DAS INTERVIEW ALS ARTEFAKT Zur Kritik der Zeitzeugenforschung Harald Welzer „Sie erzählen lauter Erfindungen!" „Jch erlebe lauter Erfindungen." Max Frisch, „Mein Name sei Gantenbein" Ich möchte im folgenden anhand einiger grundsätzlicher Überlegungen aus gedächtnispsychologischer, interaktionstheoretischer und erzähltheoretischer Perspektive darlegen, daß Erinnerungen an Erlebnisse und Geschehnisse, die in Interviews erzählt werden, eines ganz sicher nicht sind: Erlebnisse und Geschehnisse, wie sie in der historischen Situation geschehen und erlebt worden sind. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget liefert für diese Behauptung einen prägnanten autobiographischen Beleg, wenn er schreibt: Eine meiner ältesten Erinnerungen würde, wenn sie wahr wäre, in mein 2. Lebensjahr hineinreichen. Ich sehe noch jetzt mit größter visueller Genauigkeit folgende Szene, an die ich noch bis zu meinem 15. Lebensjahr geglaubt habe: Ich saß in meinem Kinderwagen, der von einer Amme auf den Champs-Elysees (nahe beim Grand Palais) geschoben wurde, als ein Kerl mich entführen wollte. Der gestraffte Lederriemen über meiner Hüfte hielt mich zurück, während sich die Amme dem Mann mutig widersetzte (dabei erhielt sie einige Kratzwunden im Gesicht, deren Spuren ich noch heute vage sehen kann). Es gab einen Auflauf, ein Polizist mit kleiner Pelerine und weißem Stab kam heran, worauf der Kerl die Flucht ergriff. Ich sehe heute noch die ganze Szene, wie sie sich in der Nähe der Metro-Station abspielte. Doch als ich 15 Jahre alt war, erhielten meine Eltern einen Brief jener Amme, in dem sie ihren Eintritt in die Heilsarmee mitteilte und ihren Wunsch ausdrückte, ihre früheren Verfehlungen zu bekennen, besonders aber die Uhr zurückzugeben, die sie als Belohnung für diese - einschließlich der sich selbst zugefügten Kratzspuren - völlig erfundene Geschichte bekommen hatte. Ich mußte also als Kind diese Geschichte gehört haben, an die meine Eltern glaubten. In der Form einer visuellen Erinnerung habe ich sie in die Vergangenheit projiziert. So ist die Geschichte also eine Erinnerung an eine Erinnerung, allerdings an eine falsche. Viele echte Erinnerungen sind zweifellos von derselben Art.' [ 152] Drei Aspekte sind an dieser Erinnerungserzählung Piagets für unseren Zusammenhang interessant. Erstens weist er auf die soziale Quelle seiner Erinnerung hin: Er hat von dem, was ihm widerfahren ist, gehört und sich dann die Geschichte zu eigen, zu einem Teil seiner Biographie gemacht. Als eigene Erinnerung gewinnt die Geschichte zweitens die Gestalt einer visuell repräsentierten, detailgetreu abrufbaren I Piaget(1969), 240f. 248 Harald Welzer Das Interview als Artefakt 249 Szene aus der Vergangenheit. Als vermittelte Erinnerung ist das, woran Piaget sich selbst zu erinnern meint, drittens eine Erinnerung an eine Erinnerung, also nichts originär Erlebtes, nichts Authentisches, sie beinhaltet keinen Kern historischer Wirklichkeit. Piagets Erinnerung bezieht sich auf ein fiktives Geschehnis; bemerkenswert ist aber seine Einschätzung, auch die „echten Erinnerungen" seien von dieser Art. Man kann diese überraschende Einschätzung mit Ergebnissen der neueren Gedächtnisforschung recht gut belegen, denn auch hier ist man längst von der Vorstellung abgekehrt, Erlebnisse und Ereignisse würden im Gehirn wie in einem Computer gespeichert und abgerufen. Wie die falsche Erinnerung Piagets schon nahelegt, sollte man eher davon ausgehen, daß das Gedächtnis ein konstruktives System ist, das Realität nicht einfach abbildet, sondern auf unterschiedlichsten Wegen und nach unterschiedlichsten Funktionen filtert und interpretiert. Das Gedächtnis als construc-tive memory framework2 operiert mit unterschiedlichen Systemen des Einspeichems, Aufbewahrens und Abrufens, die ihrerseits wieder auf unterschiedliche Subsysteme des Gedächtnisses zugreifen. Mentale Repräsentationen von Erfahrungen, Erinnerungen also, werden mithin als multimodale Muster der unterschiedlichen Aspekte und Facetten der jeweiligen Erfahrungssituation verstanden. Die Erinnerungsspuren oder Engramme, die die Erfahrungen im Gehirn repä-sentieren, sind nun nicht - wie man lange Zeit annahm - an bestimmten Stellen des Gehirns zu finden, sondern als Muster neuronaler Verbindungen über verschiedene Bereiche des Gehirns verteilt. Sich zu erinnern bedeutet, ein Muster zu bilden („pattern completion"), und bei diesem komplexen Vorgang werden die Bestandteile des Erinnerten, zum Beispiel also ihre zeitlichen, situativen, emotionalen Merkmale, in dieser oder jener Weise neu figuriert. Schon intuitiv leuchtet ein, daß dieser Prozeß der Muster-Vervollständigung so vielfältigen gedächtnisinternen und -externen Einflüssen unterliegt, daß von einer exakten Erinnerung an eine Situation und an ein Geschehen nur im seltenen Grenzfall auszugehen ist. Im Regelfall leistet das Gehirn eine komplexe und eben konstruktive Arbeit, die die Erinnerung, sagen wir: anwen-dungsbezogen gestaltet. Damit sind wir schon bei den sozialen Situationen, in denen Erinnerungen aufgerufen und kommuniziert werden. Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß es Kommunikation unabhängig von einem Adressaten nicht gibt. Aus der Experimen-talpsychologie sind zahlreiche Untersuchungen bekannt, die den Einfluß auch kleinster verbaler und nonverbaler Äußerungen und Reaktionen des Zuhörers auf das Verhalten des Erzählers belegen.3 Theoretisch lassen sich diese Befunde aus der Sicht einer interaktionistischen Sozialpsychologie mit zwei ganz grundsätzlichen Annahmen begründen: Erstens, daß man nicht nicht kommunizieren kann,4 und zweitens, daß man so spricht, wie man erwartet, daß der andere erwartet, daß man sprechen wird. Das f 153] bedeutet, daß die antizipierten Reaktionen des anderen auf das, was ich sage, immer schon Teil meiner Äußerungen sind. All dies gilt notwen- 2 Schacter etal. (1998). 3 Vgl. zusammenfassend Tausch (1968), 33f. 4 Watzlawick etal. (1972), 50 f. digerweise auch für die Situation des Forschungsinterviews, und an dieser Stelle kann der Titel dieses Beitrags präzisiert werden: Das Interview ist nämlich nur im selben Maß Artefakt wie es jede andere Gesprächssituation auch ist. Es ist eine einmalige, nicht replizierbare Situation der gemeinsamen Verfertigung eines Textes, eine Kette aufeinander bezogener Sprechhandlungen. Auch hinsichtlich seiner spezifischen Asymmetrie - daß nämlich per definitio-nem einer der Sprecher vorwiegend fragt und der andere vorwiegend antwortet - ist das Forschungsinterview vielen anderen Alltagssituationen ganz ähnlich: von der Beichte über die Anamnese, vom Mandantengespräch bis zum therapeutischen Gespräch gibt es eine alltagsweltliche Fülle asymmetrischer Kommunikationen, in die sich die Sprecher unter der Voraussetzung begeben, daß der Frager sich in bezug auf den Befragten gerade nicht neutral, sondern engagiert verhalten wird. In diesem Sinne hat auch das Forschungsinterview, zumal das qualitative, das Format eines Alltagsgesprächs mit genau festgelegter Rollenverteilung - zu einem Artefakt wird es in dem Augenblick, in dem Forschungsregeln aktiviert werden, die zwar in jedem Lehrbuch und in jeder Interviewerschulung vermittelt werden, die aber von grundlegenden Kommunikationsregeln auf geradezu absurde Weise absehen. In erster Linie ist hier das Neutralitätspostulat an den Interviewer zu nennen, der wie eine weiße Leinwand als Projektionsfläche für die Lebensschilderungen des Befragten fungieren soll. In zweiter Linie gehört hierzu auch die geforderte strikte Zurückhaltung des Interviewers in der ersten Phase des narrativen Interviews,5 und in dritter das Grundpostulat interpretativer Sozialforschung, daß der Interviewte seine Geschichte nach Kriterien seiner eigenen Relevanzsetzung erzählen kann - als wäre nicht gerade diese Relevanzsetzung, kommunikationstheoretisch betrachtet, Produkt der situativen und personalen Bedingungen der Gesprächssituation, sondern eine einsame Handlung des Befragten. Vor diesem Hintergrund erscheint es dann als abwegig, wenn - wie in weiten Teilen der Forschungspraxis - aus der Kette aufeinander bezogener Sprechhandlungen - auf a( 1) folgt b( 1), auf a(2) b(2) usf. - nur der Monolog b( 1), b(2) usw. ausgewertet wird, der so nie stattgefunden hat. Alltagspraktisch ist dieser Sachverhalt in Formulierungen wie „Ein Wort gibt das andere" festgehalten, aber in der Forschungspraxis geht man nach wie vor davon aus, mit dem Instrument des Interviews „wahre Werte" etwa über die Eigenschaften einer Person, über ihre Haltungen, Einstellungen oder ihre Geschichte erheben zu können, indem man den Text in Einzelsegmente zerlegt, und begründet gerade vor diesem Hintergrund die Forderung, Interviewer bzw. Forscher hätten sich neutral zu verhalten. Dieser Ncutralitätsforderung liegt, was oft vergessen wird, das klassische Erkenntnismodell der Naturwissenschaften zugrunde, das ja davon ausgeht, daß die in Raum und Zeit ablaufenden Prozesse, die beobachtet werden, auch dann und genauso ablaufen, wenn sie nicht beobachtet werden. Der Forschungsprozeß ist nach einem Modell konzipiert, das davon ausgeht, daß mithilfe einer spezifischen Methodologie „Daten" aus lebensweltlichen Kontexten „entnommen" und zu Forschungszwecken „ausgewertet" werden können. Dieses Modell basiertauf der Theorie, daß diese Daten objektiv, also auch jenseits ihrer Erhebung existieren, auf einer Theorie 5 Schütze (1977); (1980). 