Dieser Roman ist larmoyant, verbittert, arrogant, ungerecht und unpsychologisch; er enthält Stereotypen, Versatzstücke, Gesellschaftskritik, Verhöhnungen, Polemik und ein negatives Weltbild. Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind beabsichtigt. 13 Here comes the sun, and I say: it's alright. Hier kommt Michelle, eine reizende junge Abiturientin mit einem schmalen, flinken Körper, einer raschen Auffassungsgabe und einer ausgeprägten Schwäche für Katzen. Im Moment kann sie aber keine halten, denn sie weiß nicht, wo sie die nächsten Jahre verbringen wird, und Katzen brauchen Sicherheit. Michelle dagegen ist bereit, einiges auszuprobieren, schließlich hat sie sich in den letzten Jahren sehr am Riemen gerissen, und gelohnt hat es sich, das sagt jeder, und sie selbst sagt es sich voller Stolz. Ein gutes, nein ein sehr gutes, ein überdurchschnittliches Abitur, und Michelle ist das nicht in den Schoß gefallen, sie hat fleißig gelernt, zum Glück kann sie sich die Dinge leicht merken, solange sie nicht allzu kompliziert sind, und ihre Eltern haben sie sehr unterstützt, und auch ihr Freund hat sie sehr unterstützt, das allerdings ist ein trauriges Kapitel, denn der Freund hat sich aus dem Staub gemacht, mit einer anderen ist er über alle Berge, nach Australien sogar, weiter geht es ja gar nicht, aber Michelle ist das ganz recht, so muss sie wenigstens nicht befürchten, ihn ständig im Supermarkt oder im Kino zu treffen, und wenn sie einsam ist, hat sie ja genug Freundinnen, die ihr beistehen, und bald wird sie sowieso keine Zeit mehr für Männer haben, und auch nicht für Katzen, weil sie ihr Studium 15 beginnen wird. Sie wird über dem Studitim nicht die Eltern vernachlässigen, und die Freundinnen nach Möglichkeit auch nicht, und den schmalen flinken Körper nicht, den sie im Fitnessstudio trainiert, aber das kann sie ja auch als Studentin tun, die Zeit wird sie sich eben nehmen. Hier ist die Erzählerin. Sie reibt sich die Hände, weil sie dieses harmlose Mädchen mit groben Strichen entworfen hat und sich jetzt schon, wo die Erfindung doch gerade erst zu leben begonnen hat, darauf freut, ihr Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Vom moralischen Standpunkt her ist diese Erzählerin also höchst zweifelhaft und zugleich simpel. Warum macht sie es sich so leicht? Warum verspottet sie ihr Geschöpf, bevor es überhaupt richtig losgeht? Warum wagt sie sich nicht an eine komplexere Figur? Das hat sie doch bisher auch ganz gut gekonnt. Die Figuren der letzten Romane: zutiefst gebrochen, vielleicht gar gescheitert, Suchende, für die keine Lösungen mehr zur Verfügung stehen, Reisende, die nicht ankommen werden, poetische Existenzen, phantasievolle, abgründige Charaktere. Die übrigens auch interessante Namen trugen. Und jetzt: diese Michelle. Da vergibt sich die Erzählerin alle, aber auch wirklich restlos alle Möglichkeiten ihrer Kunstfertigkeit. Michelle jedenfalls würde gern studieren, sie wird auch studieren, gut genug ist sie ja, und beworben hat sie sich, an der Universität Sommerstadt, einer traditionsreichen, altehrwürdigen, aber doch allen Veränderungen gegenüber aufgeschlossenen Institution, für die Fächer Deutsch und Englisch, denn sie möchte gerne Lehrerin werden, um mit Kindern zu arbeiten und Kindern etwas mitzugeben, Kinder zu fördern und von Kindern zu lernen, es ist der schönste Beruf gleich nach Arzt, aber als Arzt, als Ärztin vielmehr ist man beruflich so festgelegt, und wenn sie selbst einmal eine Familie gründet, möchte sie für die Kinder da sein, und das geht als Lehrerin viel leichter, da kann sie einfach ein oder zwei Jahre aussteigen, die Verbeam-tung ist schon Gold wert, wer weiß, wie lange es das noch gibt, und das ist ein Grund mehr, schnell das Studium anzufangen, und so ist das, gerade noch auf der Schulbank, eben noch im Abi geschwitzt, den Teddy als Glücksbringer gegen den Multivitaminsaft gelehnt, das epische Theater von Brecht erklärt, gerade noch dem Freund, Manuel hieß er und heißt er wohl immer noch, die Lippen auf die Lippen gedrückt, und schon ist er weg, so weit weg, wie es überhaupt nur geht auf dieser Weltkugel, und schon fängt das Studium an der schönen und traditionsreichen Universität Sommerstadt an, in der schönen Stadt Sommerstadt, gut, dass sie keine Katze hat, die müsste ja jetzt auch umziehen nach Sommerstadt und würde sich sicher schwer tun, schwerer als sie, das ist mal klar, und schon ist sie in ... 