1.OlgaFlorKollateralschaden Die Fleischfarbe wurde durch die spezielle Beleuchtung ins Rötliche verschoben, damit die Sache frischer aussah; das hatte Erich W. letztens erst in Ausübung seiner journalistischen Tätigkeit in Erfahrung gebracht. Dem Geruch halfen sie womöglich auch nach. Erich sog sorgfältig Luft durch die Nase ein. Bitte, ich, sagte eine ältere Frau neben ihm. Was war das gewesen? Da war was. ln Österreich beherrscht kein Mensch die Kunst des Schlangestehens, dachte er. Das ist zu intellektuell, zu starr und zu unbeeinflussbar; hierzulande muss man die Ordnung der Dinge ein wenig korrigieren dürfen, irgendwie doch schon ein wenig früher an der Reihe sein, als man befürchtet dranzukommen, hielte man Regeln wie die einer korrekten Schlangenreihenfolge ein. Deshalb bilden sich auch keine Schlangen, sondern Aufläufe 94 und Ansammlungen. Und jetzt drängte sich die natürlich auch noch vor. Abgesehen von dem Schmerz. Denn trotz allem hatte Luise Franz gemocht, manchmal, in glücklichen, seltenen Momenten, hatte sie ihn sogar begehrt. Und das reichte auch, fand Luise, denn wie viele Beziehungen gab es, in denen nicht einmal das noch blieb nach dem Abflauen des ersten Gefuhlsgewitters; sie beide, Franz und Luise, hatten das eben schon von Anfang an sehr nüchtern gesehen. Zumindest sie. Was ihn betraf, nun, das ließ sich nicht mehr klären. Behauptet hatte er jedenfalls, dass auch sein Gefühl still und ruhig und unaufdringlich sei, und so waren sie recht bald handelseinig gewesen, wenige Monate, nachdem sie ihn bei Ferdinand und Jasmin aufeiner Gartenparty kennengelernt hatte. Irgendwie hatte Luise wohl auch gedacht, Franz könne sic vor der fatalen Anziehungskraft schützen, die Ferdinand auf sie ausübte. Geschichte, beschloss Luise. Auch dieser Teil der Geschichte ist Geschichte. Dafür würde sic sorgen, keine Frage. Und schließlich hatte sie ja eine Verpflichtung dem Kind gegenüber. Anatol. Das Kind war eindeutig von Franz. Nach der Hochzeit hatte sie eine ziemlich lange ferdinandfreie Zeit durchgehalten. Nicht auszudenken, was gewesen wäre, wenn in diesem Punkt irgendeine Unsicherheit bestanden hätte. Nein, ganz und gar nicht auszudenken. Ein Lkw kam Doris entgegen. Der Verkehr wurde an dieser Stelle zweispurig geführt, und sic hatte das Gefühl, ausweichen zu müssen. Die rechte Fahrbahn war gesperrt, warum auch immer, Doris auf die Gegenfahrbahn umgeleitet worden; die Enge war beklemmend, und auch wenn sic im 95 Grunde wusste, dass es sich ausgehen würde, dass die Fahrspurbreiteunter Berücksichtigungvon KurvenIrrümmungsradien und höchstzulässiger Fahrzeugdimensianierung schließlich so konzipiert war, da» es sich ausgehen würde, da» sie unbeschadet an dem Lkw vorbeikommen würde, versuchte ihr Unterbewusstes anscheinend den Wagen nach rechts zu treiben, weg vom Gegenverkehr, weg auch vom Felsabbmeh neben der Autobahn (an dem man bei gutem Wetter bunte Flecken kleben sah, die sich langsam wie Wanzen entlangvon Spalten und unsichtbaren Vorsprüngen bewegten), hin zur Mittelschiene, doch da war kein Platz, nur das winterharte Gestänge langwnchernden Grünzeugs zwischen den Leitplanken. Und jenseits der Leitschienen kein Hinweis darauf, warum die ändere Fahrbahn nicht benützbar sein sollte, kein Baufahrzeug, kein sichtbarer Schaden, nichts, was einen plausiblen Grund für die Sperre abgegeben hätte. Ein Knall, der von links hinten kam, ließ sie zusammenfiahren. Ein geplatzter Reifen, dachte Doris, eine freifliegende Radkappe des Lkw, dessen dunkler Schatten sich blockhaft vor das Seitenfenster geschoben hatte.Jetzt nur das Lenkrad gerade halten. Im Rückspiegel sah sie etwas aufdemAsphalt liegen, braun vielleicht und weit drüben auf der anderen Seite, abgeprallt und zurückgeworfen von ihrer Seitentür, das zuckte, ein Bein vielleicht, das Schwung