Methodische Begriffe der Analyse und Interpretation zu entwickeln: Das erste Quartett formuliert eine Art Ausgangsüberlegung, die das zweite Quartett erweitert oder problematisiert, woraufhin die beiden Terzette (dreizeilige Strophen) eine Lösung oder Harmonisierung vortragen. Da die Problematisierung im zweiten Quartett oft aus nicht mehr als einer leichten Modifikation der Ausgangsüberlegung besteht, sollte man nicht dem Sprachgebrauch mancher Lehrbücher folgen, welche die drei Schritte als „These", „Antithese" und „Synthese" bezeichnen und damit einen streng logischen Gegensatz zwischen den Quartetten suggerieren, der oft nicht vorliegt. Diese irreführende Terminologie hat ihren Ursprung Sonettspiele wohl im eher intellektuellen als emotionalen Charakter vieler Sonette. Wie keine andere Gedichtart hat das Sonett dazu herausgefordert, mit seiner komplizierten Form zu spielen oder sie zu thematisieren. Es gibt nicht wenige Sonette, die, wie Goethes ,Sonett' (Goethe [1], 245) oder Robert Gernhardts ,Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs' (Gernhardt, 164), die Sonettform selbst zu ihrem Gegenstand machen. Nicht selten sind auch exotische Formvariationen, für die sich ein extremes Beispiel in der angloamerikanischen Literatur findet: das Sonett ,The Cambridge Ladys' von E. E. Cummings mit dem spiegelbildlichen Reimschema ,abcd dcba efg gfe' (wobei einige Reime alles andere als rein sind). Als besonders schwierige Übung gilt die Anfertigung eines sogenannten Sonettenkranzes, bei dem sich aus je einem, am besten dem ersten Vers von 14 Sonetten ein fünfzehntes Sonett zusammensetzt. Ein Beispiel hierfür ist ,Lillis Sonetten kränz' von Arno Schmidt (Schmidt, 161 ff.). IV. Lyriktheorien Die Interpretation ist nicht die einzige Weise, über Gedichte nachzudenken. Man kann sich auch fragen, was ein Gedicht überhaupt ist, d.h., man kann Lyriktheorie betreiben. Der folgende Überblick dient vornehmlich dazu, mit der historischen Entwicklung dieser Sparte bekannt zu machen. Denn theoretische Reflexionen haben seit jeher die literarische Produktion begleitet und damit zugleich das Literaturverständnis der zeitgenössischen Leser und Autoren geprägt; sie verraten, wie zu verschiedenen Zeiten Lyrik gelesen wurde. Doch außer zur historischen Seite hin müsste die Theorie der Lyrik auch mit systematischem Interesse verfolgt werden, falls es die Literaturwissenschaft damit ernst meint, ihren Gegenstand nach wie vor in die drei Hauptgattungen Drama,,Epopöe' und Lyrik zu unterteilen. Mit diesem Ernst ist es freilich eine besondere Sache. Einerseits produzieren Literaturwissenschaftler in beachtlicher Zahl Einführungswerke, deren Aufgabenteilung der Gattungstrias genau entspricht; andererseits aber überlässt die wissenschaftliche Literaturtheorie eben diesen Einführungen weitestgehend die Arbeit an den Gattungsbegriffen, während sie sich selbst anderswo tummelt. Wenn es zutrifft, dass die Literaturtheoretiker sich hinter dem Rücken ihres Problembewusstseins darauf geeinigt haben, Gattungstheorien als eine obsolete Angelegenheit zu betrachten, dann korrespondiert dieser Haltung zugleich der Zustand der Gegenwartsliteratur, die kaum noch Untergattungen zu kennen scheint und einen nachgerade sportlichen Ehrgeiz an den Tag legt, die literarischen Hauptgattungen kräftig zu mischen. Man war lange Zeit der Auffassung, dass sich Gedichte von Nicht-Gedichten durch die Verwendung des Verses unterscheiden, und entsprechend hatte die vorwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Gedicht, von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, gerade auf dessen formale, seinen ästhetischen Vorrang legitimierende Eigenschaften ein scharfes Auge gerichtet. Wohl deshalb ist das formale Vokabular der Gedichtanalyse so gut ausgearbeitet, und wohl deshalb passt es so genau auf jene Gedichte, die zwischen dem Barock und dem 19. Jahrhundert entstanden. Doch vor gut 200 Jahren begann eine Reihe von Veränderungen auf nahezu allen relevanten Ebenen der Poesie, aus denen ,unsere' moderne Literaturauffassung hervorging. Aus diesen Gründen kann hier weder eine schlüssige, einheitliche und konsensfähige Gattungsdefinition der Lyrik noch ein Überblick über eine lebendige Forschungsdiskussion vorgelegt werden; allein möglich sind Referate und eine vorsichtige Kritik der wenigen systematischen Arbeiten, die, wie sich zeigen wird, vornehmlich um den Begriff des Verses kreisen. 1. Ältere Lyriktheorien Die Ästhetik als philosophische Disziplin, die sich mit den Künsten sowie dem Schönen im Allgemeinen befasst, entstand erst in der Mitte des 18. Ziele des Kapitels Ästhetik, Poetiken I IV. Lyriktheorien 1. Ältere Lyriktheorien Jahrhunderts. Als ihren wissenschaftlichen Ableger kann man die moderne Literaturtheorie bezeichnen, wenn sie ihre Aufgabe darin sieht, „die letztlich nicht aufhebbare Differenz zwischen Literatur und Wissen zu reflektieren". (Geisenhanslüke, 8) So definiert, verortet sich die Literaturtheorie insofern zwischen Philosophie und Literaturwissenschaft, als ihre Leitdifferenz sich dem allgemeineren philosophischen Gegensatz des Schönen und der Gattungspoetik Erkenntnis unterordnet. Bevor jedoch diese spezifisch moderne Konstellation entstand, wurden die Künste separat diskutiert und in entsprechenden Theoriewerken behandelt, welche man, wenn sie sich mit der .schönen Literatur' bzw. der ,Dichtung' befassen, als Gattungspoetiken bezeichnet. Stark vereinfacht gesprochen, sind Poetiken die Vorgänger der Literaturtheorien. Doch obwohl sie keineswegs philosophieabstinent waren, zogen sie aus einer noch grundlegend anderen Philosophie ganz andere Schlüsse hinsichtlich ihrer Aufgaben und der Aufgaben der Poesie. Die älteste poetologi-Aristoteles sehe Abhandlung, die Poetik des Aristoteles', ist eine kleine Schrift von ungefähr 50 Seiten, die nach der Einschätzung des Aristotelesherausgebers Manfred Fuhrmann um 335 v. Chr. entstand (vgl. Aristoteles, 154). Die Schrift ist der erhalten gebliebene Teil umfangreicherer Literaturuntersuchungen des Philosophen. Außerdem ist sie unvollständig überliefert; die Darstellung der Komödie, die der Verfasser am Anfang des sechsten Kapitels ankündigt, ist verloren gegangen. Erhalten geblieben sind dagegen die eingehenden Erörterungen der Tragödie und des Epos', während die kürzeren Formen, unter denen sich auch solche befinden, die für uns zur Lyrik zählen, nur am Rande gestreift werden. Letzteres liegt nicht nur am episch-dramatischen Interessenschwerpunkt des Philosophen. Vielmehr klammert Aristoteles lyrische Gedichte, wie Fuhrmann vermutet, aus seiner Erörterung weitgehend aus, weil sie sich seiner Definition der Dichtung als Nachahmung (Mimesis) menschlicher Handlungen widersetzt. Fuhrmann meint damit, dass nach älterer Auffassung in einem lyrischen Gedicht der Dichter seine Gefühle und Ansichten ausdrückt, aber nicht, wie im Epos, eine Geschichte erzählt oder von Schauspielern aufführen lässt wie beim Drama. Für uns ist dieser Zusammenhang aus zwei Gründen wichtig. Erstens werden ab dem späten 18. Jahrhundert das Konzept der Dichtung als Mimesis menschlicher Handlungen und die immer bedeutender werdende lyrische Dichtung gegeneinander ausgespielt. Man verknüpft Lyrik nun systematisch mit der Vorstellung einer Selbstaussprache des Dichters. Die gesamte Gattungssystematik ändert sich für die Dauer von etwa 150 Jahren, nur noch drei Großgattungen, das Drama, das Epos und die Lyrik, werden anerkannt und das Mimesisprinzip verabschiedet. Zweitens ist der Zusammenhang für uns bedeutsam, weil wir heute die Lyrikkonzeption, die Aristoteles laut Fuhrmann zur Vernachlässigung lyrischer Gedichte trieb, nicht ohne weiteres teilen. Denn wenn nach heutiger Auffassung der Sprecher eines Gedichts, wie in III.4 erörtert, nicht mit dem