Es ist Mai, hatte der Professor noch gesagt, der Marienmonat. Percy hatte gelacht. Mehr grimassiert als wirklich gelacht. Mach' ich, hatte er gesagt. Er hatte doch selber immer wieder dieses Zu-viel-Gefühl. Er wusste nicht von was, nur dass es zu viel war. Zu viel für ihn selbst. Aber vorbereiten tu ich mich nicht, hatte er gesagt. Das fand' ich gemein, vorbereitet zu reden zu unvorbereiteten Menschen. Sonntagnachmittag also. Zuerst hatte er sich auf der Orgel in Stimmung gebracht. Noch waren Stühle leer. Es kamen aber immer noch Leute. Dann waren alle Stühle besetzt. Es standen schon Leute. In der ersten Reihe saß der Professor. Professor Dr. Dr. Augustin Feinlein. Percy wusste, dass ihm keiner so zuhören konnte wie der Professor. Er spielte, was seine Hände wollten. Nichts Bombastisches. Er würde, was er spielte, Diminutiv nennen. Wenn er den Mut hätte, müsste er es Ewig nennen. Professor Dr. Dr. Augustin Feinlein war aufgestanden und hatte gesagt, dass er sich freue, Percy Anton Schlugen heute hier zuhören zu können. Als der Professor ihn mit beiden Vornamen vorstellte, war ihm eingefallen, wie ihn Luzia Meyer-Horch, als er bei ihr den Schlüssel für die Orgel abholte, wie sie, des Professors Sekretärin, ihn begrüßt hatte: Immer wenn Sie zur Tür hereinkommen, Percy, merk' ich, dass Sie aussehen, wie wenn Sie Anton hießen. Und lachte. Ihr berühmtes Lachen, mit dem sie immer verhinderte, dass jemand mitlachte. Aber dass er ihr Lachen bewundere, sagte Percy jedes Mal. Als Percy dann die Menschen vor sich sah, sagte er: Liebe Leute. Dem Leben zuliebe. Dann sprach er nicht gleich weiter. Das wurde überhaupt das Wichtigste bei seinem Sprechen. Die Pausen. Die Sätze waren gerahmt von Pausen. Und die Pausen waren keine Verlegenheit. Seine Mutter heiße Joseflne, weil sie am 19. März geboren worden sei. Ihr Vater habe Josef geheißen, ohne dass er am 19. März geboren worden sei. Die Schlugen seien eine komische Familie gewesen. Die Mutter der Mutter rabiat unfromm, der Vater der Mutter kreuzbrav, erzfromm, andauernd auf Wallfahrt oder doch dabei, die nächste Wallfahrt zu planen. Immer nur der Vater Josef und die Tochter Josefine. Nach Heiligenbronn im Schwarzwald, auf den Welschenberg an der Donau, nach Birnau am Bodensee oder auf den Bussen, den heiligen Berg Oberschwabens. Marienverehrung halt. Seine Mutter sei immer mitgetippelt, habe natürlich alle Rosenkränze mitgebetet, aber sie habe immer gespürt, dass sie eine Zuschauerin sei. Ihr Vater sei für sie ein Altarbild geworden. Aber sie hat ihm nie sagen können, dass sie bei diesen Wallfahrtsprozeduren innen drin nicht ergriffen worden sei. Dann ist der Vater gestorben, und er ist gestorben, als nur sie im Zimmer war, und sein letzter Satz war: Du bist geleitet. Fini, du schaffst es. Von da an merkte sie, dass in ihr alles lebte, was sie mit ihm erlebt hatte. Jetzt war sie keine Zuschauerin mehr. Jetzt war sie die Ergriffene. Und hat nicht aufgehört, die 22 23 Ergriffene zu sein. Und das hat Percy durch sie erlebt, was das ist: ergriffen sein. Ich leb' dem Leben zuliebe, hat sie gesagt. Mehr als einmal. Wieder eine unangestrengte Pause. Sein Lieblingspfarrer, Pfarrer Chrysostomus Studer, habe einmal in einer Predigt gesagt, im Neuen Testament komme das Wort Reich Gottes 122-mal vor. Es sei fast immer Jesus selber, der das sage: das Reich Gottes. Und dass er selber das Reich Gottes sei. Aber in einer anderen Predigt habe Pfarrer Studer gesagt, jeder trage das Reich Gottes in sich. Er, Percy, gebe zu, dass das ein schöner Ausdruck sei: Reich Gottes. Das hat was. Aber man weiß nicht, was es hat. Auf ihn wirke es wie Musik oder wie eine Droge. Er könne aber zu anderen nicht über Musik oder Drogen sprechen. Dann hat er gesagt, ihm wäre es unangenehm, wenn er jetzt etwas gesagt hätte, was der Erklärung bedürfe. Er erlebe, wenn er den Mund aufmache, dass er über sich selbst spreche. Ich kann nicht sagen, was ich weiß. Nur, was ich bin. Jetzt die tolle Hoffnung, er sei anderen am nächsten, wenn er über sich selbst spreche. Jeder sei sich selbst so nah. Da könnten doch alle, die über sich selbst sprechen, einander nah sein. Dann hat er hörbar aufgeatmet, hat die Zuhörer um Entschuldigung gebeten, weil er keine Beweise hat für das, was er da sagt. Aber genau das liegt ihm nicht, etwas zu beweisen. Wenn etwas bewiesen ist, ist es für ihn erledigt. Das Unbeweisbare, das zieht ihn an. Er ist dann so weit gegangen, den Leuten zu sagen, er habe einer Pfarrköchin namens Hedwig, Pfarrköchin in Merklingen, einmal gesagt, dass seine Mutter ihm gesagt habe, zu seiner Zeugung sei kein Mann nötig gewesen. Und Fräulein Hedwig habe nicht gelacht. Auf jeden Fall ihn nicht ausgelacht. Und der Pfarrer Studer habe, als er das von Fräulein Hedwig erfahren hatte, zu ihm gesagt: Auf so einen haben wir gewartet. Mehr wolle er, sagte Percy, hier heute nicht sagen. Aber ein anderes Mal mehr. Das hoffe er. Von sich. Und sagte doch noch: Glaubwürdig sein wäre das Höchste für ihn. Glaubhaft sein zu wollen, käme ihm anmaßend vor. Wenn er euch glaubwürdig wäre, wäre er nie mehr allein. Oder, um es mit Goldrand zu sagen: nie mehr einsam. Womit ich zugegeben habe, dass ich abhängig bin. Und musste noch sagen: Einer, der sich unabhängig wähnte, wäre mir fürchterlich. Einer, der abhängig ist, kann einem leidtun. Ich mir aber nicht. Ich bin nicht abhängig von dem und jenem, sondern absolut. Ich bin absolut abhängig. Absolut unselbständig. Ich bin ein Echo und weiß nicht, von was. Noch nicht. Ich habe im Lauf meines Lebens immer mehr Gleichartigkeiten mit anderen erfahren. Und je mehr ich davon erfuhr, desto mehr hoffte ich, auf Einzigartigkeit verzichten zu können. Als ich sah, wie ähnlich ich anderen war, fühlte ich meine Mängel, wenn nicht entschuldigt, so doch aufgehoben in einer allgemeineren Mangelhaftigkeit. Manchmal kriegte ich deswegen sogar etwas Stolzes. Nichts übermäßig Stolzes. Etwas Bescheiden-Stolzes. Ich sah mich dann mit meinen Mängeln im Morgenrot stehen, sah meine Mängel angeleuchtet von einer mehr Licht als Wärme spenden- 24 25 den Morgensonne und war einverstanden mit der Deutlichkeit, in der meine Mängel jetzt erschienen, und ich sagte: Also. Und rannte davon. Der wollte ich auch nicht sein. Ich habe mich nie mit mir eins fühlen können. Jeder konnte mich aus mir vertreiben. Aber meine Mutter hat das nicht zugelassen. Sie hat mich in mir befestigt. Du bist ein Engel ohne Flügel, hat sie gesagt. Mehr als einmal. Und so, dass ich's glauben konnte. Ich habe immer mehr geglaubt als bezweifelt. Und das auch noch: Was ich euch sage, ist gering. Nur dass ich es sage, zählt. Vielleicht. Dann, ganz