Der Akt des Lesens als Verstehensprozess Ausgangspunkt der Theorie Wolfgang Isers ist die Dementierung dessen, der Sinn eines literarischen Textes sei eine Sache, die vom Text subtrahiert werden kann. Wer einen Text1 liest, indem er auf einen solchen Hinter-Sinn fixiert ist, greift für Iser ins Leere. Vielmehr ist es so, dass der Text strukturierte Anweisungen für die Vorstellung des Lesers bietet, über die sich der Sinn eines Textes erst zu konstituieren vermag. Der Rezipient muss sich ein Bild2 vom Sinn machen, indem er das, was in der Textstruktur (durch die schematisierten Ansichten des Autors) vorstrukturiert ist, mit Informationen aus seinem Vor- bzw. Weltwissen besetzt. Dadurch, dass Iser das literarische Werk auf die beiden Pole Text und Leser zurückführt, zeigt er an, dass es weder auf die Realität des Textes noch auf die den Leser kennzeichnenden Dispositionen reduziert werden kann. Vielmehr ist das Werk dort zu verorten, wo Text und Leser zur Konvergenz gelangen; es ist damit das Konstituiertsein des Textes im Bewusstsein des Lesers. Das bedeutet, dass es zu einer Interaktion zwischen den beiden Polen kommen muss, die sich schließlich im Verlauf des Lesevorgangs immer mehr einander annähern. Der Annäherungsprozess der beiden Größen Text und Rezipient beginnt zunächst damit, dass der Leser mit einer bestimmten Erwartungshaltung an den zu rezipierenden Text herangeht, und das heißt, er erwartet von dem Text einen bestimmten Sinn, der seinem Interesse zuträglich ist. Insofern erstellt er bereits vor dem Akt des Lesens einen eigenen Entwurf des Textsinns. „Er entwirft den Gesamtsinn voraus, sobald er ein erstes Sinnsignal im Text erkennt, an dem er sich zunächst orientiert.“3 In vielen Fällen stellt ein solches Signal etwa das Lesen der Überschrift eines Buches dar, aufgrund dessen wir es zum Lesen in die Hand nehmen. Insofern ist hier, zu Beginn des Leseprozesses, sogar eine Gemeinsamkeit vorhanden, bestehend in einem gemeinsamen Interesse von Leser und Text (man könnte an dieser Stelle auch den Text-Produzenten nennen) an dem (durch die Überschrift) umrissenen Thema. Auf der anderen Seite ist die Diskrepanz zwischen den beiden Polen Text und 1 Von hier an ist, wenn von einem Text gesprochen wird, ein literarischer Text gemeint, der vom Rezipienten ein ganz anderes Leseverhalten fordert als etwa das Rezipieren einer Bedienungsanleitung oder eines Kochrezeptes. 2 Das Bild bringt etwas in Erscheinung, das weder mit dem Textgegenstand noch mit seiner Bedeutung gleichgesetzt werden kann. Vielmehr ist es die mentale Repräsentation des Werkes (nicht des Textes). Anders als der Text, entsteht das Werk erst im Zusammenspiel mit dem Leser. 3 Bleich, S.8 Leser zu keinem Zeitpunkt so groß wie bei dem ersten Sinnsignal (es sei denn, es kommt im späteren Verlauf aufgrund von Leseschwierigkeiten zu einem Leseabbruch). Schließlich begegnen sich an dieser Stelle zwei Interaktions- partner mit unterschiedlichen Ansichten und Dispositionen, die sich erst im Interaktionsvorgang einander annähern können. In diesem dialogischen Prozess wird die Erwartungshaltung aufgrund von Unbestimmtheitsstellen ständig unterbrochen werden. In diesem Sinne beschreibt Iser den Rhythmus des literarischen Werkes als ständige Störung und deren Lösung. (vgl. Iser, S.76) Im Folgenden soll nun nicht etwa ein möglicher Interaktionsprozess dargestellt werden, sondern eine Struktur solcher Prozesse entworfen werden. Denn die Textstruktur enthält, wie bereits erläutert, in der Regel eine beträchtliche Anzahl an Unbestimmtheitsstellen, die nicht nur eine Lesart zulassen; vielmehr ist es der Fall, dass das zu rezipierende Material (mitunter) ein enormes Potential an möglichem Sinn vorstrukturiert, und damit eine Fülle von verschiedenen Interpretationen zulässt. 