Verfasser gleichgesetzt werden kann, sondern als eine vom Autor erfundene ,Figur' zu verstehen ist, so könnte sich dahinter eine Applikation der Mimesistheorie auf die Lyrik abzeichnen. Scaliger Nach einer langen Zeit der Vernachlässigung, während der die Poetik, wie Fuhrmann schreibt, „das Dasein eines Mauerblümchens fristete" (Aristoteles, 146), griffen im 16. Jahrhundert Dichtungstheoretiker verstärkt auf Aristoteles zurück. Vornehmlich italienische Renaissancehumanisten bau- C ten dessen Gattungssystematik nun zu umfangreichen Theorieansätzen aus. Den größten Einfluss erlangten die Poetices libri Septem (Sieben Bücher über die Dichtkunst) von Julius Cäsar Scaliger. Was sie behandeln, sind samt und sonders Verstexte; Prosa zählte bis ins 18. Jahrhundert nicht zur Dichtung. In Scaligers voluminösen Sieben Büchern werden Dutzende von Gattungen dargestellt, unter denen sich, wie man als heutiger Leser mit Verblüffung feststellt, neben den Satiren, Palinodien, Parodien, Dithyramben, Idyllen und Liedern auch die ,lyrischen Gedichte' befinden. Was Scaliger als Lyrik bezeichnet, scheint weniger als das zu sein, was wir darunter verstehen, denn für uns zählen Idyllen, Lieder und Hymnen fraglos zur lyrischen Gattung. Der Humanist und seine Zeitgenossen jedoch reservieren den Begriff ausschließlich für Gedichte, die man „nicht ohne Gesang und Leier vorträgt], woher auch die Bezeichnung lyrische (zur Leier gesungene) Dichtung stammt." (Scaliger, 381) Scaliger unterscheidet Gedichte nach der Art des jeweiligen Versmaßes, der behandelten Gegenstände, der Vortragssituation und der damit korrespondierenden Stillage. Steffan Trappen hat in seiner Untersuchung zur Geschichte der Gattungspoetik gezeigt (vgl. Trappen [1]), dass Scaliger damit Kriterien anwendet, die unter die als Diaphora bezeichneten Kategorisierungsrubriken ,versus' (Vers), ,res' (Sache, Gegenstand) und ,modus' (Redeweise) fallen. Während Scaliger bei der Behandlung von Tragödie und Epos direkt an die Poetik des Aristoteles anschließen konnte, musste er bei der Herleitung der Diaphora auf die aristotelische Logik zurückgreifen. Hier fand er die Prinzipien, die eine klare Ordnung aller Dinge und damit auch der poetischen Gegenstände gestatten. Um die Eigenart der lyrischen Gedichte zu bestimmen, genügte ihm ein Diaphoron, das der Vortragssituation und Redeweise: Lyrik wird, wie er sagt, immer zur Musik vorgetragen. Während die anderen beiden Diaphora nicht herangezogen werden können, um lyrische Gedichte von anderen Gattungen abzugrenzen, dient eines der beiden, die Sache (,res'), dazu, verschiedene Lyriktypen zu unterscheiden, so z.B. die Hymnen, die Päane und die Epinikien, in denen Götter, siegreiche Feldherren und Sportchampions gepriesen wurden. Auf die Identifizierung der Lyrik mit dem Lied trifft man gelegentlich noch heute; unserem Lyrikbegriff entspricht sie aber nicht. In Deutschland setzte eine einzelne Poetik aus dem Jahr 1624 Scaligers Martin Opitz Konzeption durch: das Buch von der Deutschen Poeterey des Schlesischen Gelehrten und Dichters Martin Opitz von Boberfeld (vgl. Trappen [2], 88-90). Opitz' kleines Buch ist ein einzigartig einflussreiches Regelwerk geworden, dessen Geltung ungefähr 150 Jahre lang unbestritten blieb (vgl. Meid, 116). Wie erklärt sich diese Wirkung? Zunächst daraus, dass Opitz kaum Neues erfand, sondern sich an die Spitze von seinerzeit ohnehin vorhandenen Entwicklungstendenzen setzte, die er theoretisch auf den Punkt brachte (vgl. Wagenknecht, 53). Des Weiteren behandelte Opitz' Poetik erstmals exklusiv die Probleme der deutschsprachigen Dichtung, und sie war, ebenfalls ein Novum, in deutscher Sprache verfasst. Damit war sie nicht nur den Dichtern selbst verständlich, die als,gelehrte Männer' Latein verstanden und sich an die ausführlichere lateinische Poetik von Seal iger halten konnten, sondern auch den weniger gebildeten Lesern. Die Deutsche Poeterey verband also Produzenten und Rezipienten von Literatur, indem sie ihnen Regeln des niveauvollen Schreibens bzw. Bewertens von Dichtung an die IV. Lyriktheorien 2. Gattungstheorie um 1800 Hand gab. Diese Regeln waren außerdem zahlenmäßig gut überschaubar und leicht memorierbar. Z. B. sollte ein deutscher Vers nach Opitz immer entweder mit männlicher oder weiblicher Kadenz enden (Opitz, 51) und entweder ein „iambicus oder trochaicus" nach Maßgabe des natürlichen Wortakzents sein (ebd., 52). Eine andere Regel besagte, dass ein auslautendes „e" vor Konsonanten elidiert, vor Vokalen nicht elidiert werden soll (nicht: „das stellte ich mir vor", sondern: „das stellt' ich mir vor"). Dass solche Regeln nach dem Entweder-Oder-Prinzip funktionieren, erleichterte ihre Vermittlung und entsprach zugleich dem rationalistischen Denken des 17. Jahrhunderts. Für Opitz und seine Zeitgenossen gehören zur Poesie nur Texte, die in gereimten Versen verfasst sind; der Rest ist Prosa und fällt ins Aufgabengebiet der Rhetorik, nicht der Poetik. Relativ unausgearbeitet erscheinen in der Deutsche Poeterey die Kriterien, die zwischen den einzelnen poetischen Gattungen zu unterscheiden erlauben. Nur in der Erörterung von Tragödie und Epos zieht Opitz, im Rückgriff auf die Poetik des Aristoteles, scharfe Grenzen; die anderen Gattungen heißen z.B. „Satyra", „Epigramma", „Eclogen oder Hirtenlieder", „Elegien", „Hymni oder Lobgesänge" und zuletzt „Lyrica oder getichte die man zur Music sonderlich gebrauchen kan" (ebd., 30-33). Die Lyrik erscheint als eine Art Restekategorie, die eine bunte Mischung von verschiedenen Gegenständen präsentieren kann: „buhlerey / täntze/ banckete/ schöne Menscher / Gärte / Weinberge / lob der mässigkeit / nichtigkeit des todes / etc.", oder, auf den Punkt gebracht, „alles was in ein kurtz geticht kan gebracht werden" (ebd., 33). Lesartender Wie man sieht, verwendet Opitz den Ausdruck „Lyrik", aber nicht in der Deutschen Poeterey heute geläufigen Bedeutung. Sein Lyrikbegriff scheint enger zu sein als unserer; seine Kategorien wirken wenig trennscharf; besonders unplausibel erscheint die Abgrenzung der Lyrik, denn man kann natürlich Hirten/Zeder oder Lobgesänge ebenfalls „zur Music [...] gebrauchen". Spätestens an diesem Punkt melden sich allerdings Zweifel an einer Lesart an, die Opitz' Werk in ein so schlechtes Licht stellt. Stefan Trappen hat dagegen den Vorschlag gemacht, Opitz von Scaliger her zu verstehen (Trappen [2]). Das Verfahren, die Dinge mit Hilfe von Diaphora zu kategorisieren, bringt es nämlich mit sich, dass ein und derselbe Gegenstand, wie z.B. ein bestimmtes Gedicht, unter mehr als einen Gattungsbegriff gebracht werden kann. Hinsichtlich ihrer Sangbarkeit oder Nicht-Sangbarkeit sind Gedichte der Lyrik zuzuschlagen oder nicht, hinsichtlich ihrer Gegenstände als Hirtenlieder oder Lobgesänge zu klassifizieren. Der Umfang des Lyrikbegriffs ist daher nicht notwendig kleiner als der heutige, denn Lyrik endet nicht dort, wo Lobgesänge, „Epigramma" und „Eclogen" anfangen. Ganz im Sinne des Diaphora-Systems entwickelt Opitz dann auch im siebenten Kapitel der Poeterey eine Ordnung nach Versarten, die er in keiner Weise an die Ordnung nach ,res' und ,modus' aus den vorangehenden Kapiteln knüpft. Er muss es nicht, weil er die Diaphora getrennt voneinander abhandeln kann. Nur von einem theoretischen Standpunkt aus, der neben dem Drama und dem Epos eine weitere poetische Großgattung verlangt, kann es als Defizit erscheinen, wenn Opitz für das Sammelsurium von Dichtungsarten jenseits dieser beiden weder einen Namen noch einen Begriff vorschlägt. Demgegenüber verleiht die von Trappen entwickelte Lesart der Opitzschen Poeterey Konsistenz und Folgerichtigkeit und passt besser zu der Wertschätzung, die dem Werk des Barockautors in den anderthalb Jahrhunderten nach seinem Erscheinen gezollt wurde. In diesem Zeitraum