250 Harald Welzer Das Interview als Artefakt 251 [1541 des „wahren Wertes".6 Deutlich zutage tritt diese Vorstellung, wenn etwa vom „Forschereffekt" oder vom „Interviewercinfluß" oder von „Verzerrungen" die Rede ist, was jeweils voraussetzt, daß irgendwo etwas „reines", etwas „Gegebenes" im Verborgenen liege, das mit geeigneten Techniken zu heben wäre. Es ist nicht ohne Ironie, daß ausgerechnet die Naturwissenschaft, genauer gesagt die Quantenphysik, gezeigt hat, daß diese Theorie insofern nur beschränkte Gültigkeit beanspruchen kann, als die Meßvorgänge das Verhalten der untersuchten Objekte durchaus verändern können.7111 Auch wenn man hier von einem Hineinreichen des Beobachtungsvorgangs in das untersuchte Objekt sprechen muß, ist die Problemlage in den Naturwissenschaften noch erheblich weniger komplex als in den historischen und in den Sozialwissenschaften; denn die Tatsache, daß Naturwissenschaftler ein wie immer konstruiertes Bild von der Bahn des Elektrons entwerfen, ist dem Teilchen ja durchaus gleichgültig. Ganz anders als Teilchen deuten Befragte in Forschungsinterviews aber die Situation inklusive der Motive, Fragen, Haltungen des Forschers sehr genau und betrachten sie als Teil ihrer Wirklichkeit. In der sozialen Situation des Interviews ist jeder der Sprecher nicht nur Subjekt seines Handelns, sondern zugleich Objekt der Beobachtung des jeweils anderen - das ist die Bedingung für die Möglichkeit der Perspektivenübernahme, die wiederum die Bedingung für die Voraussetzung ist, daß man so spricht, wie man erwartet ... usw. Dabei ist es wichtig zu betonen, daß die Beobachtungen am jeweils anderen keineswegs nur darauf gerichtet sind, was dieser verbal zum Ausdruck bringt, sondern darauf, welche Subtexte alle wahrnehmbaren Merkmale seines Handelns in der Situation liefern: Gestik, Mimik, körperliche Reaktionen wie Rotwerden oder Pupillenerweiterungen, Aufgeregtheit etc. - alles das gehört zum Ausdrucksverhalten, das im komplexen Wechselspiel sozialer Interaktion permanent in Rechnung gestellt wird. Wenn von diesen interdependenten Beobachtungen und Deutungen, d. h. vom sozialen Setting, von der Interaktionsbeziehung, der Interaktionsgeschichte usw. abstrahiert wird, werden die Befragtenäußerungen von ihrem Entstehungszusammenhang abgekoppelt, und genau in diesem Augenblick wird das Interview bzw. seine Auswertung zum Artefakt. Es läßt sich also zunächst zusammenfassen, daß die Gestalt einer Erinnerungserzählung immer von der sozialen Situation abhängig ist, in der sie erhoben wird. Daneben gibt es aber noch weitere Faktoren, die auf die Erzählung einwirken. Wenn man etwa die narrative Strukturierung betrachtet, mit deren Hilfe Erinnerungen zu 6 Z.B. Esser (1986). 7"' So gehen etwa, wie Heisenberg 1927 herausgearbeitet hat, Beobachtungen im subatomaren Bereich stets mit einer Störung des beobachteten Objekts einher- womit man keineswegs mehr davon ausgehen kann, die festgestellten Vorgänge spielten sich auch unabhängig von der Beobachtung, also objektiv in Raum und Zeit ab. Diese „Störung" stellt sich im Experiment etwa so dar, daß der Ort eines Elektrons nur dann bestimmt werden kann, wenn das Teilchen „beleuchtet" wird - was aber zur Folge hat. daß das Teilchen von Lichtquanten getroffen wird, die es völlig aus eben der Bahn werfen, die eigentlich beobachtet werden soll. Auf dieser Grundlage nun lassen sich keine Aussagen mehr über objektive, d. h. unabhängig von der Beobachtung existierende Eigenschaften machen. Insofern ist es unsinnig, etwa von der „Bahn des Elektrons im Wasserstoffatom" zu sprechen, weil diese „Bahn", wie Heisenberg 1927 so folgenreich formuliert hat, erst dadurch entsteht, daß wir sie beobachten (Heisenberg [1927], 185). Geschichten werden, wird man schnell feststellen, daß eine Erzählung bestimmte Kriterien erfüllen muß, damit ein Zuhörer sie für gelungen hält. „Erzählte man, wie [ |55] man zwei Häuserblocks nach Norden, drei Richtung Osten und dann rechts in die Parkstraße gegangen ist, würde das eine erbärmliche Geschichte abgeben."8 Wäre diese Erzählung aber in die Geschichte einer Wohnungssuche eingebettet, die schließlich mit dem unerwarteten Finden einer Traumwohnung in der Parkstraße 102 endet, macht die Wegbeschreibung Sinn für den Zuhörer. Und dieser Sinn wiederum liegt Kenneth Gergen zufolge darin, daß Geschichten innerhalb eines „eva-luativen Rahmens" erzählt werden und auf einen „werthaltigen Endpunkt" hinauslaufen müssen - erst das macht sie mitteilenswert. Die Komplikation liegt allerdings darin, daß das Leben selbst nicht nach werthaltigen Endpunkten verläuft: „Der Endpunkt und sein Wert wird vielmehr vom Erzähler