FSC Papier aus verantwortungsvollen Quellsn FSCC083411 Ii schienen bei S. FISCHER .'. Auflage August 2014 • S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014 Satz: I »öriemann Satz, Lemförde I ii in k und Bindung: CP! books GmbH, Leck l*i iiiu-il In (iermany I'.IIN 978 ( 10 074445-6 Dieses Mal. Sie wollte alles richtig machen. Sie wollte normal sein. Nicht auffallen. Ihren Platz einnehmen. Dazugehören. Dieses Mal. Es ging nicht um sie. Niehl so wie damals. Dieses Mal. Sie musste nur funktionieren. Sie musste nur die Zeit an der Hand nehmen und sich führen lassen. Sie musste nur die Angelegenheiten entlanggehen. Dieses Mal war es keine Prüfung. Sie würde den richtigen Abstand bewahren und sich nicht in die Situation zerren lassen. Sie würde nicht am Grund der Situation zu liegen kommen und überrollt werden. Dieses Mal konnte ihr das nicht passieren. Dieses Hineinziehen in das Ereignis und dann überschwemmt sein. Schwimmend und um Auftauchen ringend. Um Luft. Das Gefühl war sofort wieder da. Damals. Das Gefühl, am iihl ick erfüllte sie eine Wut, die sie, sich selbst erstickend, i i .LH i cn ließ. Sie konnte sich nicht bewegen. Ein stechender \ 1 Schmerz unter den Rippen rechts, wenn sie nur atmete. Sie konnte nicht gehen. Stand starr. Musste starr stehen. Sie begann wieder zu gehen. Sie sollte es lernen. Sie sollte lernen, es mit den Lebenden rechtzeitig abzumachen. Die Abrechnungen zu machen, solange die da waren, und sie hätte den Opi alles fragen sollen. Alles und keine Rücksichten und hinter seinem strengen Blick auf die Suche gehen. Aber es war nie Zeit gewesen. Die Großmutter hatte schon darauf geachtet. Die Geheimnisse sollten Geheimnisse bleiben. Und jetzt war es gelungen. Die hintere Autotür stand offen. Der Onkel Stefan saß schon am Steuer. Die Omama auf dem Beifahrersitz. Sie schauten beide nach vorne. Warteten. Sie zwängte sich auf den Sitz hinten. Der Vordersitz für die Großmutter ganz nach hinten geschoben. Sie hatte gerade Platz für ihre Beine. Musste die Beine von oben in den Zwischenraum zwängen. Sie ließ sich auf den Sitz fallen. Lehnte sich in den Sitz. Schaute nach rechts hinaus zurück. Die beiden Männer von der städtischen Bestattung verschlossen die Tür zur Aufbahrungshalle. Der eine verriegelte den einen Türflügel. Der andere stand bereit, den anderen Türflügel zuzuschieben. Sie schaute. Der Onkel Stefan seufzte. Dann richtete er sich auf und drehte den Schlüssel und startete das Auto. Rollte los. Langsam. Sie drehte sich der Tür zu. Es war plötzlich wichtig zu sehen, dass die Tür zur Aufbahrungshalle verschlossen worden war. Geschlossen. Zugesperrt. Gesichert. Die Verlassenheit der Person im Sarg. I >er Schmerz unter den Rippen rechts. Einen Augenblick kein Atem. Das Auto rollte über den leeren Parkplatz. Ahorn-bäume. Lange Reihen von Ahornbäumen. Die Spitzen der Mütter herbstgelb. Sie fuhren vom Schatten der Baumreihen in die Sonnenhelle der Straße. Der Onkel beschleunigte. ' I 15 »Cornelia.« Die Großmutter wandte den Kopf nach hinten. »Cornelia. Ich habe vergessen, dir zu sagen. Die Etta kann dich, glaube ich, nicht zum Flughafen fahren.« »Was?«, fragte sie. »Und das sagst du.« Sie holte Luft. Der Ton. Sie hatte die alte Frau angefahren. »Warum erfahre ich das erst jetzt.« Sie fand sich vorgebeugt. Zwischen den Vordersitzen nach vorne sprechend. »Ja.«, sagte die Großmutter. »Die Etta hat angerufen, und ich glaube, sie hat das gesagt.« Sie lehnte sich wieder zurück. Sie musste lachen. Beherrschte sich. Konnte das Glucksen eines Kicherns gerade noch zurückhalten. Das war absurd. Das war alles absurd. Alle diese Diskussionen der letzten Tage waren damit absurd und dumm geworden. Diese ganze Quälerei. Die Selbstbefragungen. Alle diese Bewertungen und Abwägungen. Was war nun wichtig in ihrem Leben. Die ganze Familie hatte auf sie eindiskutiert. Sie in die intimsten Gespräche gezwungen. Man war auf sie eingedrungen. Wem sie nun mehr verpflichtet sei. Sich selbst oder ihrem Großvater, der ihr schließlich ein neues Zuhause gegeben habe. Der sie ins Haus genommen hatte, nachdem ihre Mutter gestorben war. Und es hatte immer so geklungen, als wäre ihre Mutter eine Verräterin, die das Leben verlassen hatte wie eine Ratte ein Schiff. Diese Frau, die hatte schließlich sie, ihre Tochter, verlassen, und sie sollte dem Mann, der sie gerettet hatte, ihre Dankbarkeit erweisen. Gefälligst. Das war die Iris-Fraktion gewesen. Die Iris, der Markus und natürlich der Gerhard. Die hatten plötzlich alles über die Dankbarkeit gewusst. Dem Stefan und dem Georg war das nicht wichtig. Sie war für die nicht wichtig, und das hatten sie auch gesagt. Dass es um die Kinder ginge und dass ein Enkelkind nicht unbedingt beim Begräbnis dabei sein musste. Dass ein Enkelkind doch schon sehr weit von dem Großvater entfernt wäre und die Verpflichtung dementsprechend. Schwach. Ihre Verpflichtung, da hinzukommen, wäre schwach. Sie könne an sich selber denken. Und dann hatten alle darüber geredet, was der Großvater selbst gemacht hätte. Wenn der Großvater eine solche Entscheidung treffen hätte müssen. Da hatte die Iris so zynisch aufgelacht und gemeint, dass der Papa sich für den Preis entschieden hätte. Für die Preisverleihung. Der wäre nicht zum Begräbnis seines Großvaters gegangen. Kalt wie er war. Gewesen war. Sie besserte sich aus. Jedes Mal, wenn die Iris über ihren Vater sprach, besserte sie sich aus der (legenwart in die Vergangenheit aus. Verschob ihren Vater in die Vergangenheit. Schluchzte dabei. Verzweifelt. Aber man wusste nicht, was für eine Verzweiflung das war. Und was solle sie nun machen, hatte sie dann gefragt. Sie halle immer nur gefragt. Sie hatte da in der Wildgansgasse mit keiner Antwort rechnen können. Es war nie zu Ende geredet worden. Es waren die Fragen immer nur aufgeworfen worden. Sie konnte riesige Erdwälle vor sich sehen. Aufgeworfen. I >ie Sicht verhindernde hohe Wälle. Das war also vorbei. Sie winde das Flugzeug nach Frankfurt nun nicht erreichen kön-nen. Es war mit der Etta ausgemacht gewesen, dass sie sie •inn Flughafen brachte, damit sie diesen Abschied nehmen konnte. I »ieser Abschied. Die Iris hatte das vorgeschlagen. Aber sie V\ iic aul jeden Fall hingefahren. Sie hatte den Opi sehen wol- '7 len. Sie hatte eine tote Person sehen wollen. Sie hatte wissen wollen, wie das war. Damit sie es von der Mami. Sich vorstellen. Wahrscheinlich hatte sie ihre Mutter da geküsst. Gerade vorhin. Nicht den Opi. Die Iris und der Markus. Die