Martin Pollack - Kaiser von Amerika: Die große Flucht aus Galizien. 2010 263, Bei den Grenzstationen müssen alle Reisenden aussteigen,um durch die ärztliche Untersuchung und Reinigung geschleust zu werden. Große Gepäckstücke bleiben im Wagen und werden dort desinfiziert. Eine radikale Prozedur. Soldaten der Grenzgarnison steigen, versehen mit primitiven Schutzanzügen, in die Waggons und versprühen dichte Wolken des starken Desinfektionsmittels, so dass man die Hand nicht mehr vor den Augen sieht. Im Oktober 1892 kommt es dabei in der Grenzstation Brest zu einem tragischen Zwischenfall. Ein junger jüdischer Auswanderer namens Schloma Bazan hat sich, weil er kein Geld für die Fahrkarte hat, im Gepäckwagen zwischen Kisten und Ballen versteckt – er erstickt jämmerlich an den desinfizierenden Gasen. 274 Der Kleinbauer, Maurer und Musiker Onufry Jurczyszyn aus dem Weiler Szyły taucht nicht wieder auf, er ist im Russischen Reich geblieben, ob aus eigenen Stücken oder gezwungen, ist ungewiss. Möglicherweise ist er als Ansiedler in den Kaukasus geschickt worden, wo die Cholera gewütet hat, oder in den fernen Osten, in die Eiswüste Sibiriens, wo man immer Menschenmaterial braucht. Vielleicht ist er auch ums Leben gekommen, von Räubern erschlagen oder auf einer morastigen Landstraße elend verreckt, keiner vermag das zu sagen. Wie nicht anders zu erwarten, entstehen Gerüchte und machen die Runde, laufen tuschelnd durch die Dörfer, irgendwer habe ihn irgendwo gesehen, in einer kleinen Ortschaft an der Grenze, in Stojanów, Szczurowice, Chorostków, er gehe gebeugt wie ein alter Mann und verdiene sich den Lebensunterhalt als Schankwirt, als Fuhrmann, als Pferdeschmuggler, er habe eine Jüdin zur Frau genommen; andere wollen wissen, dass er selber zum Judentum übergetreten ist und nur mehr die heiligen Bücher liest. Die Gerüchte bleiben, was sie immer waren, leeres Gerede, eitles Geschwätz, Onufry Jurczyszyn bleibt unauffindbar, und nach einiger Zeit beginnt sogar im heimatlichen Szyły die Erinnerung an den kleinen ruthenischen Bauern und Zymbalspieler zu verblassen, der es gewagt hat, sich gegen die Behörden aufzulehnen und sogar einen Brief an den Kaiser in Wien zu schreiben, um sein Recht zu fordern, und der dann im heißen, trockenen Sommer des Jahres 1892 die Bewohner des kleines Dorfes in flammenden Worten dazu aufrief, ihm nach Russland zu folgen, wo sie vom Zaren Land, Vieh und Häuser sowie Gerätschaften erhalten würden – was sich freilich als Trug herausstellen sollte. Die Geschichte wird immer wieder erzählt, bis sie langsam aus dem Gedächtnis schwindet und schließlich völlig in Vergessenheit gerät – und mit ihr Onufry Jurczyszyn.