Ödön von Horváth (1901 – 1938) Ab 1919 hörte H. an der Universität München germanistische u. philosophische Vorlesungen. Sein Interesse dafür erlahmte aber bald, als die schriftstellerische Tätigkeit in den Vordergrund rückte. Ab Ende 1923 hielt sich H. hauptsächlich in Berlin auf, zeitweise auch in der elterl. Villa im bayerischen Murnau am Staffelsee, SW von München. Horváth und die Nazis Das Jahr 1929 brachte für H. auch ökonomische Absicherung: Der Ullstein Verlag zahlte ihm für seine »gesamte schriftstellerische Produktion« eine monatliche Garantiesumme. Die Angriffe rechter Kritikerkreise gegen ihn verstärkten sich ab 1931 nach einem Prozess, in dem ÖvH als Zeuge die Aktion eines Murnauer NS-Schlägertrupps bloßstellte. Sympathien für die sozial Schwächeren, seine offenkundige politische Tendenz brachten ihm den Vorwurf der »Hetzdramatik« ein, der sich noch verschärfte, als 1929 sein Stück Sladek der schwarze Reichswehrmann, eine »Historie aus dem Zeitalter der Inflation« uraufgeführt wurde (urspr. Fassung: Sladek oder Die schwarze Armee. Erstdr. beider Fassungen in: GW 1, 1970. Ffm. 1974). Horváth und die Nazis Eine Hausdurchsuchung der SA in Murnau 1933 war schließlich letzter Anstoß, Deutschland zu verlassen. Anfang März 1933 fuhr er als ungarischer Staatsbürger nach Salzburg, dann nach Wien. Da er die Hoffnung auf Publikationsmöglichkeiten in Deutschland noch nicht aufgegeben hatte, verweigerte er mit dem Hinweis auf deren politischen Charakter die Mitarbeit an der Exilzeitschrift »Die Sammlung« u. wurde im Sommer 1934 auf eigenen Antrag in den national-sozialistischen Reichsverband Deutscher Schriftsteller aufgenommen (bis Febr. 1937). 1936 wurde ÖvH die Aufenthaltserlaubnis für das Deutsche Reich entzogen. Sladek der schwarze Reichswehrmann Als Schwarze Reichswehr bezeichnete man die als Vaterländischen Verbände getarnten Reservetruppen der Reichswehr, die wegen der durch den Versailler Vertrag limitierten Truppenstärke nicht offiziell ausgewiesen werden durften. Abtrünnige dieser Verbände wurden häufig Opfer von Fememorden. Franz, ein linker Journalist untersucht die Vorgänge und stößt bei einer Versammlung von Hakenkreuzlern auf Sladek, einen Arbeitslosen. Er wird von seiner Wirtin ausgehalten und wenn sie droht, ihn lieber zu verraten als an die Schwarze Armee zu verlieren, bringt er sie mit seinen Kumpanen um. Franz und Sladek kommen beide vors Gericht – Franz wegen versuchten Landesverrats, weil er über die Vorgänge schrieb, Sladek wegen Mordes. Sladek wurde dann amnestiert und reist nach Südamerika aus: Ohne Mord gibt es kein Leben, geht es nicht weiter, denkt er. Kasimir und Karoline (1932) Schauplatz dieser »Ballade vom arbeitslosen Chauffeur Kasimir und seiner Braut« ist das Münchner Oktoberfest, dessen Vergnügungsrummel die allmähliche Trennung der »höher« hinaufstrebenden Karoline von ihrem Bräutigam begleitet. Sie fährt mit einem Kommerzienrat im Auto weg, das gerade vorher Franz, ein Bekannter Kasimirs, ausgeraubt hat, während Kasmir mit seiner Freundin Schmiere gestanden hat. Der ertappte Franz wird abgeführt und Kasimir tröstet sich mit der allein gebliebenen Erna. Das Stück weist einen schnellen Wechsel kontrastreicher Szenen auf, die häufig nur aus einem kitschig süßen Schlager oder einem kurzen Dialog der gehässigen und hilflosen Figuren bestehen und derben Dialekt und den präzise nachgebildeten schnoddrigen oder grotesken Jargon der Halbgebildeten aufeinader anprallen lassen. Kasimir und Karoline K-E: [. . .] Du, Kasimir, jetzt werden wir bald alle fliegen. lK-R: Geh, so lasse mich doch aus. l(Zeppelin, aber auch Kasimir hat seinen Job verloren: rausgeflogen) lK-R. [ ... ] - du verdienst ja noch was und lebst bei deinen Eltern, die wo pensionsberechtigt sind. Aber ich habe keine Eltern mehr und steh allein in der Welt, ganz und gar allein. lK-E. Vielleicht sind wir zu schwer für einander. Glaube Liebe, Hoffnung Ein kleiner Totentanz in fünf Bildern. 