hatten ihr das als Strafexpedition verpasst. Die hassten sie. Die waren eifersüchtig. Die hatten es nicht ausgehalten, dass sie da als Kind im Haus gelebt haben sollte. Die waren missgünstig. Richtig missgünstig. Und jetzt hatten sie ihr Ziel erreicht. Und die Großmutter war auch zufrieden. Für die war sie nicht mehr existent. Für die lebte sie gar nicht mehr. Mit dem Tod ihres Mannes war für sie auch das Mündel verstorben. Sie konnte nicht mehr sagen, dass ihr Mann die Tochter ihrer Tochter ins Haus nehmen habe müssen. Es wäre ja sonst niemand da. Diese Tochter habe sich ja geweigert, den Vater dieses Kinds einzuspannen. Dem hätte man sie ja auch schicken können. Der hätte nur zahlen dürfen. Die Mindestrate. Sie. Sie hätte den zur Verantwortung gezogen. Aber ihr Mann. Der hätte schon immer an dieser Tochter einen Narren gefressen gehabt. Da könne man nichts machen. Dabei gäbe es noch die Halbgeschwister von der Cornelia. Die anderen Enkelkinder. Die wären auch noch da. Aber da hätte die Cornelia das Gymnasium nicht fertig machen können. Weil die in England und in Griechenland lebten. Verstreut wären die, und man hätte kaum Kontakt. Auch das immer nur Undankbarkeit. Sie hätte immer nur Undankbarkeit geerntet. Und dann hatte sie geseufzt, und jeder hatte die Großmutter als Ehefrau ihres Manns bewundert, wie sie nun diesen Schicksalsschlag wieder ertragen würde. Aber niemand war auf die Idee gekommen, dass die Tochter dieses Vaters auch ihre Tochter gewesen war. Ihre Mutter war wie Athene nur mit dem Vater verbunden gewesen, und der hatte sie als Pflicht angesehen. Der hatte ihre Romane nicht gelesen, weil sie die nicht unter seinem Namen geschrieben hatte. Deswegen stand auf dem Grab Dorothea Holzinger, und niemand konnte Dora Fehn, die Autorin, finden. Ihr Vater hatte sie hinter seinem Namen versteckt. Hatte die Selbstbenennung seiner Tochter aufgehoben. Sie fuhr sich über den Mund. Ließ die Fensterscheibe hin-untergleiten. Schaute hinaus. Es war nichts anderes zu erwarten gewesen. Sie würde nun nicht zum Deutschen Buchpreis kommen, und damit war sie draußen. Wenn man da nicht anwesend war, dann konnte man nichts bekommen. Und sie hatte sowieso nur Außenseiterchancen. »Außenseiterchancen.«, hatte der Gruhns ins Telefon geschrien. »Wir haben nur Außenseiterchancen, aber die werden wir nutzen. Das kann ich dir versprechen.« Und warum war dieser Mann immer per du mit ihr. Sie sagte Sie. Aber jetzt würde sie gar nichts sagen. Und zum Begräbnis vom Opi würde sie auch nicht ge-lit'ii. Diesen Sieg. Den konnte sie den Dankbarkeitsfanatikern nii In lassen. Sie musste ein Taxi nehmen. Was kostete ein Taxi n.u h Schwechat zum Flughafen. Sie hatte noch 400 Euro. Das letzte Geld vom Opi. Vordem Spital hatte er ihr noch Geld ge-Ten. Viel Geld. Eigentlich. Aber es hatte für die fünf Monate »einer Krankheit gerade gereicht. Von der Großmutter bekam ii Muhls. Die rechnete nach, wie viel sie auf ihrem Konto ha-I" n musste. Die Waisenrente. Die Alimente kamen ja nicht 18 19 mehr. Seit sie achtzehn geworden war, war der gesetzliche Kähmen für einen Deutschen erfüllt gewesen. Den hätte sie auch sehen sollen. Diesen Vater. In Frankfurt. Weil der ein Frankfurter war. Der hatte auch ein plötzliches Interesse entwickelt. Wegen dem Preis. Dachten all diese Leute, dass sie das nicht sah. Hielten die sie für so dumm, dass sie glaubte, die hätten ein echtes Interesse an ihr. Aber warum hatte die Etta die Fahrt zum Flughafen abgesagt. Dieser Schulfreund des Großvaters musste doch abgeholt werden. Hatte der seine Teilnahme am Begräbnis abgesagt und kam nicht. Sie war müde. Müde. Das war ein schönes Wort. Da war die Müdigkeit wörtlich eingefangen. Sie war müde. Sie schaute hinaus. Sie fuhren den Bahndamm entlang. Die späte Hitzewelle hatte alle Pflanzen endgültig zu Stroh werden lassen. Nichts Grünes zu sehen, und die Büsche vertrocknet fleckig braune Blätter. Links. Auf der anderen Straßenseite. In den Gärten. Blumen. Sträucher. Bäume. Das Gras. Alles grün und herbstfarben bunt. Auf ihrer Straßenseite nur Trockenheit und Stroh. War das eine Weissagung. War das ein Omen. Für ihr Leben. Oder war das einfach nur die Beschreibung ihres Lebens. Sie trauervertrocknet, und das blühende Leben immer auf der anderen Seite. Da. Wo sie nicht war. Sie sah die ausgetrocknete Böschung hinauf und konnte kein Ende von sich spüren. Die Traurigkeit vor der Brust reichte nach vorne. Ohne Ende weit nach vorne. Sie wünschte sich, sie könnte dieses Gefühl zu einem kleinen Punkt zusammenballen und sie könnte diesen Punkt nehmen und werfen. Eine Bombe 2() und werfen. Line Waffe. Sie wünschte sich eine Waffe. Sie wünschte sich diese Waffe und wollte sie immer mit sich führen. Zu ihrer Gerechtigkeit. Sie wollte sich Gerechtigkeit verschaffen. Sich und ihrem Leben und aus diesen Umständen hinaus. Sich und ihrer Geschichte Gerechtigkeit verschaffen. Sie hatte gedacht, mit dem Preis für ihren Roman könnte sie das erreichen. Aber diese Leute da. Diese Tanten und Onkel und Großmütter und diese vielen anderen. Die lebten mit einer anderen Währung. Die waren nicht beeindruckt. Die setzten alles außer Kraft mit ihren Bewertungen. Für die galt nichts. Die Iris hatte gesagt, es wäre schön, dass so ein Zufalls-erfolg die Cornelia getroffen hätte, aber sie. Sie. Die Iris. Sie habe eben noch nicht zu schreiben begonnen, und deshalb habe die Cornelia das Feld. Als hätte sie ihr den Preis überlassen. So hatte sie das gesagt. Zum Markus natürlich. Direkt zu ihr hätte sie nur Freundlichkeiten gesagt. Irgendwelche Freundlichkeiten, die weh taten. Sie lehnte sich vor und schaute auf die Uhr auf dem Armaturenbrett. Es war 5 Minuten vor 11 Uhr. Der Flug um 14.10 Uhr. Sie war eingecheckt. Sie hatte nur Handgepäck. Wenn sie um 13 Uhr auf dem Flughafen war, dann musste das 1 eichen. Sie hatte den früheren Flug um 12.55 Uhr haben wollen, aber der Gruhns hatte gemeint, dass der spätere I lug schon ausreichen würde. Und außerdem könne man da l" Euro sparen. Sie hatte drei Stunden. Da musste sie hin-I ommen können. Der Onkel hielt mit einem Ruck an einer Stopptafel, und sie fiel nach vorne. Über ihre eingeklemmten Itcine. Sie setzte sich auf. Plötzlich. Sie hatte große Lust zu töten. Sich. Diese alte Frau. Den Onkel. Alles in die Luft und Schluss. Rotblutige Fetzen in der Luft und aus. »Mit der S-Bahn müsste es sich ausgehen.«, sagte der Onkel und bog in die Vorrangstraße ein. »Das schaffst du so. Ich. Du weißt. Ich kann nicht.