Historische Hilfswissenschaften – Einführung in die deutschsprachige Terminologie Doz. Dr. Andreas Zajic 3. März 2015 Stiftbrief des Augustiner-Chorherrenstifts Dürnstein, 1410 Illuminierte Urkunde: Historisierte Initiale (Buchmalerei/Diplomatik) Kanoniker und Propst des Stiftes Stephan von Haslach, Stifter und Kanoniker des Stiftes Wappenschild, gelehnt (Heraldik) Almutie aus Kürsch (Kostümkunde/Realienkunde) Confirmation of the foundation, issued by Bishop George of Passau Bischöfliche Bestätigung der Stiftung, 1410: Original und Fälschung Fälschung: Diplomatik Stifterbild des Propstes Honorius Arthofer, um 1672 Raymund Duellius, Excerptorum Genealogicorum libri duo, 1725 Tab. VI and VII: Details aus dem Stiftbrief des Augustiner- Chorherrenstifts Dürnstein, 1410 Stiftsarchiv Göttweig, Kopialbuch „C“, 1444 Kodikologie/Einbandkunde: Lederüberzogener Buchenholzdeckel mit Streicheisenlinien und Blindstempelbzw. Rollstempeldekor Beschläge, Buckel und Schließen Buchblock, Bundstege, Schließen Lagenformel: II + [IV-3] + [V10 + (V-1)20 + 5xV70 + (V-1)80 + 2xV100 + (V-1)110 + V120 + (V-2)130 + (V-1)140 + 4xV180 + (V-1)190 + (V-1)200 + V210 + (V-1)220 + (V-2)230 + 4xV270 + (V-2)[280] + V290 + (V-1)300 + 5xV349 + (V-1)359 + V369 + (IV-1)376] + III Wasserzeichen: Wasserzeichenkunde/Filigranologie Paläographie: Mischmajuskel mit Elementen Frühhumanistischer Kapitalis, Gotico-Antiqua, historisierende Minuskel Schaftverlängerungen: Imitation diplomatischer Minuskel Diplomatik: Chrismon, Monogramm, Rekognitionszeile Rota, Benevalete Notar(iats)ssignet Historische Hilfswissenschaften sind kein reines methodisches Rüstzeug der Mediävistik! (allerdings traditionell Zutat mediävistischer Lehrstühle) Der deutsche Begriff „Historische Hilfswissenschaften“ entwickelt sich im 18. Jahrhundert: erstmals „Auxilia historica“ (Anselm Desing OSB, 1741), der deutsche Begriff „Historische Hülfswissenschaften“ erstmals 1761 in Johann Christoph Gatterers „Einleitung in die synchronistische Universalhistorie zur Erläuterung seiner synchronistischen Tabellen“. Titelkupfer zweier Publikationen des Silvester a Petra Sancta SJ: De Symbolis heroicis (Antwerpen 1634) und Tesserae Gentilitiae (Rom 1638) Titelkupfer von Colombières Récueil von 1639 Schraffurentafel aus Colombières Science Héroique (2. Aufl. 1644) Jean Bolland SJ (1596-1665) Begründer der Acta Sanctorum (AASS), fortgeführt von den Bollandisten AASS April tom. II: Propylaeum Papebrochs Daniel Papebroch SJ, 1628-1714; 1658 Priesterweihe und 1660 Mitarbeiter Bollands; Seine Quellenkritik widerlegte u. a. auch die Ordenstraditionen des Karmeliterordens; deshalb verbot die Inquisition 1695 die von Henschen und ihm erarbeiteten Bände der AASS; 1709 Rückzug aus den Acta; erst 1715 postum die Bände vom Index genommen Jean Mabillon, De re diplomatica libri sex. 2. Aufl. 1709 Gottfried Bessel, Chronicon Gottwicense. 1732 Thomas Vogtherr, Urkundenlehre. Basiswissen. 2008 Synopsis Confoederationum des P. Hartmann Dückelmann OSB 1776/77 Kopie einer Göttweiger Urkunde von 1286 bei Dückelmann in Vergleich mit dem Original Charles François Toustain, Nouveau traité de diplomatique, Bd. 2. Paris 1755 Konrad Peutinger, Inscriptiones sacrosanctae vetustatis 1. Aufl. Augsburg 1505 bzw. 2. Aufl. Mainz 1520 Peutinger, Fragmenta fol. 1v: novis formis atque maioribus iucundissimo litterarum charactere [Ratdolt] inscriptiones has novis formis atque maioribus iucundissimi probatissimique litterarum characteris impressit Peutinger an Celtis, 1505 September 17, Augsburg: Humanistische