1 Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet. Nichts ist mir von ihr geblieben als diese Geschichte. Sie beginnt an jenem Tag vor neun Monaten, als wir uns in der Chicago Public Library zum ersten Mal trafen. Es war kalt, als wir uns kennenlernten. Kalt wie fast immer in dieser Stadt. Aber jetzt ist es kälter, und es schneit. Uber den Michigansee kommt der Schnee und kommt der böige Wind, der selbst durch das Isolierglas der großen Fenster noch zu hören ist. Es schneit, aber der Schnee setzt sich nicht, er wird weitergeweht und bleibt nur liegen, wo der Wind nicht hingelangt. Ich habe das Licht gelöscht und schaue hinaus auf die beleuchteten Spitzen der Wolkenkratzer, auf die amerikanische Flagge, die der Wind irgendwo im Licht eines Scheinwerfers hin und her schlägt, und weit hinunter auf die leeren Plätze, wo selbst jetzt, mitten in der Nacht, die Ampeln von Grün zu Rot und von Rot zu Grün wechseln, als sei nichts geschehen, als geschehe nichts. Hier habe ich mit Agnes gewohnt, in dieser Wohnung, für kurze Zeit. Wir waren hier zu Hause, aber jetzt, wo Agnes gegangen ist, ist mir die Wohnung fremd und unerträglich geworden. Nur ein Zentimeter Glas trennt mich von Agnes, nur ein Schritt. Aber die Fenster lassen sich nicht öffnen. 9 Ich schaue mir - ich weiß nicht zum wievielten Mal -das Video an, das Agnes aufgenommen hat, als wir am Columbus Day eine Wanderung machten. Coiumbus Day in Hoosier National Forest hat sie auf die Schachtel und auf die Kassette geschrieben, in ihrer sorgfältigen Schrift, und hat beides mit einem Lineal doppelt unterstrichen, wie wir als Kinder die Resultate unserer Rechnungen unterstrichen haben. Ich habe den Ton des Fernsehers ausgeschaltet. Die Bilder scheinen mir wirklicher als die dunkle Wohnung, die mich umgibt. Es ist ein seltsames Licht in ihnen, das Licht einer weiten Ebene an einem Nachmittag im Oktober. Eine leere Ebene, weit und breit keine Stadt, kein Dorf, nicht einmal eine Farm. Kurz geschnittene Sequenzen, ohne dass das Bild sich wesentlich verändert. Immer neue Ansätze, Versuche, die Landschaft zu erfassen. Manchmal erahne ich, weshalb Agnes die Kamera eingeschaltet hat: eine seltsam geformte Wolke, eine Reklametafel, in der Ferne ein Streifen Wald, fast unsichtbar durch das Weitwinkelobjektiv. Einmal ein Schwenk zu mir, wie ich am Steuer sitze. Ich mache eine Grimasse. Und dann wohl der Versuch, sich selbst zu zeigen: der Rückspiegel, darin groß die Kamera und dahinter, kaum zu sehen, Agnes selbst. Dann noch einmal ganz kurz Agnes, am Steuer diesmal, wie sie eine abwehrende Handbewegung macht. Der Parkaufseher. Auch er macht abwehrende Handbewegungen, aber im Gegensatz zu Agnes lacht er da- bei. Ein Zoom auf seine Hände, die über ein Kartenblatt fahren, einen Weg zeigen, der im Bild nicht zu erkennen ist. Der Aufseher lässt sich auf seinen Stuhl fallen, öffnet eine Schublade, zieht einige Broschüren heraus. Er lacht und hält eine davon in die Kamera: Hoto to survive Hoosier National Forest. Das Bild wackelt, dann greift von unten eine Hand nach dem Faltblatt. Der Parkaufseher spricht unentwegt, sein Gesicht wird ernst. Die Kamera wendet sich von ihm ab, streift mich kurz. Plötzlich Wald, ein lockerer Baumbestand. Ich liege auf dem Boden, scheine zu schlafen oder habe zumindest die Augen geschlossen. Die Kamera nähert sich mir von oben, kommt immer näher, bis das Bild unscharf wird, weicht zurück. Dann wandert sie über meinen Körper bis zu den Füßen und wieder zum Kopf. Lange bleibt sie auf dem Gesicht stehen, versucht, noch einmal näher zu kommen, aber das Bild wird wieder unscharf, und sie weicht von neuem zurück. »Keine Videos?«, hat der Verkäufer mit dem nach hinten gekämmten, pomadisierten Haar gefragt, als ich mir vor Stunden unten im Laden Bier holte. Er erkundigte sich nach Agnes. Sie sei weggegangen, sagte ich, und er lächelte anzüglich. »Sie gehen alle irgendwann«, sagte er, »mach dir nichts draus, die Welt ist voll schöner Frauen.« Agnes mochte den Verkäufer nicht, sie wusste nicht, weshalb. Er mache ihr Angst, sagte sie nur und lachte 10 II mit, wenn ich sie auslachte. Er machte ihr Angst wie die Fenster, die man nicht öffnen kann, wie das nächtliche Summen der Klimaanlage, wie die Fensterputzer, die eines Nachmittags in einer Gondel vor unserem Schlafzimmerfenster schwebten. Sie mochte die Wohnung nicht, nicht das Haus, überhaupt die ganze Innenstadt nicht. Am Anfang lachten wir darüber, dann sprach sie nicht mehr davon. Aber ich merkte, dass die Angst noch immer da war, dass sie gewachsen und nun so groß war, dass Agnes nicht mehr darüber sprechen konnte. Sie klammerte sich stattdessen immer enger an mich, je mehr sie sich