der Geschichte bestimmt."9 Eine biographische Erzählung ist mithin viel eher bestimmt durch die normativen Anforderungen und kulturellen Kriterien für eine gute Geschichte einerseits und die Bedingungen ihrer Performanz andererseits als durch so etwas wie tatsächlich gelebtes Leben. Dieses nämlich ist, so Donald Polkinghorne, „viel wechselvoller und zusammenhangloser als die Geschichten, die wir darüber erzählen. Unser tägliches Leben besteht aus Essen und Schlafen, aus dem Weg zur Arbeit und nach Hause und den laufenden Besorgungen. [...] Die narrative Strukturierung hebt diejenigen Geschehnisse, Gedanken und Handlungen hervor, die benötigt werden, um den Weg, auf welchem die erzählte Episode entfaltet wird, nachvollzichen zu können. [...] Ein narratives Gebilde dreht sich, im Gegensatz zum gelebten Leben, üblicherweise um einen .Hauptplot'; dabei werden lediglich jene Subplots und Ereignisse aufgenommen, die zu diesem beitragen, und alle hierfür irrelevanten Geschehnisse werden ausgesondert."IU Schon auf der Ebene der notwendigen narrativen Strukturierung der biographischen Erzählung ergibt sich, daß der Erzähler Teile des Erlebten weglassen und andere hinzufügen muß, daß er Einzelepisoden dramatisieren und auf den Plot hin frisieren muß, daß er mithin recht erfinderisch sein muß, will er erfolgreich eine Geschichte erzählen. „Abenteuer erlebt nur der, der sie zu erzählen weiß", hat Henry James in diesem Sinne bemerkt. Oder, etwas aktueller und besser auf Forschungszusammenhänge der Biographieforschung bezogen: „Das Ereignis ist nicht das, was passiert. Das Ereignis ist das, was erzählt werden kann." (Allen Feldman).'"21 Gibt es nicht aber Erlebnisse, deren emotionale Qualität so einschneidend gewesen ist, daß sie sich nachgerade ins Gedächtnis eingebrannt haben und dort starr, aber vollständig, abgelagert sind? Man hat das eine Weile für traumatische Erlebnisse angenommen und hat etwa auch sogenannte flashbulb memories thematisiert, Erinnerungen also an blitzlichtartig aufgenommene Ereignisse, die wie Photographien im Gedächtnis ihre unveränderliche Gestalt zu behalten scheinen. Ein inzwischen berühmtes Beispiel hierfür hat Reinhart Koselleck geliefert: „Es gibt Erfahrungen, die sich als glühende Lavamasse in den Leib ergießen und dort gerinnen. Unver- 8 Gergen (1998), 172. 9 Gergen (1998), 173. 10 Polkinghorne (1998), 26. II'-1 Den Hinweis auf dieses Zilat verdanke ich Nalalija Basic. 252 Harald Welzer Das Interview als Artefakt 253 rückbar lassen sie sich seitdem abrufen, jederzeit und unverändert. Nicht viele solcher Erfahrungen lassen sich in authentische Erinnerung überführen; aber wenn, dann gründen sie auf ihrer sinnlichen Präsenz. Der Geruch, der Geschmack, das [ [ 56] Geräusch, das Gefühl und das sichtbare Umfeld, kurz alle Sinne, in Lust oder Schmerz, werden wieder wach und bedürfen keiner Gedächtnisarbeit, um wahr zu sein und wahr zu bleiben."12 Koselleck berichtet hier über die schockierende Erfahrung, wie er am 9. Mai 1945 in Auschwitz von den Massenmorden erfahrt, und bemerkenswert an seiner Beschreibung ist, daß er die körperliche und emotionale Empfindung, die die Nachricht in ihm hervorgerufen hat, als unverrückbar und unverändert beschreibt. Es geht hier um emotionale Erinnerung, und dazu läßt sich anmerken, daß sich mittlerweile sogar neuroanatomisch belegen läßt, daß Emotionen und Kognitionen im Gehirn mittels unterschiedlicher Systeme verarbeitet werden.13 Die faktischen Umstände und Details, die etwa mit einem schweren Autounfall zusammenhingen, können verschwimmen, verändert oder auch völlig vergessen werden, während ein dem damaligen Unfallereignis ähnlicher Hupton nach wie vor in der Lage ist, eine emotionale Reaktion auszulösen. Das emotionale Gedächtnissystem ist weniger anfällig für Beschädigungen und Entstellungen durch äußere Einflüsse oder durch das Altern des sich Erinnernden; es ist, mit anderen Worten, weniger vergeßlich als Gedächtnissysteme, die kognitive Wissensbestände aufbewahren. Im Gegenteil: Furchtreaktionen und Ängste, die mit traumatisierenden Erfahrungen zusammenhängen, können nicht nur weniger schnell verblassen, sondern mit der Zeit sogar anwachsen - ein Phänomen, das als „Inkubation der Furcht" bezeichnet wird.14 Wohlgemerkt: die mit dem Ereignis verbundene Reaktion wird stabil oder sogar übersteigert erinnert, nicht aber die Konturen des Ereignisses selber, die vielfältige Überzeichnungen, Abweichungen oder völlige Neukonstruktionen erfahren können. Dies wiederum ist folgenreich für die Verknüpfung zwischen emotionaler Erinnerung und erinnertem Ereignis - denn gerade hier kann das construetive memory frame-work Verknüpfungen herstellen, die mit