leise: Nun habt ihr gut geschlafen und wünscht euch fort von hier zu Kräutern und zu Schafen, und zwei mal zwei bleibt vier. Einziehen, schließen, falten, eben leben, keine Steigerung, den Fall nicht nähren, nur Schnüre entwirren und sorgsam enden. Und an die Orgel, und eingeleitet. Die Leute haben mitgesungen. Heftig. Er hat den Saal so verlassen, dass er niemandem begegnen musste. Er hätte sich geniert. Das weiß er heute noch. Als Percy jetzt die im Bogenschwung nach oben in den ersten Stock führende Treppe hinaufging, schwebte er wieder. Wenn er diese Treppe hinauf- oder hinabging, schwebte er. Er war oft genug mit dem Professor diese 26 Zeit lassenden Stufen hinauf- oder hinabgegangen. Der hatte das gesagt, dass einen diese Treppe schweben lasse. Diese Treppe sage alles, sagte der Professor. Man schwebe doch aufwärts genau so wie abwärts. Keinesfalls dominiere das Gefühl, man gehe aufwärts oder gehe abwärts. Das hörte Percy gern, das übertrug sich auf ihn. Seit dem schwebte er, der Engel ohne Flügel, aufwärts und schwebte abwärts und spürte es förmlich, dass die den Treppenschwung begleitenden, die gemalten Äbte, die Reichsprälaten, ihn mit Sympathie betrachteten. Dann an der Gangwand, von der Fensterfront mit Licht bedient, ein Abt-Bild nach dem anderen. Alle mit Hermelin und Gold und Edelsteinen und jeder mit eigenem Wappen. Bei einem blieb er immer stehen: Eusebius Feinlein. Natürlich hatte auch er sich wie alle seine Abtskollegen ein Wappen malen lassen. Drei goldene Ringe im roten Feld. Seine Mitra war die schönste. Gold- und Silberfäden hatten alle, aber er hatte dazu noch farbige Muster erfundener Blumen. Er hatte sich mit weißen Handschuhen malen lassen und trug über diesen Handschuhen am Mittelfinger seiner rechten Hand einen Ring. Aber er war der Einzige, der mitten auf den Rücken seiner weißen Handschuhhand die Gemme der Stigmatisation trug. Draufge-näht, hatte der Professor gesagt, als er sah, dass Percy gar nicht mehr wegschauen konnte von dem roten Mal. Als Percy mit dem Professor zum ersten Mal vor dem Vorfahr stehen geblieben war, hatte der Professor gesagt: Wenn ich damals auf die Welt gekommen wäre, hätte ich auch Abt werden wollen in Weißenau oder Schussenried oder Obermarchtal oder Rot oder Zwiefalten oder Wieb- 27 Mund. Wenn du nicht sprichst, schiebst du die Zungenspitze zwischen die Lippen. Ich habe lästig viel Lippen, du hast diszipliniert folgsame, und die Zunge wird dir zur dritten Lippe. Der Professor sagte: Lieb, wie du mich zeichnest. Vor vierzig Jahren hatte ich wahrscheinlich auch eine Ober-und eine Unterlippe. Die Unterlippe ist weg. Ich war ein Leben lang in sie verbissen. Die Zunge ersetzt die verbissene Unterlippe. Und Percy: Wenn du wenigstens mein älterer Bruder wärst! Aber auch noch der jüngere! Ich muss dich beschützen. Du bist das Lamm. Ich der Hirte. Und jetzt sag' ich noch einen Traum. Gestern Nacht. Ein Satz. Er stockte, dann sagte er: Der Riesenzustand aller Dinge, ein eigensüchtiges Gepräng. Der Professor sagte: Du kannst dich auf dich verlassen. Schweigen. Und drückte auf den Knopf. Ein gewaltiger, aber friedlicher Chor brach los. Magnificat anima mea Dominum. Sie saßen neben einander und hörten zu, als werde ihnen etwas mitgeteilt. Immer wieder anima mea. Und jedes Mal noch sehnsüchtiger hochstrebend. Nach dem Amen saßen sie wieder, ohne zu reden, aber nicht schweigend. Als es Zeit war, sagte der Professor: Tu autem. II. Während die Leute Platz nahmen, saß Percy schon am Spieltisch der Orgel. Die Orgel war auf der den Saal umlaufenden Galerie eingebaut, auf der Stirnseite der Galerie; der Spieltisch auf einer Seite der Orgel, also könnte der Orgelspieler sehen, was drunten im Saal vor sich ging. Aber Percy wollte nicht wissen, dass da ein Saal war, der sich füllte. Er zog ein einziges Register. Das klang wie ein Holzblasinstrument. Oboe vielleicht. Er spielte mit diesem einzigen Ton, als suche er eine Melodie. Er suchte ja wirklich eine. Aber er wollte keine finden. Er wollte nur eine suchen. Immer wenn er einer Melodie hörbar nahegekommen war, brach er deutlich ab und fing deutlich wieder von vorne an. Diesmal mit einem anderen Register. Flöte vielleicht. Aber dass der Professor, der schon in der ersten Reihe gesessen war, aufstand, musste er bemerken. Also führte er sein Melodiesuchspiel zu einem fast groben Ende. Das hieß: Ich darf jetzt nicht weiterspielen. Tut mir leid. Und ging auf der in steilem Bogenschwung nach unten führenden Treppe hinunter und stellte sich neben dem Professor auf das Podest. Der sagte wie vor zwei Jahren, er freue sich, dass Anton Percy Schlugen wieder nach Scherblingen gefunden habe und wieder, wie vor zwei Jahren, zu allen sprechen wolle, die bereit seien, ihm zuzuhören. Da Anton Percy Schlugen in den zwei 163 Jahren, seit er hier gesprochen habe, auch andernorts aufgetreten sei, er nenne nur Zwiefalten, Untermarchthal und Weißenau, grenzte es an Lieblosigkeit, wenn er jetzt da nicht mehr spräche, wo er sich vielleicht als Sprecher entdeckt hat. In diesem Saal, unter diesem Himmelsgewölbe, in das alles gemalt ist, was in Europa seit mehr als zweitausend Jahren verehrenswert ist. Bitte, Percy. Percy konnte jetzt nicht gleich anfangen. Er hob die Arme, breitete die Arme aus. Eine Ich-kann-nichts-da-für-Geste. Dann aber ging ein Ruck durch die Arme, sie ruderten durch die Luft, als seien sie Flügel. Aber wieder waren es keine. Und zeigten doch, dass er eigentlich nach oben wollte. Hinauf. In dieses gemalte Himmelsgewölbe mit allen Szenen und Figuren, die nennenswert sind. Unwillkürlich lenkte er so die Köpfe, die Blicke der Leute auch nach oben. Das hatte er nicht gewollt. Aber da er selber so heftig nach oben strebte, nahm er die Leute einfach mit. Dann ließ er die Arme rasch sinken. Irgendwann, als er merkte, dass die Leute wieder zu ihm hinschauten, sagte er: Liebe Leute, das habe ich ja vor zwei Jahren schon gesagt, dass meine Mutter gesagt hat, ich sei ein Engel ohne Flügel. Wie recht sie, was die Flügello-sigkeit angeht, hat, kann einem nirgends deutlicher werden als unter diesem Himmelsgewölbe. Man möchte zu gern auffliegen. Hinauf. Einfach, weil man so sicher weiß, wo man landen möchte. Wo ich landen möchte. Nicht beim apokalyptischen Lamm in der hohen Mitte dieses bevölkerten Himmels. Auch nicht, so steil überm eigenen Kopf, in Golgatha mit allem grausamen Drum und Dran. Nein, ich möchte landen, wo das Licht landet, das 164 der Tag durch die Fenster wirft. Das viele Licht. Durch alle Fenster. Die des Saals und die der Galerie. Der mit zweitausend Jahren bevölkerte Himmel lebt von diesem Licht. Und