turwissenschaft Politisches Theater nach 1950 untersucht das Theater und die Inszenierung des öffentlichen Raums als Verhandlungsort politischer und ästhetischer Fragen, analysiert die Traditionslinien und Tendenzen von Stücken und Theaterpraxen. Der Einbruch des Realen in das Aktionsfeld Theater ging vom Dokumentartheater aus und mündete in Happening und Performancekunst. Ein zentrales Kapitel europäischer Theatergeschichte wird hiermit am Schnittpunkt von Kunst und Politik gezeigt. I Um- u. •isscn.srhafl .N-643 laufstellung Ii I II II rschall itisches Ti h 1950 9 Böhlau UTß 9783825234034 XIII. Wiener Aktionismus: bedingungsloser Exhibitionismus Abb. 13: Otto Mühl: Materialaktion, Wien 1964 i. die osterreichische ausprägung der happenings und performance art Der Wiener Aktionismus ist von einer Ästhetik geprägt, deren Antrieb radikaler Protest und Befreiungsstrategien waren. Der (eigene) Körper wurde politisiert und als Waffe gegen den Staat verwendet. Der Aktionismus war gesellschaftspolitisch und ästhetisch motiviert, wollte das System, den Staat angreifen. Die Repolitisierung der Kunst wurde als Reaktion gegen den Faschismus und die Ästhetisierung der Politik durch den Nationalsozialismus verstanden. Die Künstlergruppe, die sich zunächst Aktionsgruppe nannte, bestand aus Günter Brus, Otto Mühl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler. Der zeitliche Rahmen der Akti-onisten als Kollektiv erstreckte sich von i960 bis zirka 1971, danach performten die genannten Künstler Einzelprojekte. Im Hinblick auf die Entwicklungen des amerikanischen Action Paintings und seiner theatralen Realisierungsform, dem Happening, fanden die Wiener Aktionisten zu eigenständigen Ausdrucksformen. Die österreichische Ausprägung griff die in der Alpenrepublik tief verankerte Tradition der katholischen Kirche und die in den i9<5oer-Jahren vorherrschende Ideologie der Opferrolle Österreichs im Nationalsozialismus auf. Der Aktionismus wollte das System, den Staat, die Kirche, die Obrigkeit attackieren. Die Materialschlachten des Zweiten Weltkriegs, das Schlachten in Vietnam sollte mit den Materialaktionen von Mühl und Brus erinnert und weitergeführt werden. Im Mittelpunkt stand der Kör- 402 XIII. Wiener Aktionismus: bedingungsloser Exhibitionismus per als Aktionsfläche und Trägermaterial, der radikal direkt, aber auch metaphorisch verklausuliert eingesetzt wurde. Die räumliche Dimension des Körpers ist in enger Verknüpfung mit der zeitlichen Dimension der Ereignisse zu sehen. Der Körper wurde als Ressource der Ausbeutung und als Objekt der kulturellen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung begriffen. Der Aktionismus entstand aus einer Kombination von Elementen der Aktionsmalerei: Brus entwickelte die Aktionsmalerei weiter zur Köpermalerei, Mühl zur Aktion mit Materialien auf Körpern, und Nitsch fügte rituelle Handlungen mit roter Farbe als Blutersatz und Tierschlachtungen als Opferrituale hinzu. Versuchten Allen Kaprow, Wolf Vostell und die Künstler der Fluxusbewegung eine Gemeinsamkeit der ästhetischen Erfahrung zwischen dem Happeningauslöser und dessen Teilnehmern herzustellen, um die Zuschauer aus ihrer passiven Rolle zu lösen, so setzten die Wiener Aktionisten einen radikaleren Befreiungsanspruch durch. Sie strebten die bedingungslose Abreaktion durch Aufhebung aller Schranken an, nicht nur der Ästhetik, sondern des An-stands, der Scham. In den Aktionen wurden Elemente einbezogen, die für Träger der europäischen Kultur, insbesondere für Katholiken, symbolisch besetzt sind, wie etwa Blut und Fleisch als Erinnerung an das Blut und Fleisch Christi. Hinzu trat die direkte Einbindung tabuisierter Körperteile (Vagina, Glied, Gesäß). Die Wiener Aktionisten exerzierten in den frühen i96oer-Jahren die radikalste Form des Körpereinsatzes. Der nackte, verletzte Körper selbst wurde zum Thema, wobei seine Ausscheidungen wie Urin, Kot und Sperma bei öffentlich vollzogenen Aktionen produziert und oftmals dem Körper wieder einverleibt wurden. Hermann 2. Kulturpolitik in Österreich nach 1945 403 Nitsch hat mit seinem Konzept des Orgien-Mysterien-Theaters (O.M.-Theater) auch eine theoretische Grundlage im Sinne einer Performancetheorie geschaffen. Der Mensch sollte durch Enthemmungsekstasen und Abreaktionsereig-nisse unbewussten psychischen Zuständen ausgesetzt werden, um das anarchische Potenzial des Lebens zu erkennen. In den Aktionen von Brus, Mühl, Nitsch und Schwarzkog-ler wurden im orgiastischen Aktionsspiel verdrängte Aggressionen freigesetzt. Diese Art von Aktionismus verstand sich als künstlerischer Kampf für die totale Freiheit, um die Realität in ihrer vollen Umfänglichkeit und Geschlechtlichkeit darzustellen. Dies ist aber nur im Rausch, im Erleben dionysischer Triebdurchbrüche zu erreichen. Die grenzüberschreitende Ästhetik wurde auf Bereiche des Obszönen, Pornografischen und Obsessionalen erweitert. Selbsterfahrung wie Selbstgefährdung wurden dabei im künstlerischen Akt angestrebt und dementsprechend auch als Verhalten vom Rezipienten erwartet. Die Manipulation des menschlichen Körpers stand im Mittelpunkt der Aktionen. Systematisch sollten tradierte Bewusstseins- und Emotionsstrukturen irritiert werden. Die Vernetzung von Komponisten, Literaten, Malern und Filmemachern führte zu einem regen Austausch und einer intensiven Zusammenarbeit unterschiedlicher Künstler und verstärkte den ästhetischen Widerstand. 