« Sie nickte. Ja. Sie flog nach Frankfurt. Sie war für den wichtigsten Preis im deutschsprachigen Literaturbetrieb nominiert. Sie war die jüngste Person, die da je nominiert worden war. Ihre Mutter hatte das erst mit fünfundfünfzig geschafft gehabt. Jetzt ging es um ihre Zukunft, und alles andere war gleichgültig und nebensächlich, und der Onkel Stefan hatte das verstanden. Sie hätte ihn umarmen mögen. Er bremste vor der Ampel in die Bahnhofstraße. »Stefan. Pass doch auf. Du bringst uns noch um.« Dass man wirklich keinen Unfall brauchen könne, sagte die alte Frau, und dann seufzte sie wieder. »Ja.«, sagte der Onkel und wartete auf die Ampelschaltung. Sie überlegte auszusteigen. Zu gehen. Zu laufen. Sie hätte alles mitnehmen sollen und hier beim Bahnhof aussteigen und wegfahren. Sie schüttelte den Kopf. Sie wusste doch, dass man seine Sachen immer mithaben sollte. Sie hatte einen Roman darüber geschrieben. Warum war sie ohne irgendetwas auf diesen Friedhof mitgefahren. Warum war sie überhaupt hingefahren. Diese Zeit. Diese Leute. Das war Vergangenheit. Sie begann ein neues Leben. Sie hätte sich nicht mit dem Küssen einer Leiche davon verabschieden müssen. Sie war eine theatralische Person. Und. Sie beugte sich vor. »Was hat die Etta wirklich gesagt.« Sie schaute auf die Großmutter hinunter. Die hob die Achseln. Ließ sich wieder zusammensinken. Sie wüsste es nicht mehr genau, sagte sie. Und dann schwieg sie. Sie setzte sich wieder nach hinten. Das war es wohl. Sie hätte den Großvater nicht küssen dürfen. Sie konnte am Ton der Großmutter erkennen, dass etwas nicht stimmte, und sie war sicher, es ging um die Totenvisite. Sie hätte es wissen müssen. Niemand drängte sich beim Großvater vor. Und es war eigentlich ein Glück, dass nur der Onkel Stefan mitgewesen war und das alles gesehen hatte. Der Onkel Stefan redete nicht. Nicht viel. Er würde nichts sagen. Aber die beiden Männer von der Leichenbestattung. Die waren Öffentlichkeit. Die konnten reden. Die würden reden, und was geredet wurde, das war wichtig. Wie war das mit dem alten Direktor Holzinger im Sarg. Wer war denn dagewesen. Bei der Visite. Was hat die Witwe denn gemacht. Wie war es der Witwe ergangen. So traurig, last siebzig Jahre verheiratet. Es wird sie jetzt auch bald erwischen. Die wird das nicht lange machen. Ohne ihren Ehemann. Ohne ihren Gatten. Ach, würde dann der eine Mann von der Bestattung sagen können. Wirklich traurig. Wirklich traurig wäre nur diese Enkelin gewesen. Dieses späte Kind von der verstorbenen Tochter. Dieser Spätling von Enkelkind. I >ie anderen. Die wären gefasster gewesen. Die hätten nur geschaut. Aber die Enkelin. Die hätte ihn'noch geküsst. Auf die Stirn. Bewegend. Sehr fjewegend wäre das gewesen. Das i I.K hie sich die Omama gerade. Nein. Das dachte sie nicht. 1 las malte sie sich aus. Das hatte sie sich schon während des 22 23 von der Hand gehen.« Immer kam ihr die Frage des Gelds dazwischen. Sie brauchte einen Vorschuss. Der Gruhns bekam ja Geld für die verkauften Bücher. Längst hatte der schon einiges kassiert, und nach dem Vertrag bekam sie ihr Geld erst nach Weihnachten. Sie brauchte es vorher. Sie brauchte es jetzt. Wieder eine Rolltreppe. Sie musste die S8 oder die S9 finden. Einen Ticketautomaten. Alles war Glas und Aluminium und dünn. Die Bahnsteige langgezogen. Zugig. Man fühlte sich winzig, und sie war an den Ticketautomaten vorbeigegangen. Sie ging zur Rolltreppe. Fuhr hinauf. Fand den Automaten. Musste warten. Fuhr wieder zum Bahnsteig hinunter. Sie hatte keinen Zug versäumt. Dieselben Leute standen noch da und walteten. Sie sah den Mann aus dem Flugzeug auf der Rolltreppe herunterfahren. Sie ging nach hinten. Ans Ende des Bahnsteigs. Sie wollte nicht reden. Worauf hatte sie sich da eingelassen. Es war absurd. Da stand sie mit ihrem Rollköffer-chen, aus dem sie auch einen Rucksack machen konnte, und fuhr in eine Stadt, in der sie niemanden kannte, aber einen Vater hatte. Der hatte sich beim Gruhns gemeldet und ihr ausrichten lassen, dass er sie sprechen wolle. Der Gruhns war völlig fertig gewesen, dass der Rüdiger Martens ihr Vater war. »Dora Fehn und Rüdiger Martens.«, hatte er immer wieder ausgerufen. Er hatte sich gar nicht beruhigen können. Das war so wichtig für ihn geworden, dass sie die Frage wegen des Gelds nicht stellen hatte können. Aber es war ja vielleicht ohnehin falsch, solche Dinge am Telefon zu besprechen. Sie musste sich hinsetzen mit diesem Mann und ihre Situation besprechen. Der Herbert war ganz entsetzt gewesen, dass sie überhaupt keinen Vorschuss bekommen hatte. Für ihren Roman. Ja, dass sie noch keinen Cent gesehen hatte. Das Flugticket und die Übernachtung bis morgen. Das wurde von dieser Buchmarketingagentur bezahlt. Deswegen hatte sie auch nicht verstanden, warum der Gruhns beim Ticket sparen hatte wollen. Es war ja gar nicht sein Geld. Es war ja das Geld von dieser Agentur. Diesem Börsenverein. Oder lief das über sein Konto, und er. Zweigte ab. Zweigte der Geld ab. Sie kannte diesen Mann ja nicht. Er war einmal nach Wien gekommen. Nach der Nominierung für die Longlist. Sie waren zu Abend essen gegangen, aber sie hatte nach Kaiserbad zurückfahren müssen und war um 9 Uhr zur U-Bahn gegangen. Er war im Cafe Engländer sitzen geblieben und war nicht mit ihr mitgegangen. Sie sei doch eine junge Person, und er wäre all. Sie müsse das schon verstehen. Er wäre so alt, wie ihre Mutier heute wäre, und müsse von vorne anfangen. In seinem Aller noch einen Verlag gründen, das mache ihn erschöpft und oli ratlos. Sie. Nelia Fehn. Sie sei ja sein Lichtblick. Er hatte viel getrunken gehabt. Grüner Veltliner. Viele Achterln. Der Wiener Wein wurde von Leuten aus dem Ausland oft unterschätzt. Ihr war das lieber gewesen. Sie ging gerne allein durch die Nacht. Das war in Athen so schön gewesen. Sie hatte ja keine Angst. Es hatten so viele Leute Angst für sie, dass sie sich das sparen konnte. Am schlimmsten war die Großmutter gewesen. Ms hätte sie sich gewünscht, dass sie überfallen oder vergewal-ligl worden wäre. Und wahrscheinlich war das genau so. 51 10 Sie war glücklich. Sie saß da und war glücklich und hörte nichts. Außen. Sie hörte den Namen nicht. Sie konnte nichts hören. Gar nichts. Sie schaute weiter auf den Rücken der Frau vor ihr. Schaute auf den graufilzigen Wollstoff. Auf den Hinterkopf. Blonde Strähnchen. Darunter grau. Die Haare ver-nestelt. Als wäre die Person lange gelegen und hätte sich die Haare nicht ausgebürstet. Solche Sachen passierten