Äußerungen zur antikischen Gestaltung kapitaler Alphabete: Augustinus Tyfernus über die Inschriften am Palast des Giovanni Pontano in Neapel: iucundissimo charactere in morem antiquum candidissimis marmoreis tabellis incisa Hoc commodissime ita fiet, ut requiras illos characteres litterarum antiquarum Latinarum, quibus usi sumus in illo saxo meo, cui patrocinaveras, et illa ultima sex carmina una cum superscriptione parentis et additamento: mortuus in flore aetatis anno salutis MDIIII Idibus Iulii etc.; facias eiusdem magnitudinis in papyro bitumine compacto patronum, ut illis mos est loquendi artexanis, qui lapidi imponetur et secundum illum lapicida illa carmina vel totum elogium accurate inscribere vel infigere possit. In hoc facies rem Musis mehercle acceptissimam, te dignam, longe ampliori vicissitudine exaequandam. Johannes Fuchsmagen an Konrad Celtis, 1504, Linz: Grabplatte vom Eingeweidegrab Kaiser Friedrichs III. Linz, Stadtpfarrkirche, 1493 Distichen von Konrad Celtis Lehrbuch Maximilians I., um 1465/70 (Alexander de Villa Dei, Doctrinale Puerorum), ÖNB Cod. 2289,. fol 1r Sakraments- häuschen mit Bauinschrift des Matthäus Lang von Wellenburg, Pfk. Eggenburg, 1505 Wien Museum: Inschrift auf die Sodalitas litteraria Danubiana vom Haus des Johannes Cuspinian, ca. 1510 (?) Wolfgang Lazius, Exempla aliquot s. vetustatis Rom., Wien 1560 Reiseliteratur und Kavalierstour: Inschriften im „Gepäck“ des Manns von Welt Gelehrte epigraphische Dichtung – Inschriften als späthumanistische literarische Gattung Epigraphische Narrationen: Inschriften als Quellen monastischer Hausgeschichte Gedenkinschrift auf den Fang eines außergewöhnlich großen Huchens in Stift Dürnstein 1481 Gedenkinschrift auf den Fang eines außergewöhnlich großen Hausens in Stift Göttweig 1647 Sammlungen mit historisch-genealogischem Interesse – der Anteil des Adels Satirischer englischer Kupferstich (1756) auf die „antiquarians“ des 18. Jahrhunderts „Das pittoreske Österreich“ Inschriften als (romantische) Quellen zur vaterländischen Geschichte im 19. Jahrhundert Das „Widtersche Lapidarium“ in der Wiener Landstraße (vor 1881) Vom „Nationalen“ in der Schrift – Volkstum und Völkisches in Paläographie und Epigraphik des 20. Jahrhunderts Ein „weitausschauendes Unternehmen“ – Hans Hirsch und die Deutschen Inschriften Inschriften und Ideologien: Epigraphik als „Ahnenerbe“ Universitäre Ausbildung in Historischen Hilfswissenschaften meist im 19. Jahrhundert in Hinblick auf archivische Tätigkeiten und auf „vaterländische“ Geschichtsforschung aufgenommen. École Nationale des Chartes beginnt 1829 mit der Ausbildung des „archiviste paléographe“; die Absolventen sollten die durch die Säkularisierung infolge der Revolution verstaatlichten Archive sinnvoll ordnen können und deren Quellen für die Geschichtsschreibung nutzbar machen. Ähnlich in Österreich das Institut für Österreichische Geschichtsforschung: gegründet 1854 im zeitlichen Zusammenhang mit den Revolutionen von 1848/49 und den daran anknüpfenden Unterrichtsreformen des Leo Graf Thun-Hohenstein; sein Unterstaatssekretär Alexander Helfert sollte die Grundlagen für eine Neuorientierung der österreichischen Geschichtsschreibung im Sinne einer gesamtstaatlichen Betrachtung liefern. Dazu auch Gründung des Instituts: „Ihr Zweck ist die Heranbildung junger Männer zur tieferen Erforschung der österreichischen Geschichte durch Anleitung zum Verständnis und zur Benutzung der Quellen. Die Schule hat demnach eine zweifache Aufgabe […], sie hat junge Männer a) bekannt zu machen