änderten sich die Prinzipien der Gattungspoetik nicht Gottsched wesentlich. Hundert Jahre nach Opitz wollte der Leipziger Dichter und Literaturkritiker Johann Christoph Gottsched seine Poetik, den Versuch einer kritischen Dichtkunst, als Versuch anlegen, alle Gesetze und Regeln der Poesie aus einem einzigen, rational begründbaren Prinzip, das dem Wesen der Dichtung entsprechen sollte, abzuleiten, und nicht mehr aus dem Herkommen oder dem gebildeten Geschmack. Diese ,Natur der Poesie' findet er (wie Aristoteles) im Prinzip der Mimesis: Dichtung ahme die Wirklichkeit nach. Bereits den Zeitgenossen entging nicht, dass Gottscheds Versuch fehlgeschlagen war. Immer wieder sah er sich gezwungen, dem Geschmack und dem Herkommen Tribut zu zollen und sein .Prinzip' zu unterwandern. Auch an der Abhängigkeit vom aristotelischen Systematisierungsverfahren Engel nach res, modus und versus rüttelte nicht Gottscheds Poetik, sondern erst die Anfangsgründe einer Theorie der Dichtarten von Johann Jakob Engel (1783) (Trappen [1], 160ff.). Der Nachahmungsbegriff hingegen geriet fast zeitgleich gerade dort in die Kritik, wo die Theoretiker es mit Textsorten zu tun hatten, die kurz darauf unter dem Gattungsnamen der „Lyrik" zusammengefasst werden sollten. Johann Adolf Schlegel, Theologe und Überset- Schlegel zer der für Gottsched maßgeblichen französischen Poetik von Charles Bat-teux, beanstandete dessen Nachahmungsdogma unter Verweis auf das Dichten von „Psalmen und geistlichen Liedern" in „frommer Andacht", bei dem keine nachgeahmten, sondern „authentische, wahrhafte" Empfindungen zum Ausdruck gelangen würden, was auf andere Typen lyrischen Dichtens übertragbar sei (Kemper [2], 68). Hier zeichnet sich bereits ein Umschwung in der Gattungsauffassung ab, an dessen Gestaltung die beiden Söhne des Kirchenmannes, August Wilhelm und Friedrich Schlegel, bedeutenden Anteil haben sollten. 2. Gattungstheorie um 1800 Ende des 18. Jahrhunderts setzte eine beispiellose Umwertung literarischer Schiller und einige Texte und Gattungen ein. Es begann der Aufstieg des ,Prosaepos', des Ro- Zeitgenossen mans, und der kurzen Versdichtung, der Lyrik. Während der Roman die Prosa als Dichtungssprache etablierte und die alte Aufgabenverteilung von Rhetorik (Prosa) und Poetik (Versdichtung) unterhöhlte, avancierte die Lyrik zur dritten literarischen Hauptgattung neben Epos und Drama. Stefan Trappen hat die Entwicklung der berühmten Gattungstrias aus Drama, Epos und Lyrik in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts als Koproduktion eines Jenaer-Weimarer Freundeskreises beschrieben, der aus Goethe, Schiller, Wilhelm v. Humboldt, Kömer und den Brüdern August Wilhelm und Friedrich Schlegel bestand (Trappen [1 ], 198ff.). Ihr Ziel war die Bestimmung des literarischen Schreibens ohne Rückgriff auf ,äußerliche' Begriffe wie den des Verses. Es muss, könnte man ihre Basisprämisse paraphrasieren, etwas im Wesen der Dichtung liegen, was sie von anderen Redetypen grundlegend unterscheidet. Obwohl die neue Gattungstheorie drei Hauptformen der Poesie postulierte, standen Drama und Epos zunächst im Mittelpunkt ih- IV. Lyriktheorien 2. Gattungstheorie um 1800 res Interesses. Auch dem Epos liege nicht die Nachahmung, sondern, wie Humboldt mit Blick auf Goethes Hermann und Dorothea schreibt, ein See-lenzustand des Dichters zugrunde, der „in der Verbindung mit der dichterischen Einbildungskraft'" - die sowohl nachahmend und erfindend, als auch wirklich Erlebtes abbildend verfahren kann - .„nicht anders kann', als mit dem Epos,eine entsprechende Form zu schaffen'" (zit. n. Trappen [1], 215). „Ein solcher Gattungsbegriff liegt wenigstens seinem Anspruch nach jedem Gedicht voraus" (ebd., 215/16), und dies, ließe sich ergänzen, in solchem Maße, dass sogar Texte, die wir als Tatsachenberichte klassifizieren würden, vom ,Wesen' des Dichterischen affiziert sein könnten. Doch gegen eine solche Ausweitung des Literaturbegriffs sicherte sich die klassische Konzeption durch das Postulat, dass die neuere Literatur die wesentliche Idealität kaum in Reinform verwirkliche, welches Verdienst hingegen der antiken Literatur zuzuerkennen sei, und zwar vor allem der griechischen und weniger der römischen (vgl. ebd., 207). Je älter ein Text, desto näher komme er dem Ideal. Deshalb sah sich der Goetheverehrer Humboldt zum Nachweis veranlasst, dass es sich bei Goethes Hermann und Dorothea um ein (reines) Epos und nicht um ein (aus Lyrik und Epos gemischtes) Idyll handle, gerade so, als sei letzteres ein Vorwurf. Goethe wird in Humboldts Sicht zu einem quasiantiken Autor. 19.Jahrhundert Keiner ihrer Entwickler hat die Thüringische Poetik allzu nachdrücklich propagiert, was dazu beitrug, dass die Lehrbücher der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei der basalen Aufteilung alles Geschriebenen in Vers- und Prosatexte blieben (vgl. Sengle, 1 -26). In der philosophischen Ästhetik hingegen fand die Lehre von der Dreieinigkeit der Poesie rasch Anerkennung, vor allem, weil sie gut zur Hegelianischen Trias des Subjektiven, des Objektiven und des vermittelten Subjektiv-Objektiven passte (vgl. Trappen [1], 256ff.). Subjektiv sei die Lyrik, objektiv das Epos, und die Vermittlung, d.h. die Aufhebung zu einer .höheren Einheit', gelinge im Drama. Dass sich die Trias im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts durchsetzte, dürfte aber auch dem Umstand geschuldet sein, dass sie eine merkliche Vereinfachung der Gattungsbestimmung mit sich brachte und damit einem Publikum, das zwar Bildung, aber nicht mehr Gelehrsamkeit für sich in Anspruch nahm, bequemere Orientierung versprach als die alte Gattungsordnung von Scaliger und Opitz. Allerdings scheint die Hauptursache für den Sieg der Trias eine ihrer Begrifflichkeit inhärente Unklarheit zu sein. Denn im Gerangel um Anerkennung siegen nicht immer die präzisesten Theorien, sondern bisweilen gerade diejenigen Ansätze, die Deutungsspielräume offen lassen und damit Goethe die Fortsetzung der Debatten ermöglichen. Recht deutlich zeigt sich das Begriffsproblem in der ,nach-klassischen' Formulierung des triadischen Konzepts, die Goethe 1819 in den ,Noten und Abhandlungen' zum West-Öst-lichen Divan im Kapitel ,Naturformen der Dichtung' anbietet. „Es gibt", schreibt Goethe dort nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama. Diese drei Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken. In dem kleinsten Gedicht findet man sie oft beisammen, und sie bringen eben durch diese Vereinigung im engsten Räume das herrlichste Gebild hervor, wie wir an den schätzenswertesten Balladen aller Völker deutlich gewahr werden. Im älteren griechischen Trauerspiel sehen wir sie gleichfalls alle drei verbunden, und erst in einer gewissen Zeitfolge sondern sie sich. Solange der Chor die Hauptperson spielt, zeigt sich Lyrik obenan; wie der Chor mehr Zuschauer wird, treten die andern hervor, und zuletzt, wo die Handlung sich persönlich und häuslich zusammenzieht, findet man den Chor unbequem und lästig. (Goethe [2], 187/88) Goethe sondert die „Naturformen" als ewige und wesentliche Gestalten von der Erscheinung ab, die sie in jeweiligen historischen Kontexten annehmen können. Trappens Beobachtung, dass das Ideal der Mustersuche vorausgeht, findet hier nochmals Bestätigung. Goethe spricht auch, ähnlich einem heutigen Literaturwissenschaftler, nicht mehr wie Humboldt über ,Seelenzustände des Dichters', sondern über Eigenschaften von Texten (erzählend, aufgeregt oder persönlich handelnd zu sein). Das Ziel seiner Überlegungen wird deutlich, wenn er kurz darauffordert, daß man die drei Hauptelemente in einem Kreis gegeneinander über stellt und sich Musterstücke sucht, wo jedes Element einzeln obwaltet. Alsdann sammle man Beispiele, die sich nach der einen oder nach der andern