holte, kurz bevor der Umriss eines anderen Wagens das Bild verschluckte. Das arme Her. Was mach ich jetzt? Ich komm zu spät Kann man sowieso nichts mehr tun. Wie das Auto wohl aussieht? Wenn ich verrissen hätte und in den Leitplanken gelandet wäre. Durch den Zwischenraum in den Leitplanken gestürzt, aus der Brücke gefallen, die die Autobahn an dieser p<5 Stelle eigentlich ist. Dann wäre in - sagen wir - zehn Minuten ein Hubschrauber da, würde mich ins Krankenhaus bringen, und dort, wenn sie sehen, dass nichts mehr zu wollen ist, würde man mich am Leben halten, bis die wichtigsten und begehrtesten Organe entnommen weiden können. Muss eine ganz schöne Nachfrage herrschen. Sowas Gesundes, Junges und Frisches wie mich kriegen die nicht alle Tage. Wenn ich also nicht verrissen habe, so hat das Auswirkungen auf die Transplantationslisten. Wie das Auto wohl aussieht. Dabei hatte Erich in letzter Zeit eigentlich Zeit Dennoch ärgerte ihn diese Wichtigtuerin, die offensichtlich von der Angst besessen war, zu kurz zu kommen, und der sich die Bösartigkeit ins Profil grub, das sie gezeigt hatte, als sie sich vergewissern wollte, dass tatsächlich jemand hinter ihr war, der jetzt also zur Kenntnis nehmen musste, dass sie es war, die jetzt dran war, und nicht etwa er. In Wahrheit hatte er Zeit, also, dachte er, würde cs nichts schaden, die Dinge ein wenig entspannter anzugehen. Sollte sie doch. Wenn es sie glücklich machte. Die Arbeit hatte er effektiv und so weit wie möglich auf die freien Mitarbeiter abgeschoben, die immer noch glaubten, dass sie eines Tages zu Festangestellten aufgewertet würden. Sollten sie weiterträumen, ihm war es recht So konnte er sich Dingen widmen, die ihn wirklich interessierten. Die Mehrfachverwertung menschlicher Organe zum Beispiel. Er verwendete seine brachliegenden journalistischen Ressourcen durchaus nutzbringend für Recherchen verschiedenster Art, etwa über Nahrungsmittelqualität und EU-Gesetzestezte, Düngemittel, Handymastabstrahlungen und Allergiehäufigkeit, Gaspipelines und ihr Auftreten in Krisengebieten, um nur ein paar Schwerpunkte zu nennen. 97 Besonders hatte cs ihm - angeregt durch das Bild einer chinesischen Hinrichtungskandidatin, deren Gesicht von unbarmherzig weifibehandsrhuhtm Händen in die Höhe gehoben worden war, ins Blickfeld der Kamera, der Kamera geradezu aufs Auge gedrückt, hätte man schreiben können - die Frage angetan, inwiefern die am häufigsten praktizierten Hinrichtungsarten die inneren Organe in Mitleidenschaft zogen, oder andersrum: welche Hinrichtungsarten gewährleisteten, dass noch brauchbare Organspender dem Weiterverarbeitungsprozess termingerecht zugefuhrt werden konnten. Wobei man feststellen musste, dass die chronische Durchseuchung des Internets mit verlockenden Abzwetgttngsmöglichkeiten das Beim-Thcma-Bleiben erschwerte. Nicht dass Erich Wackemagd was dagegen gehabt hätte, ein Thema bis ins Detail hinein zu verfolgen (übertreiben durfte man es allerdings nicht, dann litt der Weitblick), er musste feststellen, dass es immer größerer Disziplin bedurfte, das zu tun. 16:56 Bis sie den Pannenstreifen erreicht hatte, bis endlich der unendlich langsame Verkehr vor ihr es zuließ, dass sic die Stelle passierte, an der die Fahrspur wieder nach rechts aufdie reguläre (und also pannenstrdfengesäumte) Fahrbahn floss, zitterte sie so sehr, dass es ihr nicht mehr gelang, das Auto vernünftig zum Stillstand zu bringen; sie würgte den Motor ab. Eine Flasche löste sich aus dem Verband im Kofferraum und krachte gegen die Rückbank. Und. wieder nicht getroffen, dachte Doris, ätsch, und: es war ein Tier. 98 Natürlich. Das Bein, dessen hilflose Konvulsionen sie vor sich sah, war eindeutig das einesTiers. Ein Mensch würde anders. Und außerdem; Was hätte ein Mensch da auch zu tun gehabt, mitten aufder Autobahn. 99