mit dem gelehrten Material (mit den archivalischen und bibliothekarischen Quellen) und mit den notwendigen Hilfswissenschaften zum Verständnis derselben und b) sie hat ferner bekannt zu machen mit den Grundsätzen und der Methode der wissenschaftlichen Geschichtsforschung und dadurch anzuleiten, selbst diese Bahn zu verfolgen und auf ihr neue Resultate zu gewinnen“. Theodor (Ritter von) Sickel (1826-1908) Im 20. Jh. mitunter im Sinne einer Imageaufbesserung auch bisweilen als „Grundwissenschaften“ (etwa Karl Brandi 1939) bezeichnet. Das weitgehend kanonisierte Fächerbündel ist ein Phänomen des deutschen Sprachraums; im englischsprachigen und frankophonen Raum kennt man keinen ähnlich feststehenden entsprechenden Überbegriff, sondern spricht meist von diplomatic[s] oder paléographie als eigenständige Fächer. Eckhart Henning, Hennings HIWI-Test. 175 Fragen und Antworten rund um die Historischen Hilfswissenschaften. Mit 10 Thesen über die Gemeinsamkeiten der Historischen Hilfswissenschaften. Berlin 2009 Historische Hilfswissenschaften „bilden eine für die Geschichtswissenschaft charakteristische, bis in die neueste Zeit erweiterte Fächergruppe instrumentalen Charakters“ Zählt auf (alphabetisch): Aktenkunde Autographenkunde/Selbstschriftenlehre Chronologie/Zeitrechnung Diplomatik/Urkundenlehre Genealogie/Geschlechterkunde Heraldik/Wappenkunde Numismatik/Münz- und Medaillenkunde Paläographie/Schriftkunde Phaleristik/Ordenskunde Sphragistik/Siegelkunde Titulaturenkunde Vexillologie/Fahnen- und Flaggenkunde Epigraphik fehlt, die aber einwandfrei zu den ältesten Hilfswissenschaften zählt (an anderer Stelle von Henning als „Entzifferungswissenschaft“ diffamiert) Weitere Hilfswissenschaften: Kodikologie samt Filigranologie und Einbandkunde Insigniologie Historische Metrologie Waffen- und Uniformkunde Realienkunde allgemein Alle Nachbardisziplinen (Philologien, Kunstgeschichte, Theologie, Rechtsgeschichte bzw. Rechtswissenschaften usw.) Friedrich Beck/Eckart Henning (Hg.), Vom Nutz und Frommen der Historischen Hilfswissenschaften. Beiträge der gemeinsamen Tagung des HEROLD mit seiner Fachgruppe „Historische Hilfswissenschaften“ anläßlich ihres fünfjähriugen Bestehend am 5. Oktober 1999 im Museum Europäischer Kulturen in Berlin-Dahlem (Herold-Studien 5) Berlin 2000. Eckart Henning, Auxilia Historica. Beiträge zu den Historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen. Köln/Weimar/Wien 2000. Erika Eisenlohr/Peter Worm (Hg.), Fachgebiet Historische Hilfswissenschaften. Ausgewählte Aufsätze zum 65. Geburtstag von Peter Rück (elementa diplomatica 9) Marburg a. d. Lahn 2000. Toni Diederich/Joachim Oepen (Hgg.), Historische Hilfswissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung. Köln/Weimar/Wien 2005. Eckhart Henning, Hennings HIWI-Test. 175 Fragen und Antworten rund um die Historischen Hilfswissenschaften. Mit 10 Thesen über die Gemeinsamkeiten der Historischen Hilfswissenschaften. Berlin 2009. Jean Leclant/André Vauchez/Daniel-Odon Hurel (éd.), Dom Jean Mabillon figure majeure de l‘Europe des lettres. Actes de deux colloques du tricentenaire de la mort de dom Mabillon, Abbaye de Solesmes, 18-19 mai 2007, Palais de l‘Institut, paris, 7-8 décember 2007 (Academie des Inscriptions et Belles-Lettres) Paris 2010. Mark Mersiowsky, Ausweitung der Diskurszone" um 1700. Der Angriff des Barthélémy Germon auf die Diplomatik Jean Mabillons. In: Thomas Wallnig (u. a., Hg.), Europäische Geschichtskulturen um 1700. Gelehrsamkeit, Politik und Konfession Berlin (u.a.) 2012, 447-484, 648-661.