Seite hinneigen, bis endlich die Vereinigung von allen dreien erscheint und somit der ganze Kreis in sich geschlossen ist. (ebd., 188) In trauter systematischer Runde scheinen sich alle Formen zu sammeln, die reinen wie die gemischten. Es zeigt sich die Weite des Goetheschen Literaturkonzepts, dem es auf eine deskriptive Erfassung aller Poesie ankommt, der eine weltliterarisch orientierte und systematisch ordnende Basiskonzeption zugrunde gelegt wird. Die Problematik dieser Konzeption wird deut- Ein Problem lieh, wenn man sie mit Humboldts Entwurf vergleicht. Im expliziten Widerspruch zu Humboldt, der die reine Form für wertvoller hält als die gemischte und sie an das Alter der jeweiligen Dichtung koppelt (Goethe ist für ihn nur eine Ausnahme unter den Modemen!), findet Goethe gerade im „älteren griechischen Trauerspiel" eine Formenmischung, die sich erst im Verlauf der Gattungsentwicklung entwirrt. Das ältere griechische Trauerspiel steht der Ballade näher als dem ,Ideal'. Dass diese Abkopplung des Alters von der,Formenreinheit' bei Humboldt nicht vorgesehen ist, hat freilich wieder einen guten Grund. Denn das Alter verbürgt für Humboldt zugleich die Nähe zum Ursprung und zur Natur. Die geschichtsphilosophische Spekulation fundiert das normative poetologische Konzept. Die Definitionen der .Noten und Abhandlungen' aber sind von dieser Grundidee gleichfalls nicht frei. Wenn Goethe nämlich von „Naturformen" spricht, dann schließt er sich terminologisch an die Naturkonzeption seiner Zeitgenossen an. Es ist dann nur noch ein kleiner Schritt, der Natürlichkeit die Künstlichkeit, dem Ursprung das Epigonale und dem Wertvolleren das Wertlosere gegenüberzustellen. Goethe macht ihn nicht, aber er ist in seiner Theorie angelegt. Fasst man Goethes Konzepte normativ auf, dann erscheint, was nicht enthusiastisch aufgeregt' daherkommt, zugleich nicht mehr als ,echt' lyrisch und damit als nicht ,echt'. Während das Schema des Formenkreises eine Mischung der Formen legitimiert, zieht das Konzept der Naturform die Mischungserlaubnis wieder zurück. Einerseits flexibilisierte die Erlaubnis zu ,mischen' die Arbeit der Autoren, die nicht mehr darauf festgelegt waren, einen Text von Anfang bis Ende nach den strengen Regeln einer Gattung zu entwerfen; andererseits brachte das Naturkonzept sie in Gefahr, sich den J IV. Lyriktheorien Vorwurf der Unnatürlichkeit einzuhandeln. Lyrik wurde im 19. Jahrhundert vielfach mit der „enthusiastisch aufgeregtein]" Erlebnis- und Stimmungslyrik gleichgesetzt und deren /Natürlichkeit' gegen die espritvolle Poesie des Spätbarock, die kühle Gedankendichtung der Aufklärer, die politische Dichtung des Vormärz und die ab 1890 zu datierenden Versproduktionen der Klassischen Moderne ausgespielt. Emil Staiger Der Züricher Germanist Emil Staiger war der letzte bedeutende Theoretiker, der die Gattungstrias klassisch zu fundieren versuchte. Er ließ den Goe-theschen Grundgedanken eines Gattungskreises fallen und fasste in seiner zuerst 1946 erschienenen Untersuchung Grundbegriffe der Poetik die Großgattungen als Wesensformen auf, die er mit den Begriffen des Epischen, Dramatischen und Lyrischen bezeichnete. Die Frage nach der Berechtigung der Dreizahl hält Staiger für beantwortet, wenn sie sich als „Arbeitshypothese" im Verlauf der Untersuchung bewährt habe (Staiger [1], 10). Staiger lenkt den Blick auf die Machart. Da diese aber für ihn das Wesen eines menschlichen Daseinszustandes, nämlich, im Fall der Lyrik, der Erinnerung, ausdrückt, müssen alle Mischformen, die eine Untersuchung der Macharten zu einem Formenkreis zusammenschließen könnte, als Verunreinigungen des Wesentlichen ausgeschieden werden. Aus dem Erinnerungs-Wesen der Lyrik leitet Staiger ab, dass ,,[a]lle echte Lyrik" von „beschränktem Umfang" sein dürfte (ebd., 23), denn der „lyrische Dichter" unterliege einer „Einhebung", die als „Stimmung" das „,punctuelle Zünden der Welt im lyrischen Subjekt'" bewirke (ebd., 23/24): Sobald die erste Äußerung der Stimmung vollzogen sei, ende das Gedicht, und wenn der Dichter dennoch weiterschreibe, so verstoße er gegen das Wesen des Lyrischen. Alle weiteren Merkmale, die Staiger sammelt und zusammenfassend auflistet - „Einheit der Musik der Worte und ihrer Bedeutung", „Gefahr des Zerfließens, gebannt durch den Kehrreim und Wiederholungen aller Art", „Verzicht auf grammatischen, logischen und anschaulichen Zusammenhang" und „Dichtung der Einsamkeit, welche nur von einzelnen Gleichgestimmten erhört wird" (ebd., 51) -, sind daher vom vorab bereits bekannten Begriff des Lyrischen bestimmt. Sie laufen auf eine Ästhetik hinaus, welche die Aufhebung von Subjekt und Objekt im lyrischen Gedicht postuliert: Das Gegenüber fällt weg, gewiß! Nicht aber deshalb, wie Vischer sagt, weil das Subjekt in sich hineinsinkt. Es wäre ebenso richtig und falsch, zu sagen, es sinkt in die Außenwelt. Denn .ich' bin im Lyrischen nicht ein ,moi', das sich seiner Identität bewußt bleibt, sondern ein ,je', das sich nicht bewahrt, das in jedem Moment des Daseins aufgeht. (ebd., 61) Das Gegenüber fällt weg, denn Lyrik hebe, wie die „Musik", „den Raum auf" (ebd., 52). Alle Abstände fallen hin, sowohl der „zwischen Dichtung und Hörer", als auch der „zwischen dem Dichter und dem, wovon er spricht" (ebd., 54). Denn wie der Dichter, so empfange auch der Rezipient das lyrische Gedicht als eine Eingebung: „Das Lyrische wird eingeflößt" (ebd., 48) - und das, wovon der lyrische Dichter spricht, ist ohnehin nur er selbst. Allerdings spricht er von sich nicht wie ein Autobiograph oder ein Tagebuchschreiber; Letzterer nämlich „befreit sich von jedem Tag, indem er Abstand nimmt und das Gewesene überdenkt. Gelingt ihm das nicht, spricht er unmittelbar, so fällt sein Tagebuch lyrisch aus." (ebd., 55) Staiger 3. Verstheorien 6! Das Lyrische ist keine Gattung Vernachlässigung des Verses unterscheidet deshalb zwischen dem „Gedächtnis", der quasi-epischen Imagination, in der sich ein Subjekt seine Vergangenheit vergegenwärtigt, und der „Erinnerung", dem „lyrischen Ineinander" von Vergangenheit und Gegenwart (ebd., 62). Dass Staiger die Begriffe des Lyrischen und der Lyrik synonym verwendet, macht deutlich, dass er mit seiner Theorie des Lyrischen zugleich eine Gattungstheorie aufstellen will. Was an der Theorie und ihrem Erinnerungsbegriff dran ist, ließe sich durchaus ernsthaft erörtern. Ebenso sicher aber handelt es sich nicht um eine akzeptable Theorie der Lyrik, die weit mehr Texte umfasst als die von Staiger fokussierten kurzen Lieder. Vor allem macht die Bemerkung zum plötzlich lyrisch werdenden Tagebuch eines deutlich: Der Vers ist in dieser Theorie eine Zugabe, die das Lyrische allenfalls steigert, aber nicht zu seiner Definition erforderlich ist. Auch in diesem Punkt wirken noch Goethes prominente Definitionen nach, die ebenfalls keinen Hinweis auf den Vers als lyrisches Gattungskriterium enthalten. Wenngleich die zur Veranschaulichung gewählten Beispiele indizieren, dass Goethe in erster Linie an Versdichtungen denkt, wenn er von „der Poesie" spricht, ist in seinen Überlegungen die Gebundenheit der Rede für die Poesie nicht mehr wesentlich. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte seine Vernachlässigung des Verses insofern eine fortschrittliche Funktion, als sie die Gleichwertigkeit des Versepos' und der .bürgerlichen Epopöe', d.h. des Romans, begründen half. Doch bereits am jahrhundertende hatten sich die historischen Konstellationen gründlich geändert, und als Staiger seine Poetik verfasste, hatten längst andere Lyriktheoretiker eine intensive Debatte über den Vers begonnen. 