2. kulturpolitik in österreich nach 1945 In den 1950er- und i96oer-Jahren war die österreichische Kunstszene durch eine restriktive Kulturpolitik bestimmt, welche die künstlerische Avantgarde des Landes in die Isolation ttieb. Für viele Menschen präsentierte sich Österreich 404 XIII. Wiener Aktionismus: bedingungsloser Exhibitionismus 2. Kulturpolitik in Österreich nach 1945 405 als Museum. Gesellschaftspolitisch sollte an die Zeit vot 1934 angeschlossen werden, dem Beginn des Austrofaschismus. Besonders auf kulturellem Gebiet war die Kontinuität augenscheinlich. Am Burgtheater wurde Bertolt Brecht verhindert, gängig waren vor allem Autoren der Vorkriegs- und Kriegszeit. So stellte Alexander Lernet-Holenia im Oktober 1945 fest: „In der Tat brauchen wir nur dort fortzusetzen, wo uns die Träume eines Irren unterbrochen haben, in der Tat brauchen wir nicht voraus-, sondern nur zurückblicken."415 Die Aufarbeitung der NS-Zeit, aber auch die des Austrofaschismus fand nicht statt, im Unterricht kam die unmittelbare Vergangenheit nicht vor. Die Universität zeigte sich als Relikt der Zwischenkriegszeit, Wirtschaftsprofessor Taras Borodajkewycz hetzte in seinen Vorlesungen offen gegen Juden. Als es zu Demonstrationen kam, standen einander die Gegner von Borodajkewycz und rechtsradikale Burschenschaften gegenüber. Bei den folgenden Ausschreitungen am 31. März 1965 wurde der Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger von Mitgliedern der rechtsradikalen Burschenschaft Olympia erschlagen.4'6 Die Pläne der Amerikaner, nach dem Krieg „belastete" Personen auszutauschen und einen Neubeginn zu versuchen, wurden durch den Ausbruch des Kalten Krieges rasch obsolet. Die geografische Lage, begann doch wenige Kilometer von Wien entfernt der Ostblock, isolierte Österreich. Scheuklappensicht und die Tendenz, nicht über den alpinen Gartenzaun hinauszuschauen, prägten das Klima. In Österreich 415 Friedbert Aspetsberger (Hrsg.): Literatur der Nachkriegszeit und der Jünfziger Jahre in Osterreich, Wien 1984, S. 245. 416 Aspetsberger (Hrsg.): Literatur der Nachkriegszeit, S. 245. fixierte man sich auf das Bestehende, eine Trägheit, die jegliche Weiterentwicklung be- und verhinderte. Es gab keinen Aufbruch und nur dem politischen Kabarett und dem Engagement der Wiener Gruppe ist es zu verdanken, dass dies auch öffendich bewusst gemacht wurde, wobei auch die Akti-onisten diesen Angriffspunkt ausmachten: „Die Aufgabe der Aktionisten in den 6oer-Jahren war es, den österreichischen Faschismus, diese große österreichische Verdrängung, diese wirkliche Katastrophe als Zerstörung aufzudecken."4'7 Vor allem fand in der Wiener Gruppe die Kritik an der Regierungspraxis der Großen Koalition (bis 1966) und der späteren ÖVP-Alleinregierung unter Kanzler Josef Klaus statt. Diese Tendenz zu geistiger und kultureller Erneuerung blieb nicht nur eine ephemere Erscheinung, sondern bereitete ein Klima der kulturellen und intellektuellen Freiheit vor, welches sich um 1968 allmählich auch in Österreich bemerkbar machen sollte. „Zwar fand 1968 in Österreich nicht statt, wenn man damit die großen politischen Aktionen meint, wie zum Beispiel die Studentenunruhen in Westeuropa. Doch wurde dadurch auch in Österreich ein kritisches Bewusstsein ausgelöst, das sich sowohl in der Öffentlichkeit als auch auf politischer Ebene niederschlug; durch die politische Wende in der Tschechoslowakei - den ,Prager Frühling' - verschärften sich noch die politischen Auseinandersetzungen. Die Übernahme der Alleinregierung durch die SPÖ war letzten Endes eine Folge dieser allgemeinen Bewusstseinsänderung."4'8 417 Peter Turrini; Daniele Roussel: Der Wiener Aktionismus und die Österreicher, Klagenfurt 1995, S. 94. 418 Jutta Freund: Die Realitätserfahrung des Arbeiters im österreichischen Roman der siebziger Jahre, Wien 1985, S. 43. 