16 17 MODUL EINS Michelles Arbeitsplatz: Bald wird sie hier öfter mal sitzen müssen ... Sie steht zusammen mit anderen Mädchen und Jungen vor dem Studentensekretariat und hört sich an, worauf man achten muss und dass man sich den Freitag freihalten soll für verlängerte Wochenenden und dass man einen Studenten-Account braucht und wie hoch die Zimmermiete in Sommerstadt ist, sehr hoch nämlich, und wo es gute Jobs gibt, in den Kneipen und in den Modeabteilungen der Kaufhäuser (Ware ein- und auspacken, Preisschilder anbringen), und als sie fragt, was die anderen denn studieren, hört sie Fächer, von denen sie noch gar nichts gewusst hat: Verwaltungsmanagement, Kultursponsoring, Literaturmarketing mit betriebswirtschaftlichem Vertiefungsschwerpunkt, und dass man Punkte sammeln muss für Bologna (wieso Bologna?), und dass man möglichst schon im Ausland gewesen sein sollte, das macht sich immer gut (sie war mit ihren Eltern in Italien und Schweden, zählt das?), und überhaupt hat es keinen Sinn, nur blindwütig und engstirnig sein Fach zu studieren, da sind sich alle einig, man muss offen sein, man muss planen, und man muss immer den Markt im Blick haben. Michelle will ja Lehrerin werden, was sagt der Markt dazu? Die anderen nicken unsicher, doch, die Sicherheit, nicht schlecht, und warum gerade Lehrerin? Na die Sicherheit, sagt Michelle, und die anderen nicken wieder. Ja, und sie möchte mit Kindern arbeiten, sagt Michelle, aber da nicken die anderen nicht, es kann sein, dass es niemand versteht, also wird Michelle es für sich behalten. 20 21 irgendwann, als Manuel ihm drei von seinen grell bedruckten, Selbstgebrannten CDs abgekauft hatte und ihm nicht von der Seite wich, kamen sie doch ins Gespräch, und Manuel durfte auf Jochens Didge spielen, wovon Michelle ihm dringend abriet, weil man ja nicht wissen konnte, ob dieser Jochen nicht vielleicht eine ansteckende Krankheit übertragen könnte oder zumindest Kopfläuse, und die wollte Michelle auf keinen Fall im Haus haben, denn bei ihren langen Haaren wäre dem ganz schwer beizukommen. Jochen zeigte Manuel, wie man in das Didge, wie er immer sagte, hineinblasen musste, damit der Ton nie abriss, circular breathing, sagte Manuel stolz, er übte mit einem Strohhalm und einem Wasserglas, während Michelle für ihre Englischklausur lernte, es war eigentlich behaglich: Manuel blies mit dem Strohhalm Blasen ins Wasser, Michelle lag auf dem Bett und las Shakespeare, zwischendurch, wenn es besonders gut klappte, schaute Manuel strahlend hoch und rief, hast du das gehört? Dann kam er zu ihr herüber, sie küssten sich eine Weile, bis sie weiterlernen musste. Die ErzäWstimme ist, wenn man mich fragt, durchgehend iämischLund_herabsetzend. Dieser Text ist degradierend. Michelle sollte dagegen juristisch vorgehen, er ist persön-lichkeitsschädigend. Es ist doch offensichtlich, wo hier die Sympathien liegen. Manuel wird als Gegenfigur aufgebaut, seine liebenswürdige Verträumtheit, seine Leiden- schaft für die Musik, und nicht für irgendeine, sondern für die folkloristisch-sentimental besetzte Musik der australischen Ureinwohner - dagegen hat Michelle doch keine Chance. Dabei steht ihr doch eigentlich die Welt offen. Die Eltern zahlen die Studiengebühren und dürfen auch mit zum Erstsemesterkaffeetrinken. Das hätten wir damals niemals mitgemacht, brummelt Michelles Vater, aber er freut sich doch, dass seine Tochter den neuen Lebensabschnitt mit ihm zusammen beginnen möchte, und zieht sich die neue Cordhose an. Alle Väter tragen ihre neuen Cordhosen, die Mütter waren beim Friseur, aber nicht so wie früher, mit erstarrten Haarhelmen, in denen die Form der Lockenwickler mit Haarspray eingefroren ist, sondern viel jugendlicher und offener, es ist ja nur ein Kaffeetrinken, bei dem allerdings der Rektor der traditionsreichen Universität Sommerstadt zugegen ist, dem alle Väter und Mütter versuchen, die Hand zu schütteln, aber ohne sich vorzudrängen - ungezwungen eben. Die Tische sind schön eingedeckt, ein paar Alumni stehen auch herum und plaudern mit den Frischlingen über ihre eigene Studienzeit, die ja noch gebührenfrei und wild war, aber auch planlos und chaotisch, während die Frischlinge heute von Anfang an geführt werden, Zeit werden sie wenig haben und vermutlich auch nicht viel zum Lesen kommen, aber dafür schaffen sie das Studium in sechs, höchstens acht Se- 25 ter ihr es gezeigt hat. Überhaupt kann sie vieles von dem, was ihre Mutter ihr immer gepredigt hat, nun wirklich umsetzen: sie bewahrt immer einen kühlen Kopf, trinkt bei Magenschmerzen schwarzen Tee ohne Milch, lässt sich keine grauen Haare wachsen und verschiebt, was sie heute kann besorgen, nicht auf morgen, und deswegen erntet sie gute Noten und ist schon fast ein alter Unihase. Nur die Arbeit bei Heike Blum ist nicht gut geworden. Sie musste in Frau Dr. Blums Büro kommen, sogar außerhalb der Sprechzeiten. Frau Dr. Blum saß sorgenvoll über ihre Arbeit gebeugt, nahm die Brille ab, als sie eintrat, und schüttelte seufzend den Kopf. Michelle, sagte sie, warum studieren Sie. Michelle kam es so vor, als hätten sie dieses Gespräch schon einmal geführt. Höflich begann sie, noch einmal die Gründe aufzuzählen: Sie las gerne, sie konnte Deutsch sowieso, sie