tatsächlichen Ereignissen nichts oder nur wenig zu tun haben. Als Beispiel sei hier genannt, daß Opfer von Extremtraumati-sierungen nicht notwendigerweise das erinnern, was ihnen faktisch widerfahren ist, sondern manchmal das, wovor sie sich am meisten gefürchtet haben („greatest fear vision").15 In diesem Zusammenhang sind auch Phänomene wie das des „weapon focussing" zu nennen, das die Aufmerksamkeitszentrierung um den höchsten Punkt der Gefahr bezeichnet. In allgemeinerer Perspektive läßt sich sagen, daß der Grad der Angst in einer Situation das Maß der Verengung der Aufmerksamkeit auf einzelne Situationsmerkmale bestimmt,16 womit das Problem der „verzerrten" oder unvollständigen Erinnerung nicht erst bei der Aufbewahrung oder beim Abruf des 12 Koselleck (1995). 13 LeDoux (1998); Damasio (1999). 14 LeDoux (1998), 219. 15 Schacter (1996), 207. 16 Schacter (1996), 210. erinnerten Erlebnisses beginnt, sondern bereits bei seiner Wahrnehmung und Einspeicherung.17131 [|57] In diesem Sinne ist Lenore Terr, die die Erinnerung von entführten und 16 Stunden festgehaltenen Schulkindern untersucht hat, der Auffassung, daß die überraschende Quote von falschen Erinnerungen der vier bis fünf Jahre nach dem Ereignis befragten Kinder (n=23) auf die verzerrte oder extrem eingeschränkte Wahrnehmung der Entführung selbst zurückgeht. Allerdings erinnerte sich auch die Minderheit von sieben Kindern, die sich unmittelbar nach dem Verbrechen exakt an die Umstände erinnert hatte, zum späteren Untersuchungszeitpunkt genauso freizügig wie die übrigen.18 Im Fall eines Amoklaufs in einer amerikanischen Schule, bei dem ein Kind getötet wurde, „erinnerten" sich sogar Kinder, die an jenem Tag gar nicht in der Schule waren, daran, Schüsse gehört und jemanden am Boden liegen gesehen zu haben.19 Die Einflüsse auf die Erinnerung sind hier natürlich vielfältig - in beiden Fällen wird eine Rolle gespielt haben, daß die Ereignisse wieder und wieder ausgetauscht und erzählt wurden und eine soziale Standardisierung erreichen konnten, die es möglich machte, daß die Schüler, insbesondere im letzten Fall, ihre „eigenen" Erinnerungen nicht mehr von denen der anderen Mitglieder ihrer sozialen Bezugsgruppe unterscheiden konnten - wobei es allerdings im Rahmen einer überstandenen Gefahr auch schmählich ist, nicht dabeigewesen zu sein und stattdessen mit Halsschmerzen im Bett gelegen zu haben. Die inzwischen zahlreichen entwicklungspsychologischen Untersuchungen zur Rolle von „conversational remembering" (David Middleton) vor allem im Zusammenhang familialer Interaktionen haben gezeigt, daß sich insbesondere autobiographische Erinnerungen erst dann entwickeln, wenn Kinder an der sozialen Praxis des Redens über vergangene Ereignisse zu partizipieren beginnen,20 wobei die soziali-satorische Funktion des „memory talk" gerade darin liegt, daß Eltern das Handeln ihres Kindes im gemeinsamen Gespräch nicht nur vergegenwärtigen, sondern im selben Zug als bedeutsam markieren.21 Eine Langzeitstudie22 hat gezeigt, daß ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Struktur der Mutter-Kind-Dialoge und 1713IIntraub et al. (1998) beschreiben in diesem Zusammenhang das Phänomen, daß Probanden, denen Photos gezeigt wurden, später in der Erinnerung den Ausschnitt der Szene, den sie auf dem Photo gesehen haben, ausdehnen (boundary extension). Sie „interpretieren dieses Phänomen dahingehend, daß schon im Zuge der Wahrnehmung einer Szene - und nicht erst in der Erinnerung an diese - Informationen über das erwartete Layout der Szene aktiviert werden." (Piefke [1999], 90). Hochberg (1978) spricht in diesem Zusammenhang von mentalen Schemata, die die Wahrnehmung anleiten und sie in einen vorhandenen Kontext für ihre Interpretation und Erinnerung einordnen. Dieses Konzept scheint eng verwandt mit Goffmans Auffassung von (sozialen) „Rahmen", die seiner Auffassung nach die Organisation von Erfahrung übernehmen (1980). 18 Terr (1994). 19 Pynous / Nader (1989). 20 Nelson (1993); (1996); Middleton / Edwards (1990). 21 Miller (1993). 22 Reese et al. (1993). 