406 XIII. Wiener Aktionismus: bedingungsloser Exhibitionismus Der Sozialdemokratie und insbesondere ihrem Bundeskanzler Bruno Kreisky gelang es allerdings weder reibungslos noch politisch widerspruchsfrei, gegen den konservativen Zeitgeist anzutreten. Der für die Kreisky-Ara festzustellende Entwicklungsschub vollzog sich im internationalen Trend. Jugendrebellion, sexuelle Revolution, Aufweichung alter Autoritäten gingen mit einer Liberalisierung und nicht zuletzt einer Erweiterung der künstlerischen Möglichkeiten einher. Osterreich war jedoch selbst im Jahr der Studentenunruhen weit davon entfernt, eine politische Revolte zu erleben. Dennoch vollzog sich eine sanfte kulturelle Veränderung, die sich massiv 1976 in der Arena-Bewegung4'9 manifestierte und den daraus entstandenen Freiräumen der Selbstverwaltung sowie der Anti-Atom-Bewegung und der Besetzung der Hainburger Au, um deren Verbauung zu verhindern. Den Widerstand repräsentierte insbesondere die Kommune Wien. 419 Die Arena war 1976 Schauplatz alternativer Kulturveranstaltungen im Rahmen der Wiener Festwochen. Die Besetzung zielte auf eine längerfristige Nutzung des Areals für ein unabhängiges, selbstverwaltetes Kulturzentrum ab. Die Gemeinde hatte das Areal des Auslandschlachthofes St. Marx bereits verkauft. „Der Kampf um die Arena war ein primär kultureller Kampf mit weitreichend politischen Implikationen, da es darum ging, wieweit die Gemeinde Wien den kulturellen Wünschen und Bedürfnissen der Jugendlichen entgegenkommen würde. [...] Nach wenigen Wochen der Besetzung wurde das Gelände von der Polizei geräumt und nach dem Abbruch der Gebäude ein Textilzentrum errichtet." In: Philipp Maurer: Danke, man lebt, Wien 1987, S. nif. Die Arena wurde in den Inlandschlachthof verlegt, wo sie sich bis heute befindet. 3. Die Wiener Kommune 407 3. die wiener kommune Im Cafe Hawelka traf sich seit den frühen i96oer-Jahren ein Freundeskreis um Robert Schindel und Günther Maschke, der dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund angehörte. Die meisten Mitglieder dieser Tischrunde stammten aus dem Umfeld der KPO. Maschke, der mit der deutschen Kommunenbewegung Kontakt hatte, berichtete über die Entwicklung in der BRD. Aber auch Schindel betrieb Studien vor Ort und besuchte die Kommunen I und II in Berlin. Für ihn stand nach der Rückkehr von dieser „Studienreise" fest, dass in Wien eine Organisation aufzubauen sei, die frei vom Ballast der Beziehungen zur SPÖ und Restbeständen des Austromarxismus sein müsse. Am 12. Oktober 1967 veranstaltete der Verband Sozialistischer Studenten Österreichs (VSStÖ) in der Aula der Uni Wien ein Go-in gegen die geplante Einführung von Studiengebühren und eine die Anonymität verletzende Fragebogenaktion des Ministeriums. Schindel und Genossen starteten ihre erste Aktion unter Anwendung der Taktik begrenzter Regelverletzung, wobei ein kurzer Text aufgeführt wurde, der die realpolitische und gesellschaftliche Situation reflektierte und zugleich parodierte. Die Gruppe erhielt vom VSStÖ den Spitznamen Kommunarden. Dennoch war diese Kommune nicht konsequent genug, alle bürgerlichen Normen abzuwerfen und Intimgemeinschaften mit allen Konsequenzen einzugehen, wie es in der Folge Otto Mühl mit seiner umstrittenen Kommune Friedrichshof praktizierte, wo er psychoanalytische Gruppenexperimente durchführte. Die Wiener Kommune erhielt rasch Zulauf von anderen Gruppen und Aktionisten. Sie bestand auf ihrem Höhe- 4o8 XIII. Wiener Aktionismus: bedingungsloser Exhibitionismus 4. Vom Sprach- zum Körperaktionismus 409 punkt aus rund 50 Aktionisten, von denen ein Teil in zwei Wohngemeinschaften zusammenlebte. Ihre Entscheidungen wurden in öffentlich zugänglichen Volksversammlungen getroffen. Die Kommune Wien bestand aus jenen, die die Wirklichkeit radikalpolitisch verändern wollten, und jenen, die angesichts einer Konsumgesellschaft auf der Idee einer ästhetischen Selbstverwirklichung beharrten. Der „Ästheti-sierung der Politik"410 galt ein gewisser Vorbehalt; Herbert Marcuse traute den (Aktions-)Künsten eine wirkliche Veränderung der Gesellschaft nicht zu und setzte verstärkt auf die politische Aktion. 4. vom sprach- zum körperaktionismus Die restaurative Kulturpolitik begründete den radikalen ästhetischen Widerstand. Die Wiener Gruppe, bestehend aus Oswald Wiener, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Friedrich Achleitner, war wesentlicher Impulsgeber für die Wiener Aktionisten. Nitsch setzte sich insbesondere mit dem Denken Wieners auseinander. Die Unterscheidung in Kunst und Nicht-Kunst wurde vollkommen aufgehoben, die Materialisierung der Sprache betrieben. Die Wiener Gruppe griff auf die Formelemente des Dadaismus und Surrealismus zurück, arbeitete mit der Eigenrealität von Sprache und in weiterer Folge mit Partikeln der Wirklichkeit. 1957 traten Achleitner, Bayer, Rühm, Wiener und H. C. Artmann mit einer gigantischen Lesung als Gruppe an die Öffentlichkeit. „Die Lesung bekam alsbald Happening- Charakter, da sie völlig aus der Kontrolle der Veranstalter -Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm und Wiener [...] — geriet und in ein Tohuwabohu von Einzel- und Simultanlesungen, Tonbändern, Projektionen und theoretischen Abhandlungen ausartete. Der Stoff war viel zu umfangreich, das Publikum wurde unruhig. Mehrere Schlägereien wurden angezettelt und nur durch befreundete Studenten der Akademie der Bildenden Künste im Keim erstickt."411 Dieser Umgang mit Sprache bedingte eine veränderte Wahrnehmung und ein verändertes Verstehen. Das aktio-nistische Vorgehen der Wiener