seine hellste Stelle: Maria. Die sogenannte Himmelskönigin. Das ist die Spannung da droben. Dort Maria mit ihrem Kind und hier das Ende: Golgatha. Und um Maria herum, zu ihren Füßen, die Marienverehrer. Da möchte ich landen. Zwischen dem Denker Duns Scotus aus Schottland und dem Dichter Hermann von der Insel Reichenau. Der Schotte hat gebetet, Maria soll ihn würdig machen, sie zu loben. Aber in der Weltsprache seiner Zeit hat er das gesagt, in griffigem Latein, Dignare me laudare te. Das geht einem direkt ein. Dazu reicht das bravste Urlaubsitalienisch. Dignare me laudare te. Und zwischen dem Schotten und dem Reichenauer Mönch möchte ich landen. Hermann der Lahme, immer mit Krücke gemalt, er hat den Gesang angestimmt, der nicht mehr aufgehört hat: Salve Regina. Einmal, bei einer Führung, fragte eine Zehnjährige, wie das gehen solle, dass so viele da droben Gemalte auf Wolken stünden. Sie wurde belehrt: Schau doch, wer die Wolken trägt, die Engel. Woher haben die Engel so viel Kraft, fragte das Kind. Und der, der die Gruppe führte, sagte: Moses Maimoni-des hat gesagt, alle Kräfte, die in einem Körper wohnen, sind Engel. Es ist nicht überliefert, ob dem Kind das etwas gesagt hat. Hätte es mich gefragt, ich hoffe, ich hätte gesagt: Gemalte Engel können alles. Warum hat man den Bücherschränken hier im Saal und droben auf der Galerie Bücher auf die Türen gemalt? Hinter den gemalten Büchern waren einmal zehntausend wirkliche Bücher. Dann 165 wird das Kloster aufgelöst, ein Graf und ein König reißen sich zehntausend Bücher unter den Nagel, verscheppern die Beute ans Antiquariat, die Schränke sind leer, für immer, aber auf den Türen gibt es noch die zehntausend gemalten Bücher. Liebe Leute. Cassette vergine. Leere Behältnisse. Vergine heißt jungfräulich, heißt rein UND heißt leer. Und schon ist leer gleich rein gleich jungfräulich. Ich könnte mich im frommen Rap verlieren. Dignare me laudare te, Leere! Was immer du sonst wo heißt. Ich glaube an die Leere beziehungsweise an gemalte Bücher. Der Rest ist Gebet. Percy machte deutlich unernste, flatterhafte Flugbewegungen. Er parodierte sich selbst. Und ließ wieder seinen Blick vom übervölkerten Himmelsgewölbe anziehen. Blieb sogar so stehen: Blick nach oben, die Hände nutzlos an ihm herabhängend. Die Leute schauten auch wieder hinauf. Er wartete wieder, bis sie wieder zu ihm hinschauten. Und sagte: Liebe Leute, weil ich ängstlich bin, komme ich mir kühn vor. Ich bin der Indianerstamm, der am Anfang des Jahres die Vorratskörbe verbrennt, um zu beweisen, dass er den Göttern vertraut. Angst vor dem nächsten Winter müssten die Götter für eine Beleidigung halten. Ich, liebe Leute, stelle mich vor euch hin, mache den Mund auf und zu und bin gespannt, was der Mund jetzt wieder sagen wird. Die Götter würden es für eine Beleidigung halten, wenn ich irgendwann vorbereitet hätte, was ich euch sagen will. Dann würde ich euch jetzt ja nicht sagen, was ich euch jetzt sagen will, sondern das, was ich irgendwann vorbereitet habe. Auch dieses Problem habe ich dem Pro- 166 fessor vorgetragen. Und er: Das sei schon dem jungen Nietzsche ein Problem gewesen. Der habe es deshalb für unmöglich gehalten, dass ein Philosoph Professor sein könne, verpflichtet, immer am Mittwoch und am Freitag um io Uhr 15 öffentlich zu sprechen. Damit beraube er sich, habe Nietzsche gesagt, seiner herrlichsten Freiheit, nämlich der, seinem Genius zu folgen, wann der und wohin der ihn haben will. So der Professor. Würde also der Mund, weil ich kühn genug bin, die Vorratskörbe zu verbrennen, würde der Mund jetzt gleich auf- und zugehen, ohne noch etwas zu sagen, dann käme ich euch vor wie ein Fisch, den es ans Land geworfen hat, und jetzt japst er. Was dann? Mein Mund würde nach einer Zeit nicht mehr auf- und zugehen, nicht mehr japsen, er schlösse sich. Kein Wort mehr. Es wäre still. Still zwischen uns. Es herrscht Stille, sagt man. Dann würde also zwischen uns Stille herrschen. Bitte, das wäre prima. Vorausgesetzt, dass ihr mitmachen würdet, die Stille herrschen zu lassen. Ich will euch nicht erpressen. Wenn dieser oder jener und diese oder jene einem Lachreiz nachgeben möchte, bitte. Ich schlage die Stille nicht vor, dass ihr sie mitmachen müsst. Begreift aber, dass die Stille jetzt eintreten muss. Das kennt ihr auch. Man sagt: Dann trat Stille ein. Noch besser wäre es, wenn man sagte: Dann trat die Stille ein. Die Stille hört man, daran kann niemand zweifeln. Ich glaube, ich sehe sie auch jetzt, darum sage ich: Jetzt tritt die Stille ein. Es hob ihm wieder die Arme, die Hände, den Kopf, den Blick. Über die den Saal umlaufende Galerie hinauf. Zur gewölbten Decke. Das geordnetste Durcheinander 167 der Welt, hatte der Professor gesagt, als er die Pflegerschüler den Bibliothekssaal sehen ließ. Irgendwann hörte die Hochgerichtetheit auf, zerfiel, er stand wieder, wo er stand. Liebe Leute. Das Erlebnis des Verstandenwerdens ist das heftigste Erlebnis überhaupt. Dank Mutter Fini. Wenn Mutter Fini nicht an mich glauben würde, könnte ich an niemanden glauben. Und an nichts. Würde also niemanden verstehen. Und nichts. Wenn niemand an dich glaubt, kannst du an niemanden glauben. Glauben kann nur, wer erlebt hat, dass an ihn geglaubt wird. Das kann nicht gewollt werden. Und was ist das denn: Jemand glaubt an dich? Das sagt dir: Du darfst sein, wie du bist. Immer. Das habe ich erlebt durch Mutter Fini. Von Anfang an. Ich darf sein, wie ich bin. Wenn ich das sage, merke ich, wie es mich jetzt bestimmt. Ich habe kein bisschen Angst vor euch. Spürt ihr das auch, ihr, jeder und jede, wir? Das Seindürfen, wie wir sind. Jetzt. In diesem Augenblick. Angstlos. Alle. Er hörte auf. Er schaute nirgends mehr hin. Er stand, die Hände hingen an ihm herab. Er spürte eine Richtungs-losigkeit. Eine Zeit lang. Dann redete er weiter. Er hörte sich sagen: Ich bin mit allen per Du. Manche spotten darüber. Ich spotte da gern mit. Mein Du heißt: Ich glaube an dich. Und damit sind nicht weniger gemeint als alle. Und hörte wieder auf. Wieder war er weder leicht noch schwer. Dann hörte er sich sagen: Träumend verbring ich die Tage, trübe Ahnungen forschen in mir, die Wahrheit verschenk ich. Wenn sie wiederkommt, verwandle ich sie in etwas Erträgliches. Er ging so strikt, so entschieden auf die Empore, dass alle wussten: die Orgel. Percy hatte sich in eine Stimmung hineingeredet, in der er nicht bleiben konnte. Er illustrierte seine Stimmung ziemlich krass, suchte aber auch Hilfe bei einem Mai-Motiv: Maria durch ein' Dornwald ging. Er spielte so, als müsse er einen Knäuel, einen Knoten aus verschiedenen Bändern und Stricken und Schnüren