wollte gern Lehrerin werden, weil sie, da unterbrach Frau Dr. Blum sie ungeduldig. Heike Blum: Jaja, das meine ich ja alles gar nicht. Was suchen Sie denn hier? Michelle: ??? Heike Blum: Wissen Sie, was Studieren eigentlich bedeutet? Bedeuten kann? Michelle: schaut sie hilflos an. Heike Blum: Waren Sie denn zum Beispiel mal in der Bibliothek? Haben Sie mal nach Literatur gesucht? Michelle (hilflos): Wieso, ich hatte doch ein Buch, und das andere war ausgeliehen, ich meine, ich habe es vorgemerkt, aber es kam ja nicht zurück, und als es dann da war, war ich am Wochenende zuhause, weil es meiner Mutter nicht so gut ging und mein Vater auf Dienstreise war, und als ich wieder ... Heike Blum: Sie müssen doch etwas herausfinden wollen. Ich meine, das ist doch hier keine Schule. Nehmen wir doch mal Ihre Arbeit. Die ist doch nur zusammengeschrieben. Sie stellen doch keine eigenen Fragen an den Text! Michelle: Aber Sie haben mir doch gesagt, was ich machen soll! Heike Blum: schaut sie hilflos an. Michelle starrt auf die Arbeit, die von oben bis unten mit roten Korrekturzeichen übersät ist: Fragezeichen, Ausrufe (»Begriffe definieren!«, »reine Inhaltsangabe!«, »Wo ist Ihre Fragestellung?«), Pünktchen, ein wildes Gekritzel, ihr ganzes liebevolles Layout ist verschmiert, dabei hat sie nächtelang über der Formatierung gesessen und die Überschriften farbig gestaltet, beinahe hätte sie noch Abbildungen eingefügt, aber zum Glück hatte sie keine Zeit mehr dafür, weil diese Blum ihr ja doch alles vollgekritzelt hätte, und zusammengeschrieben hat sie die Arbeit auch nicht, sie hat sich natürlich informiert, im Internet gab es eine Menge, sogar fertige Hausarbeiten, aber natürlich hat sie die nicht einfach nur abgeschrieben, sondern ausge- 48 49 wählt und gekürzt, damit es besser passt, sie pinselt doch nicht einfach blindwütig irgendetwas aus dem Internet ab, das muss die Blum doch sehen, wie viel Mühe sie sich gegeben hat, und nun kommen ihr doch die Tränen. Michelle: Aber - aber - ich habe mir doch so Mühe gegeben ... Heike Blum (seufzt, räuspert sich, reicht ihr ein Taschentuch): Machen Sie doch eine schöne Ausbildung. Michelle (erstarrt, schließt kurz die Augen, heult los) Heike Blum (bereut sofort jedes Wort): Ich meine ja nur zu Ihrem Besten, dass Sie sich wohler fühlen! Da wissen Sie genau, was Sie lernen müssen, und am Ende kriegen Sie ein schönes Diplom! Michelle (schluchzend): Aber das kriege ich hier doch auch! Die anderen machen es doch genauso! Heike Blum (seufzend): Da haben Sie allerdings recht. Michelle zog schnaufend ab, beschämt und verstört, und lehnte sich zittrig neben der Anschlagtafel des Instituts an die Wand. Sie beruhigte sich erst wieder, als ein alter Professor den Kopf aus dem Emeritiertenzimmer steckte, der das Schluchzen gehört hatte und nicht ertragen konnte. Er sah die zitternde Michelle und winkte sie ins Zimmer, das geräumig, hell und mit einem Ledersofa, zwei Bücherwänden und mehreren Zimmerpflanzen behaglich eingerichtet war. Es hatte schon zahlreiche Anträge gegeben, das Emeritiertenzimmer aufzulösen und vier wissenschaftliche Mitarbeiter hineinzusetzen, aber die Emeritier- ten ließen sich nicht einfach abschaffen wie alte Esel; schließlich hatten sie für die Universität alles gegeben, standen immer noch im Dienst der Wissenschaft und brauchten Platz und akademische Luft, um ihre Lebenswerke in Ruhe abrunden zu können, und davon würden ja dann auch die Jungen profitieren. Sie hatten ein bronzenes Schild in die Tür dübeln lassen, der Hausmeister tat immer noch das, was sie ihm sagten, auf dem in Schmucklettern EMERITI eingraviert war, nur damit die Sache klar war. Mädchen Mädchen, murmelte der alte Professor freundlich und tätschelte Michelles Hand, jetzt setzen Sie sich doch erst einmal. Michelle sank auf das Ledersofa, und der Professor holte den Single Malt Whiskey aus dem Schränkchen und schenkte Michelle einen ordentlichen Schluck ein, er war ja kein Unmensch, und weinende Mädchen taten ihm im Herzen weh. Michelle, die noch nie mehr als ein Glas Sekt getrunken hatte, kippte den Whiskey in einem Zug und verspürte sofort ein Glühen in der Kehle und ein Wirbeln in der Magengrube. Hat man Ihnen übel mitgespielt, fragte der Professor gütig, dem es selbst schon oft schlecht gegangen war in der Universität, man hatte sein Deputat erhört (zwei Lehrveranstaltungen statt einer!), man hatte ihm eine Einführung aufgebrummt (fünfzig Studenten! Lauter Anfänger! Keiner jemals Aristoteles gelesen! Konnten die überhaupt lesen!) und ihn gezwungen, sogar in den knapp bemesse- 50 51 nen zwölf Wochen Semesterferien eine Sprechstunde anzusetzen. Das akademische Leben war kein Zuckerschlecken, ihm musste man das nicht erzählen, und wenn dieses Kind darüber Tränen vergoss, war er der erste, der das verstand. Meine Arbeit, schluchzte