254 Harald Welzer Das Interview als Artefakt 255 den späteren Erinnerungen der Kinder besteht. Eine Studie von Tessler / Nelson23 hat überdies die soziale Determination des Erinnems mit dem Befund verdeutlicht, daß Kinder sich nach einem Museumsbesuch explizit nur an das erinnerten, worüber während des Besuchs auch gesprochen worden war. Allgemein sind übrigens die Erinnerungen von Kindern anfälliger für das Verwechseln der Umstände von Geschehnissen und der Quellen von Ereignissen, übrigens auch für kryptomnestische Erinnerungen, also Erinnerungen an Ereignisse, die überhaupt nicht stattgefunden haben. Dieser Befund ist durch eine Reihe von Experimenten mit Kindern untermauert worden, denen in Gesprächen Erlebnisse suggeriert wurden, an die sie sich später detailliert erinnern zu können glaubten, obwohl sie sie faktisch nie gehabt hatten.24 Wolf gang Hell hat solche und andere Untersuchungen zu falschen Erinnerungen prägnant zusammengefaßt: „Das Gedächtnis ist im Laborversuch durch Zusatzinformationen, Fragestellung oder Ausnutzen von Zusatzwissen systematisch beeinflußbar. In der Realität kann die Täuschung noch viel stärker sein. Eine emotionale [ 158] Voreingenommenheit in eine Richtung, wiederholtes Abfragen, Suggestionen und vieles andere kann eine falsche Erinnerung auslösen, die für die Betroffenen so real wie eine richtige Erinnerung ist und die für die Zuhörer dieser Erinnerung durch die Lebendigkeit der Schilderung absolut glaubwürdig wirkt. Bei Kindern ist dieser Effekt noch stärker als bei Erwachsenen."25 Dabei spielt die emotionale Einbettung der Situation eine offenbar größere Rolle für das, was erinnert wird, als die faktischen Merkmale der vergangenen Situation. Ein Beispiel hierfür ist das sogenannte „flashback", das insbesondere von Vietnam-Veteranen als das Gefühl beschrieben wird, unmittelbar und ungeheuer plastisch in eine Situation größter Gefahr und Angst „zurück"-versetzt zu sein; das Phänomen des „flashback" wird allerdings klinisch erst verzeichnet, seit es in den Beschreibungen von LSD-Konsumenten eine gewisse Verbreitung gefunden hat.26 Frankel vermutet, daß die Beziehung von flashbacks zu Träumen - an die man sich ja übrigens auch erinnern kann - enger ist als zu wirklichen Geschehnissen.27141 Befindensabhängige Erinnerungen zeigen sich auch im Zusammenhang anderer bewußtseinseinschränkender Befindlichkeiten: Wenn man etwa Alkohol trinkt oder andere Drogen konsumiert, erinnert man sich im nüchternen Zustand schlecht an 23 Tessler /Nelson (1994). 24 Loftus / Pickrell (1995); Loftus et al. (1995); Hyman et al. (1995). 25 Hell (1998), 274. 26 Schacter (1996), 207. 27141 Frankel (1994). Bourke (1999) erwähnt, dalj auch Personen, die gar nicht unmittelbar in Kampfhandlungen involviert, sondern etwa in Versorgungs- oder Nachrichteneinheiten eingesetzt waren, von „flashbacks" berichteten. Kriege scheinen regelmäßig so etwas wie einen „Ich war dabei"-Mythos zu evozieren, der auch denjenigen Kampfschilderungen abverlangt, die allenfalls von ferne oder aus zweiter Hand etwas von Kampfhandlungen mitbekommen haben. Bourke zitiert einen Vietnam-Veteranen, der sich darüber aufregt, im Krankenhaus Soldaten getroffen zu haben, die über „flashbacks" klagten, ohne je in Kampfhandlungen involviert gewesen zu sein: „These guys were having heavy flashbacks [...], I couldn't understand. I said, What y'all talking 'bout? You was in the artillery. At the base camp. You fired guns from five miles away and talking 'bout flashbacks?" (Bourke [1999], 9). das, was in den entsprechenden Zuständen passiert ist - experimentell ist aber nachgewiesen worden, daß die Erinnerung präziser wird, wenn der sich Erinnernde wieder auf demselben Pegel ist! Dieses Phänomen des „State dependent retrieval"28 scheint mir vor allem deshalb interessant, weil es den Schluß nahelegt, daß auch von einer Kongruenz zwischen sozialen Umständen des Einspeicherns und Abrufens auszugehen ist - weshalb etwa auf Kameradschaftsabenden oder Heimattreffen eine größere Reichhaltigkeit von ereignisspezifischen Erinnerungen vorflndlich ist, als wenn im Rahmen anderer Settings, also etwa in Forschungsinterviews, lebensgeschichtliche Erinnerungen abgefragt werden. Dieses Phänomen verweist auch auf die Rolle, die Erinnerungsgemeinschaften für die Konturierung von Vergangenheitsbeständen spielen.29 Daneben sind noch zwei weitere Dinge bedeutsam für meine Überlegungen: Erstens nämlich, daß es mittlerweile gute Belege dafür gibt, daß Stress und die damit verbundenen biochemischen Prozesse die Funktionen des Hippocampus, des zentralen Verarbeitungsorgans für kognitive Gedächtnisinhalte, empfindlich stören können - woraus durchaus ein Unvermögen resultieren kann, sich an das verursachende Trauma überhaupt erinnern zu können. Oft scheint der Fall zu sein, daß das traumatisierende Ereignis zumindest hinreichend Stress dafür ausgelöst hat, daß die Erinnerung an dieses Ereignis schwächer f 159] ist als gewöhnlich. Gleichwohl können Aspekte des Ereignisses bewußt rekonstruiert werden, wobei bei dieser Art von Erinnerung nun aber zwangsläufig Lücken aufgefüllt werden müssen, „und die Zuverlässigkeit der Erinnerung wird davon abhängen, wieviel aufgefüllt wurde und wie wichtig die aufgefüllten Teile für den Inhalt der Erinnerung waren."30 All dies stimmt skeptisch gegenüber der Annahme, Erinnerungen an traumatisierende Ereignisse seien präziser, gar authentischer als in gewöhnlichen Fällen - es läßt sich im Gegenteil eher Evidenz dafür zusammenbringen, daß diese Erinnerungen größeren Beschränkungen unterliegen als Erinnerungen an weniger belastende Ereignisse. Sollte dieser Befund zutreffend sein, würde das das konstruktive Moment des Erinnerns gerade gefahrvoller, schrecklicher und emotional belastender Situationen deutlich erhöhen. Zweitens, und damit zusammenhängend, sei noch auf die Bedeutsamkeit der visuellen Repräsentanz von Erinnerungen hingewiesen: Gerade das, was einem „noch genau vor Augen steht", wovon man noch jedes einzelne Detail buchstäblich zu sehen glaubt, stattet den sich Erinnernden mit der felsenfesten Überzeugung aus, daß das, woran er sich erinnert, auch tatsächlich geschehen ist. Erstaunlicherweise und subjektiv äußerst schwer nachvollziehbar liegt das aber nicht unbedingt daran, daß sich das Geschehen erst auf der Netzhaut und dann im Gehirn nachgerade eingebrannt hat, sondern daran, daß die neuronalen Verarbeitungssysteme für visuelle Perzeptionen und für phantasierte Inhalte sich überlappen, so daß auch rein imaginäre Geschehnisse mit visueller Prägnanz „vor den Augen" des sich Erinnernden stehen können. Gerade hier ist die Diskrepanz zwischen der subjektiven Überzeu- 28 Schacter (1996), 62. 29 Burke(1991). 30 LeDoux( 1998), 263. 256 Harald Welzer gung, sich genauestens zu erinnern, und dem Artefaktischen der Erinnerung am größten. Genau deshalb werden Zeitzeugen etwa des zweiten Weltkriegs mit felsenfester Überzeugung die Authentizität von berichteten Erlebnissen und Ereignissen behaupten können - „das weiß ich noch wie heute!" Der Umstand, daß es sich hier um wieder und wieder erinnerte und erzählte Episoden handelt, die zudem in einen Kanon kurrenter Geschichten eingebettet sind, die den gleichen sozial abgestützten Erzählmustern folgen, bestärkt die subjektive Überzeugung, über wirkliche Erlebnisse und Geschehnisse zu sprechen, einmal mehr. Ausgehend von solchen Überlegungen wird einsichtig, wieso es regelmäßig zu empörten Reaktionen von Zeitzeugen kommt, wenn sie - wie im Zusammenhang der Wehrmachtsausstellung - mit historischen Befunden konfrontiert werden, die mit ihrer Erinnerung subjektiv nichts zu tun haben; ich glaube, man unterschätzt das Problem, wenn man einfach davon ausgeht, hier ginge es immer um Verdrängung, Abwehr oder Lüge. Das Problem könnte im Gegenteil eher darin bestehen, daß die Leute glauben, was sie sagen.3'15' [|60] Es gäbe noch einige Phänomene zu ergänzen, die ich hier nur stichwortartig nennen kann: etwa, daß es abhängig vom Lebensalter unterschiedliche Verdichtungen von Erinnerungen gibt und daß Erzähler sich häufig in der Quelle vertun, aus der sie eine Erinnerung schöpfen (source amnesia). Daneben sollte auch das neuerdings intensiv diskutierte Phänomen berücksichtigt werden, daß mediale Produkte und Diskurse Erinnerungen nicht nur überformen, sondern oft überhaupt erst entstehen lassen - das bislang spektakulärste Beispiel hierfür hat der Fall Wilkomirski geliefert.3219 31151 Unlängst hat ein wissenschaftlicher Vortrag in Dresden für einen Eklat gesorgt: Viele alte Dresdener, die sich die Ausführungen des Historikers Peter Schnalz zum verheerenden Angriff auf Dresden am 13. und 14. Februar anzuhören gekommen waren, empörten sich Uber dessen Darlegung, daß ein wichtiger Aspekt ihrer Erinnerungen der historischen Wirklichkeit einfach nicht entsprechen konnte. Hier ging es um den Mythos, daß am 14. und 15. Februar, nach dem ersten Angriff, Tiefflieger Jagd auf Menschen gemacht hätten. Der Umstand, daß der durch den Bombenangrifferzeugte Feuersturm es britischen Tieffliegern unmöglich gemacht hätte, in die brennende Innenstadt zu fliegen, überzeugte die Zuhörer so wenig wie die akribische Analyse von Flugeinsatzplänen und Logbüchern, die keinerlei Beleg für die Richtigkeit der Dresdener Erinnerungen lieferten. Das wurde von den versammelten Zeilzeugen als Angriff auf ihre Erinnerung an „silbrigschimmernde" Mustangjäger und verzweifelt fliehende Menschen verstanden (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.4.2000, 2). 