lösen. Die Orgel eignet sich zur allmählichen Auflösung eines Knotens, den man selber geschürzt hat. Er bekannte sich dazu, dass er sich zwar gegen das Maria-Motiv wehren musste, dass er aber unterliege. Das Motiv siegte. Das spielte er so, dass die Leute wussten: Jetzt wird gesungen. Und sie sangen: Maria durch ein' Dornwald ging. Dann begleitete er sie mit der Orgel hinaus. Als er wie von selbst aufhörte, saß nur noch der Professor in der ersten Reihe. Sie gingen. Blieben im Haus. Im ersten Stock in der Prälatur war ein Vesper für sie vorbereitet. Alles aus der eigenen Produktion. Wenn du nicht so jung wärst, sagte der Professor, würde ich dich Sokrates nennen. Eine Redeformel des Professors nachmachend, sagte Percy: Etz kumm! Ich meine deine Tugend des Unvorbereitetseins, sagte der Professor. Sokrates sagt, hör zu: Auch würde es sich ja schlecht ziemen, ihr Männer, in solchem Alter gleich 168 einem Knaben, der Reden vorbereitet, vor euch hinzutreten. Dann sagte er: Tu autem. Percy ging. Wie es sich gehörte. Auf seinem Zimmer ein Brief. Von Dr. Bruderhofer. Er las: Lieber Anton Percy Schlugen, Eva Maria, meine geliebte Frau, feiert heute ihren Geburtstag. An diesem Tag will auch ich nichts anderes feiern als ihren Geburtstag. Nur darum muss ich heute darauf verzichten, Ihr Zuhörer zu sein. Das bedaure ich. Mit freundlichen Grüßen, Ihr Dr. Heinfried Bruderhofer. Percy las den Brief mehr als einmal. Am Fenster stehend las er ihn. Und auf einmal las er die Anrede so: Lieber Anton Percy von Schlugen. Nichts konnte deutlicher sein als das Gefühl, dass dieses von, wenn es nicht da stünde, fehlen würde. Und dachte natürlich an Mutter Fini. Und wenn er an Mutter Fini dachte, dachte er: dem Leben zuliebe. Später, an diesem Abend, kam die Angst zurück. Du bist zu wenig negativ, noch nie ist jemand ohne Verneinung ausgekommen, ohne Verneinungskraft wirst du nicht ernst genommen. Du musst Verneinen lernen. Und stand auf und sagte zur Wand hin, als wäre das ein Publikum: Ich verneine die Verneinung. Und es blieb als eine Art Glücksgefühl, dass er heute, sooft er auch zu den Leuten hingeschaut hatte, immer so hingeschaut hatte, dass er keinen Einzigen wahrgenommen hatte. Er wusste nicht, wer da gewesen und wer nicht da gewesen war. Zum Glück. i/o 12. Talkshow Susi: Meine Damen und Herrn, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer zu Hause, jetzt wird es, wenigstens für mich, riskant. Da Fred und ich es immer so halten, er spricht mit den weiblichen, ich mit den männlichen Gästen, deshalb darf also, soll also, muss also ich mich mit Herrn Anton Schlugen, genannt Percy, beschäftigen. Ich hoffe, die Unterhaltung mit Herrn Schlugen, genannt Percy, wird zeigen, warum ich sage, jetzt wird's, wenigstens für mich, riskant. Andererseits, was wäre ein Leben ohne Risiko. Einverstanden, Herr Schlugen? Percy: Mutter Fini hat zu mir gesagt: Du bist ein Engel ohne Flügel. Das hat für mich geheißen: Du wirst zwar nie fliegen, aber auch nie abstürzen. Also kein Risiko weit und breit. Susi: Da sind wir ja schon mittendrin. (Sie schaut auf einen ihrer Zettel.) Aber fangen wir vorne an. Warum genannt Percy? Percy: Das hat Mutter Fini so gewollt. Susi: Hat sie Ihnen gesagt, warum? Percy: Percy Sledge. Susi: Der Soulsänger der siebziger Jahre. Percy: Genau. 171 Knopf, die Musik schlug über ihnen zusammen wie eine Woge. Percy dachte: Wenn du alles meiden musst, was dich zu Sandra hinlenkt, musst du das Leben meiden. Vergeh doch, Tag, bevor du angefangen hast. Dachte Percy. Stopp die Litanei der Wünsche. Dachte er. Nichts ist so unbegreiflich wie die Aussichtslosigkeit. Dachte er. Ich begreife nicht, warum ich das nicht begreife. Und konnte an Augustin Feinlein denken wie noch nie. Lern Schreie ausstoßen, die du selber nicht mehr hörst. J7- Pfarrer Studer sagte: Grüß Gott, werte Frauen, werte Männer. Dass der Große Pfarrhaussaal übervoll werde, habe er nicht gehofft, sondern gewusst. Und zwar von selbst. Er hat's einmal drüben in der Kirche gesagt, dann hat es sich herumgesprochen. Bis nach Scherblingen und über Scherblingen hinaus. Merklingen freut sich. Der Percy wird sprechen, hat er in der Kirche gesagt. Und ihr, werte Frauen, werte Männer, seid gekommen, ihn zu hören. Am Tag, an dem wir Marias Unbefleckte Empfängnis feiern. Und Samstag ist auch. Und Fräulein Hedwig ist heute heimgekommen, aus der Klinik. Also, Percy, komm jetzt. Percy wollte das Podest weder schwungvoll noch mühsam besteigen, sondern irgendwie. Dann stand er droben, Pfarrer Studer saß schon drunten. Percy sagte: Liebe Leute. Er sah ins Publikum und sah niemanden. Liebe Leute, sagte er noch einmal. Ist die Vorstellung, dass wir, die Verlassenen, etwas mit einander zu tun haben, nicht schönheitsfähig? Ich frage euch! Ich habe gehört, aus der Antike: Die Wachenden haben eine gemeinsame Welt. Die Verlassenen auch, sage ich. Wer ist denn nicht verlassen. Leute, die sich selbst genügen, sind mir unheimlich. Ich, der Verlassene, bin mir nicht genug. Verlassen zu 469 sein, ist ein Schuh, der auch drückt, wenn man ihn nicht anhat. Die Höhle in jedem von uns, in der das Dunkel Platz hat, das zu uns gehört, dürfen wir Gott nennen. Und sei sie leer, diese Höhle. Leute, denen die Leere fremd ist, sind mir fremd. Lasst die Leere zu. In ihr ist Gott daheim. Er ist sich nicht zu gut, der Lückenbüßer zu sein für jeden Mangel der Welt. Kümmert euch nicht um Gott, wenn Gott sich nicht um euch kümmert. Dann erst spürt ihr, wie er sich um euch kümmert. Mein Souffleur Emanuel Swedenborg sagt: Diese Nacht schlief ich ganz ruhig. Ich konnte die Augen öffnen, wenn ich wollte, war also wach. Von einer Freude erfüllt, die empfand ich am ganzen Körper. Alles wollte empordrängen, in die Höhe fliegen und dort in einen höchsten Mittelpunkt münden. Diese höchste Mitte, das war der Ort der Liebe. Alles war ein Kreisen um die Liebe. Wo Liebe fehlt, springt Hass ein. Ich kann sagen, was ich erfahren habe. Es gibt Menschen, die haben etwas gegen andere, ohne dass diese anderen etwas gegen sie haben. Es gibt den Unwillen von Menschen gegen andere. Sie finden etwas, was ihnen an anderen nicht gefällt. Dann verurteilen sie die anderen. Dadurch, dass sie andere verurteilen, sind sie unwillkürlich besser als die, die sie verurteilen. Mit jedem Verurteilungsakt werden sie größer, besser, vielleicht sogar berühmter. Ich darf nicht sagen, sie verurteilen andere, machen andere herunter, um selber besser und größer dazuste- hen. Dass sie durch das Runtermachen anderer sich selber deutlicher werden, ist sicher. Aber dass sie andere heruntermachen, um selber besser dazustehen, darf man nicht sagen. Die Heruntermacher bersten vor Gründen. Lieben braucht keinen Grund. Lieben, bevor wir geliebt werden! Lieben, nachdem wir geliebt worden sind! Uns geht die Sonne immer auf. Den Heruntermachern geht sie immer unter. Die Heruntermacher würden den, den sie vor unseren Augen heruntermachen, kaum heruntermachen, wenn sie ihm allein am Meer oder in der Wüste begegneten. Das ist unsere Rolle: Das Heruntermachen findet statt, weil wir zuschauen. Je mehr wir den Heruntermacher zur Kenntnis nehmen, umso größer wird er. Jetzt nähere ich mich dem fundamentalen Geständnis: Ich finde das Hassen, das Heruntermachen nicht schön. Es findet statt als Kunst. Gerade stand in der Zeitung, ein berühmter Heruntermacher habe in einem Buch geschrieben, sie, also die Heruntermacher, seien genau so verlogen wie die, denen sie diese Verlogenheit andauernd vorwerfen und derentwegen, habe er in einem Buch geschrieben, sie diese Leute fortwährend in den Schmutz ziehen und verachten. Wir sind überhaupt um nichts besser, habe er, stand in der Zeitung, geschrieben. Das wurde dem Heruntermacher hoch angerechnet, dass er sich selber nicht besser findet als die Heruntergemachten. Tatsächlich wäre dem, der heruntergemacht wird, geholfen, wenn der Heruntermacher sich selber auch abstoßend fände. Aber während 47° 471 der Heruntergemachte immer im Singular umständlich genau heruntergemacht wird, löst sich der Heruntermacher im Plural auf: WIR sind überhaupt um nichts besser, hat er geschrieben. Und warum nicht auch im Singular: Ich bin überhaupt um nichts besser? Das ist ein welterschütternder Unterschied. Im Heruntermachergelände: hohe Kunst. Aber mir bleibt die Luft weg, wenn ich einen Heruntermacher erlebe. Ich brauch' dann dringend etwas Schönes. Zum Glück stellt sich ein die Szene aller Szenen. Der Engel Gabriel kommt zu Maria und sagt, sie soll die jungfräuliche Mutter des Gottessohns werden. Schöner kann keine Botschaft sein. Maria, die Leihmutter, vom Heiligen Geist gewählt. Und sie wehrt sich nicht. Sie tut's. Das ist die tollste Story, die je erzählt wurde. Der schönste Einfall, den Menschen je hatten. Bei mir gibt an einer Story immer der Schönheitsgrad den Ausschlag. Und genau an einem solchen Tag kommt Fräulein Hedwig zurück. Sie hat gesagt: Dem Leben zuliebe kommt sie zurück. Ein Satz wie ein Hochsprung. Je schöner eine Vorstellung ist, umso willkommener ist sie mir. Jetzt sehe ich die Flamme auf euren Köpfen. Ich hoffe, ihr seht die Flamme auf meinem Kopf. Ich spüre die auf meinem Kopf landende Wärme. Und fährt ein in mich und durch mich durch bis in die Zehenspitzen. Dann wäre ich eine Lichtbahn. Eine heiße Lichtbahn. Das verdanke ich euch. Ihr seid in diesem Augenblick die Daseinsdeutlichkeit, die auch Gott heißt. Wer dich aus deinem Mangel erlöst, darf Gott heißen. Wer Gott nicht selber erlebt hat, kann mir nichts von ihm erzäh- len. Der heilige Nikiaus von Flüe hat das so gesagt: Mein Herr und mein Gott, nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir. Swedenborg, Emanuel, der große Große aus dem Norden, sagt das genau so: Allmächtiger Gott, ich bitte dich um die Gnade, dein sein zu dürfen und nicht mein. Und schon stand Pfarrer Studer neben ihm, gab den Ton an und den Einsatz und stimmte selber an: Meerstern, ich dich grüße - oh, Maria, hilf! Alle sangen sofort mit. Und zwar alle drei Strophen. Percy blieb neben dem Pfarrherrn stehen und sang mit. Nach dem letzten Ton verneigte er sich kurz und ging durch den Mittelgang hinaus. Die Leute klatschten. Das konnte ihm nicht recht sein. Die alles planierende Routine. Er hätte sich nicht verneigen dürfen! Es gelang ihm, in sein Zimmer zu kommen, ohne noch mit jemandem sprechen zu müssen. Dann klopfte es. Es war Fred. Er wollte gratulieren. Percy brüllte ihn an: Schluss, Schluss, Schluss! Fred kam ganz nah zu ihm, legte ihm die Hände auf die Schultern, zog ihn zu sich hin, hielt ihn fest und sagte leise: Percy, Percy, Percy. Weil Percy sich das gefallen ließ, sagte er dann: Komm in die Stube, Fräulein Hedwig hat ein Vesper gerichtet. Percy ging mit. In der Stube waren nur Fräulein Hedwig und der Pfarrherr. Sie aßen, tranken, redeten über die Leute. Jeder wusste irgendetwas über irgendjemanden im Publikum. Der Pfarrherr sagte, besonders gefreut habe ihn, dass aus Scherblingen auch der Pfarrer Weimer da gewesen sei. 472 473 Nach dem Vesper sagte Fred: Herr Pfarrer, vielleicht können Sie Percy vermitteln, dass das eine Kriegserklärung war. Percy sagte leichthin: Du bedienst die Dauer, ich den Augenblick. Dann diskutierten der Pfarrer und Fred darüber, ob, was Percy gesagt habe, eine Kriegserklärung gewesen sei. Percy nahm eine Hand von Fräulein Hedwig. Er brauchte jetzt Hedwigs Hand. Ihm fiel Katzes Satz ein: Pass auf auf den Hochlenker. 18. Briefe. Mutter Fini schrieb: Lieber Anton Parcival, endlich die sicherste Kunde, überhaupt. Wir stammen also doch aus dem Badischen. Gottfried Werdenfels und Heinrich Schlugen sind von Kaiser Friedrich III. als kaiserliche Räte nach München geschickt worden, um die Vermählung des Herzogs Albrecht von Baiern mit Kunegund, der Tochter des Kaisers, zu verhindern. Sie kamen aber zu spät. Die Hochzeit war schon vorbei. Dann, zurück beim Kaiser, gelang es Heinrich Schlugen, den zornigen Kaiser zu überzeugen, dass der Werdenfels schuld sei, sowohl am Zuspätkommen wie auch an der Hochzeit selbst. Uber den Werdenfelser wurde die Acht und Abacht verhängt, Heinrich Schlugen sollte der Vollstrecker sein. Nach erfolgreicher Vollstreckung wurde Heinrich vom Kaiser in den Grafenstand erhoben. Deine Mutter ist glücklich, Dir dies melden zu können. Damit sind wir Grafen, lieber Anton Parcival, und zwar seit 1488. Dass die Geschichtsbücher korrigiert werden, wird Deine Mutter schon besorgen. Deine vor Glück überströmende Mutter Fini. 475 nen des früheren Chorraums waren eine Kapelle und ein Turm gebaut worden. Da fand sich dann Percy, von Pfarrer Anton sanft geleitet. Es war nur eine Nische, in der ein Altar wartete. Der Pfarrer zündete ein paar Kerzen an. Vor dieser überdachten Kapellennische stieg das Gelände gleich wieder an. An diesem Hang gab es im weiten Halbkreis Bänke, auf denen schon Leute Platz genommen hatten. Der Pfarrherr gab zu, dass er Percys Besuch am vergangenen Sonntag in der Kirche angekündigt hatte. Und als beichte er eine Sünde, sagte er, dass er gesagt habe: Der vom Fernsehen bekannte Percy Schlugen. Wie der Pfarrer ihn in diese Nische, zu diesem Altar geleitet hatte, erlebte Percy wieder als eine seelenschonende Rücksicht. Percy sollte selber entdecken, dass er an einer geweihten Stelle stand. Den Schritt hinaus aus der Kapelle