NOVEMBER 2012: KATHARINA DER UNGEBETENE GAST Katharina saß mit ihren vier Kindern beim Abendessen, als der Gast zur Tür hereinkam. Er hatte weder geklopft noch geläutet, er war einfach eingetreten, die Haustür stand ja stets offen, wurde nur in der Nacht abgesperrt. Er schloss leise die Küchentür und näherte sich langsam dem großen Esstisch. Katharina wusste sofort, wer er war und was er von ihr verlangen würde. Behäbig wirkte er und gleichzeitig autoritär, ein Mann, der gewohnt war, dlM man sich ihm nicht widersetzte. Umständlich nahm er neben ihr Platz, ohne jemanden zu begrüßen. Katharina bedeutete ihm mit ihren Augen, er möge doch warten, bis die vier aufgestanden und in ihr Zimmer gegangen wären. Er ignorierte das und fing ohne Umschweife zu sprechen an, dabei sah er jedem Kind unverhohlen neugierig ins Gesicht. Er erinnerte Katharina daran, dass Krieg war und die Eindringlinge mordend durch das [.and zogen, ganze Familien grausam ausrottend. Vor den Augen der Eltern wurde jedes einzelne Kind gefoltert, bevor man ihm schließlich den erlösenden Tod gewährte. Zum Schluss wurden auch die Eltern getötet, indem man jedes Fenster, jede Tür von außen mit Brertern zunagelte und das Haus schließlich anzündete. Bald schon, sehr bald würden die Soldaten auch in dieses Dorf kommen und ein Gemetzel in jeder Familie anrichten. Allein er könnte ihr helfen zu verhindern, dass ihre Kinder und sie selbst gefoltert und ermordet wurden. Er hatte gute Verbindungen zu den Soldaten und mit ihnen eine Verord- 9 nung ausgearbeitet: Jede Familie dürfe ein Kind opfern, dann wurde der Rest verschont werden. Sic müsse ihm nur den Namen eines ihrer Kinder nennen, dieses Kind würde er zu den Soldaten bringen und es würde schnell und schmerzlos sterben. Dafür aber werde keinem anderen auch nur ein Haar gekrümmt, kein Soldat werde seinen Fuß in das Haus setzen, das garantiere er mit seinem Namen. Katharina starrte ihn an. Nach den Erzählungen, die sie gehört hatte, hatte sie ihn sich anders vorgestellt, irgendwie größer, weißhaariger, strahlender. Schließlich zwang sie sich, den Blick abzuwenden, sie schaute in der vertrauten Küche herum, bevor sie »ich ihm wieder zuwandte. Der Mann lächelte sie gütig an und sagte: »»Nennen Sie mir nur einen Namen und alles wird gut. Nur einen Namen und Sie können die anderen retten. Denken Sie an die gefolterten und getöteten Familien und Sie wissen, dass mein Angebot gnädig i«.. Sie wusste, dass er wusste, was sie sagen würde und sagte es troudem: »Ich gehe mit Ihnen.« •Da» geht leidet nicht, es muss eines Ihrer Kinder sein«, antwortete er wie tUi der Pistole geschossen, unentwegt lächelnd, •«> lautet einfach Jas Gesetz.« I * Kmder rührten sich nicht und starrten abwechselnd auf den Mann und auf ihre Mutter, dabei sagten sie kein Wort, katlunna» (,danken überschlugen sich. U-awt, Krieg. Jeden Tag war Krieg. Nu, rmen Namen »ollte sie nennen und damit die anderen Ah" Wtltlwn N'«*n «ollte sie aussprechen? Welches KM und dem Tod preisgeben? Denn es war Verrat, •«« « am wcn1R,,en liebte, so würden zumindest alle Sie wusste es, die Kinder wussten es, der Gast wusste es. Sic zermarterte sich ihr Gehirn, was sie tun sollte. Sollte sie einfach aufstehen und den mächtigen Mann hinauswerfen? Sie sah ihm an, dass er das nicht gewohnt war. Mit großer Genugtuung würde sie ihm »Du kannst mich mal mit deiner Gnade!« an den Kopf schmeißen. Aber dann würde man ihren Kindern bei lebendigem Leib die Haut abziehen oder sie in siedend heißes Wasser werfen oder sie vierteilen. Sie stellte sich all diese schrecklichen Dinge bildhaft vor, sah beim Ankündigen der jeweiligen Foltermethode das verzweifelte Entsetzen in den Augen ihrer Kinder und hörte sie dann schreien, schreien, schreien. Einen Namen! Sie musste einen Namen sagen. Ihre zwei Großen flehte sie mit den Augen an, einer von ihnen möge doch ihre Verzweiflung spüren und sich für die Familie opfern. Einer von beiden sollte mit ruhiger Stimme sagen: »Ich geh freiwillig, Mama.« Es hätte zu ihnen gepasst, sie waren doch immer die verständigen Großen, wenn es um die Kleinen ging. Doch sie taten es nicht, wie die zwei Jüngeren hingen sie mit weit aufgerissenen Augen an ihren lippcn: Welchen Namen würde sie sagen? Einen Namen! Sie musste endlich einen Namen sagen! Welches von den Kindern würde ihr den Verrat verzeihen können, dachte sie, welches Kind könnte gehen und ihr dabei einen Blick zuwerfen, der sagte: Ich bin dir nicht böse. Gleichzeitig wusste sie, kein Kind würde das können. Sie würde ihn einfach schnell flüstern, den Namen, dann die Hände vor das Gesicht schlagen, um nicht zusehen zu müssen, wie das Kind abgeführt wurde. Unmöglich konnte sie ihm in die Augen schauen. Die Geduld des Gastes war erschöpft, er befahl Katharina mit lauter Stimme: »Sie sagen mir sofort einen Namen!