32161 Dessen als autobiographisch apostrophierte „Bruchstücke" (Wilkomirski [1995]), die zunächst von der Öffentlichkeit und den meisten Rezensenten für authentisch und besonders beeindruk-kend gehalten wurden, erwiesen sich nach Recherchen des Schweizer Autors Ganzfried eindeutig als gefälscht. Aleida Assmann hat - neben Raul Hilberg - darauf hingewiesen, daß die „Bruchstücke" der vorgeblichen Autobiographie Wilkomirskis zahlreiche Versatzstücke aufweisen, die offensichtlich in ästhetischer wie in inhaltlicher Sicht Spielfilmen zur Holocaust-Thematik entliehen sind. Obwohl im Fall Wilkomirski offen ist, ob der Autor eine bewußte Fälschung vorgelegt hat oder unbewußt einer „false memory" erlegen ist, ist in jedem Fall auffällig, daß hier mediale Vorlagen in einen Lebensbericht eingearbeitet werden und, wie Assmann anmerkt, beim Leser das Gefühl einer „unheimlichen Vertrautheit" hervorrufen, das in authentischen Berichten von Überlebenden gerade nicht evoziert wird (Assmann [1999]). Ganz ähnlich Das Interview als Artefakt 257 Zusammengefaßt läßt sich sagen, daß Zeitzeugenerzählungen als adressatenbezogene Konstruktionen aufgefaßt werden müssen, in denen biographische Erfahrungen nach ihrer sozialen und emotionalen Bedeutsamkeit, nach narrativen und normativen Erfordernissen und nach Maßgabe nachträglichen Wissens jeweils neu figuriert und präsentiert werden. Was folgt nun aus all dem für die Einschätzung und Auswertung von biographischen Interviewmaterialien und Quellen der oral history? Methodisch folgt daraus eine modifizierte Definition des Materials und eine Veränderung der Perspektive: Was mit Hilfe von Zeitzeugeninterviews erhoben wird, ist, wie ein Erzähler seine Auffassung von der Vergangenheit einem Zuhörer zu vermitteln versucht. Das ist - zumindest sozialpsychologisch - auch die viel interessantere Frage als die nach einer historischen Wahrheit: Denn wir finden hier Material über das Fortwirken von Geschichte in aktuellen sozialen Prozessen, d. h. über die Bedeutung einer jeweiligen Vergangenheitsmodulation für die Gegenwart. Bezieht man nun diesen an der Face-to-face-Situation des Interviews der Biographieforschung oder der oral history gewonnenen Befund auf großräumige gesellschaftliche Diskurse über die Vergangenheit,33 so wird man gerade am Beispiel der DeutungsVeränderung des Holocaust ganz analog feststellen können, daß ein Ereignis der Vergangenheit auch auf der kollektiven Ebene vielfältigen Darstellungs- und Deutungsveränderungen unterliegt, die jeweils [[61] aus den politischen Erfordernissen oder Wünschen der fortschreitenden Gegenwart heraus vorgenommen werden. Metaphorisch gesprochen, ist individuelle wie kollektive Erinnerung einem abstrakten Bild vergleichbar, das eine monochrome Farbfläche zeigt. Was der Betrachter zu sehen scheint, ist die oberste Schicht des Farbauftrags, die Bildoberfläche. Was er in Wahrheit sieht, nämlich Licht, Farbe und Raum, geht aber auf die sorgfältig aufgetragenen dreißig oder vierzig Schichten von Farbe in unterschiedlicher Pigmentierung zurück, die hinter der Oberfläche liegen, aber empirisch deren Farb-und Lichtwirkung hervorbringen. Genauso ist es mit Gesprächen über die Vergangenheit: Wir finden in Zeitzeugeninterviews die oberste, sichtbare Schicht, deren Gestalt sich den vielfältigen sozialen und kommunikativen Modulationen aller darunterliegenden Schichten verdankt. Um diese Gestalt freilich entschlüsseln zu können, muß die vollständige Interaktion Gegenstand der Auswertung sein, d.h. es sollte sich allmählich herumsprechen, daß die Auswertung von Befragtenäußerungen unabhängig von ihrem sozialen und kommunikativen Kontext ziemlich unsinnig ist - ebenso wie das Postulat vom neutralen Interviewerverhalten, 33 finden sich im Interviewmaterial der Mehrgenerationenstudie „Tradierung von Geschichtsbewußtsein", die gegenwärtig am Psychologischen Institut der Universität Hannover durchgeführt wird, eine Reihe von Belegstellen, in denen Befragte Elemente z. B. aus den Spielfilmen „Die Brücke", „Im Westen nichts Neues" oder aus „Des Teufels General" in ihre biographische Erzählung einfügen. In umgekehrter Perspektive ist mit einiger Plausibilität argumentiert worden, daß Daniel Goldhagens Studie „Hitlers willige Vollstrecker" (1996) Uber weite Strecken narra-tive Strukturen und Montagetechniken in Anspruch nimmt, die dem Genre des Kriegs- und Holocaust-Spielfilms entnommen sind (Knoch [1998]). Frei (1996); Reichel (1995); Moller (1998). 258 Harald Welzer Das Interview als Artefakt 259 In der Sicht des Historikers nun wäre das Zeitzeugeninterview nicht als Quelle dafür zu betrachten, wie etwas gewesen ist, sondern wie etwas von heute aus als vergangenes Ereignis wahrgenommen wird. In allgemeinerer Perspektive, aber in gleichem Sinne hat Walter Benjamin einmal formuliert, „daß das Gedächtnis nicht ein Instrument für die Erkundung des Vergangenen ist, vielmehr das Medium."34 Damit kehre ich an den Anfang zurück: Erinnerungserzählungen sind Medien der Erinnerung an Erinnerungen, und ich hoffe, gezeigt zu haben, daß es nahezu unmöglich ist, zu sagen, ob an wahre oder falsche. 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