahren gegründet wurde, 1933 in die USA emigrierte und nach 1945 wieder an die Frankfurter Universität zurückkehrte. Vor allem Adorno steht für die Ausprägung einer Gesellschaftstheorie, Philosophie und Ästhetik, die unter dem Namen Kritische Theorie gefasst wird und deren Anregungen bis heute lange nicht ausgeschöpft sind. Adorno zufolge soll die Vermittlung von Kunstwerk und Gesellschaft auf der Ebene der Form, der inneren Logik der Werke selbst beobachtet werden. Adorno fasst die literarische Form, die 'Technik' der Werke, zugleich als autonom und heteronom auf: Autonom ist sie, weil sie im Kunstwerk selbst bestimmt wird, nur hier in dieser Form existiert, von niemandem außerhalb des Textes diktiert wird. Und gleichzeitig ist die Form jedoch auch heteronom: Am Kunstwerk arbeitet etwas mit, das außerhalb seiner liegt, etwas Gesellschaftliches (heute würde man sagen: Diskurse), beginnend bei der Sprache, die ja ein allgemein verfügbares Medium ist, über Versformen, Gattungsstrukturen bis hin zu Erzähltechniken o.Ä. In die Form des Kunstwerks schreibt sich also Gesellschaft ein. Adorno macht Vorschläge, wie die Form eines Textes als Abdruck gesellschaftlicher Strukturen verstanden werden kann, und realisiert als erster eine wichtige Forderung Walter Benjamins, die dieser in seinem Essay »Der Autor als Produzent« entwickelte. Sie stellt die wichtigste Fragestellung moderner Kunstsoziologie dar und geht weit über die oben diskutierten Modelle einer Vermittlung zwischen Werk und Gesellschaft hinaus. Benjamin setzt die schriftstellerische Technik eines literarischen Werks, das heißt die formale Organisation der erzählten Welt, in Beziehung zu den Produktionsverhältnissen seiner Epoche. Die Techniken der materiellen Produktion, die die organisatorische Struktur einer Gesellschaft mitbestimmen, spiegeln sich im Kunstwerk in der erzählerischen Technik der Werke, ihrer Komposition, ihrem Bauprinzip, ihrer Form. Adorno übernimmt Benjamins These über das generelle Verhältnis zwischen formaler Organisation von Gesellschaft und Werk. Die »ästhetische Form«, so Adorno, sei »sedimentierter Inhalt« (Adorno: Ästhetische Theorie, 15), in der Art und Weise ihrer Formgebung, in der erzählerischen Technik< der Werke, schlügen sich Strukturen der realen Welt, der Gesellschaft nieder. »Die ungelösten Antagonismen der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Probleme ihrer Form. Das, nicht der Einschuß gegenständlicher Momente, definiert das Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft« (ebd., 16). Das Kunstwerk zeichnet sich durch bestimmte stilistische Eigenarten und erzähltechnische Kompositionsweisen aus, ja es wird durch diese konstituiert, indem sie innerhalb des Werks eine ganz spezifische Logik ausbilden. Und diese beruht eben nicht allein auf der subjektiven Entscheidung eines Autors: Weit über die bewusste Darstellungsintention hinaus ist die Logik, der das Werk folgt, von derjenigen der außerkünstlerischen Realität bestimmt. Der Autor »gehorcht [...] einem gesellschaftlich Allgemeinen« (ebd., 343). Das Kunstwerk verhält sich, gleichsam bewusstlos, mimetisch zu seinem Äußeren, es >gleicht sich an<, zwischen seiner erzählerischen Technik oder seinem stilistischen Habitus und der subtilen Logik des gesellschaftlich Allgemeinen lassen sich genaue Korrelationen aufweisen. Gleichzeitig aber geht Adorno zufolge das Kunstwerk nicht in dieser Mi-mesis auf. Vielmehr werde dem Entfremdeten, Verdinglichten, das bürgerliche Gesellschaft ausmacht und somit auch die ästhetische Struktur des Werks prägt, im Kunstwerk selbst ein Anderes entgegengehalten. Das Kunstwerk stellt »das fortgeschrittenste Bewußtsein der [gesellschaftlichen] Widersprüche im Horizont ihrer möglichen Versöhnung« dar (ebd., 285). Neben der ästhetisch realisierten Mimesis ans Gesellschaftliche ist im Kunstwerk, ebenfalls mit ästhetischen Mitteln, ein utopisches Moment aufgehoben - allein schon im Beharren des Werks 