Sozialgeschichtliche Methode Der literar. Autor schreibt als Mitgl. einer bestimmten Gesellschaft. Er ist in deren Weltbildern, Habitus[1], Normen usw. sozialisiert; er hat teil an den ihr verfügbaren Diskursen (religiösen, rechtlichen, politischen); er kann auf ein innerhalb bestimmter gesellschaftl. Institutionen tradiertes Inventar literar. Verfahren, Motive, Gattungsmuster usw. zurückgreifen; die Möglichkeit, sich als Autor zu artikulieren, hängt ebenso von gesellschaftlich institutionalisierten Bedingungen des Sprechens u. Schreibens ab wie die Verbreitung seines Werks. Dieses wird von einem Publikum rezipiert, an dessen Selbstverständnis, Weltbilder, Habitus, Normen es anknüpfen, die es bestätigen, in Frage stellen, verändern, enttäuschen kann. Diese Zusammenhänge, sofern sie histor. Wandel unterliegen, sind Gegenstand einer Sozialgeschichte der Literatur. Sie hat es also mit Kontextbildung zu tun. Ihr Untersuchungsfeld sind der Typus des literar. Autors (Herkunft, Berufsrollen, Tätigkeitsfelder u. - milieu), die Instanzen der Vermittlung zwischen Autor/Text u. Publikum (z.B. Mäzenatentum, Salon, Buchmarkt), das Verhältnis literar. Kommunikation zu anderen Typen von Kommunikation, das Publikum (soziale Schichtung, Bildungsgrad, Interessen), Formen der Rezeption (z.B. Vortrag, Aufführung, Gemeinschafts- oder Einzellektüre), explizite u. implizite Funktionen (z.B. Lehre, Unterhaltung, Kollektiverinnerung, Repräsentation usw.; zum theoretischen Rahmen: Schmidt 1981/82). Zur ›Sozialgeschichte des Textes‹ tritt eine ›Sozialgeschichte im Text‹ (Schönert 1985): In ihn gehen gesellschaftl. Erfahrungen ein, des Autors, der Gruppe, für die er spricht oder an die er sich wendet. Sie sind abhängig vom »kulturellen Wissen« (Titzmann 1989) einer Zeit u. artikulieren sich in einem der zeitgenössisch verfügbaren Diskurse, die das, was gesagt werden kann, begrenzen. Die sozialen u. institutionellen Bedingungen der Textproduktion u. -rezeption gehörten seit je zum Programm der Literaturwissenschaft, zumindest als Hilfswissenschaft (›Literatursoziologie‹ im engeren Sinne). Die Frage nach dem Verhältnis literar. Texte zu übergreifenden sozialen Prozessen wurde zunächst v. a. von der marxistischen Literaturgeschichtsschreibung gestellt (z.B. Franz Mehring[2], Georg Lukács), dann auch von strukturalistischen u. rezeptionsgeschichtl. Schulen (Jauß 1970). Die ältere marxistische Literaturtheorie begriff den gesellschaftlichen Gehalt literar. Texte als Ergebnis eines einseitigen Abhängigkeitsverhältnisses: Das (gesellschaftliche) Sein der Produktionsverhältnisse u. Produktivkräfte bestimmt die Objektivationen des Bewußtseins (Religion, Wissenschaften, Künste), die ›Basis‹ den ›Überbau‹. Zugrunde lag die geschichtsphilosophisch begründete Annahme eines universalen gesellschaftl. Prozesses, der durch sozio-ökonomische Bedingungen determiniert sei. Das Verhältnis von Basis u. Überbau wurde als ›Widerspiegelung‹ gefaßt. Unter dieser Voraussetzung waren Texte privilegiert, die jenen Prozeß direkt thematisierten oder als unmittelbare Auseinandersetzung mit ihm verstanden werden konnten, also v. a. ›realistisch‹ erzählende Gattungen. Dieses Modell erwies sich jedoch nicht nur als ungeeignet für andere Texttypen (z.B. Lyrik der Avantgarde), sondern überhaupt zur Erfassung komplexerer Phänomene des ›Überbaus‹. Es mußten daher Instanzen der Vermittlung zwischen ›Basis‹ u. ›Überbau‹, einzelnem Werk u. ›Totalität‹ der gesellschaftl. Verhältnisse eingeschaltet werden (z.B. das polit. System, die Sprache, die ›Institution Kunst‹ [Bürger 1979]), was endlich zu der eher unverbindl. Auskunft führte, die ökonomische ›Basis‹ bestimme den ›Überbau‹ nur »in letzter Instanz« (Althusser [3]1974). Mit der Abkehr von der Marxschen Geschichtsphilosophie tritt der Totalitätsanspruch hinter der Untersuchung begrenzterer sozialer Zusammenhänge zurück. Statt von ›Widerspiegelung‹ im Sinne einseitiger Abhängigkeit (›Ableitung‹) spricht man von komplexen Wechselverhältnissen, von einer Literaturgeschichte der ›Beziehung‹ (Scherpe 1983; zur theoret. Grundlegung: Japp 1980). Damit stellt sich das Problem der Vermittlung zwischen Literatur u. Gesellschaft neu. Sollen literar. Texte nicht zu histor. Quellen degradiert werden, dann ist ihr bes. Status gegenüber anderen Texten festzuhalten, d.h. sie sind sowohl in ihrer je histor. Einbettung in andere Formen kommunikativen Handelns wie zgl. als dessen Sonderfall zu analysieren. Am weitesten ausgearbeitet sind hier der Systemtheorie (Talcott Parsons, Niklas Luhmann) entlehnte Modelle. Gegenüber geschichtsphilosophischen Annahmen haben sie den Vorzug, Evolution nicht teleologisch zu begreifen u. zwischen den evolutionierenden Systemen nicht (z.B. zugunsten des ökonomischen) vorweg hierarchisieren zu müssen. In ihren Kategorien läßt sich beschreiben, wie sich ›Literatur‹ als eigenes System erst allmählich gegenüber anderen sozialen Systemen (z.B. Religion, Recht, Erziehung) ausdifferenziert, wie sie eigene Institutionen ausbildet u. unter ihrem eigenen Funktionsprimat nach bes. Regeln u. mit einem bes. Repertoire von Elementen arbeitet. Interdependenzen mit anderen sozialen Systemen sind als System-Umwelt-Beziehungen zu begreifen. Allerdings läßt sich Literaturgeschichte nicht als ›autopoietische‹ Transformation eines Systems (oder einander überlagernder Systeme) verstehen, weil sie von der - systemtheoretisch ›unwahrscheinlichen‹ - Kontingenz einzelner Akte abhängt, vom Autor, der im System angelegte Möglichkeiten nutzen kann, aber nicht muß; vom einzelnen Werk, das Vorgaben der literar. Überlieferung aufnehmen u. verändern kann oder auch nicht; von bes. Umständen der Distribution u. der Rezeption. Unterhalb der Ebene sozialer Systeme u. des ›Systems Literatur‹ ist in sozialgeschichtl. Analyse daher eine dritte Ebene anzusetzen, diejenige kontingenter Ereignisse, individueller Handlungen u. bes. Kommunikationsakte, für die jene nur den Bedingungsrahmen darstellen (Meyer/Ort in: Heydebrand u. a. 1989). Außerdem sind jene Systeme immer nur ausschnitthaft oder aber in idealtypischer Vereinfachung thematisiert. Sozialgeschichtliche Kontextbildung ist daher nie abschließbar. Aus dieser Einsicht leitet sich das eklektisch-pragmat. Vorgehen des ›New Historicism‹ ab, der - Fragen der Sozialgeschichte mit denen der ›Intellectual History‹ verbindend - nach Maßgabe des jeweiligen Textes in heurist. Absicht histor. Sachverhalte u. Strukturen herbeizitiert, die zum Verständnis erforderlich scheinen (Howard 1986, vgl. Williams 1989). An systemtheoret. Modelle anschließbar sind An- sätze der Semiotik, der Mentalitätsgeschichte u. der Diskurstheorie. Eine Theorie des literar. Zeichens ist in einer allg. Zeichentheorie fundiert, die literar. Zeichenproduktion ist ein Sonderfall der allg. Zeichenproduktion u. von dieser abhängig. Eine Se- miotik der Literatur hat es einerseits mit dem einer Gesellschaft insg. verfügbaren Repertoire an Zeichen zu tun, mit ihrer Hierarchisierung u. den Regeln ihrer Verknüpfung, ihren Trägern u. ihrer Einbettung in so- ziale Prozesse, andererseits mit den bes. Strukturen u. Funktionen ›literarischer‹ Zeichenproduktion. Auf systemische Stringenz verzichtet die Mentali- tätsgeschichte; sie untersucht die Bilder, die sich eine Gesellschaft von ihrer ›Realität‹ macht, die Haltun- gen, die sie ihr gegenüber