Die Inhalte der Moralischen Wochenschriften machen den bürgerlichen Charakter deutlich. Gottscheds »Biedermann« stellt sich folgendermaßen vor: »Ich wohne in keiner volckreichen Stadt, sondern auf dem Lande. Ein kleines Gut, welches sich mein Vater in Meißen angeschafft, ist mein ständiger Aufenthalt. . . Ich halte mich vor einen glücklichen Unterthan in dem Reiche des großen Urhebers der gantzen Natur . . . Überall, wo ich meine Augen hinwende, finde ich Gelegenheit, mein Gemüthe an der herrlichen Ordnung, der ausbündigen Schönheit, und untadelichten Gerechtigkeit zu belustigen, die der Herr aller Dinge in seinem weisen Regimente blicken läßt. Ich habe es erkennen gelernt, daß er keinen einzgen von seinen Unterthanen hasse; daß er vielmehr alles und jedes glücklich zu machen, und zu größerer Vollkommenheit zu bringen suchet. Ich habe es gelernt, daß die scheinbare Unordnung in der Welt, in der That lauter Ordnung sey . . . Ich habe es endlich begreifen gelernt, daß nichts ungerechtes und unbilliges in demjenigen Regimente vorgehe, wo der weiseste und gütigste Regent die Herrschaft führet. Aus allem diesem Erkenntnisse ist mir ein besonderes Vergnügen erwachsen« (Erstes Blatt). Mit Hilfe der Leibnizeschen Theodizee (wonach alles Geschaffene gut sei, auch wenn der Mensch mit seinem eingeschränkten Erkenntnisvermögen dies nicht immer einzusehen vermag) legitimiert der Biedermann auch die Ungleichheit der Stände als gottgeschaffen und damit unveränderlich. Wohl hat er sich von Stadt und Hof zurückgezogen, da er nur in ländlicher Abgeschirmtheit sein Tugendideal zu realisieren vermag, doch deutlich grenzt er sich gegen oben hin ab: die Feudalgesellschaft des Hofes wird in den Moralischen Wochenschriften immer mit falschen, weil scheinhaft-äußerlichen Idealen wie Ehre, Stolz, Herrschsucht etc. assoziiert und als genußsüchtig und korrupt abgelehnt, während der sich bürgerlichen Normen nähernde Landalel positiv gezeichnet wird. Der Biedermann bestellt sein Gut nicht etwa selbst; arbeiten läßt er Knechte, zu denen er in einem patriarchalischen Verhältnis steht: »Seine Knechte fürchten ihn aus Liebe, und lassen sich durch einen sauren Blick besser regieren, als wenn er jederzeit mit Schlägen hinter ihnen her wäre. Der Lohn, den er ihnen jährlich gibt, ist mäßig; desto mehr Geschenke theilt er denen aus, die sich wohlverhalten« [Geschichte der deutschen Literatur: Phasen der Aufklärung von der Didaktik bis zur Gefühlskultur (Christoph Siegrist). Geschichte der deutschen Literatur, S. 195 (vgl. Zmegac-GddL Bd. I/1, S. 63) (c) Beltz Athenäum Verlag] Die Innovation, die Brockes in die deutsche Lyrik einbrachte, liegt in einer erstaunlichen Bereicherung und Sensibilisierung des Sprechens. Unermüdlich sucht er nach präzisen verbalen Äquivalenten für die zu beschreibenden Phänomene, bemüht er sich, Nuancen von Farben, Formen und Düften sprachlich zu differenzieren, aber auch schon seine psychischen Reaktionen festzuhalten. Erkauft wird dieser Gewinn mit einem Verlust an lyrischer Unmittelbarkeit und Dichte, der sich in der Tendenz zur Weitschweifigkeit, ja gelegentlich zur Geschwätzigkeit manifestiert; manchmal grenzt einzig die typographische Anordnung seinen Text von der Prosa ab. Mit fortschreitender Bandzahl wird er immer pedantischer, was sich auf den Erfolg auswirkte. Der erste Band erreichte sieben, die folgenden beiden Bände noch fünf Auflagen, während für den letzten Band eine Neuauflage sich erübrigte. Brockes ist ein typischer Vertreter frühbürgerlicher Dichtung: Geprägt durch aufklärerische Philosophie und Naturwissenschaft preist er die Welt als bestmögliche, in der unablässiges »irdisches Vergnügen« möglich ist. Die Theodizee-Idee überträgt er dabei auch auf die menschliche Gesellschaft. Im Neujahrsgedicht von 1739, Über den Nutzen des Mangels, wird die Ungleichheit der Menschen innerhalb der Ständegesellschaft als naturwüchsig gerechtfertigt. Es behauptet, daß der Arme arm sein müsse, damit der Reiche reich, der Knecht, daß der Herr Herr sein könne; Armut, Unterdrückung, Sklaverei werden im Hinblick auf die ausgleichende Instanz des Jenseits legitimiert. Hier enthüllt sich die ideologische Basis der Theodizee-Lehre: Der reiche Patrizier Brockes preist seinen gepflegten Garten als Abbild der vernünftig eingerichteten Welt, die nach Gottes Willen so und nicht anders eingerichtet ist, womit er allfällige Ansprüche von weniger Begünstigten als gegen die Grundordnung verstoßend abwehrt. [Geschichte der deutschen Literatur: Phasen der Aufklärung von der Didaktik bis zur Gefühlskultur (Christoph Siegrist). Geschichte der deutschen Literatur, S. 205 (vgl. Zmegac-GddL Bd. I/1, S. 67) (c) Beltz Athenäum Verlag]