Vorgestern hat er sich in der Mensa zu einem leisen Klipp-Klapp umgedreht, schon in der Drehung wissend, dass es Laura sein wird. Und das war sie. Streichholzmädchen, mit langem Körper und rundem dunldem Kopf; mit etwas herabgelaufenem Schwefel am Nacken seines Zündkopfs: das dunlde Haar stramm zum Nacken gezogen. Und in Spangenschuhen mit breiten Absätzen. 0\ Q Nun aber war es Marina, das war ohnehin Idar, dass sie das war: Im ganzen geräumigen Stifthof waren nur vier Paar Schuhe, seine eingeschlossen, und nur Marina konnte das Klipp-Klapp verursachen, Franziska hatte ihre weichen Chucks an, die eigentlich zu dünn für diese Jahreszeit waren. Und Moritz hatte normale Männerschuhe. »Hör mal, Andreas, braucht Franziska nicht vielleicht doch eine Mütze? Bei diesem Wind. Sie friert, schau.« »Das hättest du Sabine sagen sollen, bevor wir losgefahren sind. Siehst du nicht, sie ist ohnehin genervt. Sie hat wohl wieder ein Drama mit ihrem Freund, und da kommen wir mit unserem dummen >du solltest dich wärmer anziehen, Schätz-chen!< Was soll ich machen?«, sagt Andreas. Marina lacht und sagt: »Ja, nach dem Motto >Setz die Mütze auf, ich friere!< Na gut«, sie sagt nicht, dass es eigentlich Andreas ist, der Sabine hätte fragen sollen, schließlich ist Sabine seine und nicht Marinas gewesene Frau. »Wie du meinst. Sie ist schließlich dein Kind.« War es eine gute Idee, fürs Wochenende nach Tübingen zu fahren? Mit Marina und den Kindern? Sie scheinen sich immerhin gut zu verstehen. Wieder Stöckelschuhe, aber jetzt nicht mehr so gut hörbar, weil die dazugehörige Gestalt (Marina) bereits vor ihm ist, das Bild dämpft den Klang: klein, zierlich, damenhaft angezogen, Pfennigabsätze. Es geht ihm, als hätte er einmal ein Mädchen in Sneakers, Jeans und T-Shirt gesehen und das nächste Mal eine Frau in Kostüm und Pumps. In der Zeit dazwischen liegt ihr Leben, das nichts mit seinem Leben zu tun hat. Neben ihr Franziska, die Stöckelschuhe hasst, weil sie ihre Größe noch nicht zu schätzen weiß und in ihrem Körper noch unsicher ist. Komisches Bild. So ldein die eine. So groß die andere. Q Marina bleibt im Bogendurchgang zum Kreuzgang des Stiftes stehen. Vor einer Vitrine linker Hand. »Franziska, schau mal!«, sagte sie und bereute fast, dass sie das einem so sensiblen Mädchen wie Franziska zeigte: Im Schaufenster leuchtete opak das Schlüsselbein von Eduard Mörike. In einer Glas- oder Plastikschachtel. Mit einem Zettel versehen: Schlüsselbein des Dichters Eduard Mörike (1804-1875) (clavicula moericensis poetae) Exhum. Ne 40482 Leihgabe des Pragfriedhofs in Stuttgart Überraschend viele Abtönungen von Cremebeige, Aschgrau und Honigbräunlich für ein schmales und nicht sonderlich langes Stück Bein auf einem bordeauxfarbenen Tuch. Als Marina den angewiderten Blick des Mädchens sah, begann sie, um es abzulenken, von Mörike zu erzählen, alles, was sie noch wusste, dass er einer der vielen berühmten Schüler des Tübinger Stiftes gewesen war, dass sie einmal eins seiner Gedichte ins Russische übersetzt hatte, für eine Semesterarbeit über »Todesangst und Romantik«. Das Gedicht hieß »Erinna an Sappho«: Dass du zu früh dir nicht die braune Locke mögest Für Erinna vom lieben Haupte trennen - sprach die Poetin Erinna, nicht ahnend, dass ihr eigenes Los war, 19-jährig