« Sie hatte einen auf der Zunge, konnte ihn aber nicht aussprechen. 11 hervorgerufen hatten, er hatte oft Wahnvorstellungen, hörte Stimmen. Ohne Medikamente war er nichr gesellschaftsfähig, außerdem konnte er nur eine leichte Tätigkeit ausüben. Vor ein paar Jahren kam er in ein Pflegeheim, weil man sich nicht mehr ausreichend um ihn kümmern konnte. Dann plauderte man über Mühlen, über die Bergmühle, und wie sie sich im Laufe der Zeir durch Umbauren verändert hatte, über alte Möbel (die Frau war Innenarchitektin, Julius und sie verstanden sich prächtig), über das Wohnen am Land und seine Vor- und Nachteile, über Kinder und über belanglose Dinge. Katharina und Julius unterhielten sich so gut mit Stephanie Mangold, dass Katharina sie spontan zum Mittagessen einlud. Danach war sie in die Küche gegangen, um zu kochen, während Stephanie von Julius durch das Haus geführt wurde. (Dabei steckte Stephanie Julius ihre Visirenkarte zu und flüsterte: •Rufen Sie mich an.«) Um eins aßen alle gemeinsam in der Küche, später trank man noch einen KafFee im Wintergarten. ■Ich bin an dem Auftrag interessiert«, sagte Katharina beim Abschied, »allerdings würde ich erst im Herbst dazu kommen, ich habe gerade zwei Biografien in Arbeit und drei weitere so- "m%m in dcr Warteschlange. Wäre das ein Problem für Siel ■Nein, in, Hand, «khn Nein, gar nicht., sagte Stephanie und reichte Katharina die -« nh überhaupt nicht. Ich schicke Ihnen also die Auf-lungen im Oktober oder Novcmb er zu, jar« Und dann war sie in ihrem schicken Mercedes weggefahren. wR K^nna in ihrem Arbeitszimmer und las sich die V"'n du,,h S,t n«« nicht mehr damit gerechnet, dass sie wrUnh die Unterlagen zugeschickt bekäme, sie hatte gedacht, t'**d"ch,c «W* »fort von ihr Besitz. THOMAS' GESCHICHTE Ich bin zurück. Ich bin daheim daheim daheim. DAHEIM! Hirngespinst für so lange Zeit. Wie leicht sich das jetzt schreibt. Letzte Nacht bin ich angekommen. Um zwei Uhr. Habe an die für geklopft. An das Fenster. Es hat eine Ewigkeit gedauert. Bis die Tür einen kleinen Spalt aufgegangen ist. Mein Vater. Er hat gefragt: »Wer ist da?« »Ich bin es, Thomas«, habe ich geantwortet. Meine Mutter hat geweint und geweint. Sie sind alt geworden. Sie haben mich umarmt. Sreif. Nichts gefühlt. Ich sirze vor meiner Continental-Schreibmaschine. Auf dem Dachboden. Nichr so warm hier. Bin Kälte gewöhnt. Ich fühle mich rastlos. Vor der Schreibmaschine werde ich ruhiger. Wie lange habe ich davon geträumt! Vor ihr zu sitzen! Zu schreiben. Ich streichle über die schwarzen Tasten. Sie schimmern matt. Meine Murter hat die Maschine für mich aufgehoben, /.wanzig Jahre lang. Sie hat sie nicht benützt. Es ist schwer für mich, auf Deutsch zu schreiben. Ich muss üben. Das Schreiben wird mir dabei helfen. Es tut mir gut. Ich denke vieles noch auf Russisch. Oder gar nicht. Ich denke gar nichts. Nichts ist in mir. Die Schreibmaschine funktioniert noch einwandfrei. Nur das U macht Faxen. Damals, bei diesem Streit, als der Vater sie vom Tisch gefegt har. Ist der Buchstabe beschädigt worden. Ich hoffe, er hält noch eine Weile. Ich brauche das U. Ohne U gehr es nicht. Nicht einmal Russland könnte ich ohne U schreiben. Russ- 45 land, das mich fast zwanzig Jahre lang verschluckt hat. Verschluckt könnte ich ohne U auch nicht schreiben. Uuuuuuuh! Heulen wie ein Wolf könnte ich auch nicht ohne U! Hahaha! Uuuuuuuh! Du kommst herein. Nicht einmal deinen Namen könnte ich schreiben: Ludovica. Ludovica Juliane. Meine Lu. Du umfasst mich von hinten. Legst deinen Kopf auf meine Schulter. Ohne dich könnte ich nicht sein. Meine Mutter ruft mich. Sie will mich ins Dorf mirnehmen. Allen will sie es verkünden. Dass ich wieder da bin. Ihr Erstgeborener. Der Totgeglaubte. Muss es verhindern. Sollen sie weiterhin glauben. Dass ich tot bin. Ich bin tot. Hämmere in die Tasten. Was mache ich hier? Es gibt keine Mühle mehr. Man hat sie geschlossen. Ich bin bald vierzig. Hätte bleiben sollen. In Russland. In der Kälte. Es ist schön. Zu schreiben. Die Tasren unter den Fingerkuppen /.u spüren. Es ist schön. Die eingesperrren Wörter kommen raus. Ich muss gehen. Pharma nahm ihren Laptop und machte sich an die Arbeit, «e begann die Geschichte - mit stilistischen und satztechni-Khcn Verbesserung -zuschreiben. J" *"ich mit d« Schreibmaschine in der Küche, meine El-;, ''m *0"™">mer. Wir werden nicht ins Dorf gehen. *.