Paläographie des Mittelalters: Wichtigste praktische Zielsetzung: Fertigkeit beim Lesen und Datieren bzw. Lokalisieren historischer Schriften; grundlegendes Instrument der Hilfswissenschaften allgemein, Genese als Disziplin blieb bis ins 19. Jahrhundert hinein mit der Diplomatik verbunden. Neuerdings eine Vielfalt von weitgespannten Fragestellungen: pragmatische Schriftlichkeit, Schriftlandschaften, Kanzleien, Gelehrten- und Individualschriften etc. Namengebend für das Fach: Bernard de Montfaucon (Mauriner), Palaeographia Graeca, Paris 1708, angeregt von den Schrifttafeln in Mabillons De re diplomatica. Traditionell war die Paläographie auf das Mittelalter fokussiert, erst in den letzten Jahrzehnten „emanzipierte“ sich die Paläographie der Neuzeit („Schriftenkunde der Neuzeit“) als gleichwertige Disziplin, nicht nur als „Hilfsmittel“ der neuzeitlichen Aktenkunde. Schon zu Zeiten Mabilllons spielt der Versuch, „Nationalschriften“ zu isolieren, eine wichtige Rolle. Dagegen unterscheidet Scipione Maffei 1727 erstmals Schriftarten nach formalen Kriterien als Majuskel, Minuskel und Kursive. Im Traité de diplomatique von Toustain/Tassin (Mitte 18. Jh.) finden sich bereits die „modernen“ Schriftbezeichungen der Paläographie (Unziale, Capitalis, Gotische Schriften, Minuskel, Kursive). Ideologische Vereinnahmung paläographischer Studien im Rahmen der Volkstumsforschung der 1930er Jahre (Beispiel Hans Hirsch, Gotik und Renaissance in der Entwicklung unserer Schrift). Terminologie der Schriftbeschreibung: Moderne Terminologien vermeiden anthropo- oder zoomorphe Ausdrücke wie „Kopf“, „Hals“, „Schulter“, „Bauch“ usw., sondern sprechen abstrakt von Schaft (senkrechte Buchstabenbestandteile), Balken (waagrechte Buchstabenbestandteile) und Bogen (konsequent angewendet in der Terminologie zur Schriftbeschreibung im Rahmen des Editionsunternehmens „Die Deutschen Inschriften“. Einfluss des Beschreibstoffes auf Entwicklung der Schrift. Wasserzeichen sind eine willkommene Datierungshilfe bei Papierhandschriften. Grundsätzlich wird unterschieden zwischen Majuskelschriften (Schriften im Zweilinienschema bzw. Großbuchstabenschriften) und Minuskelschriften (Schriften im Vierlinienschema bzw. Kleinbuchstabenschriften) Langlebigste Schrift des lateinischen Westens ist die Kapitalis (Capitalis bzw. Monumentalis der römischen Epigraphik bzw. Capitalis quadrata und rustica als Schriften luxuriöser spätantiker Bücher), später Auszeichnungsschrift karolingischer Handschriften, schließlich wiederentdeckte Schrift der Epigraphik der Frühen Neuzeit). Die kursive (= in weniger Schreibzügen und flüssiger schreibbare) Weiterentwicklung der Kapitalis ist die Ältere Römische Kursive (Majuskelkursive), während die Jüngere Römische Kursive als Minuskelkursive anzusprechen ist. In die Kapitalis mischen sich einzelne neue Formen ein: Halbunziale bzw. Entwicklung der Unziale aus der Älteren Römischen Kursive (Unterscheidungsmerkmale zur Kapitalis: A H E M D Q U; ab 4. Jh. dicht überliefert). Jüngere Halbunziale entwickelt sich aus Jüngerer Römischer Kursive, ab E. 5. Jh. gut belegt. Regionale Spielarten der Minuskel im Frühmittelalter, jeweils aus lokalen Minuskeln entwickelt: z. B. Insulare Minuskel, 8. Jh., in ganz Europa schließlich überregionaler Schrifttyp der karolingischen Minuskel als dominante Buchschrift. Ab dem 12. Jh. in Westeuropa allmählich Veränderung der Minuskel in Richtung gotischer Schriften: in der höchststilisierten Form Textualis formata (zweistückes a, f und s stehen auf der Basislinie) als Buchschrift des Spätmittelalters (in der Epigraphik: Gotische Minuskel). Dagegen wandelt sich die Urkundenschrift der diplomatischen Minuskel der Diplome des Hochmittelalters (lange Schäfte, Schaftumwicklungen) zur diplomatischen Kursive des Spätmittelalters (einstöckiges a, f und s reichen in den Unterlängenbereich). Nomenklatursystem nach Lieftinck (Gerard Isaac Lieftinck, Pour une nomenclature de l‘écriture livresque de la période dite gothique“, 1953): - Textualis: a zweistöckig, g ist „gebaut“, f und s stehen auf der Basislinie, keine Schleifen an den Langschäften - Hybrida (ursprünglich Bastarda): wie Cursiva, aber ohne Schleifen! - Cursiva: a ist einstöckig, g ist kursiv, f und s ragen in den Unterlängenbereich, an den Langschäften sitzen Schleifen Sammelbegriff der „Bastarden“ für meist höherstilisierte Buch- und Urkundenkursiven in ganz Europa. Bald nach 1400 entwickeln die Florentiner Humanisten (Poggio Bracciolini) eine neue anspruchsvolle Buchschrift, die an vorgotische Vorbilder anknüpft: die humanistische Minuskel, orientiert an Minuskel des 9.-12. Jh (a ist zweistöckig, f und s stehen auf der Basislinie). Die rechtsgeneigte und flüssiger zu schreibende Variante wird als humanistische Kursive bezeichnet (a ist einstöckig, f und s reichen in den Unterlängenbereich). Besonders die Abart der humanistischen Kursive, die an der Kurie für die Breven benützt wird, findet sich bald als Cancelleresca bezeichnet. In der Praxis gibt es in der 2. H. des 14. Jh., besonders für Urkunden, zahllose Mischungen aus gotischen und humanistischen Schriften einerseits, Mischungen aus humanistischer Kursive und Minuskel andererseits.