7 Wie lese ich Lyrik des 20. Jahrhunderts (1890-1990)? 7.1 Jahrhundertwende (1890-1910) 7.2 Expressionismus und Dadaismus (1910-1920) 7.3 Neue Sachlichkeit und andere Strömungen der Zwischenkriegszeit (1920-1933) 7.4 Nationalsozialismus und Exil (1933-1945) 7.5 Nachkriegszeit und deutsche Teilung (1945-1990) Phasen der deutschen Lyrik im 20. Jahrhundert: Es gibt gute Gründe dafür, den Beginn der modernen Literatur und damit auch der modernen Lyrik im deutschen Sprachraum um 1890 anzusetzen: Mit einigen Publikationen der 1890er Jahre wird das Ziel, das die nachromantische Lyrik fast durchgehend angestrebt hat, nämlich die gesellschaftliche Wirklichkeit ihrer Zeit (und auch die der Vergangenheit) möglichst genau, im Naturalismus sogar gnadenlos genau darzustellen, radikal in Frage gestellt. Auf verschiedene Weisen wird der Blick wieder auf das Innere des dichterischen Subjekts gelenkt, so schon in dem eben (S. 89) erwähnten Versuch, einen poetischen >Impressionismus< zu konstruieren, der nicht mehr die Realität darstellen soll, sondern nur noch die Eindrücke, die sich im Inneren des Subjekts einstellen, zur Sprache bringt. Nachdem die äußere Realität sich im Ersten Weltkrieg in brutaler Di- Der rektheit gezeigt hat, wendet sich auch die Literatur und mit ihr die Lyrik in Zivilisationsbruch den Zwischenkriegsjahren wieder nach außen, teils in Verarbeitungen der 1933-45 Kriegserfahrungen, teils in der Schilderung der neuen, diesseitsorientierten Aufbaugesellschaft. Der nationalsozialistische >Zivilisationsbruch< (der Begriff geht auf den Historiker Dan Diner zurück) beendete diesen Neuaufbau nach nur wenigen Jahren; er spaltete die Gesellschaft in noch nie zuvor dagewesener Weise durch Ausgrenzung, Vertreibung und Vernichtung großer Teile der Bevölkerung. Die über vierzig Jahre der deutschen Teilung sind Folge des durch die nationalsozialistische Politik ausgelösten Zweiten Weltkrieges. Die mittlerweile 25 Jahre der neuen deutschen Einheit kann man als anhaltende neue Aufbauphase ohne solche eklatanten Brüche im Inneren ansehen - bei allen Unsicherheiten der Weltlage. Der Beginn der Gegenwartslyrik wird daher hier im Jahr 1990 angesetzt (siehe Kapitel 8). Was ist moderne Lyrik? Dagegen wird die Lyrik des leicht nach vorne verschobenen 20. Jahrhunderts [1890-1990) hier als Einheit gesehen, die mit einem ästhetischen Einschnitt um 1890 beginnt und mit der politischen ZäsuT 1989/90 (die erhebliche ästhetische Folgen zeitigte) endet. Diese Perspektive ist damit zu rechtfertigen, dass uns die Lyrik des gesamten 20. Jahrhunderts nicht mehr in demselben Maße als fremd erscheint wie die Lyrik der vorangehenden vier Jahrhunderte. Verlorene Selbst-'erständlichketten Form und Formlosigkeit Die Lyrik des 20. Jahrhunderts ist >modern< in mehrfachem Sinne: Die über alle Veränderungen hinweg bestehenden Selbstverständlichkeiten der politischen und gesellschaftlichen Ordnung, die sich etwa in der Monarchie als Regierungsform manifestiert haben, sind im 20. Jahrhundert verlorengegangen. Ebenso unwiederbringlich verloren wurde die Selbstverständlichkeit, mit der in den Jahrhunderten zuvor die ästhetischen und damit auch die poetischen Mittel bereitstanden, mit deren Hilfe die jeweilige Welt kulturell gestaltet und bewältigt werden konnte. Der durch Brüche gekennzeichneten gesellschaftlichen Erfahrung entspricht eine Ästhetik und Poetik, die immer neue Brüche fordert und praktiziert. Vor diesem Hintergrund ist uns gerade die bürgerliche Erfahrungswelt des 19. Jahrhunderts, die alles Fremde in die Vertrautheit ihres Interieurs hinein zu holen suchte (man denke etwa an Mörikes Dinggedicht Auf eine Lampe von 1846), besonders fern gerückt. Autoren derselben Zeit dagegen, bei denen die Verstörung offen zutage tritt und nicht geheilt wird (so Platen oder Droste-Hülshoff in manchen ihrer Gedichte), erscheinen uns bereits als modern (vgl. das Kapitel Modernism and difficuüy in J. Ryan 2012, 138-160). Das bedeutet jedoch nicht, dass in der Lyrik des 20. Jahrhunderts ausschließlich Zerrissenheit und Formlosigkeit zur Sprache kommen. Vielmehr gibt es immer wieder Bestrebungen, auf tradierte Formen zurückzugreifen, und sogar Tendenzen, heile oder zumindest geschützte Welten darzustellen. Diese Versuche haben aber im 20. Jahrhundert eine andere Funktion als in den vorangehenden Jahrhunderten, da sie nunmehr immer vor dem Hintergrund der Brüche zu lesen sind - ohne in jedem Fall als Fluchtbewegungen vor der Realität ihrer Zeit gelesen werden zu müssen. Historische Zäsuren: Die deutschsprachige Lyrik des 20. Jahrhunderts kann nur vor dem politischen Hintergrund adäquat gelesen werden, der durch die Einschnitte 1914, 1918, 1933, 1945, 1949 und 1989/90 markiert wird. Wir müssen in jedem Fall fragen, wann und wo (in welchem Land, in der Heimat oder im Exil?) ein Gedicht entstanden ist und wann und wo es veröffentlicht wurde (in einigen Fällen treten Entstehungs- und Publikationsdatum weit auseinander). Diese Notwendigkeit der politisch-historischen Verortung bedeutet jedoch nicht, dass sich mit diesen politischen Einschnitten auch die Literatur vollkommen ändert. Vielmehr lassen sich, wie die Forschung der letzten Jahrzehnte gezeigt hat, wichtige literarische Kontinuitäten selbst über die Daten 1933 und 1945 hinweg konstatieren. Eine anregende Gliederung der Lyrik des 20. Jahrhunderts mit den ästhetischen, teilweise auch politischen Zäsuren 1890/1900, 1910, 1920, 1930, 1933, 1945, 1960, 1990 hat Hermann Körte (1999b) vorgeschlagen. 7.11 Jahrhundertwende (1890-1910) Wegbereiter Nietzsche: Am Anfang der modernen Lyrik in deutscher Sprache steht ein Autor, der gar nicht Lyriker ist und dessen Textproduktion im Januar 1889 aufgrund seines geistigen Zusammenbruchs abrupt endet: der Philosoph und Altphilologe Friedrich Nietzsche (1844-1900). In Nietzsches erstem Buch Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) kommt dem >Dithyrambus< (dem hymnischen Gesang zu Ehren des griechischen Wein- und Rauschgottes Dionysos) als Urform der Lyrik wie auch der Tragödie eine zentrale Rolle zu. Mit dem Werk Also sprach Zarathustra (1883-85) schafft Nietzsche eine neue Form bildgeladener, hoch pathetischer Prosa nach dem Vorbild der religiösen Grundbücher der Menschheit; die rhythmisierte Prosa nähert sich dabei häufig freirhythmischen Versen an. In seine Prosabücher hat Nietzsche aber auch an verschiedenen Stellen wirkliche Gedichte eingebaut. Die größte und wichtigste von Nietzsches Gedichtsammlungen sind die neun Dionysos-Dithyramben, ein Seitenstück zum Zarathustra, die bis 1888 entstanden sind und 1891/92 unvollständig, 1898 dann vollständig publiziert wurden. In freien Rhythmen, die formal an Goethes frühe Hymnen anknüpfen und deren Verssprache radikalisieren, wird hier ein Ausbruch aus der modernen Welt des späten 19. Jahrhunderts unternommen, und es kommt eine archaische mythische Welt zum Vorschein, so in der Klage derAriadne, die als fast szenischer Dialog zwischen der verlassenen Geliebten und dem grausamen Gott gestaltet ist: Gieb Liebe mir- wer wärmt mich noch? wer liebt mich noch? gieb heisse Hände, gieb Herzens-Kohlenbecken, gieb mir, der Einsamsten, die