fürchtete. Ausgerechnet an mich. Ich saß in der Public Library und studierte, wie schon seit Tagen, alte Bände der Chicago Tribüne, als ich Agnes zum ersten Mal sah. Es war im April letzten Jahres. Sie setzte sich im großen Lesesaal mir gegenüber, zufällig wohl, die meisten Plätze waren besetzt. Sie hatte ein Sitzkissen mitgebracht, einen Schaumstoffkeil. Vor sich, auf den Tisch, legte sie einen Schreibblock, daneben einige Bücher, zwei oder drei Stifte, einen Radiergummi, einen Taschenrechner. Als ich von meiner Arbeit aufschaute, trafen sich unsere Blicke. Sie senkte die Augen, nahm das oberste Buch vom Stapel und begann zu lesen. Ich versuchte, die Titel der Bücher zu entziffern, die sie mitgebracht hatte. Sie schien es zu bemerken und zog den Stapel mit einer leichten Drehung gegen sich. Ich arbeitete an einem Buch über amerikanische Luxuseisenbahnwagen und war gerade dabei, die Stellungnahme eines Politikers zum Armee-Einsatz während des Pullman-Streiks zu lesen. Ich hatte mich verrannt in diesen Streik, er spielte für mein Buch keine Rolle, aber er faszinierte mich. Ich habe mich in meiner Arbeit immer von meiner Neugier leiten lassen, und diesmal hatte sie mich weit von meinem Thema weggeführt. Seitdem Agnes sich mir gegenübergesetzt hatte, konn- 12 13 te ich mich nicht mehr konzentrieren. Ihr Äußeres war nicht auffallend, sie war schlank und nicht sehr groß, ihr braunes Haar war schulterlang und dicht, ihr Gesicht bleich und ungeschminkt. Nur ihr Blick war außergewöhnlich, als könne sie mit den Augen Worte übermitteln. Ich kann nicht behaupten, ich hätte mich schon da in sie verliebt, aber sie interessierte mich, beschäftigte mich. Immer wieder schaute ich zu ihr hinüber, es war mir bald selbst peinlich, aber ich konnte nicht anders. Sie reagierte nicht, sah nie auf, dennoch war ich mir sicher, dass sie meine Blicke spürte. Endlich stand sie auf und ging hinaus. Ihre Sachen ließ sie auf dem Tisch liegen, nur den Taschenrechner packte sie ein. Ich folgte ihr, ohne recht zu wissen, weshalb. Als ich in die Eingangshalle kam, war sie nicht mehr zu sehen. Ich verließ das Gebäude und setzte mich draußen auf die breite Freitreppe, um eine Zigarette zu rauchen. Obwohl es nicht kalt war, fröstelte mich nach dem stundenlangen Sitzen in der überheizten Bibliothek. Es war vier Uhr nachmittags, und auf den Gehsteigen mischten sich unter die Touristen und Shopper erste Büroangestellte auf dem Nachhauseweg. Ich spürte schon die Leere des Abends, der vor mir lag. Ich kannte kaum jemanden in der Stadt. Niemanden, um genau zu sein. Ein paarmal hatte ich mich verliebt in ein Gesicht, aber ich hatte gelernt, solchen 14 Gefühlen auszuweichen, bevor sie zu einer Bedrohung wurden. Ich hatte einige gescheiterte Beziehungen hinter mir und hatte mich, ohne wirklich einen Entschluss zu fassen, für den Moment mit meinem Alleinsein abgefunden. Dennoch wusste ich, dass ich nicht mehr in Ruhe würde arbeiten können, solange mir die unbekannte Frau gegenübersaß, und so beschloss ich, nach Hause zu gehen. Ich drückte meine Zigarette aus und wollte eben aufstehen, als die Frau sich kaum einen Meter entfernt neben mir auf die Treppe setzte, in der Hand einen Pappbecher mit Kaffee. Im Gehen hatte sie etwas Kaffee verschüttet, und sie stellte den Becher neben sich auf die Stufe und wischte sich mit einem zerknüllten Papiertaschentuch umständlich die Finger trocken. Dann nahm sie ein Paket Zigaretten aus dem kleinen Rucksack, den sie bei sich trug, und begann, nach Streichhölzern oder einem Feuerzeug zu suchen. Ich fragte sie, ob sie Feuer brauche. Sie wandte sich mir zu, als sei sie überrascht, aber in ihren Augen sah ich keine Überraschung, sah ich etwas, was ich nicht verstand. »Ja, bitte«, sagte sie. Ich zündete ihre Zigarette an und mir selbst eine zweite, und wir rauchten nebeneinander, ohne zu sprechen, aber einander zugewandt. Irgendwann stellte ich eine belanglose Frage, und wir begannen zu reden, über die Bibliothek, die Stadt, das Wetter. Erst als 15 wir aufstanden, fragte ich sie nach ihrem Namen. Sie sagte, sie heiße Agnes. »Agnes«, sagte ich, »ein seltsamer Name.« »Sie sind nicht der Erste, der das sagt.« Wir gingen zurück in den Lesesaal. Das kurze Gespräch hatte meine Spannung gelöst, und ich konnte wieder arbeiten, ohne dauernd zu ihr hinüberzuschauen. Tat ich es dennoch, erwiderte sie meinen Blick freundlich, aber ohne zu lächeln. Ich blieb länger, als ich vorgehabt hatte, und als Agnes endlich ihre Sachen zusammenpackte, fragte ich sie flüsternd, ob sie morgen wieder hier sein werde. »Ja«, sagte sie und lächelte zum ersten Mal. 0 Am nächsten Tag war ich schon früh in der Bibliothek, und obwohl ich Agnes erwