Diplomatik (Urkundenlehre): Bezeichnung „Diplomatik“ ist als Begriff für die Disziplin relativ jung (19. Jh.), obwohl der Gegenstand die älteste Teildisziplin des Fächerbündels Historische Hilfswissenschaften ist. Definition des Urkundenbegriffs: Urkunden sind nach bestimmten, nach Raum und Zeit unterschiedlichen Gewohnheiten und Formen abgefasste und gestaltete schriftliche Aufzeichnungen rechtlichen Inhalts. Diplomatik umfasst typischerweise die Analyse äußerer und innerer Merkmale: Äußere Merkmale sind z. B.: Beschreib- (und Schreib-) Stoff, Format, Schriftspiegel bzw. Layout, Schrift und graphische Symbole und Zeichen, Beglaubigungsmittel (Besiegelung), Vermerke Innere Merkmale: Sprache und Formular, Diktat, Rechtsinhalt In der Analyse äußerer und innerer Merkmale versucht die Diplomatik die Kanzleigemäßheit einer Urkunde im Sinne einer Unterscheidung echter und verdächtiger Stücke zu ermitteln. Trias der Beschreibstoffe der Urkunden des Mittelalters: Papyrus – Pergament – Papier Ab dem 7. Jahrhundert erfolgt der Wechsel vom wichtigsten antiken Beschreibstoff Papyrus hin zum Pergament; in der päpstlichen Kanzlei und Süditalien (Ravenna) bleibt Papyrus noch bis ins 10. Jh. In Gebrauch. Aus der spätantiken Form der Urkunde in Form zweier (geschlossener) Wachstafeln leitet sich die Bezeichnung „tabulae“ für Urkunde ab. Im Frühmittelalter wird Pergament sparsam verwendet: kleine Formate, unregelmäßiger Beschnitt, Stücke mit Löchern etc.; im Spätmittelalter dagegen werden für feierliche und öffentlichkeitswirksame Beurkundungen große Formate verwendet (z. B. für die illuminierten Sammelindulgenzen aus Avignon in den 1330er Jahren) Schreibwerkzeug ist zunächst das Schreibrohr (calamus), dann die Feder (penna); das Zuschneiden der Feder („Temperieren“) wird regelmäßig in Schreibmeisterbüchern gelehrt. Öffentlichkeit von Urkunden: mitunter existieren monumentale Zweitausfertigungen von kanzleigemäßen Urkunden als Urkundeninschriften an gut sichtbaren öffentlichen Orten. Urkundenausfertigungen können auch performativ zum Einsatz kommen: demonstratives Vorzeigen von Urkunden, Einbindung in Rituale. Archivische Vermerke (Betreffe, Archivsignaturen) oft nicht nur dorsual auf dem Pergamentblatt angebracht, sondern auch auf der Plica Diplomatik unterscheidet nach dem Aussteller klassisch drei Typen von Urkunden: Kaiser- und Königsurkunden – Papsturkunden – Privaturkunden Diplomatischer Begriff der Privaturkunde im ausschließenden Verfahren definiert: alle Urkunden, die nicht Herrscher (Kaiser/Könige) und Päpste zum Aussteller haben. Ordnungsprinzip vieler mittelalterlicher Kopialbücher (Chartulare). Grund: im Frühmittelalter galten nur diese Urkunden als aus sich heraus glaubwürdig (nur Herrscher können Dritte rechtskräftig in ihre Aussagen und Handlungen einbinden bzw. auch in fremder Sache urkunden/bestätigen). In der Forschung zum frühmittelalterlichen Urkundenwesen Unterscheidung von charta und notitia: Charta ist die dispositive Geschäftsurkunde, in 1. Person und im Präsens abgefasst. Notitia dagegen ist die objektive Beweisurkunde, in 3. Person (meist im Perfekt) abgefasst, überliefert typischerweise nicht oft in originalen Ausfertigungen (Einzelnotizen), sondern stärker in Traditionsbüchern des Früh- und Hochmittelalters (8.-13. Jh.). Am dem frühen 13. Jahrhundert setzt sich nördlich der Alpen definitiv die Siegelurkunde als Standardtyp der Privaturkunde durch. Die Eigenhändigkeit der Unterfertigung, ursprünglich Element der charta, fällt ab dem 11. Jahrhundert weg, dagegen übernimmt das Siegel die Beglaubigungsfunktion. Bezeichnungen von „Beamten“ der spätantiken Urkundenverwaltung werden in mittelalterliche Begriffe für Urkundenschreiber übernommen: z. B. „tabellio“ (von den tabulae), notarius (derjenige für de Konzepterstellung zuständige Schreiber, der die Kurzschrift [notae] beherrscht). Symbolhandlungen bei der Übergabe der Urkunde im Frühmittelalter: z. B. Schenkung an eine Kirche: Niederlegung der charta auf dem Altar. Als Rest symbolischen Handelns lassen sich evtl. auch Chirographen verstehen, bei denen beiden Vertragspartnern je ein gleichlautend beschrifteter Teil