beim Älterwerden. Sie hatte der Mami immer die Ränder der Foundation ausbessern müssen. Die Mami hatte das alles so gemacht wie immer, aber die Brille nicht aufgesetzt. Die Mami hatte sich selbst nicht mehr so genau gesehen. Ohne Brille. Sie hatte sich auch nicht mehr mit zwei Spiegeln die Frisur am Hinterkopf angeschaut. Das lange Haar nicht bemerkt, das am Kinn immer wuchs. Aber die Mami hatte sie gehabt. Sie hatte nachgesehen. Sie war um die Mami herumgegangen. Sie hatte ihr die Haare von den schwarzen Jacken weggepickt. Die Mami hatte sich auf sie ver lassen können. Immer. Rund um sie wurde geklatscht. Sie klatschte mit. Sie schlug die Hände gegeneinander und sah gleich, dass sie wie ein klei nes Kind klatschte. Als freue sie sich. Und. Sie freute sich. Sie hatte es geschafft. Sie hatte es gerade noch geschafft. Es war knapp gewesen. Ein knapper Zieleinlauf. Ein sehr knapper Zieleinlauf. Ein Fotofinish. Aber noch bevor der Mann da vorne mit dem Aussprechen des Namens begonnen hatte, hatte sie jeden Wunsch aufgegeben gehabt. Sie hatte die Hoffnung aufgegeben gehabt. In einer Geste. Mit aller Kraft. Sie hatte die Hoffnung weggeschleudert. Von sich geschleudert. Sie war noch beim Schleudern gewesen, als der Mann mit dem Namen begonnen hatte. Sie hatte es gerade noch geschafft. Sie merkte, dass sie atemlos war. Als wäre sie sehr schnell gelaufen. Und das war sie ja auch. »I don't know how to say it exactly. Only ... I want to die as myself. I don't want them to change me in there. Turn me into some kind of monster that I'm not. I keep wishing I could (Ii ink of a way to ... to show the Capitol that they don't own me. That I'm more than just a piece in their games.« Sie konnte Peeta Mellark vor sich sehen. Im Profil. Gegen die Nacht hinter dem Panoramafenster. Im Luxusschlafzimmer des Teams aus Distrikt 12. Und sie wünschte sich noch immer, dass der Katniss-Everdeen-Charakter diese Sätze sagen hätte können. Aber auch in den Hunger Games war es nur der Mann, der sich entwickeln konnte. Von dem gab es eine Vorstellung. Es gab eine Vorstellung, wie ein Held aussehen musste. Da wusste man, was er erfüllen musste. Oder konnte. (>der nicht wollte. Seine Taten konnten gemessen werden. Die Hinge Frau. Die jungen Frauen. Entweder machten die ohnehin nur einfach mit und verschwanden darin. Und wenn im In. Es gab keine Norm für sie. Eine Heldin. Für die Heldin 94 95 genügte es, dass sie siegte. Vorher musste sie sich mütterlich aufgeführt haben. Tränen mussten geflossen sein. Aber mehr. Mehr war nicht verlangt. Eine junge Frau konnte sich nicht an einer Norm beweisen. Eine junge Frau konnte sich anstrengen, soviel sie wollte. Die konnte noch besser als alle, alle Männer sein. Eine junge Frau trat immer außer Konkurrenz an. Sie musste außer Konkurrenz antreten, und dann zählte es nicht. Wie gut sie war. Wie perfekt. Wie viel perfekter als alle. Und das. Das machte es so ungerecht. So unfair. So total und vollkommen unfair. Sie war nicht im Spiel. Ihre Teilnahme. Das zählte nicht. Und das war das eigentliche Problem. In den Hunger Games. Jedenfalls. Es wurde applaudiert. Die freundliche Schriftstellerin hatte gewonnen. Sie applaudierte gern. Vorne. Es war ein Murren zu hören. Es wurde heftiger applaudiert. Gegen die Pangäa-Schriftstellerin. Die rief etwas zur Bühne hinauf. Der dicke Mann hinter dem Rednerpult stand lächelnd da und hielt das Kuvert wieder hoch. Er lachte. Die Pangäa-Schriftstellerin stand auf. Jemand neben ihr zog sie wieder auf den Sitz zurück. Sie befreite sich wieder und rief etwas. Stehend. Eine Hand zur Faust geballt. Es war aber nicht zu verstehen, was sie rief. Der Applaus schwappte über ihr Rufen. Sie schrie noch einmal etwas zum Podium hinauf. Der Applaus übertönte sie. Die freundliche Schriftstellerin hatte ihren Kopf gebeugt und saß zusammengesunken in der zweiten Reihe. Sie saß genau hinter der Pangäa-Schriftstellerin, die ihre Wahl so heftig ablehnte. Und natürlich war das keine Wahl. Das war eine Auswahl. Das klang nur demokratisch. Aber warum führte sich die so auf. Sie holte tief Luft. Sie identifizierte sich mit vollem Herzen mit der freundlichen Schriftstellerin, und sie buhte gegen die Pangäa-Person mit. Die war stehen geblieben und hatte sich zum Publikum umgedreht. Der Applaus wurde noch stärker. Brandete gegen die Frau in der ersten Reihe. Das war auch nicht richtig. Irgendwie war mit einem Mal alles falsch. Aber die Pangäa-Schriftstellerin, die da stand. Sie war dunkelrot im Gesicht. Sie stemmte ihre Arme in die Taille. Wollte etwas sagen. Sie schaffte es nicht. Sie kam gegen den Applaus nicht an, und sie stapfte dann davon. Hinaus. Wütend. Der Applaus wurde noch einmal stärker. Dann deutete der Mann am Rednerpult, man solle aufhören. Der Applaus endete nur langsam. Und es wurde geredet. Der Saal summte vor Geflüster und Gelächter. »Nerven verloren.« »Immer schon.« »Kennt man von ihr.« »Die ist so.« »Kann nichts aushalten.« »Extrem konkurrenzgetrieben.« «War zu erwarten.« »Verlagskonkurrenz.« »Übertrieben.« Es wurde über die Pangäa-Schriftstellerin geredet und nicht über die Preisträgerin. Der Mann am Rednerpult wartete. Schaute in den Saal. Deutete mit den Händen, leise zu sein. Dann erstarb das Gerede und Gezische. Er. Er gratuliere der Preis-i rägerin, sagte er dann. Er wolle noch einmal daran erinnern, dass die Aufnahme in die Shortlist den eigentlichen Preis-rewinn darstelle. Der Preis dann. Der spiegle nur noch die Meinung einer Gruppe wider. Einer Gruppe hochkarätiger I .u hlcute. Deren Entscheidung. Die könne man immer auch iiiilers sehen. Aber gegen diese Meinung zu protestieren, das hielse, den Sinn dieses Preises misszuverstehen. Misszudeu- 96 97 ten. Es wären doch sechs durchaus gleichwertige Romane zur Wahl gestanden, und die Wahl sei nun auf Eva Lichterloh gefallen. Er gratuliere und lade Frau Lichterloh nun ein, diesen Preis entgegenzunehmen. Lichterloh. Das war der Name. Sie hatte diese Schriftstellerin um ihren Namen beneidet. Lichterloh. So hätte sie auch heißen wollen. Aber sie hatte keine Wahl gehabt. Sie hatte natürlich den Namen ihrer Mutter annehmen müssen. Als Autorin hatte sie zumindest so heißen müssen, wie ihre Mutter sich das ausgesucht hatte. Oder wie es ihr widerfahren war. Die Mami hatte ja über den Namenssalat lachen müssen, der durch ihre Geburt entstanden war. Sie hatten beide gelacht, wenn sich jemand wieder gewundert hatte, dass die Tochter nach dem Vater der Mutter hieß, während die