Doch einmal gab sie ihm ganz freundlich von selbst über den Zaun einen Rat, der das Beschneiden von Tomaten betraf. In der Bauernversammlung brachte sie, wenn auch scheu, eine vernünftige Meinung vor. Eberhard Klein horchte verwundert. Er dachte: Das sind genau meine Gedanken. Er fing auch an gewahr zu werden, wie gut und ruhig ihre Augen waren, — Sie wurde bald seine Frau und seinem Kind eine gute Mutter. Sie lebten friedlich, einer Meinung, was die äußere Welt betraf und ihre eigene Arbeit und ihre kleine Familie. — Einmal erhielt Marta aus Düsseldorf eine Karte von Kurt Steiner. Er schrieb, er würde sie nie vergessen. Eberhard Klein fragte, wer der Mann auf der Karte sei. Marta erwiderte: „Manchmal haben wir uns geholfen, in der schweren Zeit, im Krieg." Sie fügte hinzu: „Er hat mir mal echten Kaffee verschafft." Klein fragte nichts mehr, und sie sagte nichts mehr. Wenn sich jemand nach Marta erkundigte, das kam selten vor, dann hieß es: Sie ist die Schwester vom Emrich. Jetzt hat sie den Eberhard Klein zum Mann. — Wer mit den Kleins einer Meinung war, sagte vielleicht noch: Die ist ordentlich. Was hätte man andres sagen können, da man nichts andres wußte? I Fünfte Erzählung Wiedersehen Den Roten Platz entlang, auf der Seite des Kaufhauses GUM, dann über die Brücke zum anderen Ufer — die Freunde lachten. „Du gehst immer denselben Weg." Ich sagte: „Ja, drüben gibt's etwas, was mir besonders gefällt." - „Was denn?" Ich sagte: „Eine Kirche. Ich weiß nicht, wie sie heißt, sie liegt ganz versteckt. Hinter den Häusern, in einem Hof. Als ich zum erstenmal dort war, gefiel mir die Kirche so gut, daß ich wieder und wieder hin muß. Als ich zum allererstenmal dort war, wohnten noch Menschen in der Kirche. Aus der Kuppel, vielleicht war's bloß ein Fenster unter der Kuppel, guckte ein altes Weib heraus und rief: ,Was suchen Sie?' Ich rief: ,Nichts!' Sie war mit der Antwort zufrieden. Sie schüttelte ihr Bett aus, ohne sich länger um mich zu kümmern. - Inzwischen, natürlich, ist diese Kirche längst renoviert. Kein Mensch wohnt mehr drin. Um die Wahrheit zu sagen, mir gefiel sie so wie sie war, die Kirche, mit dem alten Weib in der goldenen Kuppel. Wer war sie? Gottes Verwandte? Die heilige Martha? Zum Glück, vor den niedrigen Häuslein, die die Kirche umgeben, mit Vorgärten, mit Apfelbäumen, mit einzelnen Bänken, sitzen immer noch ein paar Umwohner, alte und lahme, oder einfach geschwätzige, wenn die Sonne auf diesem Stück Hof liegt." - „Was soll das für eine Kirche sein?" sagte ein Freund, er hieß Wolodja. „Ich kenne hüben und drüben, auf 74 beiden Ufern, jede Straße und jedes Haus. Nie bin ich auf diese Kirche gestoßen." Ich sagte: „Gehen Sie mit mir, wenn Sie's nicht glauben." Wir gingen also zusammen, dieser Bekannte und ich, den Weg, den ich soundso oft gegangen bin, am Roten Platz, die GUM-Seite entlang. Viele Leute, mit Einkäufen beladen, liefen herunter, auf uns zu oder an uns vorüber; andere gingen mit uns hinauf, zum Einkauf. Wir gingen am GUM vorbei im Rücken der Leute, die sich die Schaufenster anguckten. Wir sahen hinüber zum Roten Platz. Mit der Geschwindigkeit unsrer Schritte rückte vorbei, was erlebt worden ist, was noch zu erleben sein wird, das Mausoleum — vor seiner Tür stehen die Vordersten der Schlange von Menschen, die Lenin ansehen wollen —, die heute unbenutzte und kahle Tribüne, Kremlmauern mit Türmen und Kuppeln, die Basilika wächst so bunt aus dem großen Platz, daß alles übrige fahl aussieht, der Stein, auf dem man Stenka Rasin den Kopf abschlug. In ihren Tagesgeschäften laufen allerlei Leute hin