Gruppe setzte den Schock bewusst als Mittel ein. Die Sprache hatte ihren mimetischen Charakter verloren, wurde als Macht- und Herrschaftsinstrument demontiert. Die Wiener Gruppe verstand ihren sprachlichen Aufstand auch im politischen Sinn als Erhebung gegen die Gesellschaft und deren determinierenden Realitätsbegriff. Vorgeprägte Verhaltensmuster und Erfahrungsweisen sollten vermieden werden. Alle traditionellen Darstellungs- und Abbildungsprozesse im Bereich des Theaters, des Films und der bildenden Kunst wurden als Techniken der Anpassung des Bewusstseins abgelehnt. Dieser antimimetische Kunstbegriff erwies sich als paradigmatisch für die Kunst der Moderne. Der apolitischen Unterhaltungsindustrie wurde ihre illusionsverstärkende Wirkung vorgeworfen, die bestätigende Anpassung an die Wirklichkeit in ihrem Ist-Zustand. „Wer ins Theater oder ins Kino geht, wird häufig als geheilt in eine heile Welt zu- 420 Walter Benjamin prägte diesen Begriff für die Selbstdarstellung des Faschismus. In: Benjamin: Das Kunstwerk, S. 42. 421 Rüdiger Engerth: Der Wiener Aktionismus. In: Otto Breicha (Hrsg.): Protokolle. Wiener Zeitschrift für Literatur, bildende Kunst und Musik, Heft 1, Wien 1970, S. 152-169, hier S. 157. 4io XIII. Wiener Aktionismus: Bedingungsloser Exhibitionismus 4. Vom Sprach- zum Körperaktionismus 411 rückentlassen. Sein Bewußtsein ist adjustiert an die Wirklichkeit, er kann nicht mehr unterscheiden zwischen dem Bild einer Wirklichkeit und der Wirklichkeit selbst, er kann nicht mehr träumen vom Bild einer anderen Wirklichkeit, anders als im dargestellten Abbild."412 Die Kritik an der Normierung des Bewusstseins durch Sprache führte zu Entgrenzungstendenzen von Erfahrung und Ausdruck, führte zur Suche nach einer körperlich-sinnlichen Unmittelbarkeit. Die Entdeckung eines ursprünglichen, vorsprachlichen Ausdrucksvermögens stand im Mittelpunkt: die Körpersprache. In nächster Konsequenz wurde der Körper selbst zum Ausdrucks- und Reflexionsmedium. In den literarischen Kabaretts und Aktionslesungen von Wiener und Rühm wurde das Publikum direkt provoziert. Am 21. April 1967 fand das Zockfest im Gasthaus zum Grünen Tor in der Lerchenfelder Straße in Wien-Neubau statt, das Rühm unter dem Pseudonym Gustav Werwolf eröffnete. Die beiden Künstler provozierten Publikumsreaktionen. Mühl wollte mit seinem Zockmanifest die totale Befriedigung erlangen, das nackte, mithin das von jeder Kultur und jeder Zivilisation befreite Leben realisieren. Zock „räumt mit dem Wichtelgestank auf und richtet sich an alle, „[...] die am wichtelweltbild herumbastelten".413 Wiener schleuderte in seiner Rede „Zock an Alle" mit Knödeln. „[...] es ging entsprechend anarchisch zu, unter anderem kam es zu einer semmelknödelschlacht zwischen bühne und auditori- 422 Peter Weibel: Kritik der Kunst, Wien/München 1973, S. 63. 423 Hubert Klocker (Hrsg.): Wiener Aktionismus. Wien 1960-1971. Der zertrümmerte Spiegel, Klagenfurt 1989, S. 219. um [...]."424 Während Wieners Knödel direkt provozierten, unterlief Rühm die Provokation durch eine Strategie der Verweigerung. Der Verzicht auf Gegenrede oder Reaktion wirkte besonders provozierend. „[...] ein polizeitrupp mit Wachhunden stürmte plötzlich den dicht besetzten saal und trieb uns mit den in panik flüchtenden Zuschauern brutal auf die Strasse, wo mehrere einsatzwagen warteten."425 Die Zuschauerpartizipation wird von Rühm und Wiener auf dem Zockfest - etwa im Unterschied zu den Parti-eipation Happenings von Kaprow - als Gegenreaktion auf die Publikums (re)aktionen praktiziert. Kaprow und Vostell aktivierten die soziale Interaktion der Teilnehmer und Anwesenden. Die kollektiven Aktionen und Soloperformances der Wiener Aktionisten drängten hingegen die Zuschauer in eine Beobachterperspektive, aus der sie durch Provokation, durch öffentliches Zeigen, Schütten und Werfen tabuisier-ter Körperausscheidungen herausgelockt werden sollten. Die Zuschauer und Akteure waren nicht Mitspieler, sondern Gegenspieler. Die aktionistische, reale Aufhebung der Grenze zwischen Akteuren und Publikum wurde im Wiener Aktionismus gerade als Mittel zur Trennung und Unterscheidung des Akteurs vom Publikum eingesetzt. Die erzwungenen Publikumsübergriffe störten und behinderten den Aktionsverlauf, der bisweilen auch abgebrochen werden musste. In der Zockhymne von Omo Super & His Big Band zertrümmerten Mühl und weitere Akteure Küchenmobiliar 424 Gerhard Rühm: Von der wiener gruppe zum berliner kreis. In: Otto Breicha; Hubert Klocker: Miteinander. Zueinander. Gegeneinander, Klagenfurt 1992, S. 13-48, hier S. 37. 425 Rühm: Von der wiener gruppe zum berliner kreis, S. 37. 