Mutter den Namen ihres ersten Manns trug. Uneheliche Geburt. Sie hatten zusammen überlegt, ob das der Fall war. Ob die Geburt. Der Vorgang des Zur-Welt-Kommens unehelich ein anderer war als ehelich. Und die Mami hatte das verneint. Ihre Geburt wäre die einfachste gewesen. Ruhig und problemlos. Während die Sidi und der Georg. Da war es immer dramatisch hergegangen. Obwohl sie ehelich gewesen waren. Und sie hatten das richten wollen. Die Mami hatte ein Namensgebungsverfahren begonnen. Die Formulare waren herumgelegen. Lange. Weil nie jemand Zeit hatte. Für so etwas. Und dann war es zu spät gewesen. Alles versäumt. Alles. Eva Lichterloh war sitzen geblieben. Die Frau neben ihr redete auf sie ein. Zog an ihr. Versuchte sie in die Höhe zu zic hen. Eva Lichterloh ließ den Kopf hängen. Und sie verstand das. So angegeifert worden zu sein wie von dieser Pangäa-Per-son. Und die schrieb nicht einmal so gut wie diese Lichterloh, jedenfalls nicht so ehrlich. So einfach und kunstlos ehrlich. Das von der Pangäa-Schriftstellerin. Das war so gekünstelt altmodisch. Das war schon für den alten Germanistikprofessor in Pension gemacht. Pirouetten vor den Großvätern hatte die verfasst. Diese Pangäa-Tante. Die schrieb ja nicht. Die verfasste das. Diese Lichterloh. Die lebte ihren Text. Die hatte ihren Text gelebt, und dann las man wenigstens eine Wahrheit. Eine ldeine, winzige Wahrheit. Aber dann doch. Und sie. Sie selbst. Sie war frei. Sie war jetzt frei. Sie schaute Gruhns an. Sie musste lachen. »Sie haben doch nicht erwartet, dass ich das bekommen kann. Oder?« Gruhns deutete ihr, still zu sein. Eva Lichterloh saß noch immer auf ihrem Platz. Die Frau, die mit der Pan-gäa-Schriftstellerin mitgekommen war, hatte sich zu ihr umgedreht und redete auch auf sie ein. Der Mann hinter dem Rednerpult stand abwartend. Er beugte sich zum Mikrophon und wollte gerade etwas sagen. Da stand Eva Lichterloh auf. Applaus brandete auf. Laut. Bestimmt. Sie solle da jetzt hin-a nlgehen und diesen Preis nehmen und sich nicht beirren lassen, sagte dieser Applaus. Aber es war natürlich schwer für sie. I >er Preis war irgendwie kaputt. Sie war sicher, dass das alle so i mpfanden. (iruhns schrie »Bravo. Bravo.«. Andere stimmten ein. Es war wie in der Oper. Da schrien die Leute auch immer gegen die anderen, die gebuht hatten. Aber sie schrie mit. Und dann 98 99 stand sie auf und applaudierte. Eva Lichterloh drehte sich um. Sie musste sich aus der Reihe herauszwängen und kam an ihr vorbei. Sie beugte sich über die Frau vor ihr und umarmte Eva Lichterloh. Das wäre alles zu blöd, flüsterte sie der Frau zu. Wenigstens freuen solle man sich über eine solche Sache können. Eva Lichterloh zuckte zuerst zurück. Dann legte sie einen Arm um ihre Schultern. Die Frau im Sitz vor ihr beugte sich zur Seite. Machte Platz für die Umarmung. Dann wandte die Schriftstellerin sich ab und ging nach vorne. Man hatte sehen können, dass sie müde war. Dass sie das alles müde gemacht hatte. Sie sah erschöpft aus. Ihre Haare waren in der kurzen Zeit zu fettigen Strähnen geworden. Oder war es Schweiß, der ihr die Haare verfilzte. Eva Lichterloh stieg zum Podium hinauf. Sie nahm die Mappe von dem stattlichen Mann entgegen. Schüttelte seine Hand. Sie wandte sich dem Publikum zu. »Danke.«, sagte sie. Es war kaum zu hören. Dann stieg sie vom Podium herunter. Ob sie nicht etwas sagen wolle. Zu diesem Preis. Zur Jury. Zu ihrer Arbeit. Zu ihrem Roman. Eva Lichterloh schüttelte den Kopf und ging zu ihrem Platz. Sie drängelte sich zu ihrem Platz zurück. Sie schaute sich nicht um. Setzte sich. Der Mann am Mikrophon gratulierte ihr noch einmal. Damit sei man am Ende dieser Preisverleihung angekommen. Und sei es nicht toll, wie viel Drama Literatur herstellen konnte. Sei es nicht bemerkenswert, wie lebendig das literarische Leben in Wirklichkeit sei. Er jedenfalls. Er gratuliere allen, die an diesem Wettbewerb teilgenommen hatten, sehr herzlich und wünsche nun noch einen harmonischen Abend bei Essen und Wein. Harmonisch. Das sagte er ironisch und alle lachten. »Teilgenommen.«, fragte sie Gruhns. »Ich habe nicht teilgenommen. Mich hat doch niemand gefragt.« Sie schaute (iruhns an. Sie saßen beide. Rundherum standen alle auf. Redend. Rufend. Lachend. »Doch.«, sagte Gruhns. »Ich habe dich eingereicht. Das wird so gemacht.« Sie stand auf. Schaute auf Gruhns hinunter. I >ie Preisträgerin wurde umringt. Sie wurde weggedrängt. Sie ging nach hinten davon. Es war also doch ein Misserfolg. Es war. Sie fühlte sich betrogen. Verlassen. Eigentlich, und sie verbot sich das Gefühl sofort. Das half aber nicht viel. Sie hatte also etwas nicht bekommen. Und sie hatte gar nicht gewusst, dass sie sich beworben hatte. Sie hatte sich nicht ent-m beiden können. Und dann hatte sie es nicht rechtzeitig abgelehnt. Da konnte sie sich selbst besiegen, sooft sie wollte. I >as alles. Ihr innerer Kampf. Ihr inneres Ringen. Es war nur ein (leheimnis mehr. Ein in ihr verschlossenes Geheimnis. Je-iii.ind anderer konnte davon nichts wissen. Es war nichts davon zu sehen. Für die anderen. Da war sie eine Bewerberin, die abgelehnt worden war. Die Wahrheit konnte niemand issen, und einen Augenblick verstand sie in ihrem vollkommen entleerten Blick die leeren Blicke von Verurteilten. Aber dann war die Wut auf Gruhns doch größer. So etwas musste man doch wissen. So etwas musste man doch besprechen. Wenn sie das gewusst hätte. Sie hatte gedacht, sie käme durch ■ in literarisches Auswahlverfahren auf diese Liste. Sie hatte In hl, die Jury las alle Bücher, die in einer Saison erschie- 100 101 tete nicht auf die Fußgängerampel. Ein Paar musterte sie ärgerlich. Sie standen und warteten auf die Fußgängerampel. Stumm standen sie am Straßenrand und warteten. Waren wütend auf sie, die nicht wartete. Aber es war weit und breit kein Auto zu sehen. Sie ging am Theater vorbei. Die Wolkenkratzer von einem dünnen Nebel umgeben. Die Leuchtschilder oben verschwommen. Farbflecken in den Wolken. Sie war allein. War es schon so spät. Aber es war schon spät. Das Theater geschlossen. Alles dunkel. Keine Vorführung heute. Ein weißes Schild hinter der Tür. Vorführung. Oder war Aufführung besser. Aber es ging um Führung. Gefecht. Nachschub. Führung. Sie schaute hinauf. Der Türm der Deutschen Bank. Welcher war der Turm der Deutschen Bank. Sie kannte das Logo der Deutschen Bank nicht. Trapeza. Das hieß Bank. Bankhaus. Und die griechische Nationalbank. Die war 1941 der Deutschen Bank unterstellt worden. Aber