1.1. Das Konzept des impliziten Lesers Das Konzept des impliziten Lesers darf nicht insofern falsch verstanden werden, eine Alternative zu Leserkonzepten wie diejenigen des „idealen Lesers“ oder „informierten Lesers“ zu sein. Vielmehr ist der implizite Leser in der Textstruktur selbst begründet, weshalb eine personifizierende Bezeichnung (dadurch, dass das Konzept den Begriff des Lesers verwendet) irreführend ist. Der implizite Leser umfasst vielmehr das „Rollenangebot für seine möglichen Empfänger“. (Iser, S.61) Das heißt, der Text besitzt ein Lenkungspotential, das den Kommunikationsvorgang intersubjektiv steuert; nicht objektiv, weil auch die Leserdispositionen mit in den Text einfließen, nicht subjektiv, weil der Rezipient durch die Darstellungsweise des Autors auf eine bestimmte Ansicht verwiesen wird. Da der Leser also die Unbestimmtheitsstellen mit Informationen aus seinem Habitus auffüllt, kann die Wirkung des Textes nicht vollkommen kontrolliert werden. Am einfachsten lässt sich dieses Konzept, welches das Rollenangebot für die möglichen Rezipienten umfasst, anhand einer Struktur darstellen, die anschließend zu erläutern sein wird: Mögliche Struktur des impliziten Lesers: Text 1 2 3 Die Struktur veranschaulicht die möglichen Rezeptionswege eines fiktionalen Textes. Zu Beginn des Leseprozess, oder besser gesagt, beim ersten Sinnsignal, ist der Leser noch nahe am Text dran, da noch keine Unbestimmtheitsstelle vorliegt, die es ihm erforderlich macht, Informationen aus seinem eigenen Habitus (eigene Dispositionen) in den Text (durch das Ziehen von Inferenzen) einzugeben. Bei der ersten Stelle, die Unbestimmtheit enthält, und damit die Anschließbarkeit (bzw. die Bildung von Kohärenz) von dem ersten zum zweiten Segment des Textes4 durch den Rezipienten erfolgen muss, besteht das Werk nicht mehr nur aus dem Textmaterial, sondern darüber hinaus aus den Vorstellungen des Lesers. An dieser Stelle beginnt der Kommunikationsprozess der beiden Pole; der Text bietet dem Leser Informationen, auf die er seinerseits wiederum (durch die Eingabe von Informationen) reagieren muss, will er den Text adäquat rezipieren. Im folgenden Verlauf wird der Lesefluss schließlich immer wieder durch solche Unbestimmtheitsstellen5 gestört werden, deren 4 Zur Erklärung: Die horizontale Anordnung der Pfeile symbolisiert die Segmente des Textes, während die Freiräume dazwischen (die zur vereinfachten Übersicht mit vertikalen Linien durchzogen sind) Unbestimmtheitsstellen darstellen, die von dem Rezipienten das Ziehen von Inferenzen erfordern. 5 In dieser Stelle liegt übrigens nach Auffassung Isers der Grund dafür, dass sich etwa beim Lesen eines Krimis Spannung aufzubauen vermag. Lösung uns Erleichterung6 verschafft. Wie in der obigen Struktur zu erkennen ist, gibt es durchaus mehrere Möglichkeiten, wie ein Text verstanden werden kann. In dem vorliegenden Schaubild etwa gibt es für ein und denselben Text sieben mögliche Interpretationen; je nachdem, welcher Text gerade vorliegt, können das natürlich auch weitaus mehr oder auch weniger Interpretationsmöglichkeiten sein. Dabei kann es durchaus möglich sein, dass ein Leser auch mit teilweise unterschiedlichen Inferenzen zum gleichen Interpretationsergebnis kommt wie ein anderer.7 Des Weiteren kann es auch dazu kommen, dass der Rezipient im Verlauf des Lektüreprozesses erkennt, dass er an irgendeiner Stelle eine oder mehrere Schlussfolgerungen getroffen hat, die ihn nun an der Kohärenzbildung hindern.8 In dieser Situation muss er, sofern es nicht zu einem Leseabbruch kommen soll, mindestens einen Schritt, d.h. ein Textsegment wieder zurück- gehen, um einen anderen, Kohärenz bildenden, Leseprozess fortsetzen zu können. Unter Umständen kann es sein, dass der Leser mit der Lektüre wieder ganz von beginnen muss, um schließlich doch noch den Leseerfolg erzielen zu können. 