4i2 XIII. Wiener Aktionismus: bedingungsloser Exhibitionismus 5. Die Blutorgel 413 und wälzten sich im Publikum. Das Wiener Wochenblatt interpretierte die Zockhymne als Parodie auf die aufdringliche OMO-Waschmittelwerbung. In zwei weiten fuhren Achleit-ner und Gerhard Rühm mit einem Motorroller durch die Sitzreihen. Auf dem Podium öffneten sie einen Koffer, nahmen Fechtmasken zum Schutz heraus und begannen, einen als funktionstüchtig vorgeführten Flügel mit Beilen zu bearbeiten. Der groteske Charakter der Zockhymne kann auch als Gegenprogramm zum feierlichen Theater von Nitsch und seiner Reaktivierung des Dionysischen verstanden werden. 5. DIE BLUTORGEL: von der aktionsmalerei zum aktionstheater 1962 lernten einander Nitsch und Mühl kennen. Im gleichen Jahr beschlossen die beiden Künstler, sich zur Befreiung der Menschheit zusammen mit Adolf Frohner drei Tage lang in einen Keller einmauern zu lassen und nannten diese Aktion Die Blutorgel: „[...] es gibt kein erkennbares Weltgesetz außer der Blutorgel."426 Die angestrebte Regression, das Hinabsteigen in die Tiefen menschlicher Psyche findet die räumliche Entsprechung in der Metapher des Kellers, den Mühl als „uterine Brutanstalt"427 bezeichnet. Mühl: „Unter einem Künstler verstehe ich einen Menschen, der sich unter die Erde begibt, dort Stollen treibt, und solange alles kreuz 426 Die Blutorgel. Originalmaquette. In: Von der Aktionsmalerei zum Aktionismus. Wien 1960—196$, Hrsg. vom Museum Fridericianum Kassel, Klagenfurt 1988, S. 218—221, hier S. 221. 427 Otto Mühl: Tagebuch, 62/6}, Typoskript, S. 34. Zitiert nach: Kerstin Braun: Der Wiener Aktionismus, Wien 1999, S. 133. und quer unterminiert bis plötzlich irgendwo sich ein Erdrutsch ergibt."428 Im ersten Teil der am 1. Juni 1962 stattfindenden Blutorgel, der den Titel Einkerkerung trägt, begaben sich die drei Künstler in Mühls Kelleratelier in der Perinetgasse in Wien-Brigittenau und ließen den Eingang zumauern. Im zweiten, drei Tage dauernden Teil fertigte Mühl Gerümpelplastiken an, die er als „Katastrophenapparatur" bezeichnete, welche die eigentlichen Gestaltungstriebe des Künstlers - Sadismus, Aggression, Perversion und Geldgier - zeigen sollten. Das bereits von der Gesellschaft benützte Material, das Vordemolierte wurde durch „totale Misshandlung bis zum Brei" bearbeitet und durch Spritzen, Schütten, Zerstückeln, Amputieren, Foltern, Ausweiden misshandelt. Frohner produzierte Objektmontagen und Nitsch ein Schüttbild.429 Am 4. Juni wurden in der Ausmauerung die Künstler und ihre Werke freigelegt. In einer öffentlichen Abschlussaktion kreuzigte Nitsch als ästhetische Opferersatzhandlung erstmals einen Lammkadaver, weidete ihn aus, zerfleischte und zerriss ihn. Frohner, Mühl und Nitsch bearbeiteten den zunächst noch an der Wand hängenden Lammkadaver, bis er abgenommen und in einen Gewölbebogen genagelt wurde. Unter das Lamm wurde ein Sessel gestellt, darauf ein weißes Tuch gebreitet, ein „Beschüttungsritual" begann. Die Metamorphose von der Malaktion zur Aktionsmalerei und schließlich zum Aktionstheater war vollzogen. Nitsch beschreibt diesen Schüttprozess als Weiterentwicklung und 428 Dieter Schwarz: Aktionsmalerei, Aktionismus, Wien 1960—196$, Zürich 1988, S. 41. 429 Vgl. Schwarz: Aktionsmalerei, S. 42-48. 414 XIII. Wiener Aktionismus: bedingungsloser Exhibitionismus Überschreitung der Aktionsmalerei hin zum Aktionstheater. Zugleich wurde die Aktionsmalerei als Element in das Aktionstheater integriert. Die Schüttbilder sind integrierte Malaktionen und Resultate des Handlungsverlaufs. „[...] das o.m. theater ist eine über die möglichkeiten der aktionsma-lerei, welche sich die zeitkomponente erobert hat, erreichte ausweitung in das aktionstheater."45° 6. kunst ist das, was man am liebsten tut: otto mühl 1966 entstand aus der engen Zusammenarbeit zwischen Mühl und Brus das Konzept der Totalaktion. In dieser wird eine Synthese der Materialaktion von Mühl und der Selbstverstümmelungsthematik von Brus angestrebt. In den Totalaktionen werden „alle Opernhäuser, theater, museen und bibliotheken dem erdboden gleichgemacht".431 Der Aktionsprozess, die aktionistische Vorgehensweise sollte das Theater vollkommen ersetzen. Die Totalaktion sollte durch Provokation und Schock in der Öffentlichkeit wirksam werden. Sie vereinigte die Elemente unterschiedlicher Kunstgattungen: Malerei, Musik, Theater, Literatur, Tanz, Film. Die in der Totalaktion erfolgte Reduktion und Zerstörung der Sprache auf einzelne Laute, auf Stammeln, Gurgeln, Zischen, Röcheln, Schreien und Brüllen, ist als Folge der Materialisierung des Menschen und seiner Ausdrucksmittel, seiner Verbalsprache und Körpersprache zu verstehen. Radikal wurde das Material thematisiert: Der Körper in all seinen 6. Kunst ist das, was man am liebsten tut 415 Funktionen. Die ungeformte Entäußerung des Selbst stülpte das Innerste als Ausdruck und Ausscheidung nach außen. Im ästhetischen Prozess der Destruktion sollte die eigene strukturelle Angelegtheit geklärt werden, die ursprüngliche Konzeption des Menschen, rückhaltlos Sadismen, Brutalismen, Sexismen freigelegt werden. Gefordert wurde ein totaler Exhibitionismus als individualanarchischer Befreiungsakt. Die eigenen Empfindungen, Wünsche und Begierden fanden in