einnimmt, u. die emotiona- len u. kognitiven Strategien, in denen sie sie verarbei- tet, kurz: den »outillage mental« (Lucien Fčbvre, vgl. Oexle 1981) einer Epoche. Literatur ist Zeugnis sol- cher histor. ›Mentalitäten‹, ihr Inventar an Bildern, Motiven, Schemata usw. ist Bestandteil jenes »outillage mental«, sie setzt ihn in ihren Konfigura- tionen voraus u. wirkt ihrerseits auf ihn ein. Die Diskurstheorie geht davon aus, daß ›soziale Realität‹ immer schon in Diskursen ausgelegt ist, die das für eine Gesellschaft relevante kulturelle Wissen artikulieren u. zgl. die Formationsregeln festlegen, nach denen neues Wissen akkumuliert werden kann. Gegenüber dem unscharfen Mentalitätsbegriff wird hier auf die sprachl. Verfaßtheit dieses Wissens abge- hoben. Diskurse sind als Einheit distinkter Wissensbestände u. Formationsregeln zu fassen, ge- genstands- oder disziplinengebunden, gruppen- oder institutionenspezifisch. Seit der Frühen Neuzeit hat sich ein bes. literar. Diskurs ausdifferenziert, der nicht durch seinen bes. Gegenstand u. seine Formationsre- geln definiert ist - insofern an den übrigen Diskursen teilhat (»Interdiskurs«: Link 1983) -, sondern durch seine Rückwendung auf sich selbst u. seine Herauslösung aus direkten referentiellen Zusammen- hängen. Das Problem der ›Vermittlung‹ zwischen Li- teratur u. gesellschaftlicher ›Realität‹ stellt sich hier nicht, denn Realität wird immer schon als sprachlich artikulierte thematisiert. & LITERATUR: Louis Althusser: Für Marx. Ffm. 1974. - Peter Bürger: Institution Kunst als literatursoziologische Kategorie. Skizze einer Theorie des historischen Wandels der gesellschaft- lichen Funktion der Lit. In: Ders.: Vermittlung - Rezeption - Funktion. Ebd. 1979, S. 173-199. - Uwe Japp: Beziehungssinn. Ein Konzept der Lite- raturgeschichte. Ebd. 1980. - Otto Gerhard Oexle: Die ›Wirklichkeit‹ u. das ›Wissen‹. Ein Blick auf das sozialgeschichtl. Śuvre v. Georges Duby. In: HZ 232 (1981), S. 61-91. - Siegfried J. Schmidt: Grundriß der empir. Literaturwissenschaft Braun- schw./Wiesb. 1981/82. - Jürgen Link: Elementare Lit. u. generative Diskursanalyse. Mchn. 1983. - Klaus R. Scherpe: ›Beziehung‹ u. nicht ›Ablei- tung‹. Methodische Überlegungen zu einer Litera- turgeschichte im sozialen Zusammenhang. 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In: DVjs 63 (1989), S. 315-392. - Renate v. Heydebrand, Dieter Pfau u. J. Schönert (Hg.): Zur theoretischen Grundlegung einer Sozial- geschichte der Lit. Ein struktural-funktionaler Ent- wurf. Tüb. 1989. - Michael Titzmann: Kulturelles Wissen - Diskurs - Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung. In: Ztschr. für Frz. Sprache u. Lit. 99 (1989), S. 47-61. - Claus-Michael Ort: Literar. Wandel u. so- zialer Wandel. Theoretische Anmerkungen zum Verhältnis von Wissenssoziologie u. Diskurstheo- rie. In: M. Titzmann (Hg.): Modelle des literar. Strukturwandels. Tüb. 1991. Jan-Dirk Müller ________________________________ [1] Habitus ist das, was eine Person ausmacht. Ihr Innenleben, ihre Vorlieben und Abneigungen, Benehmen, Geschmack, Auftreten u.v.m.. Unseren Habitus haben wir quasi mit der Muttermilch aufgesogen. In der Phase der Sozialisation erworben. Er ist uns antrainiert worden, manchmal ganz bewußt und mit Absicht und ein anderes Mal, „weil man es einfach so macht“. Er ist ein Teil unserer Person geworden und wird selten hinterfragt. Der Habitus eines Menschen bestimmt, wie er lebt und wohnt, welche Grenzen er hat, in welchem Beruf er arbeitet, was er gerne ißt, trinkt, anzieht usw.. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu versteht unter diesem Begriff „kulturelles Kapital“ , „soziales Kapital“ und „symbolisches Kapital“ Habitus (Soziologie) aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie In der Soziologie bezeichnete Pierre Bourdieu die Alltagskultur Angehöriger bestimmter sozialer Schichten als Habitus. Der Habitus umfasst: ein „System dauerhafter und übertragbarer Dispositionen“, welche als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen dienen, die sich in der Spontaneität des Momentes, also ohne Wissen und ohne Bewusstsein in der Praxis eines Menschen offenbaren. einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene verinnerlichte, also inkorporierte Geschichte. ein „sozial konstituiertes System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen, das durch Praxis erworben wird und konstant auf praktische Funktionen ausgerichtet ist“. Zeichen der Distinktion der einzelnen Klassen, die sich unter anderem in einer speziellen Kleidung, Sprache, Geschmack oder dem Konsumverhalten äußert. Denk- und Sichtweise der Wahrnehmungsschemata, welche die Prinzipien des Urteilens und Bewertens, Doxa ,begründen. Außerdem benutzt Bourdieu in diesem Zusammenhang folgende Terminologie: „Körper gewordene Sprache“ bedeutet: durch den Habitus verdinglichen sich Denk- und Sichtweisen am menschlichen Körper. modus operandi heißt, dass die Art und Weisen des Handelns im Habitus Platz finden, opus operatum beschreibt die Gesamtheit des Handelns. [2] Franz Mehring gilt als ein führender marxistischer Historiker Deutschlands vor dem Ersten Weltkrieg. Von 1902 bis 1907 war er Chefredakteur der sozialdemokratischen "Leipziger Volkszeitung". Von 1906 bis 1911 lehrte er an der Parteischule der SPD. 1917/1918 war er Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses. Die Lessing-Legende (1892) [3] Louis Althusser (* 19. Oktober 1918; † 23. Oktober 1990) war ein französischer Philosoph. Er gilt als einflussreichster marxistischer Theoretiker der europäischen Philosophie während der sechziger und siebziger Jahre. Althusser war ein Lehrer Michel Foucaults. Althusser, der unter anderem von der Psychoanalyse Jacques Lacans beeinflusst war, unterzog das Werk von Karl Marx einer strukturalistischen Lesart. Nachdem Althusser in den marxistischen Diskussionen in der DDR wie auch in der BRD keine große Rolle spielte, scheint sein Werk heutzutage etwas größerer Anerkennung gewiss. In den USA ist es zum Beispiel Judith Butler, die Althussers Begriff "Anrufung" ("Interpellation") aufgreift und in ihre Subjekttheorie integriert. Die postmarxistischen TheoretikerInnen Ernesto Laclau und Chantal Mouffe greifen außerdem seine Verwendung des psychoanalytischen Begriffs der "Überdeterminierung" auf. Elemente sind dann überdeterminiert, wenn sie nicht auf eine einfache Ursache zurückzuführen sind oder eine eindeutige Bedeutung haben, sondern sich aus mehreren Quellen speisen und sich gegenseitig beeinflussen. Nach Sigmund Freud ist der Traum überdeterminiert, weil die Traumsymbole ein Knotenpunkt von mehreren Bedeutungen sind, wo viele Traumgedanken zusammentreffen. Für Althusser gründen dialektischer wie historischer Materialismus auf dem Prinzip des Vorrangs der Arten der Praxis. Alle Ebenen der sozialen Existenz sind verschiedene Praxen. Praxis bedeutet die Transformation eines Produkts, und sie ist immer das determinierende Moment im Produktionsprozess. Althusser unterscheidet vier Arten der Praxis: 1. theoretisch-wissenschaftliche, 2. die politische, 3. die ideologische und 4. die ökonomische. Die letzten drei bilden die Gesellschaft. Die Wissenschaft hingegen transformiert Ideologie in Wissen. Die wahren Subjekte der Praxis sind nicht die Menschen, sondern die Produktionsverhältnisse sowie die politischen und ideologischen Verhältnisse