1.2. Eine weitere Dimension der Leerstelle Ausgehend von dem soeben vorgestellten Konzept des impliziten Lesers soll im Folgenden ein weitergehender Typ der Leerstelle behandelt werden, der im Gegensatz zur Ellipse nicht einfach bloß das Einfügen einfacher Wörter aus vorangegangenen Textsegmenten verlangt, sondern stattdessen vom Rezipienten Inferenzprozesse fordert, bei denen er Informationen aus seinem Vor- oder Weltwissen in den Text eingeben muss. Solche Inferenzen, die im Unterschied zu interpretationserweiternden Inferenzen konstitutiv sind, tragen dazu bei, dass sprachliche Äußerungen überhaupt verstanden werden. Inferenzen sind Schlussfolgerungen, die über das hinausgehen, was explizit in einer 6 Dass uns der Moment, in dem wir eine Unbestimmtheitsstelle auflösen, erleichtert, ist leicht einzusehen. Wie oft lesen wir einen Text, der an manch einer Stelle äußerst mühevoll zu bewältigen ist, woraus schließlich, wenn wir sie überwunden haben, Erleichterung und sogar Vergnügen einsetzt. Letzteres spielt nach Ansicht Isers sogar eine so große Rolle, dass er das Vergnügen als ein zentrales Moment der ästhetischen Erfahrung einschätzt. 7 In der Zeichnung wird dies im Mittelteil verdeutlicht. 8 Vgl. die Prozesse 1, 2 und 3 in der eingezeichneten Struktur. sprachlichen Äußerung enthalten ist.9 Auf der Sinn-Ebene, und damit in der pragmatischen Dimension, interessieren insbesondere diejenigen Inferenzen, die gezogen werden müssen, um eine Unbestimmtheitsstelle derart mit Vor- oder Weltwissen zu besetzen, dass die Äußerung, die eine solche Stelle enthält, verstanden werden kann. Wie das folgende Beispiel zeigt, sind die hier thematisierten Folgerungen in hohem Maße abhängig von dem Kontext einer Äußerung. Auf einem Straßenschild, das etwa die Aufschrift „Langsam Spielende Kinder“ enthält, ist leicht zu ersehen, dass bei dieser Äußerung keine kohäsiven Mittel verwendet werden, um auf einen Sinn-Zusammenhang hinzuweisen. Vielmehr muss der Sinn auf der pragmatischen Ebene erschlossen werden. Die Äußerung lässt sich nur dadurch verstehen, dass der Rezipient die situativen Faktoren kennt. Er muss nicht nur wissen, dass mit dem Schild sein Fahrver- halten im Straßenverkehr angesprochen ist, sondern auch, dass der Grund dafür, dass er langsam fahren soll, spielende Kinder sind, die etwa auf die Straße laufen könnten. Erst wenn ihm diese Situation bekannt ist, kann er die Äußerung wie folgt interpretieren, und die Unbestimmtheitsstellen füllen: „[Fahren Sie] Langsam! [Hier gibt es] spielende Kinder.“ Dieses Beispiel von de Beaugrande und Dressler zeigt zwar, dass der Leser eines Textes Inferenzen ziehen muss, um die darin getroffenen Äußerungen verstehen zu können, indem er deren Abhängigkeit von situationalen Faktoren erkennt.10 Jedoch unterlassen es die beiden Autoren, die Kriterien der Intentionalität und der Akzeptabilität aufeinander zu beziehen, und damit eine zusätzliche Dimension der Leerstelle ins Spiel zu bringen, die mitunter auch als dynamische Leerstelle bezeichnet wird. 1.3. Die Negation als dynamische Leerstelle Wenn wir einen Text lesen, dann bilden wir dadurch, dass wir Inferenzen ziehen, immer auch Erwartungen auf Kommendes. Wie bereits bei dem Konzept des 9 Vgl. Rickheit/Sichelschmidt/Strohner, S.72 10 Eine solche Inferenz wird als konversationelle Implikatur bezeichnet. Im Unterschied zur konventionellen Implikatur, sind konversationelle Implikaturen situationsabhängig. impliziten Lesers erläutert wurde, kann eine Erwartungshaltung, die während des Leseaktes gebildet wird, mitunter auch durchbrochen werden, wodurch der Leser genötigt wird, seinen Blick wieder auf vergangene Textsegmente zurück zu setzen. Eine solche Erwartungsdurchbrechung entsteht immer dort, wo sich Leerstellen nicht mehr durch bloße Eingabe von Informationen aus den Wissensbeständen des Lesers besetzen lassen; und das heißt, an einer solchen Stelle im Lektüreprozess ist die Asymmetrie zwischen Text und Leser (und damit die Anschließbarkeit) derart groß, dass von einem weiteren Typen der Leerstelle gesprochen werden kann. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, erfordert das Vorliegen einer solchen Leerstelle vom Leser Inferenzprozesse, die weit über die bisher genannten hinausgehen. Wie bereits erläutert sind Leerstellen bestimmte Aussparungen im Text, die Enklaven markieren und sich so der Besetzung durch den Leser anbieten. Des Weiteren sind sie Umschaltelemente11 der Interaktion zwischen den beiden Polen Text und Rezipient; als solche steuern sie den sich entfaltenden Kommunikationsvorgang. Eine Leerstelle tritt immer dort auf, wo zwei Textsegmente miteinander verknüpft werden müssen. In dieser Verknüpfungs- funktion kommt die strukturbildende Eigenschaft der Leerstelle zum Ausdruck; nämlich dadurch, dass sie ein Feld12 erzeugt. In einem Feld wird dasjenige Segment, auf das sich der Blickpunkt richtet, zum Thema, während das andere Segment (bzw. der bisher gelesene Text) in den Horizont rückt, und für den Leser damit den Kontext für das gerade thematische Segment bildet. Durch das Umschalten zwischen Thema und Horizont werden die perspektivischen Segmente aufeinander bezogen. Die Leerstellen organisieren also die Verkettung der Segmente durch das Umspringen des Blickpunktes, und damit die syntagmatische Achse der Lektüre. Des Weiteren zieht das Repertoire13 eines Textes eine bestimmte außertextuelle Realität (Normen und Konventionen) in den Text (in neuer Anordnung) hinein und bietet damit Schemata an, die dem Leser ein bestimmtes Wissen vorgeben. Diese außertextuellen Realitäten, die in den Text hineingezogen werden, liegen auf der paradigmatischen Achse der Lektüre. Diese besteht aus den (für den Text relevanten) Konventionsbeständen, die hierarchisch14 angeordnet sind und dem Vor- bzw. 11 Leerstellen sind in dem Sinne Umschaltelemente, als dass beim Auftreten einer Leerstelle nun nicht mehr der Leser Informationen empfängt, sondern selbst welche eingeben muss. 12 Ein Feld entsteht immer dort, wo mindestens zwei Positionen aufeinander bezogen werden. 13 Das Repertoire eines Textes besteht aus Elementen, die entweder aus vorangegangener Literatur (durch Zitate und andere Verweise) oder aus den Konventionsbeständen (d. i. geltendes Wissen) entnommen wurden, wenngleich in anderer Anordnung und Verwendung. 14 Hierarchisch sind Konventionsbestände deshalb, weil sie aus über- und untergeordneten Konzepten, sowie aus den Weltwissen zugeschrieben werden können. Grob formuliert besteht die paradigmatische Achse aus dem Wissen, wie es allgemein akzeptiert und für gültig befunden wird. Bei dem Schreiben eines Textes wird aus diesem Wissen selektiert; es werden Wissens-Elemente entnommen und in einem neuen Kontext wieder verwendet (etwa bei Zitaten). Nachdem die beiden Ebenen vorgestellt wurden, die für die Negation relevant sind, soll diese nun thematisiert werden. Eine dynamische