SelbsporträtmitFlusspferd über mich selbst zuflüstert. Ich holte die alten Gummistiefel des Professors ausder Garage,schlüpfte in die Pelerine und schöpfte wenige Meter neben dem Flusspferd mit dem Kescher den Dreck von der mit Wellenkreisen gemusterten Teichoberfläche. Es schwamm dort einiges an verschlepptem Stroh, Rindenmulch und Laub. Die Zwergin schaute mir eine Zeitlang zu, dann nahm sic ein Bad.Jetzt zog ich mich zurück, aber nicht aus Angst, sondern aus Respekt. Alles beginnt und endet mit Respekt. Später lag die Zwergin aufden Steinplanen im Regen und schlief, unbekümmert wie eine Tote. Gegen Mittag saß ich auf der Schwelle der Haustür und wollte gerade die kotigen Gummistiefel ausziehen, als hinter mir von innen die Tür geöffnet wurde.Aiko blieb stehen, ich drehte mich kurz um und grüßte verlegen zu ihr hinauf. Sie war zum Ausgehen hergerichtet und kammir riesigvor. Eine bunte Webtasche mit mexikanischem Schlangenmotiv hing an ihrer Schulter, baumelte hinter mir auf Kopfhöhe. Aiko warfeinen Schlüsselbund in die Tasche, ich hörte ihn klim­ pern. Mein zweiter FußfuhrausdemStiefel,der Stiefel fiel über die unterste Stufe in den Regen hinaus.Aiko drückte sich an mirvorbei,gleichzeitigstreckte ich mich nachvorne, umden Stiefel mit der Hand zu erreichen,Aikos Knie streifte meinen Hinterkopf, ich duckte mich. Aiko stellte den umgefallenen Stiefel zu demanderen. Ihre Körpersprache sagte mir,dasssic keine Zeit habe und reden ohnehin zu nichts fuhren würde, dasverhinderte,dassich dasWortansierichtete.Sie liefdurch den Regen zum Tor der Einfahrt, öffnete es. Ich blieb noch für eine Minute auf der Schwelle siezen, nachdem Aiko den \ 106 Flusspferd Mercedes hinaus aufdie Straße manövriert hatte und davongefahren war. Ich starrte den leeren Vorplatz an. Dann ging ich ins Haus. In derVorwoche hatten inAthen die Olympischen Spiele gönnen. Professor Beham ließsich jetzt aucham Nachmittag beweisen,dasser noch lebte: indemerderZeitnehmung und dem Zählen von Ringen beiwohnte. Ich warf einen Blick durch die offen stehende Schiebetür unter der Treppe, eine Koreanerin spannte ihren Bogen,ein roter Striemen zog sich rechts von den Lippen hinunter übers Kinn,wo die Schützin dieSehnedes Bogensanlegte.DasGeräuschderschnellenden Sehne ertönte, der Pfeil schoss davon, die Spitze des Bogens kippte nach vorne, der Bogen schaukelte zweimal in der Hand der Schützin, dann zeigte das Bild den Pfeil, der in das Ziel fuhr, in den innersten,gelb gefärbten Kreis. Von dem Platz, an dem Professor Beham in seinem Rollstuhl saß, konnte er mich nicht sehen. Ich hätte mich gerne zu ihm gesellt und ein Gespräch begonnen. Das wahre Z iel des Bogenschützen soll sein Herz sein. Das hatte ich in einem Buch über Kampfkünste gelesen, damit hätte ich das Gespräch eröffnen können.Aber ich traute mich nicht.Obwohl es nichts zu fürchten gab, machte mir Professor BehamAngst mit seiner Krankheit und seiner ruppigen Art. Ein weiterer Pfeil landete iminnersten Kreis derZielscheibe. Die Athletin nahm ein Fernglas und besah sich das Ergebnis, das Gesicht angespannt. Ich klopfte an den Türrahmen, Blick um die »Herr Professor, wenn Sic einen Kaffee wollen oder etwas anderes,sagenSie es mir,ichsitzein der Küche.