Michelle, einen Schwindel im Kopf, der sie wagemutig machte, die Arbeit, ich habe mir so viel Mühe gegeben, die hat mir eine miese Note reingeknallt. Wer denn, erkundigte sich der Professor neugierig, und als er erfuhr, dass Heike Blum die Übeltäterin war, klopfte er dem Mädchen mitfühlend auf die Schulter und ließ sich die Arbeit zeigen, die auf wirklich unpädagogische Weise vollgekritzelt war. Er hatte damals immer grüne Tinte zur Korrektur benutzt, um die Mädchen nicht zu erschrecken, und es hatte sich bewährt, sie waren gern zu ihm gekommen; er hatte die Seminar immer auf Freitagabend 20 bis 22 Uhr angesetzt, damit nur die wirklich Interessierten erschienen, die dann aber auch gern, und er hatte sich immer um sie gekümmert, so gut es ging, das war schließlich seine Verantwortung als Lehrer, und wenn sie Fragen stellten, was selten vorkam, hatte er seine Irritation immer gut verborgen. Diese rot verschmierte Arbeit musste dem Mädchen doch das Gefühl geben, für nichts gut zu sein, das war ganz typisch für diese Blum, die so tat, als wäre sie die beste Freundin von Humboldt persönlich, immer dieses grundsätzliche Gerede, Studieneignung, Aufbau des Studiums, Didaktik, forschendes Lernen, Werte, das war für jemanden, der an der Uni lebte, seit er neunzehn war, völlig überflüssig, gut, die Reformen waren einseitig, aber am Ende mussten die Mädchen und Jungen eben sehen, wie sie damit zurechtkamen, damit musste man doch die Professorenschaft nicht behelligen, natürlich trauerte auch er den guten alten Studiengängen nach und fand diese neuen aufgeblasenen B.A.s höchst fragwürdig, aber es hatte keinen Sinn, sich darüber zu empören, davon bekam man Magengeschwüre (er hatte schon einmal eins gehabt, und auch einen Bandscheibenvorfall und einen asthmatischen Schub, stressbedingt, hatte der Hausarzt ihm gesagt, aber das Wort war ihm zuwider, krank ist eben krank), und ein paar Jahre später würde sowieso wieder alles geändert, das kannte er doch zur Genüge, Bologna, dass er nicht lachte, das klang doch wie Spaghetti mit Fleischsoße, wer wollte sich denn in dieses ganze Kleingedruckte stürzen, er tat lieber die Arbeit, für die er sich berufen fühlte und berufen war, und das sollte dieses Mädchen auch tun, und die Blum brauchte nicht herumzulaufen wie Michael Kohlhaas und Robin Hood in einem, zumal sie sowieso nur Mittelbau war und einen schlecht sitzenden Haarschnitt hatte, und das sagte er dem Mädchen auch. Wissen Sie was, sagte er, ich rede mal mit der Frau Dr. Blum, und als das Mädchen nickte und noch einmal aufschluchzte und mit verschleiertem Blick dankbar zu ihm 53 hochsah, fühlte er sich belohnt und dem Mädchen zärtlich verbunden, was für eine schöne Aufgabe, diesen jungen Leuten beizustehen und sie auf ihrem Weg zu begleiten, und er streckte einen Zeigefinger aus, der schon etwas gekrümmt war vom lebenslangen Schreiben, und streichelte Michelle über die Wange, unglaublich weiche Haut, beinahe flaumig. Die Arbeit liegt nun ganz unten auf Michelles Schreibtisch, sie hat beschlossen, nicht mehr darüber nachzudenken, nachdem sie einen Tag lang überlegt hat, wie sie sich an Frau Dr. Blum rächen kann, ob sie vielleicht Nina und die anderen Hippies auf sie ansetzen kann oder ob eine Ausbildung nicht doch das Richtige wäre, aber schließlich, erinnern die anderen in ihrer WG sie, hat sie nun schon ein Semester Studiengebühren bezahlt, und das schaffen sie schon, wenn sie zusammenhalten, und schließlich hat der Professor gesagt, er wolle Frau Dr. Blum zur Rede stellen, und im nächsten Semester machen sie nur noch Sachen bei dem Junganglisten und Leuten wie ihm, oder bei gütigen alten Professoren, denen sowieso alles egal ist, und den Bezug zur Praxis dürfen sie auch nicht vergessen, damit es nicht zu abgehoben wird, dieses Unileben, schließlich sind sie jetzt Akademiker, da müssen sie aufpassen, dass sie sich nicht im Elfenbeinturm abschotten. Michelle sucht sich einen Ferienjob in einem Medienbüro, sie weiß nicht ganz genau, was die da machen, aber ihre Aufgabe ist es, Spam-Mail zu löschen und Kaffee zu kochen, das wird sie schon schaffen, und vielleicht ergeben sich dabei ja Kontakte und Beziehungen, die sie später nutzen kann, obwohl sie ja mit Kindern arbeiten will, und Kinder hat hier keiner. Die anderen aus ihrer WG arbeiten in einem Freizeitpark und einem Schnellrestaurant, und es ist jetzt lustiger als während des Semesters, weil alle viel mehr erleben und mit der Wirklichkeit zu tun haben und Erfahrungen machen (Kiki erzählt, dass sie mit einem Montagetechniker unter der Achterbahn gevögelt hat, aber das glaubt ihr keiner; Vivi erzählt, dass sie kleine Zettel mit ihrer Telefonnummer in die Burger schiebt, bevor sie sie an hübsche Jungen verkauft, und einmal hat sie aus Versehen einen Burger mit Nummer einem alten verschwitzten Kerl