Eis, ach! siebenfaches Eis nach Feinden selber, nach Feinden schmachten lehrt, gieb, ja ergieb grausamster Feind, mir - d i c h !... Eine Passage wie diese lässt sich auch als weitere Radikalisierung und Subjektivierung der petrarkistischen Feuer- und Eis-Metaphorik lesen, wie sie uns etwa in dem barocken Sonett von Sibylla Schwarz (siehe Kapitel 3.1, S. 24 f.) begegnet ist. Nietzsches Dichtungskonzepte und seine eruptive lyrische Sprache faszinierten seine Zeitgenossen spätestens nach seinem psychischen Zusammenbruch 1889 und beeinflussten nahezu alle dichtenden Generationen des 20. Jahrhunderts (vgl. die Textsammlung Nietzsche und die deutsche Literatur; zur Wirkung in der Literatur bis 1918 vgl. McCarthy 2000). Die in den beiden Jahrzehnten zwischen 1890 und 1910 erscheinende Lyrik, soweit sie nicht naturalistisch ist, wird mit vielen Schlagwörtern bezeichnet: Man spricht von Ästhetizismus (oder französisch l'artpourl'art, >die Kunst um der Kunst willen«), Symbolismus, Vitalismus, Jugendstil, Neuromantik, Dekadenzliteratur, Fin de Siecle oder allgemein Jahrhundertwende. Alle diese Bezeichnungen haben etwas für sich: ■ Die vom Ästhetizismus zuerst in Frankreich geforderte Konzentration auf die Kunst an sich und ihre Prinzipien, die mit einer Abkehr von der Orientierung an der außerkünstlerischen Wirklichkeit verbunden ist, spielt um 1900 eine wichtige Rolle (vgl. Werner 1997; Simonis 2000). . Mehrere Autoren knüpfen an den französischen Symbolismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an, also an Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud, Paul Verlaine und Stephane Mallarme (vgl. P. Hoffmann 1981 Friedrich Nietische: KSA 6, 400, V. 79-89 Babylonische Begriffsvielfalt 93 20. Jahrhundert (1890-1990) Jahrhundertwende (1890-1910) und 1987; Boerner 2003; Streim 2007). Im Gegensatz zum Symbolverständnis früherer Jahrhunderte wird nun ein Symbol poetisch gesetzt und so die Außenwelt subjektiv überformt (vgl. Zymner 2008). ■ Eine andere Strömung wird als Vitalismus bezeichnet; sie schließt an die Lebensphilosophie etwa Nietzsches, Henri Bergsons und Georg Simmeis sowie an die Lebensreformbewegung um 1900 an, die das ganze Leben stärker an der Natur ausrichten wollte (vgl. G. Martens 1971). Das bedeutet zunächst einen krassen Gegensatz zum Ästhetizis-mus; in einigen Fällen zeigen sich jedoch auch Vermischungen beider Tendenzen. • Der Jugendstil in den Künsten und im Kunsthandwerk, die deutsche Ausprägung des europäischen Art Nouveau, dominiert in dieser Zeit nicht nur in der Architektur und im Möbeldesign, in der Malerei und Grafík, sondern auch in der Buchgestaltung sowie in neu gegründeten Zeitschriften wie Pan, Jugend, Ver Sacrum und Die Insel. Die Bücher von Stefan George und Hugo von Hofmannsthal, aber auch die von Arno Holz und Arthur Schnitzler, zeichnen sich durch extensive ornamentale Gestaltung aus; und diese Gestaltung korreliert in vielen Fällen mit der Form der Texte. Das spricht dafür, von literarischem Jugendstil zu sprechen (vgl. Jost 1980; Scheible 1984; Hermand 1992; Fritz 1994; Beyer/Burdorf 1999). ■ Wenn man diese Phase als Neuromantik bezeichnet, greift man ebenfalls einen zeitgenössischen Begriff auf. Betont wird damit die Anknüpfung an die poetische Theorie und Praxis der Romantik, insbesondere an das Konzept des Imaginären, verbunden mit der Bevorzugung von Gattungen wie dem Märchen (vgl. Sprengel 1994; Viering 2000). ■ Die Strömung der Neuklassik ist dagegen für die Lyrik weniger relevant, sondern eher für das Drama (vgl. Borchmeyer 1994 b). ■ Dekadenz (frz. décadence), die Vorstellung, dass eine Phase der Kultur oder gar die Kultur insgesamt zu Ende geht, die Lust an Themen des Untergangs und an der Verknüpfung von Liebe und Tod, ist ein zentrales Thema in diesen Jahrzehnten (vgl. Borchmeyer 1994 a; Wunberg 1995), schon bei Nietzsche, der dieser Tendenz seine Philosophie des Neuen und des Übermenschen entgegensetzt, aber auch in der englischen Literatur des späten 19. Jahrhunderts, etwa bei Oscar Wilde (1854-1900), und in der bildenden Kunst, besonders bei Arnold Böck-lin (1827-1901). ■ Dem entspricht auch die Bezeichnung Fin de Siede, die für das Ende des Jahrhunderts steht und damit den Untergang einer Welt hervorhebt, ohne zugleich etwas Neues mit anzeigen zu können (vgl. Viering 1997b; Haupt 2007). Dieser Ausdruck ist problematisch, wenn man die Einheit der beiden Jahrzehnte um 1900 betonen will (und es spricht wenig dafür, gerade mit dem Jahr 1900 einen besonders deutlichen Bruch festzustellen), denn die Jahre 1900 bis 1914 als Teil des Fin de Siécle zu bezeichnen, wirkt falsch oder zumindest ungeschickt. ■ Sicherlich der neutralste Begriff ist Jahrhundertwende, da damit das Ende des einen und der Beginn eines neuen Jahrhunderts gleichermaßen in den Blick genommen werden, ohne dass man sich auf die Betonung bestimmter Strömungen festlegen müsste (vgl. Braungart u.a. 1998). Das Problem ist nur, dass man immer dann, wenn der Kontext nicht eindeutig ist, klarmachen muss, welche Jahrhundertwende jeweils gemeint ist. Strömungen, Richtungen, Bewegungen: Ein gravierender Nachteil von Be- Keine Epochen Zeichnungen wie >Ästhetizismus<, >Symbolismus<, >Vitalismus<, Jugendstil«, >Neuromantik<, >Dekadenz< und >Fin de Siede« ist, dass sie zwar alle auf je ein paar Autoren zutreffen, aber keine auf alle. Schlimmer noch: Viele der wichtigen Autoren der Zeit lassen sich nicht nur einer Richtung zuordnen, sondern gleich mehreren, so etwa Stefan George nahezu allen außer dem Vitalismus und der Neuromantik. Und viele Autoren ändern im Laufe der Zeit ihre literarischen Orientierungen, schreiben aber weiter. Daher sollte man die genannten Bezeichnungen - mehr noch als bei der Beschäftigung mit anderen Zeiten - nur sehr vorsichtig und heuristisch verwenden und eher von Strömungen, Richtungen oder Bewegungen, aber keinesfalls von >Epochen< sprechen, denn es ergibt keinen Sinn zu sagen, in einer bestimmten Zeitspanne habe es fünf oder sechs Epochen nebeneinander gegeben. Besonders konsequent verfährt Peter Sprengel, der in seiner umfassenden Literaturgeschichte des Zeitraums (Sprengel 1998 und 2004) weitgehend auf die Bezeichnung von Strömungen oder gar Epochen verzichtet. Ganz unproblematisch ist allein die Rede von der Literatur der Jahrhundertwende«, die auch Sprengel verwendet. Kulturelle Zentren: Wien, Berlin, München: Ein anderer wichtiger Aspekt der Literatur und damit auch der Lyrik um 1900 ist der regionale. Es gibt drei herausragende kulturelle Zentren in dieser Zeit: die österreichische Hauptstadt Wien, die preußische und deutsche Hauptstadt Berlin und die bayrische Hauptstadt München. In allen drei Metropolen bekennen sich die Kulturschaffenden zur »Moderne«, so dass man von >Wiener«, »Berliner« und »Münchner Moderne« spricht (siehe dazu die drei Anthologien Die Berliner Moderne, Die Münchner Moderne und Die Wiener Moderne). Während Berlin eher vom Naturalismus dominiert wird, herrschen in München und Wien die genannten anderen Richtungen vor. Es gibt aber auch zahlreiche Wechselwirkungen zwischen ihnen, insbesondere zwischen Wien und Berlin (vgl. Sprengel/Streim 1998). Die