« CT«,*1 in MÜhlt' die keine Mühle ™hr ist- Ich mm J° iiT "Jndcrs *"s früher> & das Haus voller Leben ■» <»< mumil "Ur noch die alten Uute und *mt mich- Ich muss schreiben, sonst m * D" ^PPdn fängt im Bauch an, wandert 46 zum Herzen und geht in den Kopf. Ich muss es aufschreiben. So vieles ist da. Wo soll ich anfangen? Wie kam es dazu? Dass wir uns nicht auf einer Bergwanderung kennengelernt haben? Oder bei einem Konzert in Wien? Wie harre es sein können? Es ist Sommer, der Krieg ist vorbei. Gemeinsam mit einem Freund wandere ich einen Berg hinauf und treffe dabei auf dich. Du bist mit deiner Schwesrer unterwegs. Ihr zwei lacht ständig über irgendetwas. Wir gehen an euch vorbei und wir beide sehen uns an, eine Spur zu lange. Mein Freund stößt mit dem Ellbogen in meine Rippen und deine Schwester schaut uns verwundert ins Gesicht. Oben in der Hütte sitzen wir schon an einem Tisch, als ihr hereinkommt. Wir winken euch zu und deuten auf die leeren Plätze. Lachend kommt ihr näher. So hätte es sein können. So war es aber nicht. Ganz und gar nicht. Du hast mir mitten im Niemandsland der russischen Weite das Leben gerettet. Mit deinem Klavierspiel. So war es. Der Tag, an dem ich dich in der sowjerischen Militärkommandantur in Wien kennenlernte, ist ganz klar in meinem Kopf Die Wörter sollen fließen. Als man mich aus der Zelle holt und zum Verhör bringt, sehe ich Ludovica zum ersten Mal, sie steht im Gang zwischen zwei Soldaten. Sie fällt mir sofort auf. Ein Sonnenstrahl, der durch ein schmales Fenster fällt, erhellt genau ihr Gesicht. Noch nie habe ich ein so schönes Mädchen gesehen: rotblonde lange Haare, grüne Augen, ein kleiner Mund, kleine Nase, alles wirkt zart an ihr, selbst die Sommersprossen. Sic trägt ein knielanges dunkelblaues Kleid, darüber einen leichten Sommcrmantcl. flache Schuhe. Unendlich traurig sieht sie aus. Obwohl wir lange nebeneinander stehen, schaut sie mich nicht an, sie starrt auf die gegenüberliegende Wand. 47 Dann öffnet sich die Tür und man führt mich hinein. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass sie mich ansieht. Ich nicke ihr aufmunternd zu. Sie geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Was hat sie wohl angestellt, das eine Verhaftung rechtfertigt? Bei den Sowjets braucht es da nicht viel. Sie sieht so jung aus, ich schätze sie auf siebzehn. Erst vier Wochen später sehe ich sie im Durchgangslager in der Nähe von Sopron wieder. Als wir nach wochenlangem Aufenthalt aus den Zellen in den Innenhof getrieben werden, sehe ich eine Gruppe Frauen in einer Ecke stehen. Aufmerksam betrachte ich jedes Gesicht, bis ich sie trotz des Schals, den sie um den Kopf gewickelt hat, erkenne. Hat man sie auch kahl geschoren? Vorsichtig nähere ich mich den Frauen. Ich muss unbedingt mit ihr reden, wissen, wie sie heißt, warum sie hier ist. Schließlich stehe ich zwei Metet neben ihr. Sie sieht mich an und ich merke, dass sie sich an mich erinnert. Ich freue mich wie ein kleines Kind darüber. •Du bist auch Österreicher?«, fragt sie, »wir haben uns in Wien in der Schiffamtsgassc gesehen, nicht wahr?« ■Ja, das stimmt«, sage ich. •Wie heißt du und warum bist du hier?«, fragt sie mich H l"-cll. aU wollte sie verhindern, dass ich sie danach frage. Ki sind die üblichen Sätze unter den Häftlingen. Eigentlich wollte «e zum, fragen. ich enäh|e kurz wamm kh ver. ruftet wurde. I'lotzlich kommen eine Menge Soldaten in den Innenhof, WuOen herum und formieren uns in Zweierreihen. •W-hofc du?., kann ich nur noch schnell fr; ^•■^«-nds,e,,tsi^ ragen, en eine Frau. 48 Ich laufe zu meinen Kameraden zurück. Mirrlerweile sind wir insgesamt vier Österreicher: Fritz, Karl, Helmur und ich. Ich bin mir meinen zwanzig Jahren der Jüngste. Wir werden durch das geöffnete Tor getrieben, hinein in einen großen Lastwagen, von denen so viele da stehen, dass ich sie gar nicht zählen kann. Ludovica, denke ich, Ludovica. Noch nie habe ich einen so ftemden und schönen Namen gehört. Die Fahrt geht bis zu einem Bahnhof, dort werden wir in Waggons verladen. Sieben Tage lang sind wir unterwegs bis zum nächsten Lager in Ilmberg. Es ist wieder ein Durchgangslager. Wir wissen, wir werden ein paar Tage, vielleichr auch ein paar Wochen hierbleiben müssen und dann in irgendein Arbeitslager weitertransporriert. Welches Lager es sein wird, weiß niemand von uns, in welchem Teil der Sowjetunion es sein wird, wissen wir auch nichr. Wir hoffen, dass es nicht zu weit weg von unserer Heimat sein wird. Wir bleib en zwei Wochen in diesem gottverdammren Lager, dann geht es weiter nach Moskau, wo wir nur wenige Tage bleiben. Ludovica sehe ich kein einziges Mal. Eines Nachts treibt man uns aus den überfüllten Zellen und lässr uns im Innenhof antreten. Wir stehen im Nieselregen, der Boden wird immer schlammiger, und warten. »Du wirst sehen, heute geht es los, die sind alle ganz nervös«, sagr Fritz und deutet mit dem Kopf auf die Wachsoldaten. Er hat recht. Mehr Soldaten als gewöhnlich eilen herum. Anspannung und Hektik liegt in der Luft. Eine große Gruppe Frauen wird in den Innenhof getrieben und von den russischen Häftlingen mit Gegröle begrüßt. Ich hoffe, dass Ludovica dabei ist. Ich will sie unbedingt wiedersehen. Vielleicht kommen wir in dasselbe Lager?, rräume ich. 49 in die Schule gehen musste. Wieder ein anderes Mal ließ er ihn zwei Stunden lang nicht vom