verkauft und fürchtet nun, er könnte wirklich anrufen, und bei jedem Klingeln kreischen alle vor Spannung und haben viel Spaß zusammen). Wenn man schon an der Uni keine Erfahrungen macht, da sind sie sich einig, muss man eben für ein Leben außerhalb der Uni sorgen, das war ja das Problem der alten Gelehrten, dass sie in ihren Gelehrtenstuben verstaubt sind und die Wirklichkeit aus dem Blick verloren oder sogar so getan haben, als gäbe es die Wirklichkeit gar nicht oder in mehrfacher Ausführung. Michelle, Kiki und Vivi lassen sich von solchen Schnapsideen nicht durcheinanderbringen, 54 Diese Schriftstellerin brennt ja auch nicht für die Schreibereien der Mädchen, nur mit Müh und Not tut sie so, weil sie damit Geld verdient, das sie sicher braucht, weil sich ihre Bücher nicht verkaufen, denn gegen Bestseller hat sie auch etwas, das verrät sie den Lieblingen mit lauter Stimme, man müsse, predigt sie, eben seine eigene Stimme finden, und wenn die keiner hören wolle, käme es darauf nicht an, es käme auf dieses eigene an, und wenn sie das nicht fänden, könnten sie sich gleich bei Aldi ins Regal legen, dann wären sie nur Ware, nur Objekt. Michelle schüttelt unwillkürlich den Kopf, sie glaubt einfach nicht, dass ein einziger Leser reicht, um die eigene Stimme zu feiern, und wer bei Aldi im Regal landet, bleibt immer noch abzuwarten. Die Schriftstellerin hat Michelles abwehrende Kopibewegung gesehen und schaut sie herausfordernd an, aber Michelle presst die Lippen aufeinander und starrt in ihren Kamillentee, sie wird sich dieser Frau nicht preisgeben, sie wird, obwohl sie sich zurück in die Stadt wünscht oder sogar zu ihrer Mutter ins Wohnzimmer oder zu Manuel nach Australien, hier ausharren, im Schlafsaal dem Schnarchen der anderen lauschen (nur die Schriftstellerin hat ein Einzelzimmer), morgen noch ein paar Textchen über die Aussicht oder ihr Leben als Katze schreiben, den Schein einstecken und danach nie wieder irgendetwas schreiben, wenn es sich vermeiden lässt. Die letzte Übung kurz vor der Abfahrt ist ein erster Satz, den die Schriftstellerin allen austeilt. Inzwischen, sagt sie, sei ja die Gruppe zusammengewachsen, man habe Gehversuche gemacht, ja manche hätten sogar abgehoben, das sei eine wunderbare Erfahrung, und hier müsse man weiterarbeiten, und damit sie sich nun zum Schluss noch einmal frei entfalten könnten, habe sie ihnen einen Anfang mitgebracht, den jeder nach eigenem Gutdünken weiterschreiben könne - ganz frei von Druck und Zwang, einfach abwarten, was dieser Anfang Ihnen schenkt, lassen Sie sich darauf ein. Michelle beugt sich über den Satz, und eine Welle heißer Scham reißt sie fast vom Stuhl. Der Satz lautet: Hier kommt Michelle. Hier kommt Michelle, schreibt Michelle und presst vor Wut und Scham den Bleistift so fest aufs Papier, dass es beinahe reißt, eine reizende junge Abiturientin, und dann blickt sie kurz über die Schulter, als stünde jemand hinter ihr, sie hat ganz richtig vermutet, dass ihr jemand anders den Stift führt, und zögert deswegen, weiter zu schreiben, und in diesem Augenblick des Zögerns halten wir sie und freuen uns an ihrer Empfindsamkeit (sie merkt oder ahnt immerhin, dass sie eine Marionette ist, eine Einsicht, die nicht jedem gegeben ist und die wir ihr eigentlich nicht von Anfang an zugetraut hätten) und auch an dem Zögern und der beschämten Wut, einem Gemütszustand, der hilfreich sein könnte, um wichtige Charaktereigenschaften auszubilden. Es tun sich wider Erwarten (noch eine erfreuliche Erkenntnis) mehr Möglichkeiten auf, mit 72 73 Michelle zu verfahren, als geplant. Anstatt sie einfach entzwei zu hauen, abzuschießen, mit Spott und Häme kaltzumachen (keine elegante Lösung, eher aggressivstumpf und ohne Sex-Appeal) könnten wir entweder a) eine Endlosschleife eröffnen (Michelle schreibt den Anfang weiter bis zu dem Punkt, an dem es wieder heißen muss: Hier kommt Michelle, und so weiter.) b) eine Entwicklung der Hauptfigur anlegen, zart wie ein Samenkorn, sie zeigen, zum ersten Mal zweifelnd, irritiert, zum ersten Mal als Frage- statt als Ausrufezeichen, vielleicht könnten sich diese Momente mehren, auch im Studium könnte Michelle vermehrt Begegnungen haben, die sie aus der nicht selbstverschuldeten Unmündigkeit herausführen (Nina, Heike Blum, neue Figuren), sie könnte einen jungen, geduldigen Studenten treffen, hübscher als Manuel, zärtlicher als Sebastian, der ihr Adorno zu lesen gibt, Nina könnte sie in ein autonomes Seminar mitnehmen, das es eigentlich nicht mehr gibt, aber man könnte es eigens zum Zwecke von Michelles Bewusstwerdung wieder erfinden c) Michelle in diesem Augenblick gefangen halten, sie einfrieren, so wie sie da sitzt, den Stift in der Hand, den Blick zornig gesenkt, ein schöner Anblick, weil Wut jungen Mädchen gut bekommt, und diese angehaltene Zeit nutzen, um mit einem gewagten