drei wichtigsten Lyriker: George, Hofmannsthal, Rilke. Es sind vor allem drei Lyriker, die in den 1890er Jahren zuerst hervortreten und bis heute kanonisiert sind: der aus Büdesheim bei Bingen stammende Stefan George (1868-1933), der Wiener Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) und der Prager Rainer Maria Rilke (1875-1926). Diese Autoren sind also gegenüber den Vertretern des Naturalismus keine neue Generation, sondern nur wenige Jahre jünger, so dass es bis weit in die 1920er Jahre ein Konkurrenzverhältnis zwischen ihnen und den Naturalisten gibt. Ungleichzeitigkeiten: Allerdings fallen zwischen den drei Autoren erhebliche Ungleichzeitigkeiten auf: Hofmannsthal tritt bereits um 1890 als Gymnasiast unter dem Pseudonym >Loris< als viel bewunderter Lyriker hervor und schreibt ab der Jahrhundertwende praktisch keine Gedichte mehr, sondern konzentriert sich auf andere Gattungen; er ist also wirklich ein Autor des Fin de Siecle. Der sechs Jahre ältere George beginnt nach ausgedehnten Reisen durch Europa 1890, also fast gleichzeitig mit Hof- Jahrhundertwende (1890-1910) Interpretationsbeispiel Hugo von Hofmannsthal: GW 1,96 mannsthal, seine Gedichte drucken zu lassen, allerdings zunächst in Privatdrucken, die er an Freunde verteilt, und erst in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre im Verlag Georg Bondi. Nach 1900 erscheinen dann nur noch drei Gedichtbände Georges (1907, 1914 und 1928). Rilke dagegen publiziert ab 1894 mehrere Gedichtbände, die allerdings sehr konventionell ausfallen. Erst mit dem Buch der Bilder (1902, Neubearbeitung 1906) und dem Stunden-Buch (1905), besonders aber mit den zwei Bänden Neue Gedichte (1907/08) wird er zu einem der wichtigen Lyriker seiner Zeit; es folgen dann in Buchform nur noch die beiden späten Bände Duineser Elegien und Die Sonette an Orpheus, beide 1923. Während Hofmannsthal also nur als junger Lyriker präsent ist und sich dann vor allem dem Drama zuwendet, treten George und Rilke zeitlebens, also über mehrere Jahrzehnte, vor allem als Lyriker an die literarische Öffentlichkeit. Hugo von Hofmannsthal: Hofmannsthal tritt in seinen wenig mehr als 150 Gedichten als großer Formvirtuose auf; er belebt Formen wie das Sonett und besonders die Terzine wieder, die in der Lyrik seiner Zeit keine wichtige Rolle mehr gespielt hatten. Die orientalische Form des Ghasels führt er in seinen ganz frühen, noch vor der Begegnung mit George entstandenen Gedichten noch einmal zu einem Höhepunkt der Gattungsgeschichte (vgl. Burdorf 2012). Hofmannsthals Chaselen: 1001 Nacht in Wien Wie Hofmannsthal die im 19. Jahrhundert modische, aber auch abgenutzte Form des Ghasels neu belebt, kann man an dem ersten der beiden Gülnare (also mit dem Namen einer weiblichen Figur aus den Märchen aus Tausendundeiner Nacht) überschriebenen Gedichte zeigen, die der Dichter bereits 1890, also als Sechzehnjähriger, veröffentlichte: Schimmernd gießt die Ampel Dämmerwogen um dich her, Leise kommt der Orchideen Duft geflogen um dich her Aus den bunten, schlanken Vasen; und der Spiegel streut die Strahlen, Die er, wo der Schimmer hinfällt, aufgesogen, um dich her. Auf dem Teppich, dir zu Füßen, spielt der Widerschein des Feuers, Zeichnet tanzend helle Kreise, Flammenbogen um dich her; Und die Uhr auf dem Kamine, die barocke, zierlich steife, Tickt die Zeit, die süßverträumte, wohlgewogen um dich her. Diese Verse sind außerordentlich lang, nämlich achthebig (nur Vers 1 sie-benhebig) alternierend ohne Auftakt. Charakteristisch für das Ghasel ist der identische Reim in den Versen 1 und 2 und im Folgenden in allen geraden Versen (hier also 4, 6 und 8), während die ungeraden (V. 3, 5, 7) ungereimt sind. Hier gibt es sogar als besonders strenge Realisierung der Form einen >Überreim<: Dem fünfmaligen Reim auf »Dämmerwogen« ist jeweils das Syntagma »um dich her« angehängt. In dem Gedicht wird eine ganze Welt um ein einziges Erfahrungssubjekt herum errichtet; möglicherweise ist es Gülnare, die hier durchgehend angeredet wird. Eine Welt des großbürgerlichen Interieurs wird als geschlossener Raum um das Du herum aufgebaut; das Ich tritt völlig zurück. Die evozierten Dinge - Ampel, Orchideen, Vasen, Spiegel, Teppich, Kamin - sind keine, die primär durch ihren Gebrauchszweck definiert wären, sondern solche, die vor allem schön sein sollen, dabei aber undeutliche Reflexe, betörende Düfte und träge-meditative Stimmungen erzeugen. Diese schönen Einrichtungsgegenstände können aus dem Orient kommen oder den Vorstellungen, die sich das bürgerliche späte 19. Jahrhundert vom Orient macht, nachgebildet sein; sie passen aber hervorragend in das großbürgerliche Wohnzimmer, das sich eben um diese Zeit gern Dinge aus der ganzen Welt, besonders aus dem Nahen und Mittleren Osten, einverleibte. Dass wir uns nicht in einem prächtig ausgestatteten Harem, sondern eher in einem Wiener Herrenhaus befinden, zeigen die letzten beiden Verse, die mit der tickenden barocken Uhr die abendländische Vanitas-Vorstellung (also das Nachdenken über die Endlichkeit und Vergeblichkeit des irdischen Lebens) evozieren und uns damit - allen »süßverträumte [n]« Bemühungen zum Trotz - aus dem orientalischen Dämmerzustand herausholen. Nur scheinbar erfüllt Hofmannsthal in solchen Gedichten wie auch in seinen Rollengedichten [Der Kaiser von China spricht:, 1897; Der Schiffskoch, ein Gefangener, singt:, 1901) und sogenannten >Balladen< [Ballade des äußeren Lebens, 1896) die Erwartungen an die populäre Lyrik seiner Zeit; in Wirklichkeit handelt es sich um Gedichte, in denen ein hochkomplexes Weltbild vermittelt wird. Stefan George: Georges Formensprache ist weitaus einheitlicher. Er schreibt vorwiegend vierversige Reimstrophen; die Verse sind meist fünf-hebig alternierend (Endecasillabi und Zehnsilber). Es wird also von Anfang an der Abstand zu den kürzeren Liedversen gesucht. Die Bilder und Themen sind oft erlesen; es herrscht ein hoher, ernster, aber nicht hymnischer Ton. Historische Inhalte treten neben Naturthemen (eher Gärten und Parks als die freie Natur). Stefan George: Die verwelkte Blume und das entleerte Ich Sehen wir uns als Beispiel ein Gedicht aus dem Jahr der Seele (1897) an: Die blume die ich mir am fenster hege Verwahrt vorm froste in der grauen scherbe Betrübt mich nur trotz meiner guten pflege Und hängt das haupt als ob sie langsam sterbe. 5 Um ihrer frühern blutenden geschicke Erinnerung aus meinem sinn zu merzen Erwähl ich scharfe waffen und ich knicke Die blasse blume mit dem kranken herzen. Was soll sie nur zur bitternis mir taugen? 