das war wahrscheinlich in Berlin gewesen. Das wusste sie nicht. Sie musste das nachschauen. Damals war doch sicherlich alles in Berlin zusammengefasst gewesen. Und jetzt war das ja wieder so. Und da oben. Sie drehte sich um sich. Suchte nach dem höchsten Turm. Da oben. Da wurde entschieden, ob Marios und seine Familie in Athen bleiben konnten oder ob sie nach Kreta zurückgehen mussten. Wegen der neuen Grundsteuern. In das Häuschen von den Großeltern. Das aber die Kusinen und der Stelios längst als ihren Besitz gedacht hatten. Weil die Athener kaum mehr einmal im Jahr dahin gekommen waren und sich darum gekümmert hatten. Sie war falsch gegangen. Sie blieb stehen. Schaute im iPhone nach. Sie war in eine Gutleutstraße geraten. Fassaden ohne Türen. Ein Turm mitten auf dem Gehsteig. Blumen in einer Auslage. Wer kauft hier Blumen. In so einer Wüste. Sie fand den Weg. Ging. Das iPhone in der Hand. Gutleutstraße. Hier war sie endgültig allein. Mit den Autos. Die fuhren schnell und hatten alle Halogenscheinwerfer. Es konnte ihr Vater hinter einem solchen Halogenscheinwerfer sitzen und in ihr vorbeifahren. Sie fühlte sich schlecht. »Ich fühle mich schlecht.«, musste sie zu sich selbst sagen. Schlecht. Elend. Hatte sie doch etwas ei wartet und war nun enttäuscht und deshalb elend. War sie jetzt in diesen Augenblick geraten, an den alle dachten, wenn man die Personen auf Bühnen oder Fernsehschirmen sah. Der Augenblick, in dem die Kandidaten allein waren. Danach. Der Augenblick, in dem die Kandidatinnen sich aus den Umarmungen der Mitbewerberinnen gelöst hatten und ihre Koffer ii.u h/iehend davongingen. War sie jetzt geradeso eine Kandidatin. Line aus »Bauer sucht Frau«. Eine, die nicht ausgesucht worden war. Eine, die nun ohne den Bauern fürs Leben nach I lause gehen musste. Ohne den Millionär, der dann ohnehin I einer gewesen war. Eine, die nun kein Model werden durfte. Icricnfalls nicht nach dem Urteil von Heidi. Das war doch der Augenblick, um den es ging. Das war der Augenblick, den jede l'i 1 on gegenwärtig hatte. Im Urteil. Das war es doch, worum 1 h ging. Um den Weg zur Vollstreckung. Die Bestrafung, nun ii der normal sein zu müssen. Nach der Prominenz und der Au Ii nerksamkeit sich wieder einordnen zu müssen. Nicht aus-ihll. Sie war nicht auserwählt. 128 129 schaute böse zurück. Er sollte jetzt nichts sagen. Sie wollte nichts hören. Sie beugte sich über den Kuchenteller. Es lief aui Herablassung hinaus. Herzig. Sie sollte herzig sein. Das war ti doch, was diese Art zu reden für die Deutschen hatte. Herzig keit. Süaß. Was für ein Missverständnis. Ihr Vater holte sie im Haus, weil er ein süßes Wiener Mädl erwartete. Sie lehnte sich zurück. Ob sie denn keinen Kuchen essen wolle. Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«, sagte sie. Nein danke. Sie äße nichts aus normalen Konditoreien. Bei den normale! Konditoreien. Da könne nicht ausgeschlossen werden, dasi tierische Produkte mitverwendet worden wären. Es sei sogai ziemlich sicher, dass in der Vanillecreme tierische Gelatine verwendet worden war. Ob sie immer so streng sei, fragte ei. Im deutschen Lebensmittelgesetz gäbe es schließlich keine verpflichtende Regelung zur Kennzeichnung von Zutaten tierischen Ursprungs in den Produkten, antwortete sie. Sie nahm einen Schluck vom Tee. Der Tee war gut. Stark. Aroma tisch. »Deine verstorbene Frau hatte einen guten Geschmack beim Tee.«, sagte sie. Er schob seine Tasse von sich weg. Ei holte Luft. Sie schaute auf ihr iPhone neben dem Kuchen tel ler. »Einen Augenblick.«, sagte sie und ging durch das Ziminei zu den Fenstern vorne. Sie tippte auf das Display und wischt« dann weiter. Sie starrte auf das Display. Sie sah aber nichts. Sie hatte vom Tisch weggehen müssen. Sie war wütend. Sie war 90 wütend, dass es sie schüttelte. Die Wut drang von außen aui sie ein wie die Kälte den ganzen Tag hindurch. Die Wut abei Sie war gefangen darin. Was half dagegen. Sie wusste nicht! I las machte sie noch wütender. Sie stand da. Schaute au! iln il'hone. Sie stand ganz still und war doch geschüttelt. Zum /.erspringen angespannt. Bebend vor Wut. Die Wut so stark. Sie würde zerspringen. Sie würde von dieser Wut nicht /er letzt werden. Nein. Sie würde vielfach vervielfacht herum springen. Sie würde als viele kleine Nelias in diesem Zimmer herumtoben. Viele kleine Nelias als Wutteufelchen in diesem I Luis. Und alles zerstören. Die vielen kleinen Nelias. Sie sah es vor sich. Sie konnte es im Nebel ihrer Zornigkeit sehen, und sie genoss die Vorstellung. Die Bilder an den Wänden /er letzen. Die Bücher herausreißen. Den Tisch umwerfen. Dem Mann in die Haare gehen. Ausreißen. Zerkratzen. Diese Frau hinausjagen. Alles anzünden. Alles kaputt machen. Total ka pull. Zerstört. Zerstörung. Sie wollte Zerstörung. Sie steckte das iPhone in die Tasche auf dem Sofa. »Ja, Also.«, sagte sie. »Ich weiß jetzt, wie du wohnst. Vielen Dank für den Tee.« Sie nahm die Tasche. Hob den Schulterriemen über den Kopf. Er stand auf. Schaute sie an. Lange. Er hielt seine Serviette in der Hand. Dann warf er die Serviette mit einer zornigen I ieste auf den Tisch. Das sei ja sehr interessant, sagte er. Sie und am Sofa. Bei den großen Fenstern. Er am anderen Ende des langen Raums. Sie konnte die Gartenwildnis durch eine Iii i assentür hinten sehen. Ii stand beim Tisch. Seine Hände zu Fäusten geballt. Dann drehte er sich weg und stürzte hinaus. Sie wandte sich dem ! i nster zu. Sie musste Fassung bewahren. Weinen aus Zoi n ii das Schlimmste. Sie musste die Beherrschung bewahren. 230 •Ml Keine Regung. Sie durfte keine Regung zeigen. Sie schrie sich selber an. Innen. Dass sie das ihrer Mutter schuldig sei. Und sich. Vor allem sich. Das war einer dieser Augenblicke. Ja. 1 >ai war so. Aber deshalb durfte sie nicht die Fassung verlieren. Sie musste tief Luft holen. Sie war aus dem Atemrhythmus gekommen. Beim Hinausschauen. Alles war verschwommen. Einen Augenblick die Anspannung dieser grenzenlosen Wut, und dann die Traurigkeit. Das war alles so gewesen. Sic konnte nichts ändern daran. War ihre Mutter hier gestanden und hatte so hinausgesehen. Sie würde es nie wissen. Und traurig. Wirklich traurig war, dass sie sie das nicht fragen konnte. Das war traurig. Sie stand da. Schaute. Dann wurde wieder alles leichl Das drohende Schluchzen verschwand. Löste sich auf. 1 >i| Schwere ballte sich noch in der Brust zusammen. Im Bau< h Aber es schüttelte sie nicht mehr. Leicht. Leichter. Nichts rund um sie. Nichts, was über sie herfiel. Und es war vollkommen gleichgültig, wo sie war. Wo sie sich befand. Sie hätte l.iui lachen können. Sie hatte es geschafft, und die Mami halle sl« gerettet. Das Leben mit der Mami war so viel wichtiger als du Interesse dieses Manns. Sie ging ins Vorzimmer. Wollte si( Ii verabschieden. Freundlich. Sie wollte sich freundlich verab schieden. Freundlich und fremd. Sie hatte es geschafft und war diesem Mann fremd geblieben. Es war ein Sieg. Komm. Lass uns von vorne anfangen.