1932 Elisabeth will ihren Körper dem Anatomischen Institut verkaufen. Der Oberpräparator behauptet, daß es nicht möglich ist, aber leiht ihr die Summe, die sie angeblich für ihren Gewerbeschein braucht. Als er feststellt, daß sie damit nur eine Strafe bezahlt hat und daß ihr Vater nicht Zollinspektor, wie er dachte, sondern nur Versicherungs-inspektor ist, zeigt er sie als Betrügerin an. 14 Tage Gefängnis muß sie absitzten. dann lernt sie den Polizisten im Wohlfahrtsamt kennen, zieht als seine Braut zu ihm, verheimlicht ihm aber, daß sie vorbestraft ist. Als sich das bei einer Polizeirazzia herausstellt, trennt er sich von ihr, um seine Karriere nicht zu gefährden. Sie will sich ertrinken, wird noch gerettet, aber während sich niemand um die unterkühlte Elisabeth, sondern nur um den heldenhaften Retter kümmert, stirbt sie. Glaube Liebe, Hoffnung lPaulusbrief: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die Größte unter ihnen.“ (1. Korintherbrief, Kap. 13, Vers 13) l„Das seh ich schon ein, dass es ungerecht zugehen muss, weil halt die Menschen keine Menschen sind - laber es könnt doch auch ein bisschen weniger ungerecht zugehen.“ Geschichten aus dem Wiener Wald (1931) Um die Hauptfigur Marianne, Tochter des spießigen »Zauberkönigs«, bilden sich Paare und gehen wieder auseinander; sie selbst wird in diesem Spiel Opfer und Frau des ungeliebten Fleischermeisters Oskar. Die bewußt kitschig mit Versatzstücken der Wiener Gemütlichkeit arrangierte Idylle ist eine tödliche. Schmidt-Dengler, Hanser, 501: Horváth zeigt, dass die Figuren den Klischees so lange nicht entrinnen werden, solange sie dies benötigen, um nach ihnen ihr Leben zu modelieren. Ö.v.HORVATH : Gebrauchsanweisung (1932) "Nun besteht aber Deutschland wie alle übrigen europäischen Staaten zu neunzig Prozent aus vollendeten oder verhinderten Kleinbürger (...) Will ich also das Volk schildern, darf ich natürlich nicht nur die zehn Prozent schildern, sondern als treuer Chronist meiner Zeit, die große Masse. Das ganze Deutschland muß es sein! Genrauchsanweisung Es hat sich nun durch das Kleinbürgertum eine Zersetzung der eigentlichen Dialekte gebildet, nämlich durch den Bildungsjargon. Um einen heutigen Menschen realistisch schildern zu können, muß ich also den Bildungsjargon sprechen lassen. Der Bildungsjargon (und seine Ursachen) fordert aber natürlich zur Kritik heraus -- und so entsteht der Dialog des neuen Volksstücks, und damit der Mensch und damit erst die dramatische Handlung -- eine Synthese aus Ernst und Ironie. Gebrauchsanweisung Dialekt. Es darf kein Wort Dialekt gesprochen werden! Jedes Wort muß hochdeutsch gesprochen werden, allerdings so, wie jemand, der sonst nur Dialekt spricht und sich nun zwingt, hochdeutsch zu reden (...)Bitte achten Sie genau auf die Pausen im Dialog, die ich mit 'Stille' bezeichne -- hier kämpft das Bewußtsein oder Unterbewußtsein miteinander, und das muß sichtbar werden. (...) Alle meine Stücke sind Tragödien -- sie werden nur komisch, weil sie unheimlich sind. Das Unheimliche muß da sein." Gebrauchsanweisung Philister: "... ein Mensch ohne geistige Bedürfnisse (...) Kein Drang nach Erkenntnis und Einsicht, um ihrer selbst willen, belebt sein Dasein, auch keiner nach eigentlich asthetischen Genüssen ... Wirkliche Genusse sind für ihn allein die sinnlichen: durch diese hält er sich schadlos. Demnach sind Austern und Champagner der Höhepunkt seines Daseins, und sich alles, was zum leiblichen Wohlsein beiträgt, zu verschaffen, ist der Zweck seines Lebens ... Und doch reicht dies alles gegen die Langeweile nicht aus ... Daher ist dem Philister ein dumpfer, trockener Ernst ... charakteristisch. Nichts freut ihn, nichts erregt ihn, nichts gewinnt ihm Anteil ab ... Gebrauchsanweisung Zweitens folgt, in Hinsicht auf andere, dass, da er keine geistige, sondern nur physische Bedürfnisse hat, er den suchen wird, der diese ... zu befriedigen imstande ist. (Geistige Anforderungen werden) wenn sie ihm aufstoßen, seinen Widerwillen, ja, seinen Hass erregen; weil er dabei nur ein lästiges Gefühl von Inferiorität und dazu einen dumpfen, heimlichen Neid verspürt ..." (Arthur Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit 1851 S.43-45)