3. Verstheorien Angesichts der von Goethe bis Staiger reichenden Vernachlässigung des Verskriteriums in der Gattungstheorie ist es nicht verwunderlich, dass das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert eine Blüte der Mischgattungen erlebte. So bezeichnete man z.B. als „Prosagedichte" kürzere Prosatexte, die eine .lyrische Stimmung' aufweisen, also keine Geschichten erzählten oder dramatisch darstellten, sondern Ich-Ausdruck ihres Sprechers sind. Fachterminologisch haben sich diese Bezeichnungen nicht durchgesetzt; uns machen sie aber den seinerzeitigen Verfall des Verskriteriums deutlich. Doch vom Standpunkt des Systematikers aus betrachtet, bot gerade der Vers eine Chance, wieder Ordnung in die zunehmend unübersichtlicher werdenden Gattungsverhältnisse zu bringen. Dass sich zur selben Zeit die Autoren von Verstexten endgültig vom Zwang des Reims und des Metrums befreiten, dürfte für die Theoretiker ein zweiter Grund gewesen sein, sich verstärkt der Frage zuzuwenden, was Verse eigentlich sind. Wenn nämlich bis dahin Reim und Metrum klar erkennbar die Grenzen eines Verses markierten, dann kann dieser sogar identifiziert werden, wenn er, wie z.B. im Mittelalter üblich, nicht graphisch durch den Zeilenumbruch gekennzeichnet ist (vgl. Breuer, 24). Daher mochte eine theoretische Erörterung des Versbegriffs lange überflüssig erscheinen. Erst der Wegfall jeglicher formaler Schematismen führt unmittelbar zur Frage, was unter diesen Umständen über- Warum Verstheorie? IV. Lyriktheorien 3. Verstheorien 71 haupt (noch) einen Vers ausmacht. Die an diese Frage anknüpfende Auseinandersetzung hat Dieter Breuer den „Methodenstreit der deutschen Metriker" genannt (Breuer, 71). )akob Minor Zu den ältesten Arbeiten, die in den Streit verwickelt sind, gehört )akob Minors Neuhochdeutsche Metrik (1893, dann überarbeitet 1902). Minor knüpft an die Versuche älterer Poetologen an, die Prosodie des Deutschen zu bestimmen. Als „Prosodie" bezeichnet man sprachliche Eigenschaften wie Intonation, Sprechpausen, Akzent und Quantität der Silben (vgl. Bussmann, 618). Im Kontext der Lyrikanalyse interessieren vor allem die beiden letztgenannten. Den „Akzent" haben wir im dritten Kapitel als Betonung (Hebung) kennengelernt. Unter der Quantität einer Silbe versteht man ihre Länge, oder, anders gesagt, die Dauer, die ihre Aussprache benötigt. Die Metriker des späten 18. Jahrhunderts hatten versucht, die Quantitätsregeln der antiken Sprachen (Latein und Griechisch) auf deutsche Verhältnisse zu übertragen. Minor will daran anschließen. Er beruft sich auf Karl Philipp Moritz, dem er z. B. darin beipflichtet, dass „änmuth nur in Verbindung mit einer vokalisch anlautenden Kürze als Daktylus gelten" könne, „also änmuth und, aber nicht änmuth zu" (Minor 1902, 133); denn das „u" in „zu" ist ein langer Vokal. In dieser Weise eine doppelte prosodische Ordnung (Akzent und Quantität) der deutschen Metrik zu unterlegen, ist heute unüblich; wir halten Andreas Heusler uns an den Akzent (Betonung, Hebung). Explizit gegen Minor und andere ältere Metriker richtete sich zuerst der Schweizer Germanist Andreas Heusler in seiner dreibändigen Deutschen Versgeschichte (1925-29; 2. Auflage 1956). Seine geniale Idee bestand darin, die alte Definition der Lyrik als musikalische Dichtung auf den Vers anzuwenden. Heusler ersetzt die Versfüße durch Takte: Einheiten, die erst dann vollständig sind, wenn die Reihe ihrer Elemente eine ganze Zahl ergibt (Takt = Zeitspanne, ebd., 48). So ist ein 4/4-Takt abgeschlossen, wenn z.B. vier Viertelnoten oder acht Achtelnoten zusammenkommen. Wie bei Moritz, Minor und in der antiken Metrik werden Silbenlängen registriert, und als Hauptsilbe eines Taktes gilt diejenige, die die Hauptbetonung, den Iktus, trägt. Die Silbenlängen ergeben sich jedoch, und das ist wichtig, nicht aus der natürlichen Aussprache der Wörter, sondern aus den Erfordernissen des jeweiligen Verses. Deshalb können Prosasätze wie auch Verse unterschiedlich metrisch realisiert werden (ebd., 72 f.) - unterschiedlich, aber nicht beliebig, denn auch nach Heusler können natürliche Silbenlänge und Positionslänge im Vers kollidieren: So rügt er unter anderem einen Hexameter von Johann Heinrich Voss, der mit dem Wort „Mit" anfängt, weil dieses Wort unmöglich als lange Silbe auffassbar sei: „Unsre Sprache bedankt sich für solches Quantitieren!" (ebd., 79) Im Gegensatz zu Minor trennt Heusler also Prosodie und Versmetrik nicht vollständig, sondern räumt dem Vers eine Art begrenztes Mitspracherecht bei der Bestimmung der Silbenlänge ein. Dieses Verfahren hat eine Reihe von Konsequenzen. Es gehört zu seinen Stärken, dass es nicht nur die neuere, sondern auch die mittelalterliche Heuslers Verskunst zu beschreiben gestattet (vgl. Heusler, 1, 31 ff.). Heuslers Leitidee Germanophilie besteht darin, die Einheit der germanischen Verssprachen zu erweisen, weshalb er auch alt- und mittelhochdeutsche sowie gotische und altisländische Beispiele erörtert. Fachgeschichtlich betrachtet, richtet sich sein Einheitspostulat gegen die Ausdifferenzierung der Germanistik in Spezialdisziplinen wie Mediävistik und Nordistik; wenn schon die untersuchten Sprachen verschieden sind, so soll doch ihre Prosodie und Metrik die gleiche sein. Dass hinter dieser Vorstellung nationalkonservative bis rassistische Konzepte stehen, ist offensichtlich. Denn Heusler stigmatisiert Verse, die nach seinen Regeln übel gebaut sind, nicht einfach als misslungen, sondern führt in seiner Versgeschichte die beobachteten Regelverletzungen' stets darauf zurück, dass ,fremde Elemente', d.h. Versbauprinzipien antiker oder romanischer Herkunft, in die deutsch-germanische Dichtung eingedrungen seien, weshalb er die fraglichen Verse, als wären sie einer Infektion zum Opfer gefallen, als ,krank' bezeichnet im Gegensatz zum althochdeutschen Stabreimvers, den er als ein Muster an Gesundheit preist. Dass zum Denken und Jargon der Nazis nur noch fehlt, den Schritt von „krank" zu „entartet" zu machen, hat zur Diskreditierung Heuslers nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen. Mit der politischen Kritik musste sich aber zugleich eine syste- Heuslers matische verbinden. Denn nicht nur die Wertungskriterien Heuslers sind .Subjektivität' ein Problem, sondern auch die Tatsache, dass er überhaupt Werturteile fällt. Seine Theorie als unwissenschaftlich abzuqualifizieren (vgl. Breuer, 74), wäre allerdings schwerer gefallen, wenn diese Urteile nicht letztlich subjektiv begründet wären. Für Heusler nämlich ergibt sich die richtige Versfüllung durch die korrekte Abschätzung der „Stärke und Dauer einer Silbe", die „im Zusammenhang des ausdrucksvoll gesprochenen Satzes" zu ermitteln sei (Heusler, 54). Wer soll, so muss man fragen, darüber entscheiden, ob ein Satz ausdrucksvoll gesprochen wird? Das fordert ein Geschmacksurteil oder auch ein Urteil, in das die Interpretation des Satzes einfließt. Die Ergebnisoffenheit bzw. die Bindung der Ergebnisse an das individuelle Sprachgefühl verhindert eine schulgerechte Überprüfbarkeit der Analyseurteile. Das System, den Wechsel der Betonungen zu registrieren, hat demgegenüber den Vorzug größerer Transparenz. Sein Nachteil jedoch besteht darin, dass es die Kluft zwischen dem Analysieren und dem Interpretieren vertieft und dass das infolgedessen isolierte metrische Analysieren von Lernern wie Lehrern in der Regel als buchstäblich sinnlos empfunden wird. Den gesamten ,Streit der deutschen Metriker' nachzuzeichnen, kann nicht Ziel eines kurzen Überblicks sein. Nur verwiesen sei auf Erwin Arndts Deutsche Verslehre. Ein Abriss (1959), Fritz Lockemanns Untersuchung Der Rhythmus des deutschen Verses (1960) sowie Dieter Breuers Vermittlungsversuch zwischen den Lagern im Band Deutsche Metrik und Versgeschichte (1999). Zur Kritik an Heusler greift Wolfgang Kayser in seiner als Buch ver- WolfgangKayser öffentlichten Vorlesung Geschichte des deutschen Verses (1991; zuerst 1960) auf die politische Anrüchigkeit seines Schweizer