10 Ich wünschte dass vom fenster sie verschwände.. Nun heb ich wieder meine leeren äugen Und in die leere nacht die leeren hände. Interpretationsbeispiel Stefan George: Werke 1,129 97 7 .2 20. Jahrhundert (1890-1990) Expressionismus und Dadaismus (1910-1920] Rainer Maria Rilke: SWI, 519, V. 12-14 Auffällig sind hier zunächst die - abgesehen von den Versanfängen - konsequente Kleinschreibung und der Verzicht auf Kommata; stattdessen finden wir die ungewöhnlichen zwei anstelle von drei Punkten am Ende von Vers 10. Die Schönheit der Natur ist bei George sowohl künstlich bearbeitet (zur Schnittblume arrangiert) als auch vergangen, verwelkt. Das Ich tritt - für George eher ungewöhnlich - äußerst emotional, ja sogar aggressiv auf. Am Schluss stilisiert es sich als jemanden, der mit der Sinnlosigkeit der Welt und des Lebens, einer dreimaligen >Leere<, konfrontiert ist und vergeblich frühere Gesten des Betens nachzuahmen versucht. Die späteren Gedichte Georges richten sich auch an Mitglieder des Kreises, den George im neuen Jahrhundert um sich aufbaut, und dienen der Beschwörung einer geistigen Gegenwelt bis hin zu dem letzten Band Das Neue Reich von 1928. Rainer Maria Rilke: Rilke zeigt in seinen Neuen Gedichten (1907/08) die Leistungsfähigkeit des Dinggedichts in deutscher Sprache auf. Die Gedichte sind meistens in mehr oder weniger frei variierter Sonettform geschrieben. Nur selten spricht ein Ich; die dritte Person herrscht vor. Beschrieben werden von Menschen geschaffene Dinge wie ein Wappen, Apollo-Statuen, ein Karussell, ein Pavillon oder die Kathedrale von Chart-res, aber auch Pflanzen wie Hortensien sowie Tiere wie Flamingos oder Panther. Der Grundimpuls der Gedichte ist es, das Leben und den Geist, die in diesen nichtmenschlichen >Dingen< (im weitesten Sinne) stecken, von deren Innerem aus aufzuspüren und auszudrücken. Diese Bewegung von innen nach außen wird verfolgt bis in die Wirkung hinein, die sie als Natur- oder Kunstobjekte auf ihre Betrachter haben; und diese Wirkung wird als eine von existentieller Wucht, ja Gewalt gedacht. Während das Ich in Georges Blumen-Gedicht nichts als Leere erfährt, machen die verwelkenden Blumen bei Rilke oftmals eine überraschende Verwandlung durch, so im letzten Terzett des Sonetts Blaue Hortensie: Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen in einer von den Dolden, und man sieht ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen. Noch tiefgreifender ist die poetische Neubelebung in den Anfangsgedichten der zweiteiligen Sammlung. So heißt es im ersten der Neuen Gedichte über den Frühen Apollo (also eine Statue des Gottes der Dichtung aus frühgriechischer Zeit, wohl dem 6. Jahrhundert vor Christi): »[...] so ist in seinem Haupte / nichts was verhindern könnte, daß der Glanz // aller Gedichte uns fast tödlich träfe« (Rilke: SW 1, 481, V. 3-5). Und in dem ungleich berühmteren Gegenstück zu diesem Eingangsgedicht, Archaischer Torso Apollos, dem ersten Text in dem Band Der Neuen Gedichte anderer Teil (1908), lautet der Schluss: »[...] denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern« (Rilke: SW 1, 557, V. 13f.). Neben den Dinggedichten enthält die zweiteilige Sammlung unter anderem Gedichte, deren Stoffe aus dem Alten Testament oder aus der Passi- onsgeschichte Jesu Christi entnommen sind. In dem Gedicht Der Ölbaum-Garten wird die biblische Geschichte von der letzten Nacht Christi ganz auf den von Angst und Verzweiflung getriebenen Menschen Jesus zurückgeführt. Dagegen versucht Rilke in seinen 1912 begonnenen, aber erst 1923 fertig gestellten Duineser Elegien, die meist in relativ freien Langversen geschrieben sind, welche das elegische Versmaß umspielen - unzeitgemäß in den 1920er Jahren -, das zwischen Elegie und Hymne angesiedelte Groß-Gedicht mit metaphysischen Themen (etwa der Sphäre der Engel) und in hohem Ton, wie es Gryphius, Haller, Klopstock, Hölderlin und Pla-ten entwickelt haben, wiederzubeleben. Zum Vergleich würden sich hier ferner die ab 1910 erscheinenden hymnischen Gedichte des den Expressionisten nahestehenden Dichters Theodor Däubler (1876-1934) anbieten. Weitere Lyriker um 1900: Die Dichtung um 1900 besteht nicht nur aus diesen großen Namen; neben ihnen schreiben - etwa im Umkreis Hofmannsthals - andere traditionsbewusste Autoren wie Rudolf Borchardt (1877-1945) oder Rudolf Alexander Schröder (1878-1962). Daneben gibt es aber auch Dichter, die in ihrer Lyrik eher einen leichteren Ton anschlagen. Zu denken ist etwa an die zu ihrer Zeit äußerst erfolgreiche, heute nahezu vergessene Lyrik von Richard Dehmel (1863-1920), der als Vertreter einer vitalistischen Richtung anzusehen ist (Schöne wilde Welt, 1913). In die Gedichte des weitgereisten Max Dauthendey (1867-1918), der kurz vor Kriegsende auf Java starb, gehen Eindrücke exotischer Welten, aber auch Nachahmungen japanischer Formensprache ein. Demgegenüber erschließt Christian Morgenstern (1871-1914) in seinen Galgenliedem (1905, spätere Erweiterungen und Fortsetzungen) der Lyrik einerseits komische Aspekte, andererseits sprachreflexive Dimensionen. Zur Lyrik der Jahrhundertwende vgl. die Dokumentation in: Jahrhundertwende, 5-91; ferner Lehnert 1978, 227-258 und 575-643; Sprengel 1998, 634-672; Sprengel 2004, 581-630 und 647-656; Austermühl 2000; L. Ryan 2001; Sengle 2001, 50-137; Schnell 2004, 471-522; Kimmich/Wilke 2006, 89-99 und 130-145; Boerner/Fricke 2008; Hiebel 2005/06, Bd. 1,62-98; Hiebel 2011, 399-401. Zu Nietzsches Lyrik vgl. Croddeck 1991; Ziemann 2000.-Zu Georges Lyrik im Kontextseiner »Werkpolitik« vgl. Martus 2007, 514-708.-Zu Hofmannsthals Lyrik vgl. Thomasber-ger 1994. - Zu Rilkes Lyrik vgl. die einschlägigen Abschnitte im Rilke-Handbuch (Engel 2004) sowie W. G. Müller 1971 (Neue Cedkhte); Engel 1986 {DuineserElegien); Gerok-Rei-ter 1996 {Sonette an Orpheus); Vilain/Leeder 2010 (Spätwerk). 7.2 I Expressionismus und Dadaismus (1910-1920) Mit dem Expressionismus beginnt um 1910 das Zeitalter der Avantgarden auch im deutschen Sprachraum. Was heilst >AvantgardeAvantgarde< ist in der Militärsprache ein voranstoßender kleiner Truppenteil, der unbekanntes oder sogar feindliches Gelände erkundet, um den Weg für die nachrückende Hauptarmee zu erkunden und vorzubereiten. Die kulturellen Avantgarden des 20. Jahrhunderts verstehen sich metaphorisch als solche Wegbereiter, die das kulturelle Feld der Tradition wagemutig betreten und die Übernahme durch das Neue einleiten (vgl. Fahnders 2010, 199-207; umfassend Arnold 2001). Literatur 20. Jahrhundert (1890-1990) Expressionismus und Dadaismus (1910-1920) Konservative Moderne Georg Heym: Der Abend; Werke, 40, V. 1-4 Auguststramm: Gedichte, Dramen, Prosa, Briefe, 29 100 In europäischer Perspektive nimmt man Filippo Tommaso Marinettis Futuristisches Manifest (1909) als Beginn der Avantgardebewegungen an (vgl. Manifeste und Proklamationen, 1-7). Die vorangehenden Strömungen um 1900 bezeichnet man daher sinnvollerweise zwar als >modern<, aber nicht als >avantgardistisch<, zumal ihnen das Selbstverständnis als Avantgarde ganz abgeht. Autoren wie George, Hofmannsthal, Borchardt und Rilke betrachten sich eher als die Letzten einer untergehenden Epoche des Geistes denn als revolutionäre Vorkämpfer. Sie sind daher als Vertreter einer konservativen Moderne anzusehen (vgl. Andres u. a. 2007). Expressionismus in der bildenden Kunst: Der Expressionismus dagegen will neu sein; und er bringt das auch in zahlreichen zeitgenössischen Programmtexten zum Ausdruck. Dabei schreitet wie auch schon im Jugendstil die bildende Kunst der Dichtung voran: 1905 konstituiert sich in Dresden die Künstlergruppe Die Brücke (unter anderem Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff), die 1911 nach Berlin umzieht und sich 1913 auflöst. Von 1911 bis etwa 1914 