und her. - Wir liefen über die Brücke. Auf dem anderen Ufer blieben wir einen Augenblick stehen. Sieht man die Kuppeln und Kremlmauern von hier aus, dann sind sie auf einmal, obwohl der Fluß nicht breit ist, weit abgerückt, in ihrem eigenen Licht, befreit von der Tagesstunde. Mein Begleiter sah einen Augenblick in die gleiche Richtung. Dann sagte er: „Nun los. Wo soll es sein?" Ich lief voraus. Ich sah in dieses und jenes Tor. Ich bekam Angst, was ich suchte, sei nicht mehr da, obwohl es hier immer gewesen war. Jetzt wird soviel gebaut, soviel abgetragen — vielleicht ist das ganze Viertel verändert. Wolodja hatte in sicherem Ton gesagt: „Ich kenne dort jeden Hof, jede Straße. Ich weiß nichts von dieser Kirche." Jetzt sagte er: „Ich glaube, Sie haben's erfunden." — „Warum soll ich so etwas erfinden?" — „Nun, weil wir gelacht haben, daß Sie immer denselben Weg gehn." Ich lief in den nächsten Hof. Der war trübselig. Ein Stapel Bretter. Gerumpel. Auf einmal sah ich die wirkliche, die erwartete Kuppel. Sie glänzte hinter den niedrigen Dächern goldblättrig und weiß in der Vorfrühlingssonne — auf der Moskwa trieben ja noch ein paar Eisschollen —, niemand erstaunend in diesen Höfen, ein Glanz, an den man gewohnt war. Da mein Begleiter den Krieg von A bis Z mitgemacht hat, unterscheidet er zwischen Erfindung und Wirklichem, die Grenze hat sich ihm furchtbar eingeprägt. Er gab sofort zu: „Wahrhaftig — da ist sie!" Und er sagte verwundert: „Ich seh sie zum erstenmal." Ich brauchte den Zugang nicht zu suchen. Jetzt war er es, der mich mit sicherem Ortsgefühl durch mehrere Torfahrten und Höfe zu dieser Kirche führte. Sie sah aus der Nähe, was selten der Fall ist, wenn man sich stark gewünscht hat, etwas wiederzusehen, noch schöner aus als von weitem. Vielleicht weil die Holzhäuser um sie herum so klein waren — sie schwebte hoch über den Dächern. Die Vorgärten waren noch kahl. In der fröstligen Frühjahrssonne saßen aber schon einige Umwohner auf den Bänken. Das Tor der Kirche war verschlossen, irgendein Schild war dort angebracht worden: An diesen und jenen Wochentagen darf man hineingehen, dieses und jenes ansehen. — Wir setzten uns auf eine Bank, nur eine Frau saß schon da. Ich sagte: „Wer hat recht gehabt?" — „Ich war hier wirklich noch nie", wiederholte Wolodja. Die Frau, die neben ihm saß, füllte ein Kissen mit Werg oder Watte, sie hatte solch Zeug in ihren Korb gestopft. Ich dachte: Die läßt nichts herumfliegen. Sie kann's noch mal verwenden. Sie nähte dann den Überzug zu. Ich spreche schlecht russisch, kann aber einfache Sätze verstehen. Ich verstand, was Wolodja fragte: „Wohnen Sie hier?" — „Nein", sagte die Frau, „ich bin hier nur zu Besuch/' Sie hob ihren Kopf und sah ihn an. In diesem 75 Augenblick kam ein kleines Mädchen mit kurzen und starren Zöpfen herangesprungen. Es redete auf die Frau ein, und diese erwiderte: „Gleich, gleich. Wenn ich fertig bin." Wolodja fragte: „War das Ihre Tochter?" -„Nein", sagte die Frau, „mein ältestes Enkelkind." Das hatte ich mir gedacht. Die Frau sah nicht jung aus. Freilich auch noch nicht sehr alt. Diese Frau und Wolodja hatten sich bei den letzten Worten aufmerksam angesehen. Wolodja sagte: „Mir kommen Sie bekannt vor. Kennen wir uns?" Die Frau sagte: „Ja." Wolodja sagte: „Ist so was möglich?" Die Frau sagte: „Nun ja." Wolodja sagte: „Pelageja Wassiljewna? Sind Sie's?" „Ja", sagte die Frau, ihre Näharbeit rutschte weg. Sie sagte dann etwas, sehr schnell, was ich nicht verstand. Auf einmal waren die beiden aufgestanden, und sie umarmten sich. Einen Schritt wich eins vom anderen zurück, um einander genau zu betrachten. Dann umarmten sie sich zum zweitenmal, ungläubig, heftig — es kann nicht.wirklich so sein, soll aber so sein, darum hält man sich fest. Das Gesicht der Frau war jetzt naß von Tränen. Das war sehr sichtbar, weil die Sonne auf ihr Gesicht schien. Auch weil ihr Gesicht keine Spur weinerlich war, eher trocken und streng. Ich stand von der Bank auf. Die beiden machten sich breit und redeten aufeinander ein. Ich ging zu der Kirchentür, und ich versuchte zu entziffern, was auf dem Schild stand. Dienstag und Freitag war es erlaubt, sich die Ausstellung anzusehen: allerlei Sachen' aus allerlei Kirchen, die gerade hier aufbewahrt wurden. Als ich mich umdrehte, war die Frau wieder beim Nähen. Sic gab ruhig Antwort auf Fragen, die ihr Wolodja stellte. Gerade als ich zurückkam, sagte sie etwas Heftiges. Ich glaube, sie hat wieder aufgeweint, ich glaube, Wolodja sagte ihr zum Trost etwas Sanftes. Dann ging ich noch mal zurück zu meinem Schild an der verschlossenen Kirchentür. Ich wartete jetzt ein paar Minuten, damit die beiden sich vollends aussprechen könnten. Als ich wieder zur Bank ging, kam das kleine bezopfte Mädchen aus der Haustür, die hinter der Bank lag. Die Frau nannte seinen Namen: Mascha. Sie erklärte auch etwas über seine Familie. Sie befahl dann der Enkelin, den Korb, in dem sich jetzt das fertige Kissen samt dem alten Füllsel befand, an einem Henkel zu nehmen, und sie faßte den anderen Henkel. Sie stellte aber den Korb noch einmal ab, um gründlich von Wolodja Abschied zu nehmen. Darauf zogen sie mit dem Korb ab, die Frau und das Kind, durch eine Torfahrt hinter der Kirche. Auf unserer Bank wurde es bald fröstlig. Die Kirche hatte ihren Kopf, wie eine Sonnenblume, dem Licht zugedreht-Man sah von der Kuppel nur noch einen schmalen, hellen, sichelförmigen Streifen. Wir gingen denselben Weg zurück, den wir gekommen waren. Wolodja war stumm, und ich wartete, bis er Lust bekam, etwas von selbst zu erzählen. In einem der öden Höfe blieben wir noch einmal stehen, und wir sahen uns um nach der weißen und goldenen Kuppel. Ihr größter Teil war aber schon himmelsgrau. Von der Straße aus sah man auf dem anderen Ufer die Mauern und Kuppeln nicht mehr so klar wie vorher; sie waren schwach verdunstet, darum waren sie erst recht in nichts mehr der Stunde verpflichtet. Wir gingen wieder die GUM-Schaufenster entlang. Auf dem Roten Platz gingen die Leute herüber und hinüber. Das Mausoleum war geschlossen. Die Menschenschlange hatte sich aufgelöst. Ein paar Kinder warteten auf die Ablösung der Wache, oder sie saßen, weil sie's gern taten, eine Weile hier vor dem Mausoleum, ehe der Tag zu Ende war. Wolodja sagte: „Die Frau vorhin, Pelageja Wassiljewna, ich hab sie zweimal im Krieg getroffen. Nein, dreimal. Die beiden ersten Male lagen dicht beieinander. Für mich nicht richtig getrennt. Vielleicht war etwas Besonderes dran jedesmal für die Frau. Zuerst war es so: Es war im Oktober 1941. Am zwanzigsten nachmittags. Wieso ich das weiß? Weil ich Sergejs Mutter an diesem Tag endlich schrieb. Ich hätte ihr sofort schreiben sollen. Das hab ich nicht fertiggebracht. Und schließlich schrieb ich jeden Buchstaben extra sauber und langsam. Den 20. Oktober 1941. Ich sah das Datum vor mir, als hätt es ein anderer geschrieben, ich seh's noch heute. Ich schrieb, vor meinen Augen sei Sergej gefallen. Er hat noch eine Sekunde zuvor gelacht. Sein Gesicht war noch fröhlich im Tod. Man hätte sich keinen bessern Tod wünschen können. Er hatte in Wirklichkeit entsetzlich gestöhnt. Er hatte getobt. ,Schießt mich tot!' Das hatte ich nicht gekonnt. Wir waren Schulfreunde. Wir hatten nie richtigen Krach gehabt. Wir hätten vielleicht einmal später Krach bekommen. Ein Mädel, das uns beiden gefiel. Wir hatten beschlossen: Wenn wir heimkommen, soll sie selbst wählen. - Wir hatten beide geahnt, das gibt Krach. Doch dann, als sei das Mädchen nur denkbar für einen furchtbaren Wettkampf zwischen Sergej und mir, hab ich mich gar nicht mehr um sie gekümmert, als Sergej gefallen war. Sie war mir egal geworden. Sie hat einen andern genommen. Einen faden Burschen. Und sie ist heute selbst fad, langweilig. Sergej, als man ihn wegtrug, starb unterwegs. Seiner Mutter schrieb ich erst eine Woche später. Ich starrte das Datum an, bevor ich mich entschloß, ihr zu schreiben: Er ist gefallen. — Weil ich seitdem nicht mehr derselbe war und vor mich hinbrütete, hieß man mich dieses und jenes tun, nicht aus Schikane, sondern damit ich nicht ganz versumpfte in meinem Gram. Darum hieß es am Nachmittag: ,Wo-lodja, geh diese Straße zurück und dann bieg am Bach ein, dann geh auf die Mauer zu, die Esche hinter der Mauer hat noch Laub, da liegt der Kartoffelacker, da ist noch was drin, da buddle mal, da, nimm den Sack.' — Wir waren in diesem Herbst zurück bis nach L. Wir waren zurückgedrängt worden bis G. Dort, im Tal, hatten wir uns festgekrallt. Im letzten Augenblick wurden wir doch noch herausgezogen, mit schweren Verlusten. Dabei ging mein Sergej drauf. Und nun, auf dem Rückmarsch, hatten wir einen Tag Ruhe, wir lagen in dem Dorf N. Ich fragte: ,Wieso wißt ihr denn, daß es dort noch Kartoffeln gibt?' — ,Alle sind aus dem Kolchos weg. Es lag unter Beschuß. Verfault sind die Kartoffeln nicht. Wir sind ja auf diesem Weg gekommen. Nun los.' Es war schon neblig. Ich stocherte eine Zeitlang herum, es war leicht, meinen Sack vollzustopfen. Beim Weggehen sah ich: Wir sind nicht allein auf diese Idee gekommen. Da buddelt noch wer. Ich sah nicht gleich, wer es war. Es war eine Frau, ja, diese Frau von vorhin. Wie sie heißt, erfuhr ich dann etwas später. Sie gab keine Antwort, als ich sie anrief. Sie setzte sich wild entschlossen auf ihren Sack, als ich auf sie zukam. Ich sagte: ,Na, na, ich rühr ja nichts an.' Sie lud wortlos den Sack auf und schleppte ihn nach der Straße zu. Ich fragte: ,Wo wollen Sie hin?' — ,Nach dem Dorf.' - ,Da werden Sie nachts noch nicht sein, mit so was Schwerem. Ich hab denselben Weg. Her damit! Keine Angst!' Sie sagte statt danke!: ,Ach, hätt ich nur einen zweiten Sack.' Wir kehrten zurück ins Dorf. Ich trug einen Sack auf jeder Schulter. Sie lief, zwar nicht mehr mißtrauisch, doch das Ihre auf jeden Fall im Auge, neben mir her." — Wolodja und ich, wir waren inzwischen die Straße hinuntergestiegen mit dem Trupp bepackter Menschen, der aus dem Kaufhaus kam, den Trupp durchbrechend, der mit leeren Taschen zum Einkauf heraufstieg. Wir bogen ab. Wir gingen durch Anlagen, die schon nach Frühjahr rochen. Bis zum Manegeplatz und wieder zurück und noch mal denselben Weg. 80 Wolodja fuhr fort: „Ich fragte sie aus. ,Sie kommen von wo?' — ,Von Shitomir.' — Ich traute fast meinen Ohren nicht. ,Und immerzu unterwegs?' — ,Wieso? Was sonst?' - ,Sind Sie allein?' - ,Wieso? Natürlich mit meinen Kindern.' - ,Wie viele?' - ,Fünf.' Sie verbesserte sich. ,Nein, eigentlich nur vier eigene.' — ,Wo wollt ihr hin?' — ,Nach Rostow.' Ich fühlte, was ich früher andauernd, aber seit Sergejs Tod nicht mehr gefühlt hatte, beim Anblick des ununterbrochenen Stroms von Flüchtlingen, zwischendurch Tiefflieger, Schreie, Lücken voll zerrissener Menschen und Blut, und dann wieder Ströme von Flüchtlingen über den Lücken, ich fühlte wieder frisch Wut und Haß und auch irgendein Schuldgefühl, daß ich das alles immer noch nicht verhindert hatte, das Böse, das andauernd auf uns war. Denn diese Frau und die Flüchtlinge alle und auch mein Sergej, sie waren gewiß ganz und gar schuldlos. Ich aber, ich hatte doch dieses Schuldgefühl. Warum nur? Weil ich, ja, weil ich schwächer war, unglaublich schwächer als das Böse. — Die Frau fügte hinzu, als ob dieser Umstand ihren Fluchtweg erleichtert hätte: ,Das älteste Mädchen, Na-tascha, ist von der Nachbarin. Die war krank, da nahm ich es mit. Das Mädchen hat sowieso oft mein Kleines gehütet. Es ist mir so nah wie mein eigenes.' — ,Wo ist Ihr Mann?' — ,Er war am Don. Ich weiß nicht, wo die jetzt sind.' — ,Vorige Woche wurden viele nach L. verlegt.' - ,Sicher?' - Ja.' Sie sah zu mir auf, aber ohne große Erleichterung. Sie dachte wahrscheinlich fortwährend an die Kinder, die im Dorf auf sie warteten. Ich ging zuerst mit ihr in das Bauernhaus, in dem sie untergekommen waren. - Die Leute machten sich zeternd am Herdfeuer zu schaffen. Ich konnte in dem bald schwachen, bald zuckenden Schein kein Gesicht unterscheiden. Die Frau rief sofort: ,Wo ist Witja? Ein Mädchen erwiderte: ,Gleich nebenan. Bei den Soldaten', und sie sagte entschieden, ruhig: ,Du, Kostja, geh rüber, hol ihn!' Ich stellte den Sack ab. Und jetzt, da mein Blick etwas an das Licht gewöhnt war — ich hatte nicht gemerkt, daß mein Schmerz, weil Sergej gefallen war, sich zwar nicht verflüchtigt hatte, das hat er bis heute nicht, aber irgendwie ertragbar geworden war er unter der neuen, von irgendeiner Hoffnung erleichterten Last, zum Beispiel diesem Kartoffelsack —, jetzt, da mein Blick an das Licht gewöhnt war, unterschied ich das kleine, steif gewickelte Kind in den Armen des Mädchens, wahrscheinlich Natascha, das Nachbarskind, das immer für das Kleine gesorgt hatte. Dann gab es noch ein größeres, in einen Mantel gewickeltes Mädchen, das lag auf dem Boden. Die Mutter fühlte es sogleich ab und sagte verzweifelt und vorwurfsvoll: ,Es ist wieder ganz heiß.' Natascha sagte traurig: Ja, ich hab auch Angst.' Ein magerer Junge, der irgendwie zigeunerhaft aussah in der hellhaarigen bleichen Familie, sagte: ,Ich hab ihr was zum Trinken gebracht. Sie hat's aber erbrochen. Hast du was für uns im Sack?' Ich schlug der Familie vor, mit mir hinüberzugehen ins übernächste Haus auf der Straße, auf unserem Feuer seien die Kartoffeln gleich gar. Die Frau machte aus mit Natascha, daß die zuerst mit mir gehe. Sie würde inzwischen das Kleine stillen. Wie es Natascha vorausgesagt hatte, steckte Witja bereits in unserem Quartier. Kostja, der mit uns gekommen war, der ältere Bruder, faßte gleich zu: Wasserholen im Hof. — Viele Hände griffen nach seinem schwarzen Schopf. Der Junge sah schön aus mit seinem Lächeln. Er war ruhig, beherrscht. Witja tobte wie ein Verrückter herum. Wir gaben den Kindern Konservenbüchsen voll Suppe. Als die Kartoffeln geröstet waren, legte Natascha ein paar in die leeren Büchsen. Die Frau kam, um sie abzulösen. Sie war ratlos. Das kranke Kind glühte. Ich fragte herum, ob unsere Ärztin nicht nach ihm sehen könne. Inzwischen waren noch ein paar fremde Kinder aufgetaucht, im Schlepptau der Frau. Sie hatten wohl in 81 Nataschas Büchse die heißen Kartoffeln entdeckt. ,Da, nimm!1 sagte die Frau. , Witja, jetzt ist's genug.' Sie schlug ihm auf die Finger. ,Du hast schon dein Teil.' Mir gefie! es, daß sie nicht alle Kartoffeln für ihre Söhne zusammenschubste. Obwohl sie trostlos war, auch gleich wieder ging. Nach einer Weile kam ich ihr mit der Ärztin nach. Das Allerkleihste schlief ungestört; trotz Lärm, trotz Rauch war sein Gesicht gesund und zufrieden. Die Frau hielt ihr krankes Mädchen in den Armen, und sie wiegte es hin und her. Die Ärztin nahm es und horchte es ab. ,Versuchen Sie alles', sagte die Ärztin, ,damit es den Mund aufmacht. Halten Sie ihm die Nase zu. So.' Sie gab ihr ein paar rosa Pillen. Die Leute in der Stube drängten sich zu, sie sagten ihre Meinung. Ich sagte später zur Ärztin: ,Wie kann sie denn weiter mit diesem Kind?' — ,Sie kann nicht', sagte die Ärztin traurig. ,Ich fürchte, sie braucht es auch nicht.' Es ging diesem Kind aber am nächsten Tag etwas besser. Die Frau holte Wasser, Sie rieb den verkrusteten Schweiß ab. Ich sah ihr zu, als mache sie was Besonderes. Nachdem sie alle irgendwie ein bißchen gefüttert hatte, lief sie noch mal nach Kartoffeln. Diesmal half ihr Kostja. Witja hatte sich nicht nur den Schuh, sondern auch den Zeh eingerissen. Ich ließ ihr Verbandzeug zurück und auch ein paar rosa Pillen; denn wir zogen ab." - Längst brannten alle Laternen. Wolodja und ich gingen in der Anlage auf und ab. Wir hatten den ersten lauen Abend. Auf den Bänken saßen nicht nur Liebespaare, sondern, unter den Laternen, schon einzelne Leute, die etwas lasen. — „Ich hätte Ihnen", sagte Wolodja, „all diese Einzelheiten am selben Tag gar nicht erzählen können. Jetzt, als ich die Pelageja wiedersah, ist mir erst alles eingefallen." — „Wir zogen aus diesem Dorf bis zum Mius-FIuß. In unserem Rücken war ein Gefecht. Um das Dorf, in dem wir gelegen hatten. Ich fragte mich, ob die Frau mit ihren Kindern geflüchtet oder geblieben sei. Zuletzt war es ruhig in unserem Rücken, Die Deutschen saßen in B. Die Front war eingedrückt. Wir marschierten pausenlos, um nicht abgeschnitten zu werden. Wenn wir zurückblickten, sahen wir viele Brände, Hier gab es noch ein paar trockene Tage. Und auf der Straße immer die Staubwolke, ein Gesicht so grau wie's andere. In A. bogen wir ab. Vorher war kurze Rast. Wir aßen rasch etwas Warmes. Ein Haufen Flüchtlinge, der auf dem Hauptweg weiterzog, drückte sich um uns herum, von dem Dampf angelockt. Auf einmal sprang mir der kleine Witja zwischen die Beine. Ich gab ihm ein paar Löffel voll. Er sah zu mir auf mit seinen listigen Äuglein. Dann pfiff er. Kostja, der aussah wie ein Zigeunerjunge, aber bedächtig, gelassen war, kam mit seinem schönen Lächeln heran. Hungrig, nicht gierig. Ich fragte, wie es den anderen gehe. ,Gut, gut. Da liegen sie.' Ein Häuflein in einer Mulde. Auf trockenem Sand. Und die Pelageja, die dauernd alles zusammenhielt mit ihren Armen, wie mit Binsen ein Bündel. Das große, sehr bleiche Mädchen und auch das jüngere, das sich gegen alle Erwartung erholt hatte; das kleinste, vermummelte Kind mit seinem Apfelgesicht, mit diesen weit offenen, unerstaunten, glasklaren, bloß spiegelnden Augen, wie sie nur ganz kleine Kinder haben. Natascha lächelte etwas, sie hatte mich gleich erkannt. Die Frau sah mich ruhig an, nickte, als hätte sie mich erwartet. Witja kam uns nachgehumpelt. Mir fiel ein, daß er sich vorgestern oder vor einer Woche in Schuh und Zeh gerissen hatte. Die Mutter herrschte ihn an: ,Setz dich, man muß es verbinden.' Obwohl mir vorkam, ihre Arme blieben dauernd fest um alles geschlungen, rollte sie von Witjas Fuß die schmutzige Mullbinde ab, die ich ihnen vermacht hatte, guckte sich den Zeh an, stellte fest, man brauchte jetzt keinen Verband mehr, und sie griff gleich nach der Näherei, die Natascha inzwischen begonnen hatte. ,Zwei