der Auseinandersetzung mit den künstlerischen Materialien, im Agieren in den aktionistischen Environments, in den inszenierten Situationen ihre direkte Ausdrucksmöglichkeit -ein Grenzgang zur Psychotherapie. Zu den Identifikationsfiguren der Wiener Aktionisten zählten all jene, die aus einem inneren Antrieb handelten, welche die bestehenden gesellschaftlichen Regeln bewusst oder unbewusst missachteten. Die Bezugnahme des Aktionismus auf Formen von „Wahnsinn" ist im Sinne einer Suche nach authentischen Ausdrucksmöglichkeiten zu verstehen. „Die österreichischen Aktionisten haben in beispielhafter und intensiver Weise den Kampf um eine neue Gesellschaft und eine neue Kunstform vorgelebt, die heute noch utopisch ist. Dieser Kampf setzte sie allen Versuchungen aus, deren die Kräfte des Widerstands fähig sind, und hat sie an die Grenzen des Menschlichen getrieben, wo die Mächte des Abgrundes sichtbar werden."432 Der Akt der Kommunikationsverweigerung durch Destruktion und Verfremdung setzt wirklichkeitskonstituierende Normen außer Kraft. Gewalt in ihrer Unmittelbarkeit erhielt den Charakter von Wahrhaftigkeit und Offenheit. 430 Schwarz: Aktionsmalerei, S. 44. 431 Klocker (Hrsg.): Wiener Aktionismus, S. 219. 432 Klocker (Hrsg.): Wiener Aktionismus, S. 22f. 4i6 XIII. Wiener Aktionismus: bedingungsloser Exhibitionismus Die ziellosen Zerstörungen dienten auch der Zerstörung der Publikumserwartungen. Die Künstler legitimierten ihren künstlerischen Anspruch nicht mehr über den Sinn, sondern über einen vorkulturellen, vorzivilisatorischen, amoralischen, ahistorischen Zustand. Der künstlerische Dekonstruktions-prozess wurde jeder Zweckhaftigkeit und Zielgerichtetheit entbunden. Unter Ausschaltung jeglicher Bewusstseinskontrolle und unter Missachtung jeglicher sittlicher und moralischer Forderungen erfolgte die Destruktion. Die Fähigkeit und das Bedürfnis nach enthüllendem, befreiendem Ausagieren setzte auch die totale, schamlose Enthemmung voraus. Die Überwindung der Ekel- und Tabuschranken befreite nicht nur die Künstler, sondern sollte auf das Publikum übergreifen. Die Kultur- und Zivilisationsentwicklung durch Intellekt, Scham und Bewusstsein bedingten die Unterdrückung der Grundtriebe und förderten die Anpassung an die bestehende soziale und ökonomische Realität des Menschen. Die aktionistische Konzentration auf den menschlichen Körper, seine Sexualität und Sinnlichkeit, bedeutete die Lösung von ethischen und moralischen Konditionierungen. Die unmittelbare, instinktive Erregung durch Abscheu, Peinlichkeit und Ekel kann Gefühlsintensitäten hervorrufen und zum Grundexzess auffordern. 7. „urin und kot für die Bundesregierung": die uni-ferkelei Die einzige öffentliche Gemeinschaftsaktion zwischen avantgardistischen Künstlern und politischen Studenten, die 1968 in Osterreich stattfand, zog Vertreibungen, Berufsverbote und Gefängnisaufenthalte nach sich. „Zu beispiellosen Sze- 7. Die Uni-Ferkelei 417 nen kam es am späten Freitagabend in Hörsaal 1 des Neuen Universitätsgebäudes: nach einem vier Minuten dauernden Vortrag eines Studenten über Kunst und Revolution, der vom Sozialistischen Studentenbund veranstaltet worden war, entledigten sich vier Teilnehmer ihrer Kleider, verrichteten unter dem Absingen des Gaudeamus igitur und der Bundeshymne ihre Notdurft und sexuelle Handlungen", schrieb am 10. Juni 1968 die Tageszeitung Die Presse. Beschimpfungen der Mitglieder der Bundesregierung folgten. Die Aktionisten dieser Veranstaltung, Wiener, Brus, Mühl, Peter Weibel und Valie Export, hatten zunächst die Besetzung des Burgtheaters geplant, diese wurde jedoch wegen zu geringer Beteiligung abgesagt. Oswald Wiener legt die Motivation für die Veranstaltung im Neuen Institutsgebäude (NIG) im Begleittext der Einladung dar: „Die Assimilationsdemokratie hält sich Kunst als Ventil für Staatsfeinde. [...] Der Staat der Konsumenten schiebt eine Bugwelle von ,Kunst' vor sich her. Er trachtet den .Künstler' zu bestechen und damit dessen revoltierende^Kunst^_in_staatserhaltende Kunst umzumünzen. Aber .Kunst' ist nicht Kunst. ,Kunst' ist Politik, die sich neue Stile der Kommunikation geschaffen hat."4" Von den rund 300 Zuschauern im NIG griff niemand ein, dafür folgte von einigen Journalisten, unter ihnen Michael Jeannee und Richard Nimmerrichter alias „Staberl" von der Kronenzeitung, eine regelrechte Menschenhetze, die Aktionisten wurden buchstäblich der Polizei ausgeliefert. Mühl, Brus und Wiener wurden wegen Herabwürdigung von Staatssymbolen, der Ehe und des Eigentums für zwei 433 Engerth, Wiener Aktionismus, S. 167. 