besteht die Münchner Künstlervereinigung Der Blaue Reiter um Wassily Kandinsky und Franz Marc. Was diese beiden Gruppen zu einer Kunstrichtung vereint, ist die Auflösung realistischer Form- und Farbgebung, verbunden mit dem Herausstellen der oft energischen Pinselführung und der Betonung starker Farbkontraste. Später kommt die Bevorzugung verstörender Inhalte hinzu: Gezeichnet wird das Bild einer aus den Fugen geratenen Welt. Merkmale expressionistischer Lyrik: Dem korreliert auch die Lyrik, die wichtigste Sparte der Literatur im Expressionismus. Berührungspunkte mit der bildenden Kunst gibt es in den bevorzugten Publikationsorganen, besonders in den Zeitschriften Der Sturm, Die Aktion und Die Weißen Blätter, in denen Bilder und Texte gleichermaßen veröffentlicht wurden (vgl. U. Schneider 2001). Die Titelbilder der Gedichtbände werden häufig durch expressionistische Künstler gestaltet (etwa Söhne von Gottfried Benn mit einer Titelgrafik von Ludwig Meidner, 1912). Formal konventionelle Lyrik: Expressionistische Lyrik ist keineswegs immer >formzertrümmernd<; viele Autoren wie etwa Georg Heym (1887-1912) und Georg Trakl (1887-1914) benutzen die gleichen vierversigen Reimstrophen mit fünfhebigen alternierenden Versen, wie wir sie auch bei Stefan George finden: Versunken ist der Tag in Purpurrot, Der Strom schwimmt weiß in ungeheurer Glätte. Ein Segel kommt. Es hebt sich aus dem Boot Am Steuer groß des Schiffers Silhouette. August Stramms Kurzverse: August Stramm (1874-1915) zersetzt die Verse in Kurz- und Kürzestzeilen, nicht nur in den Kriegsgedichten des im zweiten Kriegsjahr in Russland Gefallenen, sondern auch in einem Text wie Schwermut aus der Sammlung Du. Liebesgedichte (1915): Schreiten Streben Leben sehnt Schauern Stehen Blicke suchen Sterben wächst Das Kommen Schreit! Tief Stummen Wir. Der vorletzte Vers zeigt, wie selbst die Wörter bei Stramm morphologisch inkorrekt verkürzt werden können (>stummen< statt >verstummen<), damit gleichsam nur noch die pure Expression stehen bleibt. Ernst Stadlers Langverse: Ernst Stadler (1883-1914), der im ersten Kriegsjahr in Belgien fiel, arbeitet in vielen seiner Gedichte ganz entgegengesetzt, so auch in dem Liebesgedicht In der Frühe, zuerst 1913 in der Aktion erschienen: Die Silhouette deines Leibs steht in der Frühe dunkel vor dem trüben Licht Der zugehangnen Jalousien. Ich fühl, im Bette liegend, hostiengleich mir zugewendet dein Gesicht. Da du aus meinen Armen dich gelöst, hat dein geflüstert »Ich muß fort« nur an die fernsten Tore meines Traums gereicht -Nun seh ich, wie durch Schleier, deine Hand, wie sie mit leichtem Griff das weiße Hemd die Brüste niederstreicht.. [...] Ernst Stadler: Der Aufbruch, 23, V. 1-4 Ist das überhaupt ein Gedicht? Fraglos ja, und zwar eines mit höchst konventionellen Paarreimen, die allerdings durch die Länge der Verse versteckt wirken. Recht schnell bemerkt man auch, dass die Verse regelmäßig alternierend mit Auftakt sind, doch wechselt die Zahl der Hebungen: Es sind hier 10, 13, 15 und 13. Die Verse sind damit im Durchschnitt etwa doppelt so lang wie Alexandriner (6 Hebungen, 12 oder 13 Silben), die wir heute auch schon als recht lange Verse empfinden; man kann von überlangen Madrigalversen (das sind gereimte Verse ohne festes Metrum) sprechen. Wie George setzt Stadler zwei statt der üblichen drei Auslassungspunkte. Stadler war vor dem Krieg Privatdozent der Philologie in Straßburg und wusste also, was er tat. Im Gegensatz zum Höchstmaß der Verdichtung bei Stramm strebt Stadler die möglichst genaue Ausschmückung der Situation an; er packt so viel in jeden Vers hinein, wie er es jeweils für nötig hält; die Verse wirken dadurch überfüllt, manchmal redundant und ziehen die Lesenden doch mit jeder Einzelheit in die geschilderte Situation hinein. Hier ist es die Situation, die vom mittelalterlichen Tagelied bekannt ist und in der Geschichte der Liebeslyrik immer wieder gestaltet wird: der hinausgezögerte morgendliche Abschied der Liebenden voneinander. Themen expressionistischer Lyrik: Neben Liebe und Krieg sind wichtige Themen expressionistischer Lyrik die moderne Großstadterfahrung, die ungesicherte Stellung des Menschen in der Welt, die im Gefolge Nietzsches häufig als Suche nach dem >Neuen Menschen< formuliert wird, der Generationenkonflikt, der meist als Kampf der >Söhne< mit den >Vätern< dargestellt wird, sowie die Bedrohung durch Krankheit, Gewaltverbrechen und Vergänglichkeit. 1101 20. Jahrhundert (1890-1990) Expressionismus und Dadaismus (1910-1920) >Die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte< Bruch mit der Tradition: Insgesamt gilt, dass sich in allen von den Expressionisten behandelten Themen eine bestimmte Richtung ausmachen lässt: Eine durchgängige Gemeinsamkeit stellt [...] der Bruch mit der traditionellen Stim-mungs- und Erlebnislyrik dar. Das Gedicht des Expressionismus eröffnet nicht den Blick auf die fein ziselierte Gefühlswelt einer schönen Seele oder deren zartes Empfinden der im Frühling erwachenden Natur, sondern setzt sich programmatisch mit den Erscheinungen einer als feindselig und unmenschlich empfundenen Gegenwart auseinander. Dabei bildet es die Welt nicht ab, sondern abstrahiert, überformt, verzerrt, dämonisiert sie, um die hinter dem schönen Schein verborgene Inhumanität der Moderne poetisch zu entlarven. (Bogner 2005, 74) Simultaneität, Reihungstechnik, Parataxe: Stilistisch schlägt sich das in der Verwendung der Reihungstechnik nieder: Einzelne Beobachtungen, manchmal auch nur Wahrnehmungs- oder Wortfetzen werden unverbun-den nebeneinandergesetzt, um den Eindruck der Simultaneität, der Gleichzeitigkeit des Verschiedenen in der Großstadtwelt, zu vermitteln. Syntaktisch überwiegt die Parataxe, die Aneinanderreihung von Hauptsätzen, die häufig im Zeilenstil aufeinanderfolgen, das heißt, jeder Hauptsatz macht genau einen Vers aus (vgl. dazu Bogner 2005, 74). Expressionismus und Krieg: Der Expressionismus beginnt etwa 1910 und erlebt mit dem Kriegsbeginn 1914 eine große Krise, da nahezu alle expressionistischen Autoren - auch hier überwiegen die Männer -, und die meisten von ihnen anfangs euphorisch, in den Krieg ziehen (vgl. die Anthologie Die Dichter und der Krieg; exemplarisch zum Sturm-Kreis Vock 2006). Was Georg Heym, ein Lyriker, der bereits zweieinhalb Jahre vor Kriegsausbruch starb, in seinem nachgelassenen Gedicht Der Krieg (entstanden 1911, publiziert 1912) vorausgesehen hatte, tritt nun ein: »Aufgestanden ist er, welcher lange schlief« (Heym: Werke, 135, V. 1). Ein großer Teil der Dichter stirbt im Krieg oder an dessen Folgen. Menschheitsdämmerung: Das hatte zur Folge, dass der Expressionismus bereits unmittelbar nach Kriegsende als ein abgeschlossenes Phänomen angesehen wurde; man suchte nun nach neuen Mitteln der poetischen Bewältigung der Nachkriegswirklichkeit, die meist auch von anderen Autoren eingesetzt wurden. Die berühmteste und bis heute repräsentative Anthologie der expressionistischen Lyrik konnte daher bereits 1919 (mit Jahreszahl 1920) erscheinen: die von Kurt Pinthus (1886-1975) herausgegebene Sammlung Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung. In späteren Auflagen