Küchentisch aufstehen, weil er die Gemüsesuppe nicht essen wollte. Kurz vor den Sommerferien wurde die Lehrerin krank und er bekam eine neue. Sie hieß Renate und interessierte sich für ihn, so dachte er zumindest eine Weile, bis er bemerkte, dass ihr Interesse mehr seinem Vater galt. Er überraschte sie beim Küssen, war vollkommen vor den Kopf gestoßen und tagelang wahnsinnig eifersüchtig. Da er merkte, dass eine Beziehung der beiden nur von Vorteil für ihn sein konnte, unterdrückte er diese Gefühle und bald waren sie auch gänzlich verschwunden, Julius freute sich wirklich, dass die beiden ein l'aar waren. Sein l'apa war plötzlich ein ganz anderer Mensch, er war lustig. Renate kam oft zu Besuch und übernachtete manchmal im Haus. Durch sie wurden viele Dinge einfacher, auch schöner und weicher. Am Abend lag sie neben Julius im Bett und las ihm vor, küsste ihn auf die Stirn, bevor sie aus dem /immer ging. Jedes Mal fragte sie, ob sie die Tür offen stehen lassen solle, sie fragte ihn, was er gerne esse, und kochte es, aut dem Tisch lag eine Tischdecke und eine Vase mit Blumen stand darauf. Seine Zeichnungen rahmte sie und hängte sie auf, gemeinsam machten sie die Hausübung oder bauten im Wald ein Häuschen für Kobolde und Elfen. Das Ganze dauerte zwei Jahre. Eines Tages, es war im Sommer, war sie nicht mehr da, im Herbst bekamen sie wieder eine neue Uhrcrin. Sein Papa sagte ihm, dass Renate zurück in die Stadt gezogen war, warum, sagte er nicht. Julius wusste, dass es mit seinem Papa zu tun haben musste, er hatte die beiden zum Schluss oft streiten gehört, und sein Hass flackerte erneut auf. 1995-2001: KATHARINA FAMILIENLEBEN Lines heißen Sonntagnachmittags Ende August brachte Katharina die Zwillinge zur Welt. Es war eine unkomplizierte (ieburt und sie hatte in den ersten Tagen im Krankenhaus, mit den Babys neben sich im Bett, starke Glücksgefühle. Linda und ihr Freund kamen zu Besuch und blieben zwei Wochen bei ihr. Katharina genoss es, ihre Mutter bei sich zu haben, die ihr vieles abnahm, und es war hart für sie, als die beiden wieder abreisten, um nach Südafrika zurückzukehren, wo sie sich in Kapstadt eine Wohnung gekauft hatten und jetzt lebten. Linda weinte beim Abschied: »Ich fühle mich hin- und hergerissen. Einerseits würde ich gerne in deiner Nähe sein, um dir zu helfen und die Enkel aufwachsen zu sehen, andererseits kann ich mir ein Leben ohne Karl nicht mehr vorstellen.« Jeden Tag auf sich alleine gestellt, spürte Katharina den Wahnsinn in sich hochkriechen. Herbst und Winter fühlten sich bedrohlich an, sie fühlte sich eingesperrt. Die Mutter fehlte ihr, und immer mehr auch das Leben in der Großstadt und der Freundeskreis, mit den Kindern war sie überfordert. Der Junge war ein Schreikind und oft krank, das Mädchen anfangs ein Schreikind, dann viel zu ruhig und es wollte nicht essen, Katharina machte sich Sorgen. Die Sorgen waren allgegenwärtig und ließen sie kaum atmen: Hat et wieder Fieber? Warum isst sie keinen Löffel Brei? Sie nimmt zu wenig zu, sagt der Kinderarzt. Was sind das für rote Flecken? Mein Gott, er hat kalte Hände und Füße! Warum weint er so viel, was mache ich falsch? Und sie getraute sich 147 nicht zuzugeben, dass ihr die Kinder wie fremde Wesen erschienen, sie schämte sich. In dieser Zeit begannen die Albträumc und sie glichen einander alle: Es war Krieg und sie konnte ihre Kinder nicht beschützen. Eine kalte Winternacht, zerbombte Straßen, vorbeihuschende gebückte Gestalten. Die schlecht gekleideten Kinder stehen schreiend vor Hunger und Kälte neben ihr und sie weiß, es gibt nirgendwo ein warmes Heim oder eine warme Decke, sie werden noch in dieser Nacht erfrieren und sie kann nichts dagegen tun. Oder: Soldaren reißen ihr die Kinder weg, ziehen sie aus und lassen sie splitterfasernackt im Schnee draußen liegen; während sie in einem Schuppen vergewaltigt wird, sieht sie durch das Fenster die dünnen, zitternden, blau gefrorenen Körper ihrer Kinder und hört sie weinen und weinen. (Eigenartigerweise ging es immer um Kälte und Katharina fiel auf, dass dies ständig ihre größte Sorge war, ob sie es denn warm genug hätten, sie wachte in der Nacht mehrmals auf, obwohl die Kinder fest schliefen, nur um sie wieder und wieder zuzudecken.) Die Albträume kamen dann auch tagsüber und sie konnte sie nicht abwehren, sie überfielen sie einfach. Manchmal wachte sie auf und wusste nicht, ob Tag oder Nacht war oder wo sie sich befand. Manchmal erschrak sie im Auto, weil sie plötzlich nicht mehr wusste, ob sie auf der richtigen Straßenseite fuhr. Einmal fiel ihr der Name der Tochter nicht sofort ein und sie wurde panisch. Tagelang sprach sie mit sich selbst und vertauschte dabei Wörter, sagte zum Stuhl I uch und umgekehrt, zu essen sagte sie trinken, zu singen sagte sie tanzen, zu sitzen sagte sie liegen. Ich liege am Tisch und trinke