Kopftücher zusammennähen. Um einen Stecken durchzuziehen. Damit wir das Kranke tragen.' Ich sah ihr zu, und ich hörte auf ihre Worte, und ich hörte zugleich andauernd auf die Luft, die manchmal gluckste, manchmal drohend murrte. Die Frau ging mit mir, sie fragte mich unterwegs, ob ihr die Ärztin noch ein paar Pillen gäbe. Wir wurden aber sofort getrennt. Abschiedslos. Meine Leute waren bereits im Aufbruch. Die Ausbuchtung war zusammengezogen, das hieß, wir mußten wieder zurück. Ich dachte die nächste Zeit noch einmal an die Frau und ihre Familie, als Rostow in die Hand der Deutschen fiel. Da kam mir in den Sinn: Hat sie mir nicht gesagt, sie will nach Rostow? Dort hat sie wohl jemand, einen Bruder oder einen Schwager. Darum hat sie den Weg gemacht. Das hat sie davon. Mein Zorn hielt sich an etwas ganz Bestimmtes. — Fast ein Jahr war vergangen. Wir fuhren nach Südosten. Wir dachten, wie lange soll es so weitergehen? Bis zur Wolga? Und dann? Wir stiegen aus auf einer kleinen Station. Wir wußten alle, der Aufenthalt würde mindestens eine Stunde dauern. Der Bahnsteig war von Flüchtlingen vollgestopft. Auf einmal hielt mich ein Junge fest, und er lachte, und er sah mich verschmitzt an. Da fiel mir ein: Witja! Wir kletterten über Haufen von lagernden Menschen. Er schwatzte. ,Wir kommen von Rostow. Wir gingen gleich weg, als es frei war. Wir wollen jetzt mit der Bahn nach Baku. Dort ist schon die Tante. Dort bekommt meine Mutter Arbeit. Wir warten seit gestern auf den Zug.' Die Frau erkannte mich sofort, war aber aus irgendeinem Grund nicht einmal besonders froh, mich wiederzusehen. Natascha sah mich mit dem Lächeln an, das mir immer gefallen hatte. Das Mädchen, das krank gewesen war, saß gleichmütig, munter da. Es war schwarzäugig; das hatte ich vergessen oder gar nicht bemerkt. Das Kleinste war nicht mehr eingemummelt, es kroch von allein herum, riß da und dort, nagte bald dieses, bald jenes. Mir fehlte jemand in der Familie, und wie mich das Kind mit den schwarzen Augen beständig anstarrte, fiel es mir ein: der kleine Zigeuner. Ich fragte: ,Wo ist denn Kostja?' Eine Sekunde gab niemand Antwort. Dann sagte Witja: ,Den haben die Deutschen totgeschossen.' — ,Wo?' — ,In Rostow. Während der Sperre. Abends. Sie haben ihn gleich getroffen.' Und er erzählte: ,Er ging immer weg, wenn es dunkel war. Durch die Keller. Nur ein kleines Stück Straße. Dann durch den nächsten Hof. Es hat oft mal nachts geknallt. Wir haben ja nicht gewußt, daß es auf Kostja knallt. Sie haben frühmorgens die Mutter geholt. Sie hat gesagt, sie hat nicht gewußt, daß er weg ist.' - Ich setzte mich zu der Frau auf den Boden. Sie sagte mit müder, ausgeweinter Stimme: ,Die haben zur mir gesagt: Was sind denn Sie für eine? Weiß nicht mal, wohin ihr Sohn läuft! Ich hab nur immer gesagt: Ich schlaf, wenn es dunkel wird. Denn Kostja hatte mir befohlen, nichts andres zu sagen, falls jemand fragt —' Sie sah mich voll an, mit trockenen Augen. ,Warum hat's gerade den Kostja getroffen?!' Da schalt ich sie aus: ,So was dürfen Sie nicht mal denken. Ihre Kinder sind alle gute Kinder. Das kleine da, das schon läuft, was alles aus dem noch wird!' Ich weiß nicht, ob sie ein Wort verstand. Es hat plötzlich gepfiffen. Wir fuhren ausnahmsweise vor der Zeit ab. Und ich hörte noch nachts, die Station sei ausgebombt worden. — In den folgenden Jahren fiel mir manchmal diese Familie ein, wenn eine Frau in der Nähe war mit vier, fünf Kindern, und eins verstauchte sich den Fuß, und eins war fiebrig, und eins verirrte sich, und eins kam um durch ein Kriegsgeschick und ein andres