wird sie im Untertitel bescheidener Ein Dokument des Expressionismus genannt. Else Lasker-Schüler: Expressionismus ist vorwiegend die Literatur, die von Angehörigen der in den 1910er Jahren jungen Generation geschrieben wurde; die meisten der Autoren wurden in den 1880er oder in den frühen 1890er Jahren geboren. Eine der wichtigsten Dichterinnen des expressionistischen Jahrzehnts, der Weimarer Republik und auch noch des Exils, die jüdische Autorin Else Lasker-Schüler, gehörte dagegen fast noch der naturalistischen Generation an: Sie wurde 1869 in Elberfeld (heute Wuppertal) geboren und starb im Januar 1945 im Jerusalemer Exil. Lasker-Schüler debütierte schon 1902 mit dem Band Styx und war eng befreundet mit wichtigen Vertretern des Expressionismus wie Franz Marc, Herwarth 102 Waiden (1878-1941), der 1910 den Sturm gründete, und Gottfried Benn. Berühmt wurde Lasker-Schüler auch durch ihre ekstatischen öffentlichen Lesungen, ihre orientalisierende Kleidung und ihr Spiel mit von ihr selbst erfundenen männlichen Rollen wie dem »Prinzen von Theben<, >Jussuf< und >Tino von Bagdads Auf einer Fotografie, die als Frontispiz ihres Buches Mein Herz. Ein Liebesroman (1912) publiziert worden ist, präsentiert sich die Dichterin als Flötenspielerin (Abb. 10). Die von der Dichterin selbst stammenden Einbandzeichnungen und Illustrationen ihrer Bücher entwerfen eine orientalische Phantasiewelt. Lasker-Schü-lers Dichtung ist somit eingebettet in einen intermedialen Verweisungszusammenhang, eine Art phantastisches Gesamtkunstwerk, in dessen Mittelpunkt die Performanz, der Auftritt und das schillernde Bild der Künstlerin stehen. Lasker-Schüler bringt eine von der Hebräischen Bibel, dem Alten Testament, inspirierte Sprache und Bildlichkeit in die deutsche Lyrik hinein, die von der Aufgeregtheit und Angespanntheit des >männlichen< Expressionismus weit entfernt ist, eine Sprache, die Liebe und Leid in einer ganz eigenen Intensität auszudrücken vermag, so in dem Gedicht Weltende aus dem Band Der siebente Tag (1905): Abbildung 10: Auftritt der Dichterin als Flötenspielerin -Else Lasker-Schüler Es ist ein Weinen in der Welt, Als ob der liebe Gott gestorben war [... [...] Dul wir wollen uns tief küssen -Es pocht eine Sehnsucht an die Welt, An der wir sterben müssen. Else Lasker-Schüler: Die Gedichte, 149, V.lf. und 8-10 Benn als Expressionist: Gottfried Benn (1886-1956) nannte 1952 Lasker-Schüler »die größte Lyrikerin, die Deutschland je hatte« (Benn: GWE: Essays und Reden, 542). Sich selbst sah er als letzten Überlebenden der expressionistischen Generation - was nicht ganz stimmt, wenn man bedenkt, dass ihn der vier Jahre jüngere Kasimir Edschmid (1890-1966) um 10 Jahre, der gleich alte Pinthus sogar um 19 Jahre überlebte. Benns Metamorphosen: Benns Werk durchläuft in vier Jahrzehnten vielfältige Metamorphosen. In seiner Sammlung Morgue und andere Gedichte (1912) experimentiert er mit freien Versen, in die nur noch vereinzelt Reime eingestreut sind: Überlebender des Expressionismus und Vorläufer der späteren Lyrik Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt. Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster zwischen die Zähne geklemmt. Die ungeheure Provokation und zugleich Faszination, die bis heute von diesen Gedichten ausgeht, liegt jedoch weniger in ihrer Form als vielmehr in der Schonungslosigkeit und Lakonie, mit denen der ausgebildete junge Arzt hier Krankheit, körperlichen Verfall und Tod des Menschen darstellt. Gottfried Benn: Kleine Aster; GWE: Gedichte, 21, V.l-3 |103 20. Jahrhundert (189O-1990) Neue Sachlichkeit und andere Strömungen Emmy Ball-Hennings: Nach dem Kabarett [1913]; Frühe Texte, 12 Wenig später geht Benns Lyrik in oft rauschhafte, von Fernweh getränkte vier- oder achtversige Reimstrophen über. Es folgen die während des Rückzugs aus dem öffentlichen Leben im Nationalsozialismus entstandenen kühlen und gelassenen Statischen Gedichte (1948) und in den 1950er Jahren alltagsbezogene Montagegedichte. Mit Gedichten aus allen diesen Phasen wirkte Benn stilbildend auf zahlreiche nachfolgende Lyriker. Dadaismus: Nur wenige Jahre nach dem Aufkommen des Expressionismus, mitten im Ersten Weltkrieg, wurde diese Bewegung durch eine neue, den Dadaismus, überholt, der den Expressionismus schon wieder alt aussehen lassen wollte, obwohl seine Vertreter derselben Generation angehörten wie die Expressionisten. Eine wesentliche Differenz besteht im Antimilitarismus der Dadaisten, die sich 1916 in der neutralen Schweiz versammelten und durch öffentliche Auftritte im Zürcher Cabaret Voltaire auf sich aufmerksam machten. Die Gruppe zerstreute sich bald wieder; ihre Vertreter wirkten weiter in Köln, Berlin, Paris und andernorts. Im noch 1918 verfassten und von vielen Mitgliedern unterschriebenen Dadaistischen Manifest wurde noch einmal die Ästhetik der Unmittelbarkeit und des Bruchs mit allen Konventionen propagiert; so sollte sich in den Formen des Gedichts der Lärm der Großstadt und das »Durcheinanderjagen [] aller Dinge« {Theorie des Expressionismus, 239) unvermittelt niederschlagen. Hugo Ball und Emmy Ball-Hennings: Den vielleicht wichtigsten Beitrag des Dadaismus zur deutschen Lyrik leistet Hugo Ball (1886-1927) mit seinen Lautgedichten. Ihnen müssen die zum Teil noch vor der dadaistischen Phase entstandenen düster-melancholischen Gedichte von Balls Gattin Emmy Hennings (1885-1948) an die Seite gestellt werden. In diesen werden zwar vielfach auf zeittypisch-provokante Weise Drogenerfahrungen thematisiert (»Betrunken taumeln alle Litfaßsäulen. / Dir gelten meine glühendsten Ekstasen!«, 1915; Ball-Hennings: Frühe Texte, 29, V. 1 f.), sie weisen aber auch ein hohes Maß an illusionslosem, abgekühltem Realismus auf, wie er sonst erst wieder in Gedichten der 1920er Jahre begegnet; Ich gehe morgens früh nach Haus. Die Uhr schlägt fünf, es wird schon hell, Doch brennt das Licht noch im Hotel. Das Kabarett ist endlich aus. In einer Ecke Kinder kauern, Zum Markte fahren schon die Bauern, Zur Kirche geht man still und alt. Vom Turme läuten ernst die Glocken, Und eine Dirne mit wilden Locken Irrt noch umher, übernächtigt und kalt. Das Gedicht läuft in den ersten acht Versen metrisch ruhig in vierhebig alternierenden Versen mit Auftakt dahin. In den letzten beiden Versen wird diese Ruhe aufgestört: zunächst mit einer Doppelsenkung (»Dirne mit«), bevor das Metrum im letzten Vers mit einer schwebenden Betonung (»Irrt noch«) und zwei weiteren Doppelsenkungen ganz aus dem Tritt gerät. Die »Dirne« mit ihrer >wilden< Lebenswirklichkeit bildet offenbar einen Wider- 104 part zur Ruhe und Routine des heimkehrenden Ichs. Ein abschließender Ausgleich findet nicht statt. KurtSchwitters: Ein Seitenzweig des Dadaismus sind die Gedichte des in mehreren Künsten tätigen Hannoveraners Kurt Schwitters (1887-1948), der selbst (mit einer dem Dada analogen Kunstwortbildung) von >Merz-Dichtung< spricht: Die einzelnen Buchstaben und Laute verselbständigen sich bei Schwitters gegenüber dem Wort; oft aus Zeitungen und Werbetexten herausgeschnittene Sprachfetzen werden in seinen Collagen mit Bildern der Alltagswelt zu neuartigen intermedialen Gebilden