Gemüsercis, dabei tanze ich mit vollem Mund. Dann hng sie hysterisch an zu lachen, es klang wie ein Weinen. Sie fragte «ich, warum die Fortpflanzung bei Menschen so lang- 148 wierig und kompliziert war. Warum konnte es nicht einfach ein Ableger am kleinen Zeh sein, den man nach zwei Monaten abpflückte und dann in einem Blumentopf am Fensterbrett heranwachsen sah, bis er ungefähr im Schulalter war? Und immer fragte sie sich, wenn sie im Wartezimmer des Kinderarztes in andere Gesichter sah: Wieso gelanges ihnen und ihr nichr, die Mutterschaft, das Leben, das Glück? Ein Lichtpunkt in dieser Zeit waren die Bücher, Arthur hatte ein Wohnzimmer voller Bücher und sie lieh sich eines nach dem anderen aus, sie begann im obersten Regal ganz links und fraß sich jahrelang beharrlich durch die Regale wie eine Raupe, M drückte es Arthur aus. Wenn die Kinder schliefen, las sie, versank in eine andere Welt und litt mit den Helden. Julius hatte kaum Verständnis dafür und mochte es auch nicht, er hätte lieber gehabt, dass sie sich mehr ihm widmete. •Das ist ja wie eine Sucht!«, sagte er zu ihr. Der zweite Lichtpunkt war Arthur selbst, der mithalf, so gut er konnte (er hatte keine Erfahrung mit Babys und stellte sich in den ersten Monaten etwas unbeholfen an). Am Wochenende bekochte er sie und ging mir den Kindern spazieren, am Abend übernahm er die Überwachung der schlafenden Kinder, sodass sie ausgehen konnten, außerdem bezahlte er eine Haushaltshilfe, die ein Mal in der Woche kam. Katharina war ihm dankbar. Ohne ihn hätte sie ihr neues Leben auf dem Und, mir zwei kleinen Kindern, nicht ertragen und wäre in die Großstadt zurückgeflüchtet, dessen war sie sich sicher. Denn die Beziehung mit Julius lief alles andere als gut. Spätabends kam er nach Hause und war müde und gereizt von «incr Arbeit mit den Kunden. Er, der nichr gerne sprach, sollte Leute wortgcwaltig davon überzeugen, etwas zu kaufen. Er hatte keine Kraft, ihr die Kinder abzunehmen, Katharina hatte keine Kraft, ihn zu trösten, sie erwartete sich selbst Trost und war unglücklich und ständig todmüde. Sie jammerte viel in dieser Zeit, Julius stieß es ab. Sie steckten fest. Als sie zum ersten Mal stritten, war Katharina wie vor den Kopf gestoßen. Ihr wurde bewusst, dass sie behütet aufgewachsen und nie richtigen Streitereien ausgesetzt gewesen war. Sie war Konflikte nicht gewöhnt und sie war es vor allem nicht gewöhnt, um eine Sache zu kämpfen. Die Heftigkeit, mit der Julius die Auseinandersetzungen führte, erschütterte sie und ließ sie schnell nachgeben. Sie spürte bald, sie war ihm nicht gewachsen, es war, als rennte sie gegen eine Wand, die sie anschließend höhnisch auslachte, und das machte sie wiederum trotzig, sie tobte und schrie, das ließ ihn noch kälter werden. Ihr wurde bewusst, dass sie schwach war, und das Gefühl war ihr neu. Julius sprach leise, mit eiskalter, berechnender Miene, und wurde sofort persönlich, es ging ihm immer um ihren Charakter und nie um die Sache an sich. Der Streitpunkt wurde auf ihre schlechten Eigenschaften reduziert, die Quintcssenz lautete: Wit würden uns darum ja gar nicht streiten, wenn du nicht so wärst. Er kannte sie mittlerweile gut und wusste sehr genau, wie et sie verletzen konnte. Ein so furchtbares und abwertendes Bild zeichnete er von Katharina, dass sie in diesen Augenblicken das Gefühl hatte, nicht mehr weiterleben zu wollen, zu können, ein so schrecklicher Mensch wie sie habe kein Recht darauf. Bis ihr bewusst wurde, dass es Berechnung sein musste, um sie kleinzukriegen. Tagelang war sie nach solch einem Streit verletzt, betäubt und gelähmt und konnte sich nicht vorstellen, dass andere Paare auch derart stritten und dann einfach damit weiterlebten. Es musste so sein, aber wie «>Htc das funktionieren? E» war gut, wenn sie sofort nachgab, tapfer die Verliererin 'Pielte, dann wurde sie von Julius belohnt, mit Umarmungen, 150 Zärtlichkeiten, wenn sie es nicht tat, sprach er tagelang kein Wort mit ihr und beobachrete sie, mit Verachtung im Blick, was sie nicht lange ertrug. Sie gab immer nach, früher oder später, bis es ihr nicht mehr auffiel. Sie begann Konflikte zu vermeiden und gegenüber Julius zu verstummen. Im Spiegel probte sie die Maske, das immerwährende freundliche Lächein. Ihr Verständnis von Liebe war sehr unterschiedlich, ftir Katharina waren Unterstützung und eine gewisse Antizipation in der Beziehung wichtig, sie dachte, ein Partner müsse doch gewisse Dinge von selbst erkennen, zum Beispiel wenn die Partnerin müde ist, musste sie das wirklich ausdrücklich sagen? Bitte, Julius, nimm mir einmal für eine Stunde die Kinder ab, geh mit ihnen spazieren, ich kann nicht mehr! Musste man das wirklich sagen, wenn es offensichtlich war? Es kam ihr lächerlich vor. »Soll ich riechen, was du willst?«, fragte er einmal ungehalten, als sie ihn darauf aufmerksam machte, »sag es bitte genau, wenn du von mir etwas erwartest.« Sie reagierte darauf und sagte es ihm ins Gesicht, es war an einem Samstagmorgen: »Ich will nicht mit dir schlafen, Julius, ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan, ich bin müde. Könntest du sie bitte mit ins Wohnzimmer nehmen und mich noch eine Runde schlafen lassen? Oder du könntest mit ihnen einkauten gehen, wir haben nichts mehr im Kühlschrank.« Daraufhin schnauzte er sie an, dass diese ewige schlechte Laune, dieses ständige Gejammere ihm dermaßen auf die Nerven gehe, dass er sich nicht herumkommandieren lasse. Katharina traute ihren Ohren nicht. Dann zog er sich an und ging in den Keller, wo er sich eine kleine Werksrätte eingerichtet halte, verstön blieb sie zurück. Für Katharina war es ein zermürbender Kreislauf. Sie war oft nahe daran, ihre Koffer zu packen, die Kinder 151 zu nehmen und nach Wien zurückzugehen. Nur die Angst, es alleine in der Großstadt nicht zu schaffen, hielt sie zurück. Und vor allem der Gedanke, ihre Kinder sollten nicht wie sie ohne Vater aufwachsen. Dann veränderte sich plötzlich alles, von einem Tag zum anderen. An einem heißen Nachmittag im August saß Katharina auf einer Decke im Garten und beobachtete die zweijährigen Zwillinge, die in der Sandkiste saßen, als sich plötzlich ein Auto dem Haus näherte. Eine junge Frau stieg aus und ging auf sie zu, Katharina schätzte sie auf Mitte zwanzig. »Du musst Katharina sein, Julius' Frau«, sagte sie lächelnd und streckte ihr die Hand hin, »ich bin Doris. Julius und ich sind gemeinsam in die Schule gegangen. Er war viel bei uns. Et hat mir Nachhilfeunrerricht in Englisch gegeben.« Von Doris hatte Katharina schon ein paar Mal gehört, sie war nicht nur in der Volksschule, sondern auch im Gymnasium mit Julius in einer Klasse gewesen. Während die anderen Kinder die Hauptschulc im Ort besuchten, gehörten Julius und Doris zu den wenigen des Jahrgangs, die in das Gymnasium in der Kleinstadt gegangen und acht Jahre lang täglich mit dem Bus die zehn Kilometer hin- und zurückgefahren waren. Einmal hatte Julius erzählt, dass sie das originellste Mädchen in det Klasse gewesen sei, er hatte sie immer um ihre Spontaneität und Frechheit beneidet, er war für vieles zu schüchtern gewesen. »Wie geht es dir? Fühlst du dich wohl hier bei uns? Hast du schon Freundinnen?«, fragte Doris und setzte sich einfach neben sie auf die Decke. ■Na ja, ich - eigentlich noch keine«, stotterte Katharina überrumpelt und war plötzlich den Tränen nah. 152 Doris bettachtete sie eine Weile und Katharina musste den Blick abwenden, sie wollte nicht, dass eine fremde Frau sie weinen sah. »Ich versreh schon«, sagre Doris und fugte hinzu: »Das sollten wir ändern, nicht wahr?« Katharina sah sie überrascht an. »Warum kommst du nicht mit ins Schwimmbad?«, fragte Doris, »es ist ja heiß genug dafür.« »Ja, das stimmt. Aber ich traue mich mit den beiden nicht alleine ins Schwimmbad, da muss noch jemand dabei sein«, antwortete Katharina. •Ich bin dabei«, sagte Doris, »komm, pack die Badesachen ein und lahr mir hinterher. Meine Mutter ist auch schon dort, sie würde sich bestimmt freuen auf deine zwei Kleinen aufzupassen, dann können wir quatschen.« Katharina staunte. Sie packte die Badehandtücher zusammen, während Doris bei den Kindern blieb. Im Schwimmbad breiteten sie ihre Decken neben Claudia, Doris' Mutter, aus. Üaudia streckte ihr die Hand entgegen und sagte: »Na endlich lern ich Julius' Freundin kennen.« Den ganzen Nachmittag passte sie auf die Zwillinge auf, während sich die jungen Frauen unterhielten. Doris war kleiner als Katharina und drahtiger, ihre Haut war braun gebrannt, die schwarzen kurzen Haare standen in alle Richtungen ab. Die junge Frau erschien ihr sympathisch, was ihr aber am meisten gefiel, war der offene Blick. Doris erzählte, dass sie seit zwei Tagen aus Indien zurück war, wo sie das letzte halbe Jahr in verschiedenen Aschrams verbracht hatte, um Yogausbildungen zu machen, vorher hatte sie in Wien Veterinärmedizin studiert. Jetzt wollte sie hierbleiben und eine Ticrarztpraxis eröffnen. Ihr Freund Andreas besaß eine Mechanikerwerkstätte im Ort und war froh, dass sie end-153 Cnrndrt 20 Heumktr 201I VW- Kultunmicnieüe ah Undes Tirol Am Xmutt Sänd Sehr prhrtet Herr Sind, wir treuen un«, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie die V Im -ilmeilutjn im /.Ilsedes Projektes »Schüler/in trifft Au-toi/in« im Wimcrultskundlichcn Realgymnasium der Ursuli-nen im lursienweR W> in Innsbruck halten werden. Bitte ver-eutluren Sir einen I rrmin mit dem zuständigen Deutschlehrer unter iiiUimi ji Henlkh. Mig Amu I jiwet Kulttitterviirstelle IjihIcih Imitat Tirol E-MAILS, DIE MATHILDA UND XAVER EINANDER SCHREIBEN, BEVOR SIE EINANDER WIEDERSEHEN Gesendet: 27. Dezember 2011 Von: Xaver Sand An: M.K. Sehr geehrter Herr M. K.?, ich wurde