4i8 XIII. Wiener Aktionismus: Bedingungsloser Exhibitionismus Monate in Untersuchungshaft genommen. Die Zeitschrift Express forderte, die Sex-Studenten zum Psychiater zu schicken, was im Laufe des Prozesses auch tatsächlich durch ein \ \ Gutachten des in der NS-Zeit in der Wiener Euthanasie- i klinik Am Spiegelgrund tätigen Psychiaters Heinrich Gross , geschah. Im Prozess wurde Brus zu sechs Monaten Haft ver- , j urteilt, er war aber im Verlauf der Berufungsverhandlungen nach Berlin geflüchtet.434 jNitsch bekannte später, dass die da- j malige Aktion keine politisch strukturierte war, sondern ein verzweifelter Hilfeschrei von einigen in die Enge getriebenen I Künstlern. Einen Austausch mit der internationalen Kunstszene zu finden wurde von den Künstlern immer wieder versucht, gelang aber nur schwer. Die documenta in Kassel 1959 war ein wichtiges Forum für den künstlerischen Austausch der Aktionisten. Provinzialität im eigenen Land, die geschlossene Ostgrenze behinderten die künstlerischen Bestrebungen, Österreich befand sich am Rande Europas. Die meisten Politiker standen den neuen Richtungen und Strömungen der Kunst mit großer Verständnislosigkeit gegenüber. Selbst der SPÖ war diese Form des Protests wegen mangelnder Mehrheitsfähigkeit nicht geheuer, und so wurde auf Veranlassung Kanzler Kreiskys das Ausscheiden der zu Exzessen neigenden Gruppen aus der sozialistischen Studentenorganisation beschlossen. Peter Turrini schreibt über das Gefahrenpotenzial Kunst: „Das Spannende ist ja, daß [...] vor allem in Österreich eine unglaubliche Restauration nach dem Krieg 434 Brus hatte seit der Aktion im NIG in Österreich Einreiseverbot, 1996 erhielt er dann den Großen Österreichischen Staatspreis für bildende Kunst. 8. Der Tachismus 419 kam, eine Zudeckung und Verbürgerlichung von allem, und plötzlich war da dieser Aktionismus - das war als würde jemand einen Vorhang zerreißen. Hinter der Fassade der Demokratie, der vorgegebenen Unschuld, der Ordnung und der Sauberkeit, tauchten plötzlich Blut, Sperma und Dreck und alle diese wüsten Dinge auf, mit denen die Aktionisten durch die Gegend warfen."435 Der sadomasochistische Ton, der die Materialaktionen von Mühl und die Körperdarstellungen von Brus und Schwarzkogler bestimmte, brachte Österreich den Ruf ein, das Land der brutalsten, extremsten und gewalttätigsten Künstler der Avantgarde zu sein. Wesentlicher Punkt des Schocks, den der Aktionismus auslöste, waren nackte Frauen und vor allem die Tatsache, dass die Frauenkörper bespritzt, besudelt wurden. Das sexuelle Tabu spielte für die politische Restauration eine entscheidende Rolle. Die Malerei ließ sich nicht mehr durch einen Bild-Rahmen begrenzen, der Graben zwischen Bühne und Zuschauerraum wurde aufgehoben. Das Tafelbild war dreckig und rann zähflüssig zu Boden, verteilte sich im Raum. Auch das Theater wurde um die aktionistische Dimension erweitert. Der Aktionismus war Voraussetzung für die Kunst der 1970er- und i98oer-Jahre. Schauspieler attackierten die Zuschauer im Parkett, ohrfeigten und beleidigten sie, auf der Bühne wurde mit Materialien hantiert, mit Blut gespritzt. 8. der tachismus Der Tachismus, der sich vom französischen La Tache, dem Farbfleck, ableitet, ist eine Ausprägung der abstrakten Male- 435 Turrini; Roussel: Wiener Aktionismus, S. 92. 42.4 XIII. Wiener Aktionismus: bedingungsloser Exhibitionismus Die Zuschaueraktivität wurde wieder gebrochen durch die passive Beobachterperspektive der Videokamera. Im Falle der passiven Performer im reaktiven System aufseiten der Galeriebesucher entstand auch ein Grenzfall zur Installation, die dauerhafte, ephemere, statische und dynamische Elemente enthalten kann. 9. körper-beschmutzung: mühls aktionen In den i96oer-Jahren wurde insbesondere von Mühl die Verschmutzung und Besudelung des Körpers betrieben, welche die Körpergrenzen des Innen und Außen in Abrede stellten. Mühl negierte die Besonderheit des menschlichen Körpers und stellte ihn anderen organischen Stoffen gleich. In den Materialaktionen bearbeitete er die Körper (den eigenen und fremde) mit Farbe, Körperfiüssigkeiten und Nahrungsmitteln. In einer Serie von Aktionen arrangierte er Körperteile, Tierschädel und Nahrungsmittel stilllebenartig auf einem Tisch, bestäubte sie mit Mehl, presste Orangen darüber aus, entleerte Ketchupflaschen, zerdrückte rohe Eier, warf mit rohen Fleischbrocken. In der Aktion Stilleben mit einem weiblichen Kopf und einem 5c/w««ď£0/>/"(Materialaktion Nr. 10, 1964) ragte der Kopf einer Akteurin durch einen Einschnitt in einer Tischfläche heraus, daneben lag ein Tierkopf, ebenfalls wie zum Verzehr in Klarsichtfolie verpackt. Körperfragmente und arrangierte Utensilien wurden mit Farbe und Nahrungsmitteln gleichsam im Urschlamm vergraben (Materialaktion Nr. 30 Nahrungsmitteltest, 1966). Der Körper ragte aus der Materialschlacht fragmentiert und wie zerstückelt hervor. Die Nahrungsmittel wurden nicht einverleibt, sondern zweckentfremdet zur Schau gestellt. Mühl demons- 9. Körper-Beschmutzung 425 trierte den Zustand einer Gesellschaft, die einen erstickenden Überfluss an Waren produziert.441 Die tropffreie und fleckenlose Nahrungsaufnahme besitzt einen hohen Stellenwert im kultivierten Verhaltenskodex. Die Beschmutzung mit Nahrungsmitteln, aber auch mit Körperausscheidungen gilt als