Kameraschwenk einen völlig anderen Schauplatz einzufangen, zum Beispiel Manuel in Australien, wo er inzwischen ein Mädchen aus Malaysia kennengelernt hat, mit der er enger, als es sich Michelle in ihren kühnsten Träumen ausmalt, auf einer Matratze liegt und Kokoscocktails trinkt, oder, und das wäre ein vermutlich weniger reißerischer, aber analytisch wertvollerer Versuch, d) den Sprung auf die Metaebene zu Wagen, Hintergründe aufzuzeigen: denn auch Michelle ist, wie sie gerade beginnt zu ahnen, Spielball, Marionette, Produkt der Verhältnisse, in diesem Fall: Produkt der Studienreformen, für die an der Universität Sommerstadt verantwortlich zeichnet der ... ... Rektor. Der Rektor, ein rotgesichtiger, im Grunde leutseliger Mensch (er teilt mit Michelle eine Vorliebe für Katzen, grillt gerne mit seinen Nachbarn auf der Terrasse, vergisst niemals, dienstags den Müll herauszustellen) teilt nicht mit Michelle, aber mit den meisten anderen Menschen das Bedürfnis, unsterblich zu sein. Es gibt für ihn einige Vorstufen der Unsterblichkeit: in der lokalen Zeitung möglichst oft auf Fotos zu erscheinen, in der Landesrektorenkonferenz regelmäßige Diskussionsbeiträge zu Protokoll zu bringen, die Universität neu aufzustellen und den Re- 74 75 formen am besten den eigenen Namen zu verleihen. Letzteres ist ihm nicht gelungen, die Reformen greifen europaweit und heißen wie eine Spaghetti-Fleischsoße, aber er hat sie in dieser Universität eingeführt und durchgesetzt, und das war beileibe ein steiniger Weg, wie jeder weiß, der sich einmal als Neuerer, Reformator, gar Rebell versucht hat. Der Rektor heißt Klaus Maurer, ein Name, der ihm schon als kleinem Jungen peinlich war, weil er hausbacken klingt und nach handwerklicher Mühsal, aber für die Reformen ist der Name mit seiner bodenständigen Bescheidenheit nicht schlecht: Stein auf Stein, und fertig ist das Häuselein, eine neue Universität, verschlankt, elitär (im_ jjuten Sinne, man will etwas erreichen, man darf wieder stolz sein, Leistung wird wieder belohnt, Schluss mit dem planlosen Herurnhängen, dem Studentenschlendrian, wer zahlt, weiß, was er kriegt, was er zumindest an Klaus Maurers Universität kriegt, nämlich Qualität, und alle schreien ja immer nach der neuen Führungselite: hier in Sommerstadt wächst und gedeiht sie unter Klaus Maurers Hand, ja, man kann es ruhig sagen: unter seiner Führung, denn dieser Rektor schreckt nicht zurück vor der Verantwortung). Klaus Maurer trinkt also immer noch auf der Terrasse Wein mit seinen Nachbarn und unterhält sich mit ihnen über die späte Blüte der Obstbäume in diesem Jahr und über die geänderten Fahrpläne der Stadtbusse, aber zugleich formt er in seinem Kopf, auf seiner Festplatte und in seinem Führungsstab eine neue Universität, die mit der sentimentalen Humboldt-Romantik Schluss macht, es stehen zwar auf dem Universitätsgelände ein paar Statuen und Büsten herum, aber eigentlich geht es doch heute um anderes. Es geht darum, sagt Seine Magnifizenz Klaus Maurer zu seinem Pressesprecher, der daraus gleich eine schmucke kleine Meldung für die Lokalzeitung macht (er hat auch dafür gesorgt, dass es in eben jener Zeitung eine wöchentliche Hochschulseite gibt, die nur darauf wartet, mit schmucken kleinen Meldungen gefüttert zu werden), junge Leute wie Michelle fit für den internationalen, vernetzten, globalisierten Markt zu machen, mit dem kostbarsten Gut, das wir haben: Wissen, und zwar nicht irgendwelchem unnützen Bildungsbürger-Ballast, sondern relevantem, aktuellem, kompatiblen Wissen, und wer könnte dieses Wissen besser vermitteln jils die Universität. Der Pressesprecher nickt, er hat einen langen Tag hinter sich und eine kurze Nacht, weil er seit einigen Wochen Vater ist und das Neugeborene, das ihm seine Frau geschenkt hat, nachts einfach nicht schlafen will, es brüllt, bis es nach Luft schnappt, dann schnappt es zuviel davon und brüllt wieder, weil es Blähungen bekommt, und der Pressesprecher muss um drei oder vier Uhr nachts seiner weinenden, erschöpften Frau das Baby abnehmen, es sich an die Schulter legen, auf die es dann spuckt, und es durch die Wohnung tragen, bis auch er vor Erschöpfung 76 77 entschuldigen muss, aber schließlich ist Nina erwachsen und muss damit rechnen, nicht überall gleich gut anzukommen, vielleicht ist sie es auch gewöhnt, auf jeden Fall tut sie so, als sei nichts gewesen und winkt Michelle zu, danke für den Kuchen gestern, morgen ist übrigens Sitzstreik, machst du mit? Aus der Sicht der Universitätsleitung und Verwaltung ist es natürlich erfreulich, aber nicht dringend erforderlich, dass sich Studentinnen wie Michelle auf einmal so stark an ihre Alma Mater binden. Einer der Lieblingsscherze Seiner Magnifizenz Prof. Dr. Dr. Hans Maurer schon seit Langem und seit dem Bandscheibenvorfall erst recht: (an den Pressesprecher, einen