Ingarden: Erdichtete Gegenstände[1] Sehen wir uns die drei Hauptmerkmale erdichteter Gegenstände an: 1. ihre Bestimmungen sind nicht immanent, 2. sie haben „Unbestimmtheitsstellen“, 3. sie weisen eine „Doppelseitigkeit“ auf. Antonie Buddenbrook (auch „Tony“ genannt) ist ein seinsheteronomer, genauer gesagt ein intentionaler Gegenstand. Das heißt nach Ingarden, daß er sein Seinfundament außerhalb seiner selbst hat. Erläuternd sagt er: „Eine Gegenständlichkeit hat ihr Seinsfundament in sich selbst, wenn sie in sich selbst etwas immanent Bestimmtes ist.“ Damit meint er folgendes. Antonie Buddenbrook hat graublaue Augen. Das ist wahr. Aber irgend- wie unterscheidet sich ihr Graublaue-Augen-Haben von meinem Grau- blaue-Augen-Haben. Daß ich graublaue Augen habe, ist wahr, weil es da Augen aus Fleisch und Blut gibt, die Licht bestimmter Wellenlänge re- flektieren. Daß der Satz „Antonie Buddenbrook hat graublaue Augen“ wahr ist, liegt an nichts dergleichen. Es gibt nirgends Augen aus Fleisch und Blut, von denen der Satz handelt und die Licht reflektieren. Der Satz ist nur deshalb wahr, weil Thomas Mann in seinem Roman „Die Bud- denbrooks“ geschrieben hat, daß Antonie graublaue Augen hat. In diesem Sinne sagt Ingarden, daß dieser Gegenstand sein Seinsfundament nicht in sich selbst, sondern in bestimmten geistigen Vorgängen Thomas Manns hat. Auch spricht er von der „Nichtimmanenz der Bestimmtheiten“ (In- garden 1964, 82) eines solchen Gegenstandes: das Graublausein der Au- gen Antonies ist eine Bestimmtheit des Gegenstandes, aber es ist dem Ge- genstand nicht immanent, d.h. es hängt ab von etwas, das nicht ein Teil des Gegenstandes ist. in: Institutionen als Ingardensche intentionale Gegenstände, S. 4-5, von Daniel von Wachter http://epub.ub.uni-muenchen.de/1956/1/wachter_2005-institutionen.pdf. Rekonstruktion[2] in der Theorie der Werkerfassung Roman Ingardens Bezeichnung für die vorästhetische forschende, analytische Betrachten eines Kunstwerkes, z.B. durch Feststellen der Anzahl und Funktion von Unbestimmtheitsstellen, durch Erkennen ihrer Variabilitätsgrenzen und gattungs- bzw. textsortenspezifischer Erscheinungsformen, zuletzt auch Bestimmung des künstlerischen Wertes eines Kunstwerkes; Ggs. ästhetische Konkretisation. Rezeptionsästhetisches Modell Konkretisationen Roman Ingarden (1968) [Der polnische Philosoph und Anhänger der Husserlschen Phänomenologie Roman Ingarden (1893-1970) hat mit seiner Theorie der Werkerfassung die spätere Rezeptionsästhetik zwar beeinflusst, ohne dass seine Auffassungen jedoch in der Rezeptionsästhetik münden.] Der Leser liest [...] gewissermaßen 'zwischen den Zeilen' und ergänzt unwillkürlich, durch ein - wenn man so sagen darf - 'überexplicites' Verstehen der Sätze und insbesondere der in ihnen auftretenden Namen, manche von den Seiten der dargestellten Gegenständlichkeiten, die durch den Text selbst nicht bestimmt sind. Dieses ergänzende Bestimmen nenne ich das 'Konkretisieren' der dargestellten Gegenstände. Darin kommt die eigene, mitschöpferische Tätigkeit des Lesers zu Wort: aus eigener Initiative und Einbildungskraft 'füllt' er verschiedene Unbestimmtheitsstellen mit Momenten 'aus', die sozusagen aus vielen möglichen, bzw. zulässigen gewählt werden, obwohl letzteres [...] nicht notwendig ist. Gewöhnlich vollzieht sich diese 'Wahl' ohne bewusste und für sich gefasste Absicht des Lesers. Er lässt einfach seine Phantasie frei walten [...] Wie dies im einzelnen Fall geschieht, hängt sowohl von den Eigentümlichkeiten des Werkes selbst als auch vom Leser, dem Zustand, bzw. der Einstellung ab, in der er sich gerade befindet. Infolgedessen können zwischen den Konkretisationen desselben Werkes bedeutende Unterschiede bestehen, auch dann, wenn sie vom selben Leser bei verschiedenen Lektüren vollzogen werden. Vom Standpunkt des ästhetischen Wertes des konkretisierten Werkes aus sind jedoch nicht alle diese 'zulässigen' Konkretisationen in gleicher Weise zu empfehlen. [...] Viele Unbestimmtheitsstellen, etwa bezüglich des Charakters des Menschen, seines Empfindens, der Tiefe seiner Denkweise und seiner Emotionalität, dürfen aber nicht auf eine beliebige Weise ausgefüllt werden, da solche Ergänzungen von großer Bedeutung für die betreffende dargestellte Person sind. Eine bestimmte Weise des Ausfüllens kann das Werk sehr verflachen und banalisieren, während eine andere es vertiefen und z.B. origineller machen wird - wie man es oft bei der Aufführung eines Dramas im Theater erleben kann. [...] Die Weise der Konkretisierung zeigt aber auch, inwiefern eine bestimmte Konkretisation eines Werks 'im Geist' der künstlerischen Intentionen des Verfassers ist, ihnen nahe steht oder im Gegenteil von ihnen abweicht. Entweder ist das konkretisierte Werk dem Stil gemäß oder verwandt, in welchem es - dem im Werk effektiv Vorhandenen entsprechend - geschaffen wurde, oder es hat infolge einer bestimmten Art der Konkretisation diesen Stil verloren. [...] Es ist also sowohl von dem Gesichtspunkt der Richtigkeit oder Treue der Konkretisation des Werkes aus nicht irrelevant, wie sich eine Konkretisation des Werkes tatsächlich vollzogen hat. Und im Zusammenhang damit stehen die Fragen nach einer adäquaten ästhetischen Erfassung des literarischen Kunstwerks sowie - in der Folge - nach ihrer treffenden Bewertung. (aus: Roman Ingarden, Konkretisation und Rekonstruktion 1968, in: Warning 1975, S.46) ________________________________ [1] Ingarden verwendet also „intentionaler Gegenstand“ anders als Husserl, der darunter einen Gegenstand versteht, auf den ein Bewußtseinsvorgang, ein intentionaler Akt gerichtet ist. Wenn Müller den Eifelturm sieht, ist nach Husserl der Eifelturm der inten- tionale Gegenstand von Müllers Wahrnehmungserlebnis. Der Eifelturm ist aber kein in- tentionaler Gegenstand in Ingardens Sinn, denn er hat sein Seinsfundament in sich selbst. Was Ingarden einen intentionalen Gegenstand nennt, ist in etwa das, was Husserl einen „bloß intentionalen Gegenstand“ nennt, z.B. den Gott Jupiter, den Müller sich vorstellt. Vgl. Husserls V. Logische Untersuchung und (Wachter 2000, 71-74 [2] http://www.teachsam.de/deutsch/glossar_deu_r.htm