zusammengefügt. Schwitters' sprachspielerisches Gedicht An Anna Blume (1919) ist bis heute eines der bekanntesten, am meisten zitierten und adaptierten Liebesgedichte in deutscher Sprache, und das bis weit in die Populärkultur hinein (»Freundeskreis«: A-N-N-A, 1997). Ansonsten ging der Dadaismus noch schneller und abrupter zu Ende als der Expressionismus, den er als veraltet bekämpft hatte. Zur Lyrik des Expressionismus vgl. die Dokumentation in Weimarer Republik, 630-649; ferner Lehnert 1978, 644-772; Philipp 1982; Vietta/Kemper 1997; Fahnders 2010,165- 172; Riha 2000; Sengle 2001,138-233; Anz 2010; Schnell 2004,522-544; Sprengel 2004, 656-689; Hiebel 2005/06, Bd. 1,114-178; Hiebel 2011,402-405. Zur Lyrik des Dadaismus vgl. Lehnert 1978, 1024-1052; Philipp 1980; Fahnders 2010, 189-198. ■Merz-Dichtungi 7.3 I Neue Sachlichkeit und andere Strömungen der Zwischenkriegszeit (1920-1933) Der Expressionismus verliert sehr schnell seine Bedeutung als dominierende Literaturrichtung einer neuen Generation, auch bedingt durch den frühen Tod wichtiger Autoren und die Überbietungsbewegung des Dadaismus ab 1916. Das sehen prominente Vertreter dieser Strömung schon in der Nachkriegszeit um 1920 so. In seiner Rede zum Stand des Expressionismus vom Juni 1920 erklärt Kasimir Edschmid die vom Expressionismus zehn Jahre zuvor ausgelösten >Sensationen< und >Verwirrungen< für erschöpft: »Was damals als Gebärde kühn schien, ist heute Gewohnheit. Der Vorstoß von vorgestern ist Allüre von gestern und das Gähnen von heute geworden« {Expressionismus, 101). Und im April 1922 konstatiert Kurt Pinthus in dem mit Nachklang überschriebenen neuen Nachwort zur Neuauflage seiner Anthologie Menschheitsdämmerung: So ist [...] dies Buch, mehr als ich beim Zusammenfügen ahnen konnte, ein abschließendes Werk geworden [...]: ein Zeugnis von tiefstem Leid und tiefstem Glück einer Generation, die fanatisch glaubte und glauben machen wollte, daß aus den Trümmern durch den Willen aller sofort das Paradies erblühen müsse. Die Peinigungen der Nachkriegszeit haben diesen Glauben zerblasen, wenn auch noch der Wille in vielen lebt. Kurt Pinthus: Menschheitsdämmerung, 34f. Dennoch wirkt der Expressionismus in transformierter Gestalt nach in den Werken von Lasker-Schüler, Benn oder Johannes R. Becher (1891-1958), der nach ekstatisch-expressionistischen Anfänge in den 1920er Jahren los 20. Jahrhundert (1890-1990) Neue Sachlichkeit und andere Strömungen der Zwischenkriegszeit (1920-1933) Bertolt Brecht: Gesang von mir. 16. Psalm; Werke 11,28, Nr. 1 Bertolt Brecht: Werke 11,92, V. 1-8 kommunistische Parteilyrik schreibt. Nach der Rückkehr aus dem sowjetischen Exil wird er der einflussreichste Kulturpolitiker der frühen DDR und schreibt deren Nationalhymne sowie epigonale Alexandriner-Sonette. Der junge Bertolt Brecht: Der wichtigste junge Lyriker der 1920er Jahre aber ist Bertolt Brecht (1898-1956). In seinen Anfängen inszeniert sich der junge Augsburger, der 1924 nach Berlin zieht, noch ganz als expressionistischer Kraftprotz, so in den erst aus dem Nachlass veröffentlichten Liedern zur Klampfe aus dem Jahr 1918 und in den zu Lebzeiten ebenfalls unveröffentlicht gebliebenen Psalmen von 1920. Schon in dieser Sammlung, deren Texte die Form von Bibelversen (und damit von Kürzestprosa) nachahmen und in ihrer Rhythmisierung zugleich den Langversen Stadlers (freilich ohne Reim) ähneln, zeigt sich Brechts Technik des blasphemi-schen Traditionsbezugs: Die Haut hängt mir in Fetzen vom Leib, der ist dünn wie bei einer Heuschrecke, ich bin wie ein Neger im weißen Hemd, meiner Verlockung für die weißen Frauen. Ich bin in warmen Tümpeln gelegen wie ein Haselnußstock, ich bin gut fürs Bett, ich sage es euch. Zu beachten ist hier, dass das Wort >Neger< um 1920 noch nicht so pejorativ konnotiert war wie heute. Dass hier ein vitalistisches Denken in Stereotypien von Schwarz und Weiß, Mensch und Tier, Mann und Frau ohne jede moralische oder zivilisatorische Differenzierung artikuliert wird, ist allerdings kaum zu bezweifeln. Die Haltung der Respektlosigkeit gegenüber der zugleich intensiv rezipierten Geschichte der Dichtung perfektioniert Brecht in seiner ersten Lyrikveröffentlichung in Buchform, Bertolt Brechts Hauspostille (1927). Der parodistisch verwendete Prätext der Sammlung ist Luthers Haußpostil aus dem Jahr 1544, ein lyrischer Ratgeber für alle Stationen des Kirchenjahres. Auch die »Lektionen«, in die Brechts Buch gegliedert ist, sind auf ihren »Gebrauch« hin angelegt, wie die »Anleitung« zu Beginn der Sammlung ausführt (Brecht: Werke 11, 39). Die Botschaft ist: Was früher die Kirche geleistet hat, etwa dem Gefühl und dem Verstand in allen Lebenslagen Orientierung zu geben, muss nunmehr die säkulare Lyrik gewährleisten. In der »dritte[n] Lektion« (ebd.) des Buches, den »Chroniken«, die - wie die Anleitung rät - rauchend und zur Begleitung eines Saiteninstruments vorgetragen werden sollen, findet sich etwa die Erinnerung an die Marie A., die schönste Liebesballade, die Brecht geschrieben hat: An jenem Tag im blauen Mond September Still unter einem jungen Pflaumenbaum Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe In meinem Arm wie einen holden Traum. Und über uns im schönen Sommerhimmel War eine Wolke, die ich lange sah Sie war sehr weiß und ungeheuer oben Und als ich aufsah, war sie nimmer da. 106 Die Hauspostille enthält auch die Mahagonnygesange (unter ihnen den englischsprachigen Alabama Song), aus denen 1929 die von Kurt Weill komponierte Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny hervorgeht. Die folgende, 1925 bis 1927 entstandene Sammlung der Augsburger Sonette, führt mit ihren unbedarft pornographischen Inhalten die antipetrarkisti-sche Tradition eines Pietro Aretino (1492-1556) fort. Brecht zeigt sich also schon in seinen Gedichten der 1920er Jahre als ein großer Kenner und virtuoser Fortsetzer der Lyrikgeschichte. Bis zu seinem Tod 1956 in Ost-Berlin bleibt er neben seinem Antipoden Benn der wichtigste deutsche Lyriker. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Neben dem Expressionismus sind in den 1920er Jahren noch andere ältere Richtungen der Lyrikgeschichte weiterhin aktiv: Arno Holz feilt bis zu seinem Tod 1929 in Berlin an seinem Phantasus, der schließlich bis auf über 1500 Druckseiten anschwillt. Rilke veröffentlicht mit den Duineser Elegien und den Sonetten an Orpheus 1923 seine gewichtigen Spätwerke, George 1928 seinen letzten Gedichtband Das Neue Reich. Wir müssen uns also klar machen, dass die 1920er Jahre mehr noch als andere Perioden der Lyrikgeschichte durch ein hohes Maß an Überlagerungen verschiedenster Strömungen, durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, gekennzeichnet sind. Nichts Neues in der Lyrik der Zeit? Fragt man aber, was (außer Brecht) neu ist in der Lyrik dieser Zeit, so geben schon die zeitgenössischen Kritiker häufig die Antwort: nicht viel bis gar nichts. Brecht selbst leistete sich die Provokation, als einziger Lyrik-Juror bei einem Wettbewerb der einflussreichen Zeitschrift Die literarische Welt keinem der über 400 jungen Lyriker, die ihre Gedichte zur Begutachtung eingereicht hatten, den Preis zuzuerkennen, sondern vielmehr dem völlig unbekannten Autor Hannes Küpper, der in einem Radsportblatt (wie ein Pindar der Weimarer Republik) seine Hymne auf den Sieger beim Sechstagerennen mit dem englischen Refrain »He, he! The Iron Man!