tat er also nicht. Er hatte noch nie von einer geweihten Stelle aus zu Leuten gesprochen. Pfarrer Anton begrüßte die Leute ganz fröhlich. Dass er überhaupt ein fröhlicher Mensch war, der sich von einer Begeisterung in die nächste tragen ließ, hatte Percy schon am Abend zuvor erlebt. Und er war jetzt vor den Leuten, den Pilgern, kein bisschen anders als im Pfarrhaus. Pfarrer Anton sagte zu den Leuten, das sei doch ein glücklicher Tag heute. So ein Wetter, so ein Sonntag, so ein Besuch, und ihr, liebe Leute, jeder und jede von euch, ein Glücksfall für mich. Dass ihr heute hier heraufgekommen seid, ist der Rede wert. Den Segen nachher, zuerst, glaube ich, ergreift Anton Percy, unser Gast, das Wort. Anton, sei so gut. 484 Percy stand, sah hinaus und hinauf zu den Leuten und sagte: Lass mich nicht allein. Liebe Leute. Maria Hilf hat die Kirche geheißen. Meine Mutter hat in diesen Ruinen mehr als eine Predigt gehört. Ich bin kein Prediger, ich sage, was ich jetzt am liebsten sagen möchte: Lass mich nicht allein. Zu wem sag' ich das? Pfarrer Anton spricht euch an. Der kann das. Der kann sich das leisten. Ich spreche euch nicht an. Ich sage zu euch nicht: Lasst mich nicht allein. Lass mich nicht allein, sag' ich. Als gebe es jemanden, der mich hört. Lass mich nicht allein. So schaff ich mir ein Gegenüber. Das nicht da ist. Das es aber gibt. Sonst könnte ich doch nicht sagen: Lass mich nicht allein. Wir sagen etwas, und dadurch machen wir etwas. Ich sage diesen Satz heute zum ersten Mal. Es ist ein bittender Satz, kein befehlender. Lass mich nicht allein. Wir hören das Bittende, das Flehende. Und wenn ich ihn sage, dann spüre ich, dass ich dazugehöre, zu denen, die nicht alleingelassen werden wollen. Aber ich bin ja schon alleingelassen, sonst hätte ich den Satz nicht sagen können. Es herrscht ein Mangel. Oh, Maria, hilf. Hier, an der Kapellenwand, die Danksagungstäfelchen für die erlebte Hilfe. Das waren noch Zeiten. Lass mich nicht allein. Ich sag' es eher zu Maria als zu Gott. Gott ist keine Adresse. Hat keine Adresse. Maria hat ein Gesicht. Ich kann immer noch an Sätze glauben, die nichts bringen. Meine Mutter, die als Kind dreimal mit ihrem frommen Vater hier auf dem Welschenberg war, meine Mut- 485 ter hat mir mehr als einmal den Satz gesagt, den ihr Vater gesagt hat angesichts dieser Ruinen: Die Ruinen der Zukunft. Hat er gesagt. So mutlos war er schon. Ich habe einen Traum gehabt. Von einem Rothkehlchen. Dazuge-sagt: Wo immer ich länger als zwei Wochen gewohnt habe, hat sich immer ein Rothkehlchen um mich gekümmert. Wenn ich ein Wappentier brauchte, es wäre das Rothkehlchen. Jetzt mein Traum: Ich hänge mein T-Shirt auf einem Bügel vors Fenster zum Trocknen. Ein Rothkehlchen setzt sich auf die Hemdschulter. Fliegt wieder weg. Ich verstehe das als eine Aufforderung. Ziehe das Hemd an, stehe am offenen Fenster, das Rothkehlchen fliegt her, setzt sich auf meine Schulter und sagt mir ins Ohr: Machdr nüt druus. Das war im Sommer. Ich war in der Schweiz. Da sprechen die Rothkehlchen natürlich nicht Schriftdeutsch. Mach dir nichts draus. Als mir im Sommer das Rothkehlchen das ins Ohr sagte, hab ich noch nicht gewusst, was gemeint war. Jetzt, da ich sagen muss: Lass mich nicht allein, jetzt weiß ich, auf was das Rothkehlchen mich vorbereiten wollte. Percy senkte den Kopf. Er widerstand der Versuchung, die Hände zu falten. Es war eine Hilfe, dass es jetzt angefangen hatte zu schneien. Die Flocken fielen wie vorsichtig. Als wüssten sie noch nicht recht, wohin. Lass mich nicht allein. Andererseits, wenn dir nichts wehtut, gibt es dich nicht. Den Schmerz willkommen heißen. Das üb' ich, wie andere Klavier oder Geige. Aber ein Virtuose werd' ich nicht. Das versprech' ich euch. Das wisst ihr schon von mir, dass ich gegen nichts bin. Wie könnte ich dann gegen den Schmerz sein. Ich übe hier schon. Vor euch. Was ich vor euch gesagt habe, muss ich halten. Das dauert, bis man allem, auch dem Schmerz, zustimmen kann. Aber wenn man dem Zustimmenkönnen näher kommt, nimmt ein Segen zu. Ein neues Selbstgefühl. Schon die Annäherung hat Unterschiede in der Welt erlöschen lassen. Dann gibt es keine mehr. Du hast den Zustand des Allem-zustimmen-Könnens erreicht. Hoffentlich nehmen die, die sich jetzt genötigt sehen, mich zu schimpfen oder zu schmähen, mir nicht übel, dass ich ihnen genau so zustimme wie denen, die mich herzlich gelten lassen. Ich will nicht sagen, das, was gegen mich gesagt werden muss, sei nichts wert. Ich will jedem Versuch, mich lächerlich zu machen, mich zu vernichten, zustimmen. Wenn es aussieht, als sei ich schon fast erschöpft vor lauter Zustimmung, dann täuscht das. Im Gegenteil. Ich bin beseligt. Erfüllt vom Glücksgefühl. Der Frieden ist ausgebrochen. Erklärte und nicht erklärte Kriege hören grundlos auf. Sie hören auf, als hätte es sie nie gegeben. Auch wenn mich das zunehmende Schneien kühner macht, als ich bin. Das Schneien macht die Welt schön. Unsere wichtigste Begabung: Wir finden etwas schön. Der Hass findet alles hässlich. Die Liebe findet alles schön. Jeder setzt sich jetzt seinen Hut auf wie einem anderen. Er setzte sich seinen runden Lederhut auf. Und sagte: Es schneit so schön, wie es noch nie geschneit hat. Ich habe gerade Sätze gesagt, die weiter gehen als ich. Und 486 487 lasse mir von Emanuel Swedenborg, dem heiligen Geist aus dem Norden, gesagt sein: Die Fehler stammen von mir, nicht aber die Wahrheiten. Dann sagte er überlaut und ganz hell: Jetzt übernimmt Pfarrer Anton. Komm! Und Pfarrer Anton, der ganz unbemerkbar in der Ruine, in einer Art Sakristei, verschwunden war, trat jetzt heraus, angetan mit Alba und Stola, die er im Rucksack heraufgetragen hatte. Er begann mit dem Kreuzzeichen, das machten alle mit. Dann sagte er: Seht, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde, und dessen, was vorher war, wird man nicht mehr gedenken. Freude wird sein und Jubel über das, was ich schaffe. Die Leute: Halleluja. Der Pfarrer: Komm, Herr Jesus! Dir sei Lob und Ehre in Ewigkeit. Die Leute sagten: Amen. Dann stimmte er an: Gegrüßest seist du, Königin, erhabene Frau und Herrscherin, o Maria, o Maria. Freut euch, ihr Kerubim, lobsingt, ihr Serafim, grüßet eure Königin: Salve, salve, salve, Regina. Percy fühlte sich wohl bei diesem Lied. Er genoss die innige Inhaltslosigkeit. Nach dem Lied segnete der Pfarrer die Leute, die jetzt eine Gemeinde waren: Den Weg des Friedens führe uns der allmächtige und barmherzige Herr. Sein Engel geleite uns auf dem Weg, dass wir wohlbehalten heimkehren in Frieden und Freude. Und morgen eine schöne Weihnacht feiern. Die Leute sagten: Amen. Dann gingen sie auseinander, der Pfarrer verschwand wieder in der Kapelle, Percy stand und sah zu, wie die Flocken allmählich dichter fielen. Er setzte seinen runden Lederhut, den er während der Andacht wieder abgenommen hatte, wieder auf. Jetzt der Psalm, sagte er. Mein Freund, er ist schon tot, war ein Psalmist. Ihm folg' ich. Und ganz hell, fast hoch, sagte er hinaus ins dichter werdende Schneetreiben: Man wird doch noch psalmo-dieren dürfen, oder! Pfarrer Anton, jetzt wieder neben ihm, sagte: Jetzt und immerdar. Und Percy: Ich könnte jetzt ohne weiteres in die Luft marschieren. Ab nach oben. Lieben macht leicht. Der Pfarrer: Kyrie eleison. Percy sagte: Ich steige um auf die Eisscholle und zünde ein Feuerchen an. Dann sink' ich mit gefalteten Händen ins eisige Wasser. 