« Der Mann hatte eine 1 lasche Champagner in der einen Hand. Hielt ihr die Flasche cMitgegen. Er stand im Vorzimmer in einen Wandschrank ge-I leugt Gläser klirrten. »Weißt du.« Er sprach in den Kasten hinein. »Da. Nimm.« Er hielt ihr die Flasche entgegen. Sie nahm sie. Automatisch. Er beugte sich noch weiter in den Kasten. «Das ist gar nicht so einfach. Es ist schon lange kein Champagner mehr getrunken worden. In diesem Haus.« Er richtete »ich auf. Hielt ihr triumphierend zwei Champagnerschalen Inn. F,r ging ins Zimmer zurück. Das wäre alles nicht so einfach. Uich für ihn nicht. Sie müsse nämlich zur Kenntnis nehmen, i i habe auch eine Geschichte. Und auch er sei verwundert. Ja. I i wäre erschrocken darüber, wie lebendig diese Geschichte »et. Wie sehr sie lebte. Diese Geschichte. Es sei kaum zu glauben, aber er habe eben an ihr die gleiche Wut erlebt, die es immer gegeben habe, wenn es um ihre Mutter gegangen wäre. ■I »eine Mutter war nämlich wütend gewesen. Sie war im im i wütend gewesen. Wenn sie gelacht hat. Wenn sie geweint Ii ii. Wenn sie wach war. Wenn sie geschlafen hat. Sie war ein l.ii Ii iinmer von so einer Wut geführt. Von so einer Lebens 232 der Recherche auf ihre Geschichte und jetzt angewendet worden wäre. Ich war sicher, dass ihre Geschichte in mittelalterlichen Kostümen sofort ein Bestseller werden konnte, aber als Schicksal in der Entscheidung uninteressant. Das hieß ja, dass man gestorben sein musste und am besten schon lange tot, bis die Welt sich in die Geschichte hineindenken wollte. Aber es bestätigte die Annahme, dass es besser war, ohne jede Spur und nachrichtenlös zu leben. Was hatten Richard der Dritte oder irgendwelche Prinzessinnen von damals heute davon, dass Barbara Anne Stringer-Whyte mit Walter, Heinrich, Ypsilon, Theodor, Emil alles über die Kleider damals wusste und ob uhd wie die sich gewaschen hatten? Diese Geschichten waren verwest und verrottet, und Despina lebte. Das war ja auch eine Tristan-und-Isolde-Ge-schichte mit Gender-Verwicklungen. Diesmal schlief Minas-Tristan mit Peter-Marke am Ende des Schlafsaals der Ritter, und Despina-Isolde musste über die Betten springen, und es war diesmal vielleicht Menstruationsblut, das sich im Mehl auf dem Boden fand. Wieder fielen mir die Gesichter hinter den Fensterscheiben des Hauses von Peter und Gerhard ein. Ich musste dann wieder herumgehen. Aber ich war nicht die Einzige, und ich traf immer wieder dieselben Leute a Li 1 den Gängen und Stiegen. Ich wünschte mir eine Schlaftablette, um über dieser Unruhe einschlafen zu können. Meine Mutter ist mir nicht mehr erschienen. ff Eta 142 Ich bin dann doch eingeschlafen und habe die Anfahrt auf Piräus versäumt. Ich wachte davon auf, dass rundherum alle in Bewegung kamen und an meinem Sessel anstießen. Ich blieb sitzen. Ich musste sitzenbleiben, ich war vor Aufregung starr. Dann ging ich schnell noch auf die Toilette. Ich war in Athen. Ich war da. Ich war wirklich da, und ich war glücklich und unglücklich zugleich. Ich war ungeheuer erleichtert und hatte schon alle Abenteuer der Reise vergessen, aber ich musste mich nun bewähren und war plötzlich nicht sicher, wie mir das gelingen sollte. Ich setzte mich wieder hin. Es dauerte dann ohnehin noch lange, bis die Fähre in dem verwinkelten Hafenbecken zu ihrem Ankerplatz gekommen war. Dort drehte die Fähre sich langsam herum, aber im Laderaum unten waren die ersten Autos schon gestartet worden. Es begann nach Auspuff und Benzin zu riechen. Nach langem ging erst die Laderampe hinunter, und die ersten Autos wurden hinausgewinkt. Ich musste mit den anderen von Bord, dann würde ich Marios finden, und dann war alles gut. Zuerst kannte ich mich nicht gleich aus und ging einfach 143 sie etwas Beruhigendes und nahmen ihre Clownsnasen ab, aber ich stand auf, ging zur weiter entfernten Tür und stieg bei Monastiraki aus. Ich ging in Richtung der »Exodos«-Schilder und kam an eine Polizeisperre. Eine Gruppe von Polizisten stand vor dem Aufgang. Es waren rot und weiß gestreifte Sperren aufgestellt, hinter denen die Polizisten standen. Die Rolltreppe lief und ratterte leer hinauf. Die Polizisten waren in grünen Kampfuniformen. Ihre Helme, ihre Kampfanzüge, die Beinschienen und die Brustpanzer, sogar die Handschuhe waren dunkelerb-sengrün. Nur die Visiere und die Schilder waren durchsichtiges Plexiglas. Die Männer versperrten den Zugang zu den Stufen und der Rolltreppe. Ich war schnell gegangen und musste mit einem Ruck stehen bleiben. Die Polizisten bemerkten mich gar nicht. Sie stützten sich auf ihre Schilder und tratschten miteinander. Sie hatten die Visiere hinaufgeklappt. Ich musste mich umdrehen und einen anderen Ausgang suchen. Mein Kopf war immer noch so träge. Auf der anderen Seite der Metrostation kamen Menschen in großen Gruppen von oben. Eine Gruppe Frauen kam von links und zog nach rechts durch die Halle. Ihre Parolen waren schon von weitem zu hören, und die Polizisten gruppierten sich sofort in zwei Reihen hintereinander und zogen die Visiere herunter. Die Frauen trugen Blaumänner und hatten ihre Haare-unter bunten Kopftüchern versteckt. Sie trugen Transpa- rente auf Besen und Bodenwischmopps angebracht, und sie skandierten einen Spruch. Das klang lustig. Im Griechischen gibt es ja so viele Endungen auf i, und deshalb klang das für mich wie ein Kinderreim. Ich folgte den Frauen. Sie kletterten laut skandierend die Stiegen hinauf, während ich die Rolltreppe nahm und ihnen so die ganze Zeit zusehen konnte. Oben ging ich diesen Frauen nach. Auf einem Plakat stand auf Englisch »We are the Cleaners«, und ich erinnerte mich: Diese Frauen waren gerade von einem Ministerium entlassen und durch eine Servicefirma ersetzt worden. Die Frauen kämpften gegen diesen Vorgang. Sie demonstrierten zu jeder Gelegenheit, und die Polizei verhaftete sie bei jeder Gelegenheit. Die Cleaners liefen über eine breite Straße und zwangen die Autos anzuhalten. Dann gingen sie über einen Platz mit Kiosken und Bänken auf einen Park zu. Die