« veröffentlicht hatte (vgl. Weimarer Republik, 441-444). Der Berliner Journalist Walter Kiaulehn konstatierte 1930 gar den »Tod der Lyrik«: Der Lebensraum der Lyrik ist die Dunkelheit der Welt. Sie stirbt mit den Königen an der Aufklärung, an der Helle unseres Zeitalters. [...] Der Verkehr [...] und die neue Sachlichkeit gaben der Lyrik den Todesstoß. [...] Die Lyrik muß sterben, damit der Fortschritt leben kann. Weimarer Republik, 451f. Während also die Avantgarden wie Futurismus, Expressionismus und Dadaismus nach neuen Gedichtformen gesucht haben, die dem Lärm, dem Dreck und der Schnelligkeit der Gegenwart gerecht werden, wird hier die Lyrik im Zeichen der meuen Sachlichkeit ganz (wenn auch wohl halb ironisch) verabschiedet. Diese Verabschiedung wird denn auch heftig diskutiert. So hält der Journalist und Literaturwissenschaftler Paul Rilla in der Zeitschrift Der Schriftsteller Kiaulehn entgegen: »Als ob sämtliche Errungenschaften der Technik einen Dichter hindern könnten, sogar aus dem alltäglichen Sprachstoff von heute reinste Dichtung zu machen« {Weimarer Republik, 452). 107 20. Jahrhundert (1890-1990) Neue Sachlichkeit: Was ist aber unter der Lyrik der »Neuen Sachlichkeit« zu verstehen? Ihre Autoren kehren sich - in einer erneuten Bewegung auf die realistische Seite hin - von den Innenwelten des Expressionismus ab und öffnen sich der expandierenden Technik-, Arbeits-, Kultur- und Medienwelt der 1920er Jahre. Viele Texte, etwa von Kurt Tucholsky (1890-1935), Friedrich Hollaender (1896-1976) oder Walter Mehring (1896-1981), sind für das populäre Kabarett geschrieben und ahmen englische Song- oder französische Chanson-Texte nach: Walter Mehring: »Frei Saarbrücken: Navy-cuts! Wenn der Westen Occasion of cigaretts!« aber ein Loch hat... »Prima Ware!« »Was betrog's! [1920]; Chronikder Ran die Ladung!« »Haste Koks? Lustbarkeiten, Eene Prise für die Neese, 85, v. i-8 Deklariert als weißer Käse!« »Salvarsan gleich mit Vehikel Riesig gangbarer Artikel!« In dialogischer Rede, bei der die Sprecher nicht individualisiert werden, zudem in Berliner Mundart und nicht fehlerfreiem Englisch wird hier ein Gang über den Schwarzmarkt evoziert, auf dem legale und illegale Genussmittel gleichermaßen angeboten werden, ergänzt um das eben erst erfundene Heilmittel gegen Syphilis. Erich Kästner (1899-1974) und die aus Galizien stammende Mascha Kaleko (1907-75) beschreiben in einfachen Liedstrophen Szenen aus dem Alltags- und Großstadtleben ihrer Zeit. Die Autoren bekennen sich - wie auch schon der junge Brecht - zu ihrer eher anspruchslosen »Gebrauchslyrik«. In der sozialistischen Lyrik der Zeit werden diese Tendenzen ganz in den Dienst der Arbeiterbewegung gestellt; Autoren wie Becher treten der Kommunistischen Partei bei. Ganz andere Wirklichkeiten nimmt eine Gruppe junger Autoren in den Blick, die in der Weimarer Republik eine magische Naturlyrik zu schreiben beginnen, diese Tätigkeit während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft fortsetzen und erst in der Nachkriegszeit ihre Wirkung entfalten können. Zu ihnen gehören Günter Eich (1907-72), einer der erfolg- und wirkungsreichsten westdeutschen Lyriker in den späten 1940er und in den 1950er Jahren, sowie Peter Hüchel (1903-81), von 1949 bis 1962 Chefredakteur von Sinn und Form, der maßgeblichen Literaturzeitschrift in der DDR. Ein älterer, noch der expressionistischen Generation angehörender Autor dieser Richtung ist Oskar Loerke (1884-1941): Oskar Loerke: Die silberne Allee der Weiden Leise Herbsttage-, Dreht sich schon tagelang im Wind nach Ost. Sämtliche Gedichte Die Blumen rollen ihre Seiden, l, 143, v. 1-4 Im Sonnenscheine zittert fern ein Frost. Jedes einzelne Naturphänomen scheint hier erlesen und mit Bedeutung aufgeladen zu sein, ohne dass sich diese Bedeutung wirklich aufschließen ließe. Nationalsozialismus und Exil (1933-1945) Mit alldem will ein Autor wie Gottfried Benn, der sich Ende der 1920er Jahre allmählich im literarischen Leben etabliert (etwa auch durch eine Reihe von Rundfunkbeiträgen), nichts zu tun haben. Auf die 1928 vom Berliner Tageblatt aufgeworfene Frage »Dichtung der »Tatsachen«?« antwortet er schroff: Die reine Dichtung, die Lyrik, vermag mit den Ereignissen des Tages, der Gottfried Benn; Empirie des Vorgangs, der journalistischen Tatsache überhaupt nichts anzu- zitiert nach Becker fangen, da der Lyriker seinem Wesen nach ja davon lebt, daß auf der Welt mit 2000, Bd. 2,333 einer einzigen Ausnahme niemals irgend etwas geschehen ist oder je geschieht. Benn erkennt allein eine »Realität aus Worten« als »eines der nicht weiter zurückführbaren Mysterien des menschlichen Geschlechts« an (ebd.). Mit dieser wirklichkeitsfremden Haltung schien er aber wie die Natur-Magiker in die neue gesellschaftliche Situation ab 1933 zu passen. Zur Lyrik der 1920er Jahre vgl. ferner Bormann 1983 und 2007; Körte 1995 a und 1995 b; Literatur Fahnders 2010, 262-265; Bayerdörfer 2001 b; Sengle 2001, 233-298; Schnell 2004, 544-559; Streim 2009, 49-56; Delabar 2010, 87-100; Pankau 2010, 50-54. - Zur Naturlyrik des 20. Jahrhunderts vgl. die Anthologien Moderne deutsche Naturlyrik und Der magische Weg sowie Heukenkamp 1999. 7.4 I Nationalsozialismus und Exil (1933-1945) Kontinuitäten und Brüche: Die Forschung der letzten drei Jahrzehnte hat vehement auf die Kontinuitäten in der deutschsprachigen Literatur hingewiesen, die über die politischen Zäsuren - den Zivilisationsbruch 1933 und die Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft 1945 - hinweggingen. Hans Dieter Schäfer kommt dabei mit seinem zuerst 1981 erschienenen Buch Das gespaltene Bewußtsein eine zentrale Rolle zu. In dem darin enthaltenen Aufsatz Zur Periodisienmg der deutschen Literatur seit 1930 schlägt Schäfer vor, eine durch die Dominanz neuklassizistischer Tendenzen, die Abwehr der expressionistischen und dadaistischen Formprovokationen sowie das Zurücktreten rhetorischer Orientierungen gekennzeichnete Grundströmung der deutschen Literatur anzunehmen, die sich etwa von 1930 bis 1960 erstrecke, also das Ende der Weimarer Republik, die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft 1933-45, die unmittelbare Nachkriegszeit und das erste Jahrzehnt der beiden deutschen Staaten umfasse. Die »moralisierende Fixierung auf den Nationalsozialismus« habe bislang den Blick für diese Epochenzusammenhänge verstellt, so Schäfer (2009, 386). Dem Einwand, dass solche Kontinuitäten bestenfalls innerhalb Deutschlands hätten zum Tragen kommen können, hält Schäfer entgegen: »Es ist leicht nachzuweisen, daß die im Exil geschriebenen Werke an der allgemeinen thematischen und stilistischen Rückwärtsgewandtheit der neuen Epoche Anteil hatten« (ebd., 391). Schäfer polemisiert damit gegen die sozialgeschichtlich orientierte Forschung insbesondere der 1970er Jahre, die eine massive Aufwertung der Exilliteratur vorgenommen hatte. In Schäfers Gefolge behauptet Ralf Schnell, es könne 108