zu sterben. Dann dachte Marina, dass Franziska gerade 19 war. seinem Schalter heraus Ljoscha, ihren Liebhaber, anrufen und ihn davon unterrichten würde, dass sie in einer Stunde nach Petersburg aufbrechen wollte. Sie überlebte, eine hässliche Narbe oberhalb ihres linken Schulterblattes blieb, Ljoscha kaufte sich bei der Miliz frei und beschaffte Natascha ein neues Ticket, damit sie keine Klage erhob. Sie nahm das Ticket, für das erste, verfallene, hatte sie ein halbes Jahr gespart. Tante und Onkel schimpften, sie sei ein undankbares Miststück, und die Vettern und Cousinen sahen sie neidisch an. Sie fuhr leichten Herzens, am liebsten hätte sie keinen von ihnen wiedergesehen. Aber ein feines Gift, das Schuldgefühl einer Entlaufenen, hemmte, neben der Angst einer Entlaufenen, ihre Freude. Natascha stand vor der Tür und ihr Herz stand ihr in der Kehle und versperrte den Atem. »Wen? Bison? Er ist lange nicht hier gewesen«, sagte eine lange hagere Frau mit langem schwarzen Haar und weißen Strähnen darin, drehte sich um und ging in den langen breiten Flur, im Gehen ausrufend: »People, hier ist eine von Mischa Bison, er hat ihr Unterkunft versprochen, wer hätte Platz?« In all den Monaten, die Natascha dort verbrachte, konnte sie nicht mit Bestimmtheit sagen, über wie viele Zimmer diese riesige verfallene Wohnung verfügte, die ihre Bewohner Kommune nannten. Natascha wurde von Janis beherbergt, das bedeutete, Janis räumte etwas Platz frei zwischen gestapelten CDs, Büchern und Souvenirs wie Gänsefedern aus Kunststoff mit Signatur von Alexander Puschkin auf der Federfahne und Leinenhandtaschen mit aufgedrucktem Kruzifix. Sie durfte mit Janis auch den Arbeitsplatz teilen, also wieder als Kioskmädchen ein bisschen Geld verdienen. Am Anfang fühlte sich Natascha etwas verwirrt von all den Namen - Tanja Luna, Pascha Katholik, Andrej Wolke, Wasja Sputnik, Katja Kängu- ru, die lange Frau, die ihr geöffnet hatte, hieß Ljuba Tornado; von all der Musik, Janis Joplin bei Janis pausenlos; von all den bunten Konservendosen, Mais, Wurst, von den unwahrscheinlichen Erscheinungen wie Avocados oder Kiwis, die sie zuvor nie gesehen hatte. Alle waren hungrig, die Lebensmittel waren knapp, Grundnahrung blieben Nudeln, Reis und Brot, immer kochte, aß und klatschte jemand in der gemeinsamen Küche. Wenn sich Natascha später an die Kommune erinnerte, ergab sich ein hinkender Falter daraus: Tür Max Korridor Orakel / Apple / Känguru Wolke / Katmandu / ??? Korridor Linda / Ringo / Alex Sputnik / Regenbogen Korridor Janis / Natascha ??? Korridor Grace / Eule / ??? / ??? Tornado Korridor Tramper Luna Korridor ??? / Katholik ??? Korridor ??? Korridor Rumpelkammer / Gästezimmer Küche Korridor Klo / Bad Küche Küche Küche Natascha dachte zuerst, dass sie in diesem Menschenwirrwarr unbemerkt bleiben würde, aber der scharfe kollektive Verstand hatte sie bald als Fremde identifiziert. Wenn sie gewöhnliche Dinge - Essen, Trinken, Kleidung, Armbänder, Wandposter - bei ihren gewöhnlichen Namen nannte, lachten die anderen sie aus. Wenn sie die hiesigen Slangwörter ausprobierte, lachten sie noch fröhlicher. Sie gab die Imitationsversuche auf und sprach betont korrekt und höflich, wie weiland ihre Literaturlehrerin, über die man erzählte, sie sei die Urenkelin 106 107