Gastprofessor, Journalisten der örtlichen Presse oder wer sonst gerade in der Nähe ist) Wissen Sie, was unser Leben wesentlich erleichtern würde? (Ahnungsloses Kopfschütteln des Gesprächspartners) Wenn wir die Studenten abschaffen könnten! (Lautes Gelächter des Gesprächspartners) Gesprächspartner (in scherzhaftem Ton): Die lassen sich auch so schlecht standardisieren! Rektor (mit einem Mal ernst): Das ist in der Tat ein Problem. Gesprächspartner: Wie meinen Sie das, Magnifizenz? Rektor (bescheiden): Bitte bitte, lassen Sie das, wir sind doch ganz informell hier versammelt. (Der Pressesprecher schreibt eifrig mit.) Rektor: Also, ich meine, dass wir doch mit unseren Standardisierungsstrategien, was die Modularisierung, die BA- und MA-Strukturen angeht, schon sehr weit gediehen sind. Heterogenität, und zwar derart, dass daraus für uns Probleme entstehen, gibt es doch nur noch bei den Studierenden! Gesprächspartner (stockend): Ja - und was heißt das? Rektor (sanft tadelnd): Mein Lieber, jetzt sind Sie aber ein bisschen schwerfällig, oder (schäkernd) Sie wollen nicht verstehen, hm? Es liegt doch eigentlich, meine ich, auf der Hand, dass wir nicht nur die Bologna-Studiengänge brauchen, sondern auch den Bologna-Studenten. Gesprächspartner: Ja, äh, aber wir können doch nicht nur Studenten aus Bologna zulassen, so viele gibt es doch davon gar nicht! Rektor (zunehmend ungehalten): Natürlich nicht, Sie Witzbold! Was mir vorschwebt, ist eine Normierungsapparatur für Studierende! Irgendwas, eine Strategie, ein Auswahlsystem, eine Schulung, eine Art Vorschule für die Universität, damit sie dann alle mit den gleichen Voraussetzungen starten! Die deutschen Schulen leisten das ja gar nicht mehr heutzutage, da kann man doch sagen, was man will! Die haben doch keinen verbindlichen Wertekanon mehr! Also müssen wir das tun. Wir sichten die Bewerbungen, schmeißen die Querulanten und Spinner raus, den Rest lassen wir zu, schulen ihn zwei, drei Monate intensiv, Schlüsselkompetenzen, Kreativitätsförderung, ein bisschen Marketing kann auch nicht schaden, Com-puterskills, Personality Training, und schon stehen sie alle 134 135 gut da! Alle gleich! Ich meine, alle mit den gleichen Voraussetzungen! Gesprächspartner (erleichtert): Ihnen geht es also um soziale Gerechtigkeit? Rektor: Endlich haben Sie mich verstanden, mein Lieber, (zum Pressesprecher) Haben Sie das auch alles notiert? Wir sollten bald wieder eine Podiumsdiskussion zu dem Thema veranstalten. Aber laden Sie nicht wieder diesen gemeingefährlichen Soziologen ein! Ich mache Ihnen eine Vorschlagsliste. Der Pressesprecher seufzt und fasst sich in den Nacken, der sich steinern anfühlt. Sein Kind kann inzwischen mehrere gut verständliche Worte äußern, »Papa« gehört nicht dazu. Damit ihn die Arbeit nicht auffrisst, geht er nun einmal die Woche ins Fitness-Studio (eigentlich sollte es zweimal sein, aber das ist unrealistisch) und nimmt den Kleinen mit, damit seine Frau etwas Zeit für sich hat. Den Kleinen gibt er in der Kleinkindbetreuung ab, wo er vergnügt in Spielzeugautos beißt und feinmotorisch wertvolle Gummiringe hin- und herschiebt und weint, wenn sein Vater ihn wieder abholt. Bevor er sich an die Geräte macht, späht er sicherheitshalber eine Weile durch den Türspalt der Kleinkindbetreuung, weil er sich neulich auf dem Laufband plötzlich neben Seiner Magnifizenz fand, die seit dem Bandscheibenvorfall auch regelmäßig trainiert, nur rückenschonend selbstverständlich, deswegen nicht Laufband, sondern Bio-Runner, Hans Maurer in einer engsitzenden Jogginghose, mit riesigen Laufschuhen an den Füßen, die der Pressesprecher in den letzten fünf Jahren tagaus, tagein nur in handgenähten Lederhalbschuhen gesehen hat, ein Handtuch um den verschwitzten Hals, der Anblick war so schockierend, dass der Pressesprecher unwillkürlich aufhörte zu laufen und dadurch auf dem Lauf band ins Taumeln geriet, nicht wusste, wo er sich festhalten sollte und schließlich mit dem Kinn auf die Automatikschalter schlug, bis endlich ein Fitnessmädchen angerannt kam und die Maschine ausstellte und, so kam es ihm vor, spöttisch fragte, ob er sich wehgetan habe, natürlich hatte er das, er blutete sogar etwas, und der Rektor reichte ihm sein blütenweißes Handtuch zum Abtupfen, aber das konnte er nicht annehmen, denn Blutflecken lassen sich nicht mehr entfernen. Um solche Begegnungen in Zukunft zu vermeiden, schaut er nun immer erst, ob die Luft rein ist, bevor er sich vorsichtig auf das Laufband stellt. Inzwischen weiß er, wo er sich festhalten kann. Das Konzept der Bolognisierung der Studierenden hat durch seine rastlose missionarische Tätigkeit rasch in Sommerstadt die Runde gemacht und zu einem Sturm von Vorschlägen, Anträgen, Papers, Zukunftswerkstätten, offenen Workshops und Konzeptpapieren geführt. Das Zentrum für Schlüsselkompetenzen, die