„VÖLKERKERKER"? * * „VOLKERKľERKER" ? DIE K. U. K. MONARCHIE UND IHRE NATIONALITÄTEN Gegen den aufkommenden Nationalismus hatte die multinationale Habsburgermonarchie kein Rezept. Im Gegenteil, sie verkörperte im Zeitalter der Nationalstaaten geradezu einen Anachronismus. Das unzeitgemäße Vielvölkerreich, in dem es ausschließlich Minderheiten gab, bot seinen vielen Nationalitäten dennoch Vorteile. V 4 I Mt.. 1,59 Italienisch Das größte Problem der Habsburgermonarchie war ihr Charakter als Vielvölkerstaat. Die größte Herausforderung dieses fragilen habsburgischen Vielvölkerreiches war naturgemäß der immer stärker werdende Nationalismus. Die k. u. k. Monarchie hatte keine 214-Antwort auf diese Sonstige Ideologie der Moderne, und sie konnte auch gar keine haben. 6,67 Denn die öster- Rumänisch reichisch-ungarische Monarchie verkörper- 8 39 te geradezu das Ukrainisch Gegenteil von allem, was der Nationalismus verhieß. 9 3*| Die kulturellen, Polnisch sprachlichen und auch religiösen Unterschiede innerhalb des mehr als 50 Millionen Einwohner zählenden großen Habsburgerreiches sind so groß wie in keinem anderen europäischen 24,90 Deutsch DIE BEVÖLKERUNG DER K.U.K. MONARCHIE NACH SPRACHGRUPPEN IM JAHR 1900 Anteil an der Gesamtbevölkerung in Prozent 2,62 7,57 Slowenisch Serbisch, Kroatisch 4,45 Slowakisch Land, darin unterscheidet sich Österreich-Ungarn im 19. Jahrhundert deutlich vom Rest Europas. Diese Vielfalt an Nationalitäten, Kulturen und Glaubensrichtungen geht auf die bewegte Geschichte Mittel- und Osteuropas seit dem Mittelalter zurück. Doch im Laufe des 19. Jahrhunderts haben sich dagegen europaweit Nationalstaaten mit einer weitgehend gleichsprachigen Bevölkerung konstituiert -man denke 19,28 Ungarisch 13,08 Tschechisch Nach Ernst Brückmüller, Sozialgeschichte Österreichs nur etwa an die beiden Nachbarn Deutschland und Italien. Dabei ist schon der 54 „VÖLKERKERKER"? Begriff der „Nation" gar nicht so leicht zu bestimmen: Während man in Deutschland schon im 19. Jahrhundert an die Zusammengehörigkeit eines „Volkes" gemeinsamer Abstammung glaubt, ist es zum Beispiel in Frankreich die gemeinsame Kultur, die der Nation ihre Eigenständigkeit verleihen soll. So oder so, beim Habsburgerreich konnte überhaupt keine Rede von einer übergeordneten Gemeinsamkeit jener Völker sein, die in seinen ausgedehnten Territorien lebten. Italiener, Slowenen, Kroaten, Serben, Bosnier im Süden; Polen, Ukrainer (Ruthenen), Juden, Ungarn und Rumänen im Osten; Tschechen und Deutsche im Norden: An allen Ecken und Enden des riesigen Reiches tummelte sich - teilweise in geschlossenen Siedlungsgebieten, teilweise bunt durcheinander, insbesondere in den Städten - eine Vielzahl von unterschiedlichen Kulturen, Sprachen und Religionen. Selbst die beiden sogenannten „Herren-Völker" der Doppelmonarchie, Deutsche und Ungarn, stellten nur ein Fünftel bis ein Viertel der Bevölkerung. Überspitzt formuliert: Die k. u. k. Monarchie hatte nicht viele Minderheiten - es gab ausschließlich Minderheiten. Erst mit dem Aufkommen der nationalistischen Idee, dass Menschen gemeinsamer Sprache, Kultur und Religion als Nation über ihr gemeinsames Schicksal bestimmen sollten, zeigte sich die gewaltige Sprengkraft dieser alten mitteleuropäischen Siedlungsgeschichte. Was Italiener und Deutsche in einem nationalen Einigungsprozess erreicht hatten, schien nun auch anderen Völkern wünschens- und erstrebenswert. Das multinationale Reich wurde von vielen nun als „Völkerkerker" empfunden - vor allem nach dem Umbau des Reiches zur k. u. k. Doppelmonarchie, die zwei „begünstigte" Volksgruppen hervor- gebracht hatte: die Deutschen und die Ungarn. Politische Improvisation und die verblassende „Identifikations-kraft" ihres alten Kaisers Franz Joseph waren jahrzehntelang das einzige Rezept gegen die aufkommenden Zerfallserscheinungen. Dabei bewies - nachträglich betrachtet -das Vielvölkerreich eine erstaunliche Fähigkeit zur Konfliktregulierung, trotz aller Spannungen und Konfrontationen. Auch erst nachträglich zeigten sich die Vorteile, die selbst ein unzeitgemäßes multinationales Reich bieten kann: den Schutz kleinerer Völker gegen die Übermacht großer Nachbarstaaten und, nicht zuletzt, einen riesigen Binnenmarkt, der für einen Großteil seiner Bevölkerung mehr oder weniger stabile wirtschaftliche Rahmenbedingungen schafft. An diesen Gedanken sollte man in Europa erst fünfzig Jahre nach dem Ende Österreich-Ungarns wieder anknüpfen. N HINTERGRÜNDE 55