Gebäude hier waren alle im Stil des 19. Jahrhunderts. Die laute Musik war schon am Ausgang der Metrostation zu hören gewesen. Es waren Kampflieder, zuerst sang ein Mann, dann kam eine Frauenstimme, und immer war der Rhythmus herausfordernd und antreibend. Vor dem Park führte eine breite Straße quer entlang, auf der viele Menschen standen und umhergingen. Die Frauen liefen in diese Menge. Sie bekamen Applaus und Zurufe. Es wurde gepfiffen, und alle skandierten mit. Die Frauen lachten und wurden umarmt. Es war triumphal, wie sie empfangen wurden. Immer wieder 148 149 begannen Leute zu applaudieren, und die Musik verstärkte alle Gefühle und schloss alle zusammen. Ich ging im Takt dieser Musik hinter den Frauen weiter mit. Die Cleaners schwenkten ihre Besentransparente und Wischmoppschilder und wanderten dann wieder weiter. Die anderen standen oder gingen im Kreis. Die Frauen zogen durch die Menge. Sie begannen schneller zu gehen und verfielen dann in einen Trab. Sie liefen diese breite Straße hinunter und drängten sich durch die da herumstehende Menge. Immer wieder riefen ihnen Leute etwas zu, und sie riefen lachend zurück. Die Frauen stürmten laufend und skandierend dahin, und dann war ich mit einem Mal mitten im Demonstrationszug. Ich wurde von der Menge mitgenommen. Die skandierenden Frauen waren irgendwo links von mir. Alle rund um mich gingen entschlossen nach vorne, und alle riefen etwas. Die Cleaners hatten ihren Verse gehabt. Die Leute rund um mich riefen etwas anderes. Weiter vorne gingen Personen in einer Reihe und hielten ein Transparent, das so breit war wie diese sehr breite Straße. Ein Mann ging ihnen voran und rief etwas über ein Megaphon. Alle fielen dann ein, und das war ein bisschen so wie in den Fürbitten in der Kirche. Ich ging an die Seite und überholte diese Gruppe auf dem Gehsteig. Es stand »Freedom of press« auf diesem Transparent. Ich reihte mich weiter vorne ein. Die Personen gingen da schweigend, und nur das Geräusch des Gehens war da zu hören. Es war tiefe Nacht, die Straßenbeleuchtung reichte auch hier nicht bis zur Straße hinunter. Die Gesichter der Personen waren helle Flecken und verschwommen. Das Licht der Straßenlampen wurde von den breiten Kronen der Platanen rechts und links abgefangen. In den Häusern an der Straße brannte nirgends Licht, sie wirkten abweisend. Es waren wohl Bürogebäude, und man konnte immer wieder auf dem Gehsteig jemanden in die Gegenrichtung davon-hasten sehen. Die Gehsteige waren da auf beiden Seiten durch Geländer von der Straße getrennt. Es war angenehm, so ungehindert auf der Straße dahingehen zu können. Dann kam aber der Zug ins Stocken. Es gab Rufe und Geschrei weiter vorne, und auf einen Schlag drehten sich alle um und zogen sich die Schals vor das Gesicht. Ich hatte den Schal von Despina in der Tasche gelassen und deshalb keinen Schutz. Ich wollte in der Gegenrichtung zum Zug weglaufen und versuchte dabei, meinen Schal aus der Tasche zu zerren. Aber die Detonation war kaum zu hören gewesen, da war das Tränengas schon da. Ich hielt meine Tasche vor das Gesicht und atmete in die Tasche. Dann hielt ich die Luft an, bis ich den Schal herausgefischt und vor das Gesicht gepresst hatte. Die Tränen kamen aber auch sofort, ich konnte nichts dagegen tun. Ich stand da und heulte, und das machte mich unglaublich wütend und verzweifelt zugleich. Ich fand mich der Masse der Demonstranten zugerechnet. Meine Verletzung war einkalkuliert, ohne dass ich jemandem bekannt gewesen wäre. Ich fühlte mich dadurch 150 151 wie ausgelöscht und ohne jede Wichtigkeit, aber ich wurde zugerechnet. In meiner Situation ist so etwas noch einmal schwieriger. Ich hatte ja nach dem Tod meiner Mutter lernen müssen, dass dieser Verlust nur mich betraf und dass ich es aushalten musste, dass mich niemand in meiner Trauer um meine Mutter verstand. Ja, es war sogar so gewesen, dass die meisten Mitglieder der Familie meiner Mutter sich große Mühe gaben, meine Trauer zu bagatellisieren und als hysterisch zu medizinalisieren. Es war dann nur mein Großvater gewesen, der sich dagegen gewandt hatte und mir half. Mein Großvater ist im Zweiten Weltkrieg gewesen, und meine Urgroßväter waren alle im Ersten Weltkrieg. Alle Männer in dieser Familie hatten getötet, und alle waren dabei schwer verletzt worden. Ich weiß nicht, was der Vater und der Großvater meines Vaters in diesen Zeiten gemacht haben, aber weil mein Vater in meiner Sozialisierung so überhaupt keine Rolle gespielt hat, ist das nicht wichtig. Es ist auch die Familie meiner Mutter nicht so wichtig, weil meine Mutter ja von da weggegangen ist. Mein Großvater hat sich dann irgendwie verantwortlich gefühlt. Aber seit diesem Abend im Wartezimmer vor dem Eingang zum Operationstrakt vor vier Jahren war ich immer außerhalb von allem gewesen und hatte nicht dazugehören können. Auf der dunklen Straße unter den Platanen in Athen weinte ich wie alle anderen auch. Alle hielten ihre Schals und Tücher gegen ihre Gesichter gepresst. Alle deuteten einander, ob sie weiter nach vorne gehen sollten oder sich zurückziehen. Manche stürmten gleich wieder vor. Mit dem Tränengas waren alle wie in einer Welle zurückgewichen. Andere hasteten durch die Straße zu diesem Park zurück. Ich heulte mit den anderen. Ich heulte öffentlich. Es war so wichtig gewesen, niemals in der Öffentlichkeit zu weinen und niemals das Ausmaß des Elends zu bekennen, und nun stand ich da, und die Tränen liefen mir in den Schal, und alle rund um mich grinsten mir unter den Tränen zu, und wir schauten einander prüfend an. Eine Frau fragte mich etwas, ich schüttelte den Kopf und sagte auf Englisch, dass ich kein Griechisch spräche. Da fragte sie mich: »Are you okay?«, und ich nickte weinend. Dann holte ich das iPhone aus der Tasche und hielt der Frau das Bild von Marios hin. Ob sie diesen Mann kenne oder gesehen habe. Die Frau schaute auf das Bild, dann schüttelte sie den Kopf. Da war aber schon wieder eine Detonation zu hören, und wir liefen beide an den Rand der Straße und nach hinten. Diesmal hatte ich den Schal schon bereit. Es war Geschrei zu hören, und ich stand unschlüssig auf der Seite. Männer auf Mofas fuhren plötzlich zwischen den Demonstrierenden durch, man musste sehr aufpassen, von ihnen nicht umgefahren zu werden. Diese Männer trugen Motorradhelme mit Vollvisier, und man konnte ihre Gesichter nicht sehen. Immer wieder musste jemand wegen eines solchen Mofafahrers zur Seite springen. Es gab aber auch Tritte ge- 152 153