Leerstelle ist die Negation deshalb, weil sich in ihr ein Prozess der Substitution vollzieht (im Gegensatz zu anderen Leerstellen, in denen lediglich eine Besetzung mit Informationen aus den Wissensbeständen des Rezipienten vollzogen wird). Die Negation verortet den Leser zwischen einem „Nicht mehr“ und einem „Noch nicht“.15 (vgl. Iser, S.328) Die bekannte Norm wird schließlich gegen die negierte Form ausgetauscht bzw. substituiert (und in den Habitus des Lesers übertragen). Dynamischen Charakter besitzt sie deshalb, weil sie eine Umstrukturierung in den Wissensbeständen des Rezipienten vornimmt, und nicht wie bei der Verkettung von Segmenten durch das Eingeben von Informationen aus dem Habitus zur bloßen Anreicherung von Wissen führt. Die Frage, ob eine Unbestimmtheitsstelle als bloße Leerstelle oder als Negation zu betrachten ist, kann nur über den Rezipienten beantwortet werden. Um den Unterschied zwischen der Leerstelle und ihrem spezifischen Typus, der Negation, aufzuzeigen, soll auf das gegebene Beispiel von de Beaugrande und Dressler (der Aufschrift eines Verkehrsschildes „Langsam Spielende Kinder“) zurückgegriffen werden. Wie im vorangegangenen Kapitel bereits erläutert, kann der Leser in der Regel aufgrund seines Kontext-Wissens die relativ unstrukturierte Äußerung durch Besetzung der Leerstellen derart vervollständigen, dass sie für ihn verständlich ist. Bei einem Menschen mit völlig anderer Kultur bzw. anderen Wissensbe- ständen dürfte die Rezeption einer solchen Äußerung jedoch deutlich problematischer sein. Gehen wir beispielsweise von einem Mensche im Sinne Kasper Hausers aus, der sein Leben lang, wenn es um Kinder beim Spielen geht, nur Zeitlupenaufnahmen gesehen Relationen dazwischen bestehen. 15 Das bedeutet, dass in dem Moment, in dem ein Repertoire-Element aus seinem ursprünglichem Kontext herausgenommen ist und ein Segment des Textes bildet, markiert die Negation, die immer zwischen solchen Segmenten liegt, eine gestrichene Geltung. Dieses „Nicht mehr“ impliziert zugleich auch ein „Noch Nicht“, denn es ist ja gerade die Aufgabe des Lesers, eine neue Verknüpfung und damit eine neue Geltung herzustellen. hat16 ; zweifelsohne würde ein solches Individuum davon ausgehen, dass ein solches Spielverhalten real ist. Aus diesem Grund würde er ein Verkehrsschild mit der Aufschrift „Langsam Spielende Kinder“ gemäß seinem Weltwissen rezipieren, um sich anschließend über den Kontext zu wundern, in dem diese Äußerung eingebettet ist. Zum Beispiel könnte er auf einmal wild unherlaufende Kinder entdecken, und eventuell eine Veränderung im Fahrverhalten der Verkehrsteilnehmer bemerken. Dies könnte dazu führen, dass er sich die die Äußerung auf dem Verkehrsschild nochmals anschaut, um ihren Sinn zu überdenken. Ist er gewillt, den Sinn der Äußerung zu erfassen, ist er dazu gezwungen, aufgrund des neuen Kontextes nach Anknüpfungspunkten zu suchen. Dabei muss er es sich bewusst machen, dass sein bisheriges Wissen über spielende Kinder nicht mehr gültig ist. Das heißt, er muss in seinen Wissensbeständen die Verbindung zwischen den Elementen „spielende Kinder“ und „langsam“ kappen, und letzteres aus seinem Konzept von „Kind“ entfernen. An dieser Stelle erzeugt die Negation auf der syntagmatischen Achse (durch die Entfernung einer Relation17 ) eine Negation auf der paradigmatischen Achse. Der letzte und kognitiv wohl aufwendigste Schritt besteht darin, neue Relationen zu anderen Elementen zu bilden, die es ihm möglich machen, die Äußerung, dem gegebenen Kontext entsprechend, zu verstehen. Der entscheidende Aspekt dafür, ob eine Negation oder eine Leerstelle vorliegt, liegt