durch eine Krankheit, die Frau aber schlug sich durch mit den andren, was sollte sie auch tun? 86 Ich dachte, vielleicht ist diese bestimmte Familie bei dem Luftangriff auf die Station umgekommen." Wir waren ein paarmal unseren Weg hinauf und herunter gelaufen. Hinter den Sträuchern glänzte schon die nächtliche Stadt. „Wir sind vielleicht alle ganz verändert. An ihr war nicht viel verändert. Schon damals war ihr Gesicht gefältelt von den unablässigen Mühen. Und bei unserem letzten Zusammentreffen auf der Station, da hat schon der Kummer um den Kostja etwas mit ihrem Gesicht gemacht, was nicht mehr wegging. Und heute, hier, hat sie auch gleich wieder angefangen, von Kostja zu sprechen. Sie hat mir erzählt, die Bahn sei damals bald gekommen. Sie hätten Glück gehabt. Und drunten in Baku hätte ihr eine Verwandte in der Munition Arbeit verschafft. Zuerst sei nur Witja zur Schule gegangen. Natascha hätte auf die zwei Kleinen achtgegeben. Ihr Mann? Den hat sie nie mehr gesehen. Zuerst eine Nachricht, vermißt. Einer hätte gleich behauptet, er sei gefallen, und wieder ein anderer, im Spital in W. sei er noch am Leben gewesen. Er kam nicht." Wir überquerten den Manegeplatz. Wolodja wurde auf einmal vergnügt. „Das kleine Mädchen, das ihr jetzt den Korb tragen half, ist die Tochter der Natascha. Weil ihre eigne Mutter starb, ist sie nie mehr weg von der Nachbarsfrau. Sie ist längst verheiratet. Sie hat einen guten Mann. Mechaniker im Uhrenwerk. Pelageja Wassiljewna hat schon immer mal nach Moskau gewollt, und jetzt ist Natascha im Krankenhaus, da ist es gut, jemand ist da und gibt auf die Kinder acht; denn außer dem Mädchen mit den Zöpfen gibt es noch zwei Kleinere. Darum hat ihr der Schwiegersohn, nicht richtig ihr Schwiegersohn, aber fast, die Reise bezahlt. Was damals die Allerkleinste war, die kommt vielleicht bald für immer her, die ist sehr gut in der Schule. Und die mit den schwarzen Augen, die krank war, die ist jetzt mit ihrer Mutter in der Gummifabrik, auch ihr Mann ist dort, der richtige Schwiegersohn, ein braver Junge. Auf Witja scheint immer noch kein rechter Verlaß zu sein, sie weiß nicht mal genau, wo der steckt. Er kann's nirgendwo lang aushalten. Sie ist dann auf den Kostja zu sprechen gekommen. Es sei ihre Schuld, sie hätte ihn nicht weggehrf lassen dürfen während der Sperre. Da hab ich zu ihr gesagt, erstens, in diesem Alter würde kein Junge mehr sich von seiner Mutter daheim festhalten lassen, und zweitens, solche Jungen wie Kostja, die damals fest zusammengeblieben sind trotz Verbote, trotz Sperre, überall durchgekrochen, jede Nacht zusammengekommen, die haben uns ungemein viel geholfen. Sie hätte ihn gar nicht hindern dürfen. Wenn es solche wie ihn nicht gegeben hätte, wo stünden wir jetzt? - Da hat sie gesagt: Ja, wirklich?' - Auf diesen Gedanken hat sie noch niemand gebracht. Ich hab ihr dann auch noch gesagt, wie sie auf der Straße, in den Dörfern, unter dem Feuer, Tag und Nacht, immerfort, all die Jahre alle zusammengehalten hätte, mal eins gepflegt, mal Kartoffeln gebuddelt, mal eins geschleppt, das würd ich ihr nie vergessen, dadurch seien wir jetzt auch wieder hier und für immer und ewig. Da hat sie noch mal gesagt, leise: ,Ja, aber Kostja?' Da hab ich gesagt: ,Das ist so wie mein Freund Sergej, der fiel im zweiten Jahr. Und wie Ihr Mann!' - Ich, glaube, sie war ein wenig getröstet." — Wir waren inzwischen an meiner Hoteltür angekommen. Bevor ich hinaufging, sagte Wolodja: „Sie haben recht. Ich war noch nie drüben in diesem Hof. Hab nicht geahnt, daß da eine Kirche steht, die ich nicht kenne." 87