232 Literaturwissenschaftliche Methoden und Theorien auf seiner Individualität, seiner Geschlossenheit. Das Utopische, das unterschiedlichste ästhetische Gestalt annimmt, ist der Kunst wesentlich und macht erst den geschichtlichen Wahrheitsgehalt der Werke aus (ebd., 285). Damit bekommt das Kunstwerk ein wesentliches Widerstandspotenzial: Es weist über das gesellschaftlich Existente hinaus, zeigt Orte an, die es (noch) nicht gibt; Adorno geht sogar so weit zu sagen, dass das Kunstwerk allein schon darin, dass es in seiner Form den Anspruch erhebe, autonom zu sein, ein Vorschein und Versprechen dessen sei, was wir als Individuen sein könnten: Selbstbestimmt und autonom statt entfremdet und funktionalisiert in einer entfremdenden Gesellschaft. Es waren vor allem Georg Lukács, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, deren fundamentale Überlegungen zu einer Soziologie der Literatur oder einer sozialgeschichtlichen Literaturwissenschaft größte Wirkungen auf die Literaturwissenschaft v.a. der 1970 Jahre ausübten. 6.7.2 Analysegegenstände und zentrale Fragestellungen Sozialgeschichtliche Ansätze der Literaturwissenschaft lassen sich grob einteilen in diejenigen, deren Untersuchungsgegenstände eher • textinterne Elemente sind, die inhaltliche Versatzstücke und formale Eigenheiten eines Textes in Rücksicht auf gesellschaftliche Bezüge erarbeiten und so Textverständnis und -interpretation erweitern wollen, • textexterne gesellschaftliche Bestandteile des literarischen Kommunikationssystems darstellen. Textinterne Fragestellungen Sozialgeschichtliche Deutungsansätze literarischer Texte versuchen, das am literarischen Text zu identifizieren, was auf konkrete gesellschaftliche, politische oder sozialgeschichtliche Fakten außerhalb des Textes Bezug nimmt. Beispielsweise steht die Thematisierung der Standesdifferenz zwischen Adel und Bürgertum, zwischen adliger Dekadenz und bürgerlicher Tugend in Lessings Emilia Galotti zweifelsfrei in Abhängigkeit von den historischen Umgebungsbedingungen des Textes. Die Umstrukturierung der Familie in den Buddenbrooks vom »Ganzen Haus«, der Großfamilie, zur modernen Kleinfamilie referiert auf einen gesellschaftlichen Prozess im deutschen Bürgertum des späten 18. und 19. Jahrhunderts. Stoffe, Motive, Figuren und Figurenkonstellationen, historische, soziale, politische >Daten< im literarischen Text werden also in Bezug gesetzt zu sozialgeschichtlichen Daten außerhalb des Textes, der literarische Text dokumentiert selbst diese Sozialgeschichte, mehr noch: Er reflektiert sie im Medium der Literatur, nimmt gegebenenfalls Stellung zu ihr, affirmativ, kritisch oder revolutionär. Komplizierter erscheinen die textinternen Fragestellungen im Hinblick auf formale Elemente des Textes: Gibt es am literarischen Text jenseits der inhaltli- chen Bezüge auf Gesellschaft und Geschichte etwas, das in Relation, Korrespondenz oder Abhängigkeit gegenüber Gesellschaftlichem steht oder es gar abbildet? Georg Lukács hatte die Gattung Roman, also eine gesamte Formtradition literarischen Sprechens, auf den Sinnverlust der Moderne zurückgeführt, auch die Überlegungen von Benjamin und Adorno zur Gesellschaftlichkeit der schriftstellerischen Technik, der formalen Organisation der Werke, gehören hierher. Darüber hinaus ließe sich beispielsweise die Frage stellen, ob nicht die metrisch stabile Hexameter-Form von Goethes Versepen der 1790er Jahre eine spezifische (Goethesche) Antwort auf die Orientierungskrisen nach der Französischen Revolution gewesen sei: In der gesellschaftlichen Verunsicherung bietet die feste literarische Form gleichsam Sicherheit. Textexterne Fragestellungen 1. Die Soziologie der Literatur fragt erstens danach, unter welchen sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt literarische Kommunikation existiert, also nach dem soziologischen Rahmen des literarischen Kom-munikationssystems. Hier wird der Blick gelenkt auf die gesellschaftlichen Orte, an denen Literatur produziert und rezipiert wird: • Klöster und Höfe etwa im Mittelalter mit einer kleinen, elitären Gruppe derjenigen, die überhaupt Zugang zu literarischer Kommunikation hatten; • die Höfe des 18. Jahrhunderts, an denen meist bürgerliche Schriftsteller arbeiteten; • die Differenz zwischen höfischem und städtisch-öffentlichem Theater: Letzteres bildete etwa die Voraussetzung eines bürgerlichen Trauerspiels bei Lessing; • mithin der Gesamtkomplex der historisch-soziologischen Entwicklung aller Bestandteile des Kommunikationssystems Literatur. 