Kollegen zurück, den er zunächst mit den Worten zitiert, man könne sich den „Vortrag von Versen, die wirklich erklingen wollen", nicht „unwägend, also undeutsch denken", um dann zu kommentieren, „Mielleicht" steige seinen Zuhörern „bei dieser Art der Argumentation schon ein gewisser Zweifel auf." (Kayser, 24) Kayser vermeidet den Eindruck, in Heuslers allgermanischen Fußstapfen zu wandeln, schon dadurch, dass er seinen historischen Überblick im 16. Jahrhundert, also in der Zeit des frühen Neuhochdeutschen, beginnen lässt (kein Gotisch, Altnordisch etc.). Doch auf ein neues metrisches Grund- Christian prinzip stellt erst Christian Wagenknechts Deutsche Metrik (1981) um. In- Wagenknecht formiert von der strukturalistischen Linguistik, unterscheidet Wagenknecht Erwin Arndt; Fritz Lockemann; Dieter Breuer IV. Lyriktheorien 4. Das lyrische Gedicht grundsätzlich zwischen dem Vortrag Cparole') und der Sprache (,langue') des Verses, ordnet jenem den Rhythmus und dieser das Metrum zu und unterteilt die Metrik weiter in Prosodie (Gesamtheit der Regeln der natürlichen Wortbetonung) und Versifikation (Verteilung der natürlichen Wortakzente auf Positionen im Vers). Trotz ihrer anspruchsvollen theoretischen Herleitung sind Wagenknechts Begriffe klar und in der analytischen Anwendung außerordentlich griffig; alle relevanten Grundbegriffe der Metrik finden sich hier diskutiert und definiert. Wagenknecht zufolge hat Heuslers Verslehre mit Metrik nichts zu tun. Denn erstens gehört der bei Heusler fundamentale Vortrag des Gedichts überhaupt nicht in die Metrik, und zweitens liegt der Prosodie nur der Akzent, nicht die Silbenlänge zugrunde. Ohne auf Wagenknechts differenzierte Begrifflichkeit einzugehen, war Kapitel III dieser EinAlfred Behrmann führung an seiner Untersuchung orientiert. Der von Alfred Behrmann in der Einführung in den neueren deutschen Vers (1989) vertretene Ansatz kommt ebenfalls ohne Heuslers Taktbegriff aus. Behrmann macht im Geschichtsteil seiner Arbeit den bedenkenswerten Vorschlag, in die metrischen Analysen historisch-genealogische Aspekte einzubeziehen. So liege den Versen „Es war ein König in Thüle / Gar treu bis an das Grab" (Goethe), die rein systematisch als Dreiheber zu beschreiben sind (U-U-UU-U/U-U-U -), ein Schema zugrunde, das aus dem mittelalterlichen Nibelungenlang-vers auf dem Weg über das Volkslied zu Goethe gelangt sei. Der Nibelungenvers aber trug eine Nebenbetonung auf der letzten Silbe des ersten Halbverses (U-U-UU'-'- / [...]), der dem ersten Vers des Goethegedichts entspreche. Verse ohne Maße Falls das theoretische Interesse am Vers in der Zeit zwischen dem späten 19. und dem mittleren 20. Jahrhundert durch die Hoffnung motiviert war, durch das Angebot komplexer und liberaler Versbauregeln die Autoren lyrischer Gedichte zu bewegen, den metrisch geregelten Vers nicht zugunsten des freien Rhythmus aufzugeben, dann muss dieser Versuch wohl als gescheitert bezeichnet werden. Seit den fünfziger Jahren wurde der freie Vers zum Standard. Die letzten älteren Theoretiker verweigerten ihm die Anerkennung als Vers, so z.B. Kayser, wenn er in der von Walter Höllerer herausgegebenen Sammlung Transit „überwiegend freie Rhythmen [...], die zum Teil ganz nah an die Prosa herankommen, fast schon Prosa sind" (Kayser, 151), findet und dann seine Zuhörer, unter Verweis auf die eigene Befangenheit, auffordert, die Gedichte selbst daraufhin zu überprüfen, „ob das vielleicht neue Klänge, neue Rhythmen, neue Möglichkeiten des Verses sind" (ebd., 152); denn erst im gebührenden Abstand von der Prosa weist sich ihm die Dichtung aus. Angesichts freirhythmischer Gedichte kommt es entweder zu einem rigiden normativen Ausschluss oder zu einer verzweifelten Suche nach metrischem Rhythmus auch dort, wo beileibe keiner zu finden ist. Wagenknecht dagegen hat kein Problem mit dem freien Rhythmus, weil er keine Verstheorie, sondern eine Theorie des Metrums schreibt, die dort, wo kein Metrum zu finden ist, schlicht keine Aussagen machen kann. Dieter Breuer wiederum versucht, den Rhythmus als Grundlage des Verses zu retten, indem er die Grenze zwischen gebundener und ungebundener Rede relativiert. Er behauptet nur noch, dass der Vers auf dem Rhythmus aufbaue, nicht aber, dass dieser ihn konstituiere. „Versliteratur ist gebundenere Rede, hinsichtlich der Tonstellenverteilung geregelter als die Prosa." (Breuer, 23) Das mag so sein, erklärt aber nicht, weshalb beispielsweise der Anfang von Günter Kunerts Gedicht,Gottgleich' ein Verstext sein soll: In der Kindheit habe ich das Universum erkannt. Es war außerordentlich klein und bewegte sich 5 in einem Lichtstrahl, den die Gardine ins Zimmer ließ. (Elm, 39) Denn von einer geregelten Tonstellenverteilung kann hier schwerlich die Rede sein. Will man aber deshalb darauf verzichten, das Enjambement „außerordentlich / klein" zu analysieren? Der Effekt ist da, und die Frage bleibt, wie man ihn als Verseffekt erklärt. 4. Das lyrische Gedicht Eine plausible Lösung des Problems schlägt Dieter Lamping in seiner 1989 Der Vers (2. Aufl. 1993) erschienenen Untersuchung Das lyrische Gedicht vor. Er definiert den Vers als eine Sprachverwendung, die „durch ihre besondere Art der Segmentierung rhythmisch von normalsprachlicher Rede abweicht". (Lamping, 24) Rhythmus ist hier nicht mehr eine Ursache des Verses, sondern eine Folge von etwas, was Lamping eine „Art der Segmentierung" nennt. „Rhythmisierung" meint das Setzen von ,Pausen', die den Redefluss unterbrechen und, wie Lampings Beispiele zeigen, auch durch grafische (visuelle) Maßnahmen - nämlich durch Versschreibung - zustande kommen können (vgl. ebd., 27/28). Noch Kayser hatte befunden, dass „das Druckbild [...] erst eine spätere optische Anweisung für ein ursprünglich akustisches Phänomen" sei (Kayser, 12), wogegen der Rhythmus nach Lampings Einsicht nicht komplett in der Sprache liegt, sondern ihr teilweise übergestülpt wird (so auch Kemper [2], 71). Der Vers ist eine künstliche Lese-, Analyse- und Vortragsanweisung, die sowohl durch akustische als auch durch visuelle Mittel zum Ausdruck gebracht werden kann, in jedem Fall aber durch Mittel der einen oder der anderen Art zum Ausdruck gebracht werden muss. Denn wäre der Vers ein rein akustisches Phänomen, dann hätten freirhythmische Verse keine Enjambements und der Begriff des Binnenreims wäre sinnlos. Ein Problem dieser Definition könnte darin gesehen werden, dass sie sogenannte graphische Gedichte (deren Geschichte vom Mittelalter bis zur Konkreten Poesie reicht) aus der Lyrik ausschließt; gegen diesen Einwand kann man aber geltend machen, dass es sich bei solchen Textgebilden tatsächlich um Kunstwerke von fundamental anderer Art handelt, die mit den ,normalen' Mitteln der Lyrikanalysen kaum adäquat zu erfassen sind. Und nochmals: Es gereicht einem Text nicht zur Unehre, wenn er nicht zur Lyrik gezählt wird. Lampings Studie ist der bislang letzte Versuch, eine systematische und Vom Vers zum historisch adäquate Gattungsdefinition zu entwickeln. Wo Verse sind, da Gedicht sei man, so Lamping, berechtigt, von einem „Gedicht" zu sprechen. Allenfalls metaphorisch könne daher ein Roman als Gedicht bezeichnet werden, I 74 1V. Lyri ktheorien 4. Das lyrische Gedicht Das Gattungssystem Problematisierung Trennschärfe der Begriffe um damit auf seine besondere Qualität hinzuweisen - etwa so, ließe sich ergänzen, wie man auch eine köstliche Mahlzeit „ein Gedicht" nennt, um den Koch zu loben. Damit sind zwar alle ungebundenen Texte aus dem Bereich der Lyrik ausgeschlossen, nicht aber diverse Versgattungen wie das Epos, die Verserzählung oder das Blankversdrama. Lamping benötigt folglich ein zweites Abgrenzungskriterium. Er findet es, indem er Literatur als Rede und das lyrische Gedicht als „Einzelrede in Versen" definiert (Lamping, 63). Neben