in der Relation der Kriterien der Intentionalität und der Akzeptabilität. Während eine Leerstelle genau dann vorliegt, wenn die Bildung von Sinnkon- tinuität bloß gestört ist, entsteht eine Negation in dem Moment, im dem die Erwartungshaltung des Lesers durchbrochen wird. Diese Erwartungsdurch- brechung resultiert daraus, dass der Rezipient über ein ganz anderes Kontext-Wissen verfügt als der Textproduzent. Eine solche Informationsasymmetrie kann sowohl auf Seiten des Lesers liegen, nämlich dann, wenn gewisse Defizite bei der Textverarbeitung vorhanden sind, als auch beim Autor. Letzterer kann etwa die Einstellung haben, in dem Text zielgerichtet Diskrepanzen zu erzeugen, um die Akzeptabilität für den Leser zu beeinflussen. Dabei ist davon auszu-gehen, dass beide, sowohl der Text-Produzent als auch der Rezipient, sich auch an dem Kooperationsprinzip orientieren; der Autor aus dem Grund, dass er 16 Dieses Beispiel ist zugegebenermaßen äußerst realitätsfern, eignet sich aber gerade deshalb ausgezeichnet dazu, den Unterschied zwischen Negation und Leerstelle zu verdeutlichen. Denn je unterschiedlicher das Kontext-Wissen zwischen dem ist, welches ein Leser für eine möglichst effiziente Rezeption benötigt, und dem, welches er tatsächlich besitzt, desto stärker fällt die Negation aus. 17 Diese Entfernung einer Relation kommt dem Löschen einer Geltung gleich. Der Leser muss schließlich eine andere Verbindung aufbauen, um seine Wissensbestände neu zu strukturieren. In diesem Sinne wird er auch auf der paradigmatischen Achse durch eine Negation zwischen einem „Nicht mehr“ und einem „Noch Nicht“ verortet. will, dass sein Text gelesen wird, und der Leser, weil er die Erwartung hat, dass der Text in irgendeiner Art und Weise als stimmiger und kohärenter Text intendiert sein muss. Kooperativität ist damit eine Bedingung, die erfüllt sein muss, damit ein Text, trotz aller beabsichtigten (intendierten) und unbeabsichtigten (unerwarteten) Diskrepanzen, verstanden werden kann. 2. Schluss Sinnkontinuität lässt sich bereits auf der syntaktisch-semantischen Ebene anzeigen. Hierbei muss jedoch differenziert werden, ob die syntaktischen Mittel auch tatsächlich im Sinne der Kohäsion verwendet werden, oder ob der Zusammenhang erst auf der Sinn-Ebene, und damit in der pragmatischen Dimension, hergestellt werden kann. Wie die Analyse derjenigen Mittel, die von den Autoren de Beaugrande und Dressler als kohäsive Mittel postuliert werden, gezeigt hat, sind diese bei näherem Hinschauen oftmals bloß syntaktische Mittel, aber nicht unbedingt auch welche, die kohäsiv verwendet werden. Was die Abgrenzung der Ebene der Kohäsion von derjenigen der Kohärenz anbelangt, so hat sich nicht nur gezeigt, dass das Merkmal der Kohäsion ein bloß fakultatives ist, sondern auch, dass die Begriffe der Bedeutung und des Sinns für das Abgrenzen der beiden Ebenen voneinander entscheidend sind. Denn das Potential eines Ausdruckes dessen, was er bedeuten kann, kann erst bei der Bildung von Sinnkontinuität (etwa unter Berücksichtigung kontextueller Faktoren) konkretisiert werden. Bei der Betrachtung dieser Sinn-Ebene zeigte sich, dass Kohärenz nicht bloß ein Merkmal von Textualität ist, sondern vielmehr als Prozess des Verstehens betrachtet werden kann, der sich bei der Rezeption eines Textes vollzieht. In diesem Zusammenhang erwies es sich als sinnvoll, die beiden bloß fakultativen Merkmale der Informativität und der Intertextualität jeweils unter den obligatorischen Kriterien der Akzeptabilität und der Kontextualität zu subsumieren. Auch der Intentionalität, die entscheidend dafür ist, in welchem Ausmaß ein Text von