2. Zweitens stehen die Bedingungen der literarischen Produktion, also die Autorseite, im Zentrum literatursoziologischer Untersuchung, also die juristische, ökonomische und soziologische Situierung und Absicherung des Autors bzw. der Autorin. Ist etwa der Autor abhängig von einem Gönner, einem Mäzen, der nicht nur dem Autor seinen Lebensunterhalt sichert, sondern der auch entscheidend eingreift in den Prozess literarischer Produktion? Auftragsdichtung, Fürstenlob, Geselligkeits- oder Gelegenheitsdichtung resultieren aus einem solchen Mäzenat. Oder ist literarische Autorschaft die Nebenbeschäftigung bürgerlicher Gelehrter oder Verwaltungsbeamter in einem absolutistisch-höfischen Umfeld? Auch die Entwicklung der Autorschaft zum Erwerbsberuf im Verlauf des späten 18. und 19. Jahrhunderts ist Gegenstand literatursoziologischer Fragestellungen - eng verknüpft mit der juristischen Absicherung durch Nachdruckverbot und Urheberrecht bis hin zur Schriftstellervereinigung und zur IG[1] Medien (zum Autor insgesamt vgl. Bosse 1981, Kreuzer 1981, Kleinschmidt 1998). 3. Auch die gesellschaftliche Herkunft des Autors steht im Interesse einer sozialgeschichtlichen Literaturwissenschaft; der Stand, die Klasse, die Schicht oder das Milieu, aus dem er stammt, eventuell auch dasjenige, in das er auf- oder abgestiegen ist, und die Art und Weise, wie die Standes- oder Schichtenzuge hörigkeit des Autors Einfluss nimmt auf die Texte, die er produziert, auf die 234 Programmatik seines literarischen Schaffens und seine spezifischen Wirkungsabsichten. In diesem Zusammenhang muss auch die historisch und eventuell individuell unterschiedliche gesellschaftliche Bewertung eines Autors betrachtet werden: Hohe soziale Anerkennung oder eher abschätzige Beurteilung (>brot-lose Kunst<, >Bohemien<), auch die möglicherweise selbst gewählte Isolation, die völlige Abtrennung von gesellschaftlichen Gruppen oder Institutionen. 4. Die Soziologie der Literatur untersucht ebenso die erschiedenen Instanzen und Institutionen der Vermittlung im literarischen Kommunikationssystem: die mediale Seite der Literatur, die Handschriftkultur des Mittelalters, die Entwicklung des Buchdrucks oder etwa der Schnellpresse, die Entstehung und Entwicklung des Buchmarkts und des Verlags- und Messwesens, die Entstehung von Leihbibliotheken, Lesezirkeln, Arbeiterbildungsvereinen u.a., nicht zuletzt auch Literaturunterricht und -Wissenschaft sowie das Rezensions-, Zeitungs- und Zeitschriftenwesen (zum Buchdruck vgl. Giesecke 1991; zum Buchmarkt Uhlig 2001, 356 ff.; zur Bibliotheksgeschichte vgl. Ruppelt 2001; Jochum 1993). 5. Die Sozialgeschichte des historisch spezifischen Publikums ist der Untersuchungsgegenstand der Literatursoziologie auf der Rezeptions-Seite des literarischen Kommunikationssystems. Hier wird die Standes- oder klassenspezifische Exklusivität historisch besonderer Rezipientengruppen untersucht: das höfische Publikum des mittelalterlichen Versromans oder jenes des Theaters im Absolutismus, das bürgerliche Lesepublikum im 18. Jahrhundert oder auch Lessings Konzeption eines bürgerlichen Trauerspiels für ein städtisches, nicht-adliges Publikum. Die Leser- oder Rezipientensoziologie fragt grund- sätzlich danach, welches Theater- oder Lesepublikum zu einer bestimmten Zeit existiert hat, welche gesellschaftlichen Gruppen welche Texte zu welcher Zeit auf welche Weise