der Einzelrede liegt in vielen Gedichten dialogische Wechselrede oder vermittelnde Rede vor. In diesen Fällen handelt es sich Lamping zufolge nicht um Lyrik. Als „Wechselreden" bezeichnet Lamping Reden, die aus „mindestens zwei verschiedenen Äußerungen in ein und derselben Situation" bestehen, während die vermittelnde Rede die Wechsel- und die Einzelrede kombiniert (ebd., 89). Daraus ließe sich folgende Gattungssystematik ableiten: Formal Gebundene Rede (Verse) Ungebundene Rede (Prosa) Einzel rede (Lyrisch) Lyrik Prosagedicht k t u r e 1 1 Wechselrede (Dramatisch) Versdrama (Torquato Tasso, Iphigenie, Nathan der Weise etc.) Prosadrama (Götz von Berli-chingen, Minna von Barnhelm, Maria Magdalena etc.) Stru Vermittelnde Rede (Episch) Epos, Epopöe, Ballade (Ilias, Paradise Lost, Messias, Oberon, Musa-rion, Der Erlkönig) Roman, Novelle, Erzählung, Kurzgeschichte Diese Tabelle soll veranschaulichen, wie nach Lamping eine Gattungssystematik aussehen könnte. Es ist nun möglich, das sogenannte Prosagedicht als eine lyrische Gattung zu bezeichnen, streng genommen aber nicht als Gedicht. Andererseits können alle Verstexte, die nicht dem Kriterium der Einzelrede genügen, aus der Lyrik ausgeschlossen werden. Bei allen Vorzügen aber wirft auch Lampings System kritische Fragen auf, die erörtert werden müssen, um seine Leistungsgrenzen zu bestimmen. Lamping legt eine präzise Definition vor, die sich in drei Hinsichten zu bewähren hat. Es muss sich erstens zeigen lassen, dass die Begriffe tatsächlich trennscharf sind; zweitens muss es wenigstens Indizien dafür geben, dass keine andere, vielleicht einfachere Theorie denselben Zweck erfüllt; und drittens sollten die Gattungsextensionen (die Gesamtheit der Dinge, die unter die Gattungsbegriffe fallen) ungefähr mit dem übereinstimmen, was man landläufig unter den jeweiligen Gattungen versteht (so Lamping selbst, vgl. ebd., 63, 86). Hinsichtlich der Trennschärfe ist Lampings Redekriterium etwas lax ausgearbeitet. Da die vermittelnde Rede nur die Kombination der Dialog- und der Einzelrede meint, beschränkt sich Lampings Erörterung mit Recht auf diese beiden Redetypen. Die Einzelrede wird durch drei Definitionsaspekte näher bestimmt, und zwar als: - monologische Rede im Unterschied vor allem zur dialogischen Rede; - absolute Rede im Unterschied zu situationsgebundener Rede; - strukturell einfache Rede im Unterschied zu strukturell komplexer Rede, (vgl. ebd., 63) Monologisch sei eine Rede, wenn sie aus nicht mehr als einer Äußerung bestehe, absolut, wenn sie in keinen „umfassenden Redezusammenhang integriert" sei (ebd., 64). Lamping denkt hier an die Gegentypen des dramatischen Dialogs (mehrere Äußerungen) und des dramatischen Monologs (umfassender Redekontext). Ausgeschlossen ist mit dem ersten Aspekt nicht, dass in der lyrischen Rede ein Gegenüber angeredet wird, sondern nur, dass es antwortet. Wo z.B. durch Anführungszeichen markierte Dialoge vorliegen, ist zu prüfen, ob es sich dabei um echte Dialoge gleichberechtigter Gesprächspartner handelt oder aber um Antizipationen möglicher Redebeiträge eines de facto stumm bleibenden Gegenübers durch den allein redenden Sprecher bzw. um Varianten eines „inneren Dialogs" (ebd., 65), den ein Sprecher mit sich selbst (oder seinem Herzen, seiner Seele) führt. Beim zweiten Definitionsaspekt geht es um die Abgrenzung der Lyrik vom dramatischen Monolog, weshalb das Ausbleiben einer Antwort hier keine Rolle spielen kann. Der Begriff des „umfassenden Redezusammenhangs", den Lamping als Negativkriterium benutzt, ist allerdings recht verschwommen. Dass es sich bei den Gedichten ,November 3' von Richard Brautigan und ,This is just to say' von William Carlos Williams (vgl. ebd., 67), deren Sprecher sich aus recht konkreten Situationen heraus äußern, dennoch um lyrische Gedichte handelt, macht Lamping zum einen am Ausbleiben von Antworten und zum anderen an der recht dunklen Behauptung fest, die Äußerungen seien an die Äußerungssituationen „nicht wesentlich gebunden" (ebd., 68). Was damit gemeint sein könnte, erschließt sich mir nicht. Wäre nicht eine wesentliche Bindung an die Situation und ein umfassender Zusammenhang gegeben, wenn der Titel eines Gedichts ,Der Panther. Im Jar-din des Plantes, Paris' (Rilke),,Nachdem er durch Metzingen gegangen war' (Gernhardt) oder ,Er sähe sie über Feld gehen' (Hoffmannswaldau) lautet? Da Lamping kaum bestreiten dürfte, dass es sich um lyrische Gedichte handelt, müsste er die Definition des zweiten Aspekts präziser ausarbeiten. In der knappen Explikation des dritten Aspekts, der strukturellen Einfachheit, erläutert Lamping schließlich, die lyrische Einzelrede stehe nicht nur für sich, sondern sei „grundsätzlich auch für sich zu verstehen" (ebd., 68). Was er unter „verstehen" versteht, erläutert Lamping aber nicht. Man kann jede aus dem Zusammenhang gerissene Rede verstehen, aber selten so, wie sie im Zusammenhang verstanden werden würde. Da der erste Definitionsaspekt nur den dramatischen Dialog in Versen aus der Lyrik ausgrenzt, müssten die anderen beiden Aspekte, vielleicht mit Hilfe von erzähltheoretischen Kategorien, noch weiter präzisiert werden. Potenziell sind unendlich viele Alternativvorschläge für Kriterien der ,Ly-rizität' vorstellbar; hier soll nur einer erörtert werden, mit dem Lamping sich selbst auseinandersetzt. Gegen diesen Konkurrenten des Redekriteriums, die Kürze, führt Lamping drei Argumente an: 1. die „Unscharfe des Begriffs", 2. seine „Äußerlichkeit", infolge deren er von den meisten Theoretikern (von Hegel bis Staiger) als „abgeleitetes", nicht wesentliches Kriterium Ein Konkurrent: Kürze 6 IV. Lyriktheorien 4. Das lyrische Gedicht behandelt werde, und 3. den Umstand, dass auch einigermaßen lange Gedichte oft der Lyrik zugeschlagen werden (ebd., 87). Zunächst lässt sich fragen, ob das erste und das dritte Argument überhaupt miteinander vereinbar sind. Denn wie kann Lamping im dritten Argument von manchen ,langen Gedichten' sagen, dass auch sie üblicherweise als lyrisch kategorisiert würden, wenn er nicht einen Begriff von Kürze und Länge hätte, und zwar einen, von dem er annehmen zu dürfen glaubt, dass ihn die meisten Leserinnen und Leser teilen, die wie er einige „Episteln des Horaz, viele Oden Klopstocks oder zahlreiche Cantos Ezra Pounds" zur Lyrik zählen, obwohl sie „vergleichsweise umfangreich sind" (ebd.)? Schwieriger allerdings als die Kritik dieses immanenten Widerspruchs ist eine Verteidigung gegen das erste Argument. Zwar ließen sich, hypothetisch, Gedichte denken, die mehrere tausend Verse umfassen und zugleich Einzelrede in Versen sind, und man könnte sich fragen, ob man in solchen Fällen noch von lyrischen Gedichten sprechen würde. Doch problematisch bleibt das Umfangskriteri-um am anderen Ende der Skala, weil sich schlichtweg nicht vernünftig begründen lässt, weshalb ein Text ab einer bestimmten Verszahl als lang, darunter als kurz gelten soll. Tatsächlich ist Länge ein subjektives Kriterium. Lampings Redekriterium dagegen hätte, wenn es theoretisch ausgearbeitet wäre, das Potenzial, klare Entscheidungen zu ermöglichen. Problemfälle Die klaren Entscheidungen könnten freilich auch kontraintuitiv ausfallen. Das dürfte aber eigentlich nicht passieren, wenn Lamping als dritten Einwand gegen die Kürze anführt, dass auch lange Gedichte zur Lyrik gezählt würden und somit Wert legt auf das, was üblich ist. Die Extension seines Lyrikbegriffs müsste mit dem deckungsgleich sein, was sonst als Lyrik gilt. Dass dies für ältere Lyrikauffassungen zutrifft, ist angesichts der Definitionsvielfalt der letzten 400 Jahre kaum wahrscheinlich. Aber wie sieht es heute aus? Wir wollen hier nur zwei Grenzfällen unsere Aufmerksamkeit widmen. Die Ballade Nach Lampings System gehören die allermeisten Balladen zur vermittelnden Rede, müssten also den Epen zugeordnet werden, wogegen sie nach ,normalem' Empfinden durchaus zur Lyrik gehören. Ohne Bedenken werden sie z. B. von Gerhard Hay und Sibylle von Steinsdorff in die Anthologie Deutsche Lyrik vom Barock bis zur Gegenwart aufgenommen. Zwar nehmen Balladen keinen Schaden, wenn man sie nicht zur Lyrik rechnet (dieser Begriff ist schließlich kein Gütesiegel), aber ihr Ausschluss widerspricht dem Lyrikverständnis der wohl meisten Leserinnen und Leser, was vielleicht damit zusammenhängt, dass Balladen kurze Verstexte sind. Misslich ist weiterhin, dass zwar die meisten Balladen zur vermittelnden Rede gehören, einige aber als versifizierte Einzelrede zu charakterisieren wären. Oder sollte es sich z.B. bei Julius Otto Bierbaums ,Ballade vom Tod und dem Zecher' nicht um eine Ballade handeln (vgl. Bierbaum, 397ff.)