488 489 bedeckt. Er in verschiedenen Booten. Immer hart am Wind. Sprühende Gischt. Und er auch in der schrägsten Lage ganz entspannt. Groß, schlaksig, heiter. Die Postkarten des Ägäis-Seglers treffen, wenn Dr. Bruderhofer wieder zurück ist, immer noch ein und werden immer noch ans Schwarze Brett geheftet. Vorbeigesegelt an Pa-tara, wo Nikolaus geboren wurde. Vorbei an Kaie, früher Myra, wo Nikolaus Bischof war. Und in Patara ist Paulus umgestiegen, als er von Ephesus kam, auf der Reise zurück nach Judäa. Heilige Namen. Zwei Jahre hat Paulus in Ephesus seine wichtigsten Briefe verfasst. Und Johannes adressiert seine Offenbarung, die geschrieben wurde auf Patmos, das der Segler links liegenlässt, Johannes adressiert an sieben Gemeinden, die erste davon ist Ephesus, an den Engel der Gemeinde Ephesus, darin der Satz, der mich immer trifft: Ich werfe dir aber vor, dass du deine erste Liebe verlassen hast. Und Johannes ist dort begraben, und Maria soll dort ihre letzten Jahre verbracht haben. Dass sie überhaupt im Kreise der Artemis-Stadt Ephesus notiert wird, ist Botschaft. Die Kinder haben im alten Lykien immer nach der Mutter geheißen. Es gibt keine Gegend in der Welt, in der es die Frauen weiter gebracht haben als dort. Zuerst hieß die Anbetbarkeit Kybele, dann Artemis, dann Maria. Homer ist auch von dort und Heraklit. Aber immerhin, Dr. Bruderhofer segelt wenigstens vorbei. Ich hab es nie auch nur in die Nähe geschafft. Eva Maria ist heiter. Ich bin sicher, dass sie die Gesellschaft an Bord jeden Abend zum Lachen bringt. Sie selber lacht kaum. Heiter, nicht weich, der Mund steht 326 ein bisschen vor, sie 'könnte ein Knabe sein. Dieses Gesicht kann nicht älter werden, vor lauter schönster Gefasstheit. Ich schau nicht hin, wenn das Leben an mir vorbeigeht. Ich will das Leben, das an mir vorbeigeht, nicht sehen. Ich schaue weg, wenn das Leben an mir vorbeigeht. Man nagt an den Fehlern herum, die so viel kleiner waren als die Folgen. Die Welt ist scharf auf Bestrafung. Jeder muss, um seine Strafe zu ertragen, ein bisschen strenger strafen, als er gestraft worden ist. Ein Strafcrescendo seit Jahrtausenden. Da kommt schon was zusammen. Es ist das Gegenteil von Hilfe, wenn selbst mein heiliggesprochener Namenspatron in seinen Bekenntnissen gesteht: Trotzdem heilte jene Wunde nicht, die mir die Trennung von meiner früheren Geliebten geschlagen hatte. Hoffnungslose Qual erfüllte mich. Seit ich die Madonna in Sant' Agostino gesehen habe, wie sie, das Kind auf dem Arm, hinunterschaut zu den zwei armseligen Pilgern, die zu ihr viel inniger hinaufschauen, als sie zu ihnen hinunterschaut, seit ich diesen kleinen hellen Fuß gesehen habe - nur ihr Gesicht ist genauso hell -, diesen schwebenden schwerelosen kleinen Fuß und dieses Teilnahme wie ein Almosen spendende Gesicht, seit dem hat die Sehnsucht ein Ziel. Die Cara-vaggio-Madonna hat es gegeben. Sie ist mein Jenseits. An sie zu glauben ist einfach. Durch sie wird die Welt schöner, als sie ist. Oder hört jemand mich schreien? Ich werde dich immer lieben. Bis bald. Siebzehn Jahre spä- 327 ter: IN LIEBE, Eva Maria. Solange noch etwas möglich ist, glaubt man nicht. Unmöglichkeit kann man nur mit dem Glauben beantworten. Der Hochsprung. Von der Schwere geschleudert. Ans Firmament. Es küssend, erwachst du. Schäm dich nicht. Meine Lage: Ich weiß nicht, wen ich hassen könnte. Ich muss hassen und finde keinen, den ich hassen könnte. Wenn ich nicht den Beruf hätte, den ich habe, würde ich sagen: Das macht mich krank. Ich bin ein Versager. Wenn du keinen findest, den du hassen kannst, bist du ein Versager. Hassen ist gesund. Ich sehne mich danach, hassen zu können. Umsonst. Also komme ich mir vor wie eine Supermarktschmiere, die hundert Verwendungen hat und für keine taugt. Mir haben die Undurchschaubarkeiten ein Dasein geliefert, in dem ich verurteilt bin, meinen Feind, wenn nicht zu lieben, dann doch so zu erleben, dass Hass undenkbar ist. Dr. Bruderhofer ist nicht hassbar. Ich könnte ihn umbringen, aber nicht hassen. IN LIEBE. Ist das nicht deutsch? Ist das nicht ein Zuruf? Für immer? Ist das keine Reliquie? Bei meinem Vorfahr hätte ich lernen können, es ist nicht wichtig, dass Reliquien echt sind. Glauben ist eine Fähigkeit. Eine Begabung. Eine Kraft. Du spielst den Ball. Er kommt zurück, je nachdem wie du ihn gespielt hast. In der Sakristei steht im extra verschlossenen Fach die Strahlenmonstranz mit dem Abtwappen und den Rosenkranzmedaillons, ein goldenes Kreuz, da, wo sich die Balken schneiden, der Bergkristall, in den das heilige Blut eingelassen ist. Versiegelt vom Abt Benedikt Mangold. Wer ^|d er- nicht sieht, stirbt innerhalb eines T ^^a" Wir stellen uns immer etwas ^ künde. Auch die Leere ist eine Vc es den Himmel nicht gibt. Aber es g. so die Hölle. Wir haben sie geerbt. Himm. nen sind wir ausgestattet mit Himmel und K allem dazwischen. Himmel und Hölle existier., dass wir daran glauben. Aber wir glauben ja daran. ^ von selbst. Unwillkürlich. Wenn es den Himmel gäbe, könnten wir nicht daran glauben. Erst wenn uns auffällt, dass wir daran glauben, merken wir, dass wir nicht daran glauben. Dieses Nichtglauben unterscheidet sich kein bisschen vom Glauben. Das ist EINE Art von Gefühl oder Existenz. Immer unterschieden vom Wissen. Der Vorfahr: Wir glauben mehr, als wir wissen. Und die Wörter taten ihm dann weh. Ich möchte mich auch durch Sprachlosigkeit unangreifbar machen. Ich möchte gern gegen mich vorgehen, wenn ich mich bei solchem Wörterschleudern antreffe. Ich möchte einen Prozess anstrengen gegen mich. Obwohl ich weiß: Je ernster ich den Prozess gegen mich betreibe, desto unernster meine ich es. Das ist ein Gesetz. Jeder kann es bei sich, mit sich nachprüfen. Je ernster einer den Prozess gegen sich betreibt, desto eher wird daraus Ironie. Dass es die Himmelskönigin Maria höchstpersönlich war, die das