rezipieren, aus welchen möglichen Gründen und gegebenenfalls mit welcher institutionalisierten Unterstützung sie lesen oder ins Theater gehen (Schule, Universität, Arbeiterbildungsverein, Volkshoch schule). Mit diesen Fragestellungen einer weiten Rezeptionssoziologie, einer Geschichte literarischer Kulturen, die die traditionelle Literaturgeschichte ergänzt, rücken neben den kulturellen Milieus (etwa bei Pierre Bourdieu) auch nicht-kanonische literarische Texte, Trivial- und Unterhaltungsliteratur usw. in den Blick literaturwissenschaftlicher Fragestellungen (vgl. Silbermann 1981; Franzmann 1999). 6. In Verbindung damit stehen auch Fragestellungen der empirischen Rezeptionsforschung: Wie etwa wirkt ein Text in die Gesellschaft hinein? Lässt sich tatsächlich die Wirkung eines literarischen Textes oder Konzeptes dokumentieren? Wie verhält sich die dokumentierbare Wirkung zu den programmati- schen Wirkungsabsichten von Autoren oder Autorengruppen: Erbauung und Belehrung des Aufklärungsromans, Mitleidserregung und darüber moralische Erziehung bei Lessing, politisch-ideologiekritisches Nachdenken bei Brecht? Wie verhält sich ein Text, entweder der Schriftstellerabsicht entsprechend oder losgelöst davon gleichsam empirisch-objektiv, zu der ihn umgebenden gesellschaftlichen Ordnung? Betreibt er Affirmation oder Kritik, zielt er auf Provokation ab oder gar auf Revolte? 235 In diesem Zusammenhang muss die weiteste Perspektive der Kunst- oder Literatursoziologie thematisiert werden, die Frage danach, welche Rolle Kunst bzw. Literatur überhaupt innerhalb eines Ensembles von Subsystemen in der Gesellschaft spielen. Hier geht es um die eventuelle Anerkennung literarischer Kommunikation als eines der wichtigsten gesellschaftlichen Symbolsysteme oder als eines Korrektivs der gesellschaftlichen Wirklichkeit (»Heinrich Böll als das literarische Gewissen der Adenauer-Ära«) oder aber um die wachsende Randständigkeit der Literatur in der modernen Mediengesellschaft. Die Frage nach dem Verhältnis des Systems Literatur zu anderen gesellschaftlichen Systemen leitet über zu einer Systemtheorie der Literatur (s. Kap. 6.9). In den Kontext der literatursoziologischen Überlegungen der 1970er Jahre gehört das Konzept der Institution Literatur. Es stellt den Versuch dar, Produktion, Struktur und Rezeption von Kunstwerken zu begreifen in Hinsicht auf die Funktion und die Stellung von Literatur in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung. Peter Bürgers Theorie der Avantgarde (1974) versucht erstmals, Vermittlung zwischen Literatur und Gesellschaft zu denken im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Theorie. »Mit dem Begriff Institution Kunst sollen hier sowohl der kunstproduzierende und -distribuierende Apparat als auch die zu einer gegebenen Epoche herrschenden Vorstellungen über Kunst bezeichnet werden, die die Rezeption von Werken wesentlich bestimmen« (Bürger 1974, 29). Je nach historischem Ort und gesellschaftlicher Ordnung finde sich, so Bürger, die allgemein durchgesetzte und anerkannte Zuschreibung einer normativen Funktion der Literatur in der gesellschaftlichen Ordnung. Literatur als Institution müsse stets bezogen werden auf ihre >primäre Trägerschicht«, in der Produzenten und Rezipienten vornehmlich angesiedelt seien. Ein Schüler Bürgers, Hans Sanders, entwickelte dieses Konzept weiter und spricht von einer »Institution Roman« (1981): Die für die bürgerliche Gesellschaft maßgebliche literarische Gattung bekomme seit dem 18. Jahrhundert einen institutionellen Status. Erich Schön formuliert mit Blick auf den Roman der Aufklärung: Der Roman »bezieht [...] seine Legitimation aus seiner Funktion als aufklärerische Zweckform zur Belehrung und Erbauung« (Franzmann 1999, 30) (zu Literatur und/oder Gattung als Institution vgl. Voßkamp/Lämmert 1986). Ein unüberschätzbarer Effekt der sozialgeschichtlichen Orientierung der Literaturwissenschaft in den 1970er Jahren sind zwei große