? Der Verfasser Das Sonett scheint anderer Ansicht gewesen zu sein. Dasselbe gilt auch, nur in umgekehrtem Mengenverhältnis, für Sonette, die zwar überwiegend Einzelreden, zu einem kleinen Teil aber vermittelnde Reden sind. Die rein formale Definition des Sonetts ist gegen jede inhaltliche Charakterisierung unempfindlich. Das Redekriterium hat also die nachteilige Eigenschaft, durch zwei anerkannte Untergattungen einen Schnitt zu machen. Das doppelte Problem der Theorie Lampings besteht darin, erstens einige Texte, die zahlreiche Leserinnen und Leser als lyrische Gedichte zu bezeichnen geneigt sind, nicht länger unter diesen Begriff fallen zu lassen, und zweitens darin, dass Texte, die wir zur selben Untergattung zählen, verschiedenen Hauptgattungen angehören müssten. Diese Beobachtung muss man indes nicht für einen schwerwiegenden Theorie und Einwand halten - falls Lamping nämlich eine ähnliche Struktur im Sinn ha- Geschichte ben sollte wie Scaliger. Dann könnten Gedichte, die nach einem Kriterium zur selben Gattung gehören, nach einem anderen Kriterium zwei verschiedenen Gattungen angehören. Man muss sich allerdings klar machen, dass diese Struktur sich von der Typenkreisidee Goethes grundlegend unterscheidet. Doch in jedem Fall kommt Lampings Arbeit das Verdienst zu, die ein- Kanon gangs angesprochene Kluft zwischen der allgemeinen Literaturtheorie und den spontanen' Gattungssystemen von Einführungen, Schulbüchern und Anthologien bewusst zu machen. Deren Textauswahl schwankt beträchtlich zwischen einer Orientierung an Definitionen ä la Lamping und literaturgeschichtlichen Vollständigkeits- und Veranschaulichungsansprüchen. Wie weit dies gehen kann, soll abschließend an einem Beispiel gezeigt werden. Nach Lampings Definition gehören die um 1800 beliebten Rollengedichte nicht in die Lyrik. Nur Hay und Steinsdorff drucken in der Anthologie Deuf-sche Lyrik (contra Lamping) mehrere Gedichte dieses Typs ab, u. a. Clemens Brentanos ,Hör, es klagt die Flöte': Fabiola. Hör', es klagt die Flöte wieder, Und die kühlen Brunnen rauschen. Piast. Golden weh'n die Töne nieder, Stille, stille, laß uns lauschen! (angemeßnes Solo der Flöte) Fabiola. Holdes Bitten, mild Verlangen, Wie es süß zum Herzen spricht! - Piast. Durch die Nacht, die mich umfangen, Blickt zu mir der Töne Licht. Ramiro. (nähertsich undgiebt Fabiola seinen Mantel.) [...] (Hayu. Steinsdorff, 127) Auch Schulbuchmacher und andere Herausgeber möchten auf diese Verse nur ungern verzichten, weil sich an ihnen vorzüglich Brentanos Technik der Synästhesie als romantische Schreibweise darstellen lässt. Das Schulbuch Texte, Themen und Strukturen (Oberstufe) bringt daher Piasts letzten Doppelvers (ohne Quellenangabe) zur Illustration der Synästhesie (Biermann u. Schürf, 142). In Literatur, einem weiteren Oberstufenlehrbuch, muss das komplette Gedicht als Beispiel für das Thema ,Farbe im Gedicht' herhalten, und zwar in Form zweier Kreuzreimstrophen und ohne Rollennamen, dafür aber mit dem Titel ,Abendständchen' versehen (Stein, 103). In dieser Gestalt und mit demselben Titel begegnet es auch in den auflagestarken Lyriksammlungen Buch der Gedichte (Hochhuth, 423) und Deutsche Gedichte (Ech- $ IV. Lyriktheorien termeyer u. Wiese, 343). Der Brentanoforscher Hartwig Schulz hat zwar auch, um den Text zu lyrifizieren, in seiner Reclam-Ausgabe der Gedichte die Rollennamen weggelassen (vgl. Brentano, 54/55), weist dafür aber in den Anmerkungen darauf hin, dass die acht Verse Brentanos Singspiel Die lustigen Musikanten entnommen sind, wo sie von Fabiola und Piast als Duett vorgetragen werden (ebd., 214). Aus diesem Umstand erklären sich die Nebentexte (,Regieanweisungen') in der oben wiedergegebenen Textfassung der Deutschen Lyrik, wo das Gedicht, von mehreren Rollentexten Ludwig Tiecks und Johann Heinrich Wackenroders flankiert, als das erscheint, was es ist: Lyrik, die im Rahmen anderer Gattungen dramatische Form annimmt und dem romantischen Programmpunkt entspricht, fixe Gattungsgrenzen einzureißen. Nur Hay und Steinsdorff wagen es, ein Bündel von Fragen aufkommen zu lassen, das weiter in die Geschichte der Literatur hineinführt. V. Geschichte der neueren deutschsprachigen Lyrik Literatur- oder Gattungsgeschichten zu schreiben, ist eine Tätigkeit, die selbst ihre Geschichte hat. Zu verschiedenen Zeiten haben Literaturhistoriker unterschiedliche Aspekte der Literatur betont. Es entstand ein heterogenes Konglomerat von Epochenbegriffen, von denen sich die Literaturgeschichtsschreibung bislang nicht getrennt hat. Wir charakterisieren Epochen mal stilgeschichtlich (z.B. Barock), mal geistes- bzw. sozialgeschichtlich (z.B. Aufklärung), eine dritte Epoche benamsen wir nach einem Autor (z.B. Goethezeit), eine vierte nach einem politischen Ereignis (z.B. Vormärz). Je näher wir der Gegenwart kommen, desto gehaltloser werden unsere Epochenbegriffe (Nachkrieg, Postmoderne), weshalb es geraten erscheint, sie zugunsten einer Beschreibung literarischer Strömungen aufzugeben. Obwohl die verschiedenen Epochen- und Strömungsbegriffe kein einheitliches Bild ergeben, hat die Literaturhistoriographie mit Recht an ihnen festgehalten. Denn die Literatur selbst entwickelt sich nicht nur auf einer Ebene. Die Setzung unterschiedlicher Beobachtungsschwerpunkte entspricht oft den realen Gegebenheiten. Mal stagniert der Stil, mal das politische Bewusstsein der Autoren, mal richten alle ihren Blick auf ein reformatorisches Sozialprogramm, mal auf einen Kollegen, in dem sie ein extraordinäres Exemplar ihrer Art sehen. Daher versucht auch der nachfolgende Überblick, die verschiedenen Ebenen zu berücksichtigen und stil-, geistes-, sozial- und politikgeschichtliche Beschreibungsverfahren so gut es geht zu kombinieren. 1. Das 1 7. Jahrhundert Die Geschichte der neueren deutschen Dichtung beginnt nicht mit einem literarischen Werk, sondern mit Martin Opitz' Buch von der Deutschen Poeterey von 1624, dessen Gattungssystematik im letzten Kapitel behandelt wurde. Man könnte die Geschichte der Lyrik geradezu als ein schrittweises Zurückdrängen seiner Dichtungsregeln schreiben, die bis ins 18. Jahrhundert in fast vollem Umfang akzeptiert waren. Wirkungsmächtig war vor allem Opitz' Versreform. Ihr Prinzip besteht in der Verkopplung von Metrum und natürlicher Wortbetonung. Opitz kombinierte das in lateinischer Dichtung geltende Prinzip der metrischen Regulierung mit dem in der deutschen Sprache herrschenden Prinzip der Silbenbetonung. Bis zu dieser Reform waren die Betonungen in deutschen Versen frei verteilt; nur die Silbenzahl war nach französischem Vorbild festgelegt. Opitz' zusätzliches Dekret, das Metrum solle stets alternierend sein, wurde jedoch schon bald aufgegeben; den Daktylus als dritten Fuß führte 1663 die Poetik des Wittenberger Philologen August Buchner in die deutsche Verssprache ein (vgl. Kemper [2], 72, 91, 323); dennoch blieb er bis 1 750 eine, wenngleich Das Buch von der deutschen Poeterey Metrik und Prosodie