Gleichstellungsbeauftragte, die Stelle für Studierendenbelange, das Medienzentrum, der Exzellenzkader, die Bolognaberatung, der Universitätspsychologe, die Vereinigung kleiner Fächer, 136 137 der Philologenverband, der Personalrat, der Asta, die Dekanate, das Schreibzentrum, die Hausmeister - alle sehen neue Betätigungsfelder, die nur darauf warten, bestellt zu werden, und je schneller man da den Fuß in der Tür hat, desto besser, zumal es sicher Fördermittel für dieses innovative Konzept geben wird, die sich erfahrungsgemäß schlecht aufteilen lassen. Die Besten kriegen am meisten, das weiß jeder, und das ist ja auch der Grundgedanke einer Eliteuniversität, berichtet die örtliche Presse, so der Pressesprecher der Universität, sage der Rektor, wie der Landesrektorenverband, im Sinne des Ministeriums. Auf der Universitätsseite der örtlichen Presse erscheint ein schönes Bild: Rektor, Pressesprecher, eine Delegation der neuen japanischen Partneruniversität Sugoyami (Asien ist groß im Kommen), und dazu eine Grundsatzrede des Rektors: Gleiche Chancen für alle - die Bolognisierung im studentischen Profil. Michelle, die sich angewöhnt hat, morgens in ihrer WG ein bisschen in der Zeitung zu blättern (und das Fernsehprogramm auszuschneiden, weil sie abends nach der Arbeit und dem Studium so erschöpft ist, dass sie keine Zusammenfassungen mehr lesen kann, sie hat schon lange genug in den Computer gestarrt), stößt auf die Rede und schneidet sie gleich mit aus, weil sie so gut klingt: entschlossen, engagiert, beherzt. Aber als sie im Institut Nina trifft, die wutentbrannt mit dem gleichen Artikel vor jedermanns Nase herumwedelt, sagt sie lieber nichts. Weißt du, was das heißt, schreit Nina. So aufgebracht hat Michelle sie noch nie gesehen. Weißt du, was der vorhat? Das ist Orwell! Orwell pur! Schöne neue Welt! Michelle hat Orwell nie gelesen, sich aber die Zusammenfassungen gut gemerkt, das ist von Huxley, wendet sie ein, aber Nina hört gar nicht hin, der will Gehirnwäsche! Wir sollen alle gleich sein, verstehst du? Aber das wäre doch ganz gut, oder, fragt Michelle zaghaft. Was soll denn daran gut sein, faucht Nina, willst du etwa so sein wie ich. Och, sagt Michelle höflich, wahrscheinlich wären meine Eltern dann traurig, aber da ist Nina schon weitergestürmt und fuchtelt mit dem Artikel, sie wird etwas organisieren, nun sind die wahren Absichten der Oberen zutage getreten, sie wollen das freie Denken abschaffen, und dagegen wird es einen Widerstand geben, wie ihn diese Universität noch nie erlebt hat. Als in der örtlichen Presse ein Folgeartikel erscheint, der ein detailliertes Konzept für die Bolognisierung der Studentenschaft vorlegt und aus dem auch hervorgeht, dass die Schulungsphase vor Studienbeginn natürlich kostenpflichtig sein wird (sozial gestaffelt), brennen im Innenhof der Universität Sommerstadt zum ersten Mal seit vierzig Jahren Papierberge und Müllhaufen, umtanzt von Nina und ihren Freunden, die Schilder und Transparente schwenken: WIR LASSEN UNS NICHT VERHEIZEN! Huxly und Orwell, IHR HABT RECHT! Huxley mit e, 138 139 flüstert Michelle, die verschüchtert aus dem Vorzimmer des alten Professors hinunterspäht auf die singenden und tanzenden Grüppchen. Manuel ist auch dabei. Auf einmal fährt ein Windstoß in die Flammen und fegt brennende Flugblätter quer durch den Hof. Michelle schreckt zurück und verfolgt die Flugbahn der glühenden Bögen, die plötzlich überall sind, in der Luft ein Tanzen von Funken und fliegenden Flammen, Feuer in der Luft, da brennen auch schon die Gebüsche rund um den Hof, die ausgetrockneten Wiesen, ehe sie sich versehen hat, steht der Innenhof in Flammen, Nina und ihre Leute laufen schreiend davon, wo ist Manuel, niemand zu erkennen in dem düsteren Geflacker, eine Feuerwand frisst sich auf die Gebäude zu, so schnell kann es gehen, denkt Michelle und hält schon den Hörer in der Hand, um die Feuerwehr anzurufen. Da explodiert ein Funkengestöber in die Luft, ein festlicher Anblick, Zischen und Sprühen, Dampf wolken pulsieren über dem Innenhof und kriechen an den Wände der Gebäude hoch, wie Silvester, oder wie eine Weltmeisterschaft, eine Tour de France, das ist, ahnt Michelle auf einmal, ein ganz großes Fest, vielleicht das größte, das sie in ihrem Leben feiern wird, und sie lässt den Hörer sinken und schaut andächtig hinaus auf die brennende Universität Sommerstadt. Räume für Gedanken und Kritzeleien: 140 141 DIE AUTORIN Annette Pehnt lebt als Kritikerin und freie Autorin in Freiburg im Breisgau. Außerdem ist sie Dozentin an der dortigen Pädagogischen Hochschule und Gründungsmitglied der Text-Mission. Sie hat zahlreiche Romane veröffentlicht und Preise gewonnen, u.a. den Preis der Jury beim rngeborg-Bachmann-Wettbewerb 2002, den Italo-Svevo-Preis 2009 und den Text-für-die-Welt-Preis der Text-Mission 2010. 142