literaturgeschichtliche Projekte: die Sozialgeschichten der deutschen Literatur, die komplementär zur traditionellen geistesgeschichtlichen Literaturgeschichtsschreibung stehen: die von Rolf Grimminger herausgegebene und auf 12 Bände geplante Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart (1980 ff.) und, herausgegeben von Horst Albert Glaser, die Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte (10 Bände, Reinbek bei Hamburg 1980 ff.). Literarische Phänomene werden hier eben nicht auf einem philosophischen, ideen- oder religionsgeschichtlichen Hintergrund erläutert, Literatur wird vielmehr zurückgebunden an gesellschaftliche Ereignisse und Bewegungen, an Sozialstrukturen und Ideologien. 236 Literaturwissenschaftliche Methoden und Theorien 6.7.3 Ende und/oder Nachgeschichte sozialgeschichtlicher Literaturwissenschaft Trotz aller anerkennungswürdigen Verdienste der sozialgeschichtlichen Literaturwissenschaft blieb sie methodengeschichtlich weitgehend auf die 1970er Jahre begrenzt. Kritisch gegen sie zu wenden ist einerseits die Tatsache, dass sie literarische Texte häufig nur zum Beleg für allgemeinere gesellschaftliche, politische oder geschichtsphilosophische Konzepte nutzte und mit klarer politisch-ideologischer Tendenz um das eigentlich Literarische verkürzte. Die Grundlegung der marxistischen Geschichtsmechanik wurde zudem fraglich. Sozialgeschichtliche Literaturwissenschaft konnte andererseits die Frage nach der >Brücke< zwischen sozialer und politischer >Wirklichkeit< und literarischem Text nicht beantworten. Die scheinbare Ausschließlichkeit >sozialer< Determination literarischer Texte war eine Sackgasse: Begriffs- und ideengeschichtliche Zusammenhänge, ästhetische Traditionen und Normen, intertextuelle Relationen, biografische Prägungen und tiefenpsychologische Voraussetzungen literarischer Produktion u.v.a.m. konnten unter rein sozialgeschichtlicher Perspektive nicht ausreichend berücksichtigt werden. Dennoch lassen sich gegenwärtige methodologische Ansätze durchaus als Fortsetzung sozialgeschichtlicher Literaturwissenschaft oder als deren kritische Aneignung verstehen. Deutliche Traditionslinien ziehen sich etwa in die Diskursanalyse, die Systemtheorie und den New Historicism (s. Kap. 6.11). Literatur Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie [1969]. Ges. Werke, Bd. 7. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1970. - : Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen. Frankfurt a.M. 1975. Benjamin, Walter: »Der Autor als Produzent«. In: W.B.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II, 2 (Werkausgabe, Bd. 5), Frankfurt a.M. 1980, S. 683-701. - : »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows«. In: W.B.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II, 2 (Werkausgabe, Bd. 5), Frankfurt a.M. 1980, S. 438-465. Bosse, Heinrich: Autorschaft ist Werkherrschaft: Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn 1981. Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a.M. 1974. Franzmann, Bodo u.a. (Hg.): Handbuch Eesen. Im Auftrag der Stiftung Lesen und der Deutschen Literaturkonferenz. München 1999; Taschenbuchausgabe Baltmannsweiler 2001. Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt a.M. 1991. Glaser, Horst Albert (Hg.): Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 10 Bde. Reinbek bei Hamburg 1980 ff. Grimminger, Rolf (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur (bisher 9 von 12 geplanten Bänden erschienen). München 1980 ff. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Vorlesungen über die Ästhetik [1817]. Teil I—III. Stuttgart 1980. Jochum, Uwe: Kleine Bibliotheksgeschichte. Stuttgart 1993. Kleinschmidt, Erich: Autorschaft. Konzepte einer Theorie. Tübingen 1998. Kreuzer, Helmut (Hg.): Der Autor. Göttingen 1981 (LiLi 42). Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik [1916]. Darmstadt/Neuwied '1981. ________________________________ [1] Industriegewerkschaft