weiße Ordensgewand dem Ordensstifter Norbert überreicht hat, wird vom Vorfahr nirgends bezweifelt. Das gehört bei ihm zum Kapitel: Glauben, eine Verschönerung der Welt. 328 IN LIEBE. Was wäre mein Leben ohne diese zwei Wörter. Ich werde dich immer lieben, hat seit dem keine Kraft mehr. Das ist ein Satz wie aus einem Formular. IN LIEBE ist mein Jenseits. Glauben, was nicht ist. Dass es sei. Jedes Mal wenn eine Feindseligkeit wachsen will gegen die, die sich mühelos bewegen, erscheint IN LIEBE. Erscheint nicht optisch, nicht akustisch, sondern spürbar. IN LIEBE. Wenn du nicht wärst, könnte ich nicht die ganze Nacht ins Dunkel schauen. Du taufst meine Schlaflosigkeit. Meine Armut will keinen Namen als den deinen. Dieses Nichtbeimirbleibenkönnen nenn' ich Sehnsucht. Ist kein Zustand, sondern eine Bewegung. Rasend langsam. Mein Jenseits ein Bedürfnis, ein Mangel, ein Fehl. Ich bin froh, dass ich etwas nachzuschlagen habe. Hoffentlich brauch' ich lange, bis ich es finde. Von allen Menschen gleich weit weg, dann bist du am richtigen Ort. Dass jetzt niemand an mich denkt, hilft, Dabei müsste ich froh sein, wenn Dr. Bruderhofer in diesem Augenblick nicht an mich dächte. Er denkt aber an mich. Caravaggios David hat in der ausgestreckten Linken den Kopf Goliaths, den er ihm gerade abgeschlagen hat. An den Haaren lässt er den Kopf baumeln. David, das Schwert noch in der Hand, ist ganz jung, Goliath ist mehr als doppelt so alt. Und ist, heißt es, ein Selbstporträt des Malers. Gemalt zwei Jahre vor seinem Tod. Ich muss Dr. Bruderhofer eine Karte mit diesem Bild ins Fach legen. Er wird sich und mich in diesem Bild erkennen. Aber er wird nicht bemerken, dass ich der Maler bin. Wenn man sich nicht mehr eingestehen darf, wonach man sich sehnt. Aber dass der Glauben die Welt schöner macht als das Wissen, stimmt-doch. Der Seele die Augen ausstechen. Den Ohren das Denken verbieten. Ich habe gelernt, so leise zu schreien, dass ich mich selbst nicht mehr höre. Dass es ernst ist, wissen wir, aber wir glauben es nicht. Die Welt entspricht dir nicht, aber du sollst ihr entsprechen. Gäbe es Gott, dann gäbe es kein Wort dafür. O Augustinus! Si comprehendis, non est deus. 33° I. Meine Mutter hat mich, als ich drei Tage alt war, mit dem Kissen zugedeckt und das Kissen auf mein Gesicht gedrückt, um mich zu ersticken. Das ist ihr nicht gelungen. Also hat sie mich - ich wurde am i. Januar geboren - ans offene Fenster gelegt. Erst, als auch daraus nichts wurde, hat sie mich im Fürsorgeerziehungsheim Oberbieber bei Neuwied am Rhein vor die Tür gelegt. Da bin ich, weil ich nicht das zweifelhafte Glück hatte, Adoptionswilligen zu gefallen, geblieben, achtzehn Jahre lang, habe in der heimeigenen Werkstatt eine Schreinerlehre durchgezogen, dann aber hinaus, die Mutter gesucht. Und gefunden. In Mainz. Sie war gerade am Sterben und konnte mir noch sagen, was sie mit mir vorgehabt hatte. Sie habe mir dieses Leben ersparen wollen, sagte sie. Für diesen Satz habe ich sie gestreichelt. Sie lächelte. Und starb. Wir Bettnässer mussten die Laken, die wir selber gewaschen hatten, mit ausgestreckten Händen am Heimtor in die Luft halten. Barfuß bis in den November. Für eingefangene Ausreißer gab es Glatzeschneiden. Wer beim Ahrenauflesen barfuß nicht spurte, kriegte von Pfarrer Fangmüller die Stockbehandlung. Pfarrer Fangmüller war alles in einer Person. In den Gesangsstunden brüllte er los, wenn das Singen ihm nicht genügte. Staatskrippenfresser, Parasiten. Aber am Sonntag auf der Kanzel 189 war er großartig, mitreißend. Auch sich selber riss er mit. Weinte und holte umständlich ein riesiges rotes Taschentuch mit weißen Punkten unter seinem Pfarrerhabit hervor und wischte die Tränen ab, die er hatte vergießen müssen, weil er so toll gepredigt hatte. Keine Predigt ohne den Satz: Das Leben ist eine Sackgasse. Dann kam, dass es mit Hilfe Christi keine Sackgasse mehr ist. Wie das ging, habe ich vergessen. Dass es eine Sackgasse ist, ist mir geblieben. Zweimal habe ich selber versucht, mir diese Sackgasse zu ersparen. Beim Blaubeerenpflücken mit der scharfkantigen Sammelbüchse übers Handgelenk und, als Ausgerissener, hoch vom Baum gesprungen. Zweimal missglückt. Wie jetzt das dritte Mal auch. Zum Leben verurteilt. Lebenslänglich. Abendabitur. Finanziert durch die Betreuung kriegsverletzter vietnamesischer Kinder. Phosphorbrandbomben-verletzt, weggeschossene Beine. Tübinger Student, erfolgreich wie noch nie, bis der Oberschulamtspräsident Weiß am i. z. 1974 befindet: Das Oberschulamt sieht sich nicht in der Lage, Sie, Ewald Kainz, einzustellen. Zweimal in die DDR gereist, Spartakus-Kandidat bei den Wahlen zum Großen Senat der Universität. Die Zweifel an Ihrer Verfassungstreue können auch durch Ihre Erklärung, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten, nicht zerstreut werden. Ohne Effekt, dass Eltern und Kinder des Mössinger Quenstedt-Gym-nasiums für den Studienreferendar Ewald Kainz ans Kultusministerium schrieben, weil er doch über das Erwart- 190 bare und Verlangbare hinaus Lehrer, ein sehr beliebter Lehrer gewesen sei. Was hat er alles mit der Musik-AG hervorgebracht. Nein danke. Der Präsident Weiß vom Oberschulamt in Tübingen hat allein das Sagen. Und der sagt: Nein. Postboten, Lehrer und andere nach Paragraph 6, Abs. 1, Nr. 2, LBG. Das war's. Dann demonstrierte ich. Uberall herum. Erfolgreich und wirkungslos. Ja, wunderbare Mädchen hielten mir in der Winterkälte das Mikro vor den Mund, dass ich meinen Text aufsagen konnte. Jedes Denken, sagte ich, das alles auf eins zurückführt, ist Ideologie, weil das, was sich nicht fügt, durch die Idee so lange gebogen wird, bis es die Idee bestätigt. Wenn Wirklichkeit, um begriffen zu werden, vorher durch eine Idee verändert werden muss, begreift man nachher nicht die Wirklichkeit, sondern die durch die Idee präparierte Wirklichkeit. Das heißt, die Idee begreift sich selber. Wenn die Geschichte nichts ist als die Geschichte des Klassenkampfes, dann lässt man, um das nachzuweisen, ganz von selbst weg, was stören würde. Genau so bei der sogenannten Aufklärung. Kant hat's gesagt, dass die Vernunft nur sich selber begreift. Sonst nichts. Einen schönen Gruß an den Herrn Präsidenten. Und Konsorten. O ja! Und Konsorten! Gnadenhalber Hilfsschullehrer in Isny, Krankenstellvertreter überall zwischen Gammertingen und Wangen. Und merkte ein Interesse für Hängengebliebene. Also in Weingarten Son-derschul-Pädagogik studiert. Am Ende nur noch in Sonderschulen, die sich schmeicheln durften, Förderschulen zu sein. Zum zweiten Mal Masern. Mit peinlichen Folgen. Dann das Stottern. Als ich kein Schulhaus mehr be- 191