Unbestimmtheits- stellen durchzogen ist, konnte ihre Notwendigkeit aufgezeigt werden. Neben diesen notwendigen Verstehenskriterien stand schließlich dasjenige der Kohäsion, das zwar bloß fakultativ gültig ist, aufgrund seines Vermögens, Unbestimmtheit bereits auf der syntaktisch- semantischen Ebene abzubauen, dennoch zu den Kriterien des Verstehens gerechnet wurde, so dass man summa summarum zu vier Kriterien des Verstehens kommt. In Anbetracht dessen, dass der Rezipient im Akt des Lesens als Verstehensprozess keinesfalls ausschließlich Informationen aus dem Text entnimmt, sondern immer wieder auch welche in den Text eingeben muss, um Kohärenz bilden zu können, kann davon ausgegangen werden, dass zwischen den beiden Polen Text und Leser eine Art Interaktionsverhältnis besteht. Nur so ist es zu erklären, dass es zwischen den im Text niedergeschriebenen Dispositionen des Autors und dem Habitus des Lesers, deren Verhältnis in der Regel durch eine gewisse Informationsasymmetrie gekennzeichnet ist, ein Annäherungsvorgang stattfindet. Eine solche Interaktion wird erst dadurch möglich, dass der Text Unbestimmtheitsstellen enthält, die sich der Besetzung durch den Leser anbieten. Obwohl der Text ein gewisses Lenkungspotential besitzt, kann er den Prozess der Sinn-Bildung nicht völlig kontrollieren. Die Möglichkeiten, wie ein Text rezipiert werden kann, stellt das Konzept des impliziten Lesers dar. Dass es nicht nur Unbestimmtheitsstellen auf der syntaktisch-semantischen Ebene gibt, sondern auch auf der pragmatischen, wurde, ausgehend von dem Konzept des impliziten Lesers, zum einen bei der Leerstelle und zum anderen bei der Negation, einer spezifischen Form der Leerstelle, thematisiert. Während die Leerstelle vom Leser verlangt, Inferenzen zu ziehen, um sie mit Informa-tionen aus seinem Habitus zu besetzen, sind die kognitiven Prozesse, die die Negation vom Leser fordert, bedeutend aufwendiger, Denn im Unterschied zu der Leerstelle nimmt sie eine Umstrukturierung in den Wissensbeständen des Lesers vor. Eine Negation liegt genau dann vor, wenn die Diskrepanz zwischen Autorintention und dem, was der Rezipient erwartet, derart groß ist, dass es zu einer Erwartungsdurchbrechung kommt. Das heißt, die Relation zwischen den Kriterien der Intentionalität und der Akzeptabilität tragen entscheidend dazu bei, ob es sich bei einer Unbestimmtheitsstelle bloß um eine Leerstelle handelt oder um eine Negation. Für die moderne Kognitionswissenschaft ist das Konzept der Unbestimmtheitsstelle, welches sich (angefangen von der Ambiguität durch Wörter bis hin zu der Negation) in verschiedenen Ausprägungen zeigt, insoweit interessant, weil auf dieser Basis eine Inferenztypologie entwickelt werden kann, die alle Ebenen kognitiver Prozesse bei der Rezeption von Texten erfasst. Zwar wird es sicherlich zu klären sein, inwieweit eine solche noch zu differenzieren oder auch zu erweitern ist, dürfte sie doch als Grundlage für weitere theoretisch oder empirisch orientierte Arbeiten hilfreich sein, um beispielsweise zu untersuchen, ob die Inferenzen, die beim Lesen gezogen werden, nicht-monotone Schlüsse sind, oder ob vielleicht doch das Unmittelbarkeitsprinzip (welches davon ausgeht, dass die Speicherkapazität des Rezipienten zu gering ist, um nicht-monotone Schlüsse bilden zu können) Anwendung findet. Literaturverzeichnis Beaugrande, Robert-Alain de/ Dressler, Wolfgang Ulrich: Einführung in die Textlinguistik. Tübingen: Max Niemeyer, 1981 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. München: Wilhelm Fink, 1976 Lewandowski, Theodor: Linguistisches Wörterbuch. Wiesbaden: Quelle & Meyer Heidelberg, 1994