misslungene Erziehung, als Störung der Sozialisation. Durch die Vermengung von Körper, Nahrungsmittel und Körperausscheidung entsteht ein Konglomerat aus dem kulturell säuberlich Getrennten. Die Sauberkeit ist Mühl äußerst verdächtig, sie wurde durch „verbrecherische erziehung, die die gesellschaft jedem verpasst und die dadurch entstandenen gemüts- und hirnkrank- 441 Die Aktionsanalyse wurde von Mühl als Basis einer Gegengesellschaft eingeführt. Die Gründung der Aktionsanalytischen Kommune Friedrichshof (1972 auf einem alten Landgut im Burgenland) sollte die durch die Erziehung in der Kleinfamilie entstandenen Schädigungen aufheben. Unter dem Einfluss der Schriften von Wilhelm Reich und Sigmund Freud entwarf Mühl ein Gesellschaftsmodell, dessen wichtigste Merkmale die Aktionsanalyse, die Selbstdarstellung, das gemeinsame Eigentum und die freie Sexualität waren. Für dieses von Mühl autoritär geführte, nach strikten Hierarchien strukturierte, millionenschwere Unternehmen und organisierte Kommunenleben gab es zunächst eine große Anhängerschaft. In therapeutischen Gruppenaktionen wurden sexuelle Zwänge bearbeitet, die allerdings durch das Sexualverhalten von Mühl selbst als Repressionsinstrument und Machtpotenzial ausgenützt wurden und seine Anhängerschaft in psychische und sexuelle Abhängigkeit beziehungsweise Hörigkeit führten. 1991 wurde Mühl wegen Beischlafs mit Minderjährigen bis hin zur Vergewaltigung zu sieben Jahren Haft verurteilt. Heute lebt er im Hinterland der portugiesischen Algarve, nahe der Stadt Moncarapacho, wo er mit seinen engsten Vertrauten die „Art & Life Family" gegründet hat. 426 XIII. Wiener Aktionismus: bedingungsloser Exhibitionismus 10. Körper-Bandagierung 427 heiten ausgelöst".442 Mehrmals hat Mühl den Wunsch geäußert, angesichts des kleinbürgerlichen Reinlichkeitskultes die Farbtöpfe auf der Leinwand auszuschütten und „sich darinnen wie eine Sau zu wälzen".443 Die 68er-Generation geißelte insgesamt den analen Zwangscharakter der politischen Saubermänner und wollte die „Versumpfung" betreiben, mit „Urschlamm" und Brei gegen Machtstrukturen ankämpfen. Nach Mühls eigenen Intentionen tritt in den Aktionen der Mensch nicht als Mensch, als Person, als Geschlechtswesen auf, sondern als Körper mit bestimmten Eigenschaften. Die primären Geschlechtsmerkmale und der entpersönlichte und materialhaft eingesetzte Körper erscheinen umso signifikanter, da dieser Körper über keinerlei soziale Merkmale verfügt. Im Gegensatz zu den Aktionen von Meret Oppenheim, die 1959 für die Besucher einer Surrealismusausstellung Speisen auf ihrem Körper arrangierte und als Liebesmahl offerierte, ging es Mühl bei seinen Materialaktionen gerade nicht um die Einverleibung, sondern um sichtbare, extrakorporale Vermengungen. Oppenheim bot sich hingegen wie eine „Natura" dar, die Nahrung spendet. Die liegende Oppenheim trat über die auf ihr angerichteten Speisen mit dem Publikum in Kontakt, lud sie zur Kommunion ein. Das Essen von den dargebotenen Speisen, die Einverleibung und Berührungen des nackten Frauenkörpers können im Freud'schen Sinn auch als Verschiebung und Ersatzhandlung für sexuelles Begehren interpretiert werden.444 Mühls 442 Brus: Ausscheidungskämpfe, o.S. 443 Schwarz: Aktionsmalerei, S. 41. 444 Inzwischen haben Luxusrestaurants derartige Inszenierungen übernommen und servieren Sushi auf nackten Frauenkörpern. Vermengungen waren frei von jeglicher Kommerzialisierung und Vermarktung. Ihn interessierte, hierin ähnlich den Tendenzen der Pop-Art, die Ironisierung populärer Ikonen. Die zahlreichen Verhaftungen und Prozesse gegen die Wiener Aktionisten zeigen deutlich, dass der Körper keine Privatsache ist, sondern das Disziplinierungsinstrument einer Gesellschaft, das nicht unterlaufen werden darf. Weibel sieht in den Mühl'schen Aktionen die Verweigerungshaltung gegenüber dem kapitalistischen Verwertungssystem. Der Umgang mit dem Körpermaterial stellte den Rückgriff auf eine gesellschaftlich überwundene Phase dar. Im physischen Körper, gedacht als Material der unmittelbaren Verfügbarkeit und Ausdrucksform, konnte der Traum der Moderne von der Überführung von Kunst in Leben zeremoniell gefeiert werden. Der Körper verlor seine sozial-historische Stellung und wurde als Trägermaterial künstlerischer Gestaltung eingesetzt. Die Annahme, dass der weibliche Körper selbstbestimmt definiert werden könne, begründete wesentlich die feministische Aktionskunst. Die Künstlerinnen wollten ihren eigenen Körper „benutzen" und ihn so vom Objekt zum Subjekt überführen. Valie Export sah im Materialdenken die Befreiung von ihrem Dingcharakter. 10. körper-bandagierung: schwarzkoglers arrangements Rudolf Schwarzkogler, der sich für die französischen Romantiker, für Artaud, Schwitters und die Literatur von Hans Henny Jahnn interessierte, gehörte zum Kreis um Nitsch, Mühl und Brus. Führte er zunächst noch gemeinsame Aktionen durch (1964 mit Mühl Das Luftballonkonzert und 1965