vor zwei Monaten gebeten, bei einer Veranstal-tungsreihe für Schulen mitzumachen, und vor ein paar Tagen erfuhr ich von derselben Stelle, dass ich beim Losverfahren Ihre Schule gezogen habe. Ich soll eine Woche lang mit Ihren Schülern eine Schreibwerkstatt abhalten. Zwecks Terminvereinbarung: Am liebsten wäre mir die Woche vom 13. bis 17. Februar. Da Sie telefonisch auch nicht erreichbar sind - das Sekretariat Ihrer Schule scheint unbesetzt zu sein -, bitte ich Sie um eine baldige Antwort per E-Mail. Xaver Sand Gesendet: 29. Dezember 2011 Von: Xaver Sand An: M. K. Sehr geehrter Herr M. K„ ich bitte Sie höflichst um einen Termin, damit ich andere Iermine koordinieren kann! Xaver Sand 9 Gesendet: 4. Jänner 2012 Von: Xaver Sand Am M.K. Ith bitte um einen Termin! Im Sekretariat Ihrer Schule sprach ich bereits mehrmals auf den Anrufbeantworter, zurückgerufen wurde ich nitht. Xaver Sand (,rirndel: 7. Jänner 2012 Von: M.K. An: Xaver Sand Lieber Xaver, vielen Dank für deine freundlichen E-Mails. In den Weih-luihisti neu im das Sekrci.in.il unserer Schule nicht beten und nh rule in den Tcricn meine K-Mails selten ab. Wit freuen uns alle, den berühmten Jugendbuchautor bald an der Schule /.u haben. 1 Vi 1 crmin, den du vorgeschlagen hast, ist leider nicht mög-luh. da in dieser Woche Semesterferien sind. Meine Kolleginnen. Kollegen und ich würden die erste Mär/hälfte bevorzugen. Bei der Auswahl der Tage richten wir uns ganz nach dir. Mathilda Kaminski <™*drt 8 Jänner 2012 Von Xaver Sand Am M K Maihdda1» Mathilda? Mathilda????? 10 War das eine Überraschung! Mein Gott, ich glaube es einfach nicht, bist Du es tatsächlich??? Welch ein Zufall!!!!!! Auf die Idee, dass Du es bist, wäre ich nie im Ixrbcn gekommen! Was um alles in der Welt hat Dich in die Berge verschlagen??? Herzlich, Xaver Zwei Stunden später Von: Xaver Sand An: M. K. Seil wann Iclisi Du in Tirol? Wiegeln es Dir? Immer noch die engagierte Lehrerin? Bist Du verheiratet? Schreib mir doch, ich bin so gespannt, von Dir zu hören/lesen!!! Gesendet: 9. Jänner 2012 Von: Xaver Sand An: M. K. Hallo! Hallo? Hallo!!! Ich würde mich sehr über ein paar Zeilen freuen! Gesendet: 10. Jänner 2012 Von: Xaver Sand An: M. K. Weißt Du, was ich momentan lautstark höre, während ich mir einen Whiskey genehmige? Tom Waits!!! Waltzing Matilda, Waltzing Matilda, You '11 come a Waltzing Matilda with me, And he sang as he watched and waited till his billy boiled, You'll come a Waltzing Matilda with me. Weißt Du noch, im Juli 1986, am nächtlichen Strand von Pinarellu in Korsika? Dieser ältere Mann aus Südtirol - wie hieß er gleich noch einmal? Luigi? - spielte auf seiner Gitarre und röhrte dazu dieses Lied mit seiner gewaltigen Stimme, wahrscheinlich wollte er Dich damit beeindrucken, Du hattest ihm ja bereits die Tage davor so gut gefallen, er kam ständig zu unserem Zelt, in der Hand eine Weinflasche, und bat Dich um einen Korkenzieher, und während er unbeholfen mit unserem Korkenzieher seine Flasche Kälterer See öffnete, flirtete er mit Dir, mich in meiner Hängematte nicht beachtend. Wir saßen um das Feuer herum, ich weiß nicht mehr, wer sich zu uns gesellt hatte, auf alle Fälle waren wir an die zehn l-cutc, als Du plötzlich, obwohl Du ein bisschen betrunken warst - vielleicht ja deswegen -, aufstandest und zu diesem Waltzing Matilda zu tanzen anfingst. Eigentlich war es kein richtiges Tanzen, mehr ein rhythmisches Bewegen, aber es war so unglaublich sinnlich und leidenschaftlich, Du streiftest Dir schließlich sogar das Kleid über den Kopf, warfst es in den Sand und tanztest vor all diesen Menschen, nur mit einer altmodischen Unterhose bekleidet! Ich weiß noch genau, wie diese Unterhose aussah, sie war dunkclviolett, vorne zierte sie eine winzige Masche; immer trugst Du diese altmodischen Unterhosen. Nach dem Lied liefst Du ins Wasser hinein und kamst zurück, um mich auch ins Meer zu ziehen. Der Südti-rolc, half mir dann. Dich zum Zelt zu bringen, er ließ es sich •"<»« nehmen, Dich auf einer Seite zu stützen, im Zelt selbst Kiefen wi, miteinander, und ich bin mir heute noch sicher, U dass er daneben stand und lauschte, der Gedanke erregte mich damals. Jedes Mal, wenn ich an Dich denke, habe ich dieses Bild vor mir, wie Du in Deiner Unterhose am Strand um mich, um den Sänger, um das Feuer herumtanzt und das Meer neben uns plätschert. Du warst an jenem Abend so wunderschön. Schreib mir doch zurück, bitte schreibe mir, um der guten alten Zeiten willen. Xaver Gesendet: 11. Jänner 2012 Von: M.K. An: Xaver Sand Xaver, jedes Mal, wenn ich an dich denke, habe ich ein anderes Bild vor mir. Vor fast sechzehn Jahren, am 16. Mai, stand ich sehr früh auf und radelte in die Schule. Du schliefst noch und wie immer verabschiedete ich mich mit einem Kuss. Je nachdem, wie du lagst, erwischte ich eine Wange, die Stirn oder deine Haare, an dem Morgen waren es deine Haare. Es wäre falsch, wenn ich behaupten würde, ich hatte es bereits geahnt. Ich hatte nämlich nichts, rein gar nichts, geahnt und das war das Schlimmste. An dem Tag unterrichtete ich sechs Stunden hintereinander, in der Mittagspause machte ich die Aufsicht in der Mensa und dann hielt ich noch eine Stunde Förderunterricht ab. Es war ein sehr heißer und schwüler Tag, das weiß ich auch noch. Ich kann mich noch an ein paar Einzelheiten erinnern, wie zum Beispiel, dass die 3c die Schularbeit schrieb, ihre erste Erörterung, und dass ich mit der 4b eine Diskussionsrundc 13 machte: »Sollen Tierversuche gänzlich abgeschafft werden?