« Ecke. tC7 Mit seinem breiten,durchfurchten,struppigen Kopfnickteermirzu,dieses Nicken verrietnur,dasser michgehört hatte,sonst nichts. Die karge Mitteilung unterstrich den müden Ausdruckvon ProfessorBehams Gesicht,die Bartstoppeln im düsteren, durch die Glasfront fallenden Regenlicht schimmerten grünlich. Dieser Mann, dessen Tage nicht wieder­ kehrten. In der Küche nahm ich eine Tafel Schokolade aus meiner Tasche und setzte mich an den Tisch. Ich empfand eine furchtbare Langeweile,es kam mir vor,dass von der Langeweile die Regentropfen vom Himmel fielen. Weiter war nichts. Die Küche aufgeräumt, das Frühstücksgeschirr des Professors abgewaschen. Das Geschirr trocknete im Reiter. Der Kühlschrank machte keinerlei Geräusche, ein teures Modell, eine Fehlkonstruktion, ich fühlte mich doppelt einsam, nachdem mir die Geräuschlosigkeit des Kühlschranks aufgcfallen war. Der Regen, die Geräusche aus dem Fernseher, die Krankheit des Professors, lauter gemächliche und alberne Dinge, die \ einlullend wirkten wie lauwarmes Wasser. Und die Minuten vergingen. In gedankenloser Versunkenheit aß ich meine Schokolade. Zwischendurch hatte ich dann doch Gedanken, zum Beispiel kam mir ganz plötzlich die Angst, dass ich den Sprung hinaus nicht schaffen und wieder in die Eigenbrötlerei zurückfallen könnte, von der mein Leben gekennzeichnet gewesen war, bevor ich Judith getroffen hatte. Ich dachte, es könnte sein, dass ich einfach niemanden mehr finde, der zu mir passt und der michwill, mir schienes indiesemMoment wieder möglich, dass ich mit der Trennung von Judith den ro8 Fehlermeines Lebens gemacht hatte,einensaudummen, fatalen Fehler, der mich mein restliches Leben verfolgen würde, bis ich mich schließlich, gänzlich zermürbt, an einem kräftigen Ast eines einsam stehenden Baumes auftiingte. Ich war mir sicher, dass es das gibt ... dass man nach fünfzigJahren denkt: Die wäre esgewesen, aber ichTrottel habe es nicht gesehen, ich habe sie einfach gehen lassen, und was dann noch gekommen ist,war ein verdammter Dreck.Vielleicht istdoch etwas dran ander einen und einzigen Liebe ... diese eine und einzige Liebezweier Menschen,die sich mitneunzehn finden und zusammenbleiben, für die alles andere nur Abklatsch oder Wiederholung wäre, aber ohne die Unschuld des Anfangs,die Unschuldwäre weg. Das Geräusch der Haustür weckte mich. Ich musste am Küchentisch eingeschlafen sein in der dumpfen Schläfrigkeit diesesOrtes. Ich rieb mein rechtesOhr,kein Fernsehgeräusch mehr, ich hörte, wie jemand die Treppe hinauflief, und blickteaufdie Uhr.AikowarwenigeralseineStundeweg gewesen. Jetzt wieder Stille. Waszum Teufel trieb sie da oben? Kam sie gleich wieder herunter3Und was wollte ich von ihr? He, du Armleuchter, was willst du von ihr? Heraus mit der Sprache! Was war das jetzt3Ich horchte. Nichts. Ich stand aufundging in die Eingangshalle. Nichts. Ich hatte mich getäuscht. Ich ging zurück in die Küche,wartete weiter, nach vorn gebeugt die Ellbogen aufdemTisch. Und wenn sie jetzt hereinkäme? Ich würde irgendetwas Leichtes sagen, etwas Entspanntes. Aber was? Mir fiel nichts ein.Vielleicht sollte ich schweigen? Wozu schweigen? Gott, bist du kindisch! Ausgerechnet schweigen! In einer Küche fallt es halt schwer, erwachsen zu sein,was?Ja, ineiner Küche fällt es schwer,erwachsen zusein, das stimmt. Küchen haben etwas Betäubendes wie Muttermilch. Und da hockte ich und kam mir blöd vor. Die Zeit schleppte sich dahin, denn in Küchen vergeht die Zeit nun einmal langsameralswoanders.Ja, inKüchenvergeht dieZeit nun einmal langsamer alswoanders. Man sollte aus einer Küiche nie hinaus oder sie nach dem Verlassen nie wieder betreten. Wie kommst du jetzt darauf? Gott, bist du kindisch! Keime Ahnung, wie ich darauf komme. Ich weiß es nicht, ich wollte,jemandwürdecs mirsagen.Unddieses Geräusch?Das war doch bestimmt Aiko ... im oberen Stockwerk. Und warum glaube ich, dass im nächsten Moment meine Mutter die Treppe hinaufsteigenward und dassich dann die Bestätigung habe, zu Hause zu sein?Istdas normal?Wohersoll ichwissen, ob das normal ist? Und was normal ist... woher soll ich das Iwissen? Ichweiß es nicht.Weißes irgendwer? Besser,ich würde lernen,anstatt mir den KopfüberKüchen und die Norma|lität zuzerbrechen... Ichwürdegernelernen,daswärebesser, als mir die Unbcgreiflichkdjr von Küchen vor Augen zu halten und die Unbegreiflichkeit von dem, was als normal gilt. Aber wenn ich enttäuscht bin, kann ich mich nicht konzentrieren. Und wenn ich verunsichert bin, kann ich mich auch nicht konzentrieren. Und wenn ich nervös bin, dann ebenfalls nicht. Ein erfolgreiches Konzentrieren, wenn ich nervös bin, ist mir versagt. Im Moment bin ich alles zusammen: ent|täuscht,verunsichert und nervös.Ach so,deshalb.Ja. deshalb. Und es wäre eine Erleichterung, wenn mir jemand erklären könnte, warum ich enttäuscht, verunsichert und nervös bin. Es macht mich so hilflos,wenn ich mich irgendwo nicht auskenne.Ja, das ist schwierig. Warum? Das ist die Frage. - Und IIO ich legteden KopfzurückaufdieTischplatte,um über all diese Dinge nachzudenken. Bei meinem Nachdenken hatte ich keine Fortschritte gemacht, da hone ich erneut die Treppe knarren. Kurz darauf vernahm ich Aikos Stimme, sie sprach Französisch, hatte wohl ihren Vater ausfindig gemacht und redete ihn nieder, das war ein Vorgang, der sich mit betrüblicher Regelmäßigkeit wiederholte. Es kamen Wörter wie toujours undjam ais vor, ich verstandM am an und tafille . Professor Beham schien sich alles gefügig anzuhören, er sagte reflexhaft bon und tres bien und einmal trop fa ta l. Aikos Stimme wurde lauter, ich hatte den Eindruck, die Strenge in ihrer Stimme schlage um in Zorn. Sonderlich viel verstand ich nicht, mir kamaber vor, die Predigt lief darauf hinaus, dass der Professor sein Leben schlecht geführt hatte und es in Aiko jemanden gab. der ihn daran erinnern wollte. »Red doch keinen solchen Stiefel«,sagte Professor Beham verärgert, schon ganz nah. »Du bist und bleibst eine Rotz­ nase.« ImnächstenAugenblick rollteer indie Kücheherein, und Aiko folgte ihm,ohne ihre Rede zu unterbrechen. Professor Beham öffnete die Schublade, in der sich das Brot befand,er nahm ein StückGebäck heraus und bettete es in seinen Schoß. Gepeinigt betrachtete er seine Hände, die über demGebäck liegen blieben, die Hände zitterten einwe­ nig. »Die soll mich in Ruhe lassen mit ihrem Kauderwelsch«, sagte er, Unterstützung suchend, in meine RichtungJDaraufhin warf Aiko einen Blick auf mich, mit leicHtgcnobcnen ru