der Vertragsurkunde ausgehändigt wurde. Im Süden Europas bleibt seit der Spätantike das Notariatsinstrument die dominierende Beurkundungsform privater Verträge. Notar besitzt kaiserliche oder päpstliche Legitimation als Garant seiner Glaubwürdigkeit. Kurios: artes notariae schreiben vor, dass die vom Notar hergestellten Urkundenausfertigungen auf Pergament mundiert werden sollen, dagegen dürfen die rechtlich relevanten Imbreviaturbücher der Notare Papierhandschriften sein. Notariatsinstrumente enthalten typischerweise sehr detaillierte Angaben über den Ausstellungsort und können mitunter sogar für baugeschichtliche Fragestellungen relevant sein. Kaiser- und Königsurkunden werden meist in Diplome (Rechtssetzungen von dauerhafter Gültigkeit) und Mandate (zeitlich begrenzt gültige Anweisungen) unterschieden. Formularteile von (Kaiser- und Königs-) Urkunden (Idealschema): Protokoll: Invocatio (symbolische I.) – Intitulatio (Devotionsformel) – Inscriptio (Adresse) Kontext: Arenga – Promulgatio (Publicatio) – Narratio (inkl. Petitio) – Dispositio (Pertinenzformel) – Sanctio (Pönformel) – Corroboratio (Siegelankündigung) – Zeugen Eschatokoll: Signumzeile (Unterfertigung, Monogramm) – Rekognitionszeile (Beizeichen) – Datum/Actum – Apprecatio Ab dem 13. Jh. ersetzen Initialen die auszeichnungsschriftliche Funktion der Elongata der ersten Zeile der Diplome. Problematischer Begriff der „Kanzlei“ (cancellaria) als Beurkundungsstelle der Kaiser und Könige: Verabredungsbegriff der Diplomatik seit Theodor von Sickel, dreiteilige Struktur, tatsächlich von einem anstaltsstaatlichen Modell, nicht von einem Personenverband ausgehend. Idealer Ablauf des Geschäftsgangs in der Reichskanzlei: Vollzug des Rechtsgeschäfts vor dem Herrscher – Beurkundungsbefehl (Petenten, Intervenienten) – Konzepterstellung und Korrektur – Mundierung – Vollziehung – Beglaubigung – Registrierung (Taxierung) – Aushändigung Als Quelle für kanzleigeschichtliche Forschungen kommen im Spätmittelalter zunehmend Kanzleivermerke auf der Plica der Urkunden auf. Papsturkunden: Päpstliche Kanzlei ist der größte Urkundenaussteller des Mittelalters; Ausstoß nimmt exponentiell zu: im späten 15. Jh. werden in einem Jahr so viele Urkk. ausgestellt wie bis ca. 1200; insgesamt bis heute geschätzt ca. 30.000.000 Papsturkunden ausgestellt. Ab 1007 allmählich Übergang zu Pergament als Beschreibstoff (Papyrus ab 1057 nicht mehr verwendet) Unterscheidung von Privilegien (einfache/feierliche) und litterae (sowie Bullen, Breven, Motuproprio) Aufbau einer Papsturkunde: Protokoll: Intitulatio – Inscriptio (mit Nennung des Empfängers im Dativ) – Salutatio (in Litterae und Breven: salt et aplicam ben) bzw. Verewigungsformel: Privilegien: in perpetuum; Bullen: ad futuram rei memoriam) Kontext: Arenga – Narratio – Petitio – Dispositio – Non-obstantibus-Formel – Sanctio – Apprecatio (dreifaches Amen bei feierlichen Privilegien) Eschatokoll: Rota, Benevalete, Komma (2. H. 11. Jh) – Unterschriften in drei Kolumnen – Datierung (feierliche Privilegien mit großer Datierung [datum per manus-Formel, Indiktion, Inkarnationsjahr], sonst Ort, Tag, Pontifikatsjahr) Rota und (eigenhändige) Unterschriften des Kardinalkollegs: seit Paschal II. (um 1100) tritt regelmäßig die Rota auf (erstmals 1049 belegt) mit Apostel- und Papstnamen sowie Devise. Urkundenkritik in der päpstlichen Kanzlei in bulla, filo, charta et stilo (Dekretale Innocenz‘ III.) Im 13. Jh. Abnahme der Privilegien, Aufschwung der Litterae: cum serico („Gnadenbriefe“)/cum filo canapis („Justizbriefe“) Idealer Geschäftsgang an der Kurie (hierarchisch gegliederte „Behörde“): Supplik (schriftlich) - Signatur der Supplik (Genehmigung) und Datierung – Eintrag in Supplikenregister – weitere 27 Schritte bei expeditio per cancellariam – Konzepterstellung (Notare bzw. Abbreviatoren) im stilus curie – Mundierung durch Skriptoren (namentlich auf Plica rechts genannt) – Taxierung – 1. Kontrolle kanzleiintern – 2. Kontrolle durch Verlesung vor dem Papst bzw. durch Kanzleiangehörige – Bezahlung der Siegeltaxe – Besiegelung – Registrierung (Taxe) Das meiste davon durch Kanzleivermerke auf der Urkunde belegbar