« Ja, und am Nachmittag kaufte ich noch ein, Salat, Tomaten, Paprika, Vollkornbrot, Butter, Schnittlauch. Du aßest zu der Zeit so gerne am Abend, wenn es heiß war, einen gemischten Salat mit Schnittlauchbroten. Erinnerst du dich? An der Wohnungstür läutete ich, du öffnetest aber nicht, deshalb stellte ich alle Taschen auf den Boden und sperrte auf. Ich dachte, dass du eine Runde mit dem Rad fährst oder bei Paul oder Georg bist oder sonst irgendetwas erledigst. Ehrlich gesagt dachte ich mir nicht viel, wir hatten nicht diese Art von Beziehung, bei der jeder ständig wissen musste, wo der andere war oder was er gerade machte. Ich öffnete die Tür und sah sofort, dass etwas nicht stimmte. In der ersten Sekunde wusste ich nicht, was es war, aber dann fiel es mir auf: Der Gang wirkte viel leerer als sonst. Auf dem Boden standen keine Schuhe von dir und auf den Haken hingen deine Jacken nicht. Auch dein Regenschirm, der dun-kclbla uc Knirps, war nicht mehr da. Zuerst war ich erstaunt, ich kannte mich nicht aus, ich meinte, du hättest vielleicht aufgeräumt oder cnttümpclt. Aber dann schloss ich die Tür und sah, dass an der Wand hinter der I ür das eingerahmte Foto der rumänischen Landschaft fehlte (Es war das eine, das du gemacht hattest, als du mit Paul in Rumänien unterwegs gewesen warst. Auf dem Foto war diese alte, zahnlose Frau zu sehen, die eine Holzkarre voll I.. inuse auf einem Wiesenweg schob, eine kleine Katze saß auf den Zucchini, dahinter die weite grüne Landschaft.) Das Bild war weg und der weiße Fleck leuchtete auf der Wand. Das zwe.tr Bild daneben hing noch. Es war das, das ich in Korsika gemacht hatte, von dem Sonnenuntergang am Meer, in dieser Bucht von Pinarellu. Da. Bild, das du gemacht hattest, war also weg. In dem 14 Moment wusste ich es bereits oder zumindest ahnte ich es. Obwohl ich noch krampfhaft dachte: Es kann ja sein, dass Xaver gerade einen anderen Rahmen dafür besorgt oder dass es ihm nicht mehr gefällt und es deswegen abgenommen hat. Ich ging in die Küche und dort war alles wie immer, nichts fehlte. Dann sah ich, dass sehr wohl etwas fehlte: deine benutzte Kaffeetasse, die du jeden Tag in die Abwasch stelltest. Wir räumren immer erst am Abend den Geschirrspüler ein. Hast du es so eilig gehabt, wegzukommen, dass du nicht einmal mehr deinen Kaffee in der Früh hast trinken können, auf den du nie verzichtet hast? Im Wohnzimmer sah die Bücherwand erschreckend leer aus, alle deine Bücher waren weg und auch deine CDs. Und in unserem Arbeirszimmer fehlten dein Schreibtisch samt Drehstuhl und auch das neue Regal, mein Schreibtisch und mein Regal standen vereinsamt da, es war ein zur Hälfte komplett leerer Raum. Der Parkettboden glänzte an der Stelle, an der der Schreibtisch gestanden war, dunkel. Im Schlafzimmer war deine Seite des Kastens leer und dein Wohnungsschlüssel lag auf dem Nachtkästchen. Keine Erklärung auf irgendeinem Zettel, nur dein Schlüssel. Das ist das Bild, das ich vor mir habe, wenn ich an dich denke: diese dunkle, rechteckige Stelle im Parkettboden. Sie erinnerte mich noch lange an dein feiges Verschwinden. So lange, bis ich nach Innsbruck übersiedelte, weil ich es n icht länger ertrug. Mathilda P.S.: Der Südtiroler hieß nicht Luigi. sondern Kurt, und er kam nicht aus Südtirol, sondern aus der Steiermark. Außerdem waren wir im Juli 1987 in Pinarellu und nicht 1986. 15 Dreizehn Minuten später Von: Xaver Sand An: M. K. Liebste Mathilda, Dein P.S. ist typisch für Dich, immer warst Du die mit dem besseren Gedächtnis, immer ließest Du mich das spüren, fünfzehn Jahre lang. Außerdem schrieb ich Dir einen ausführlichen Brief, den ich Dir ein paar Tage später mit der Post schickte, in dem ich Dir meine Beweggründe für die Trennung - ich konnte wirklich nicht anders!!! - sehr genau schilderte. Xaver P.S.: Ich warte immer noch auf einen Termin. Eine Stunde später Von: M. K. An: Xaver Sand Xaver. ich erhielt nie einen langen Brief, in dem du mir deine Beweggründe - ach so genau! - schildertest, und du weißt das, du schriebst nie einen. Mir ging es nach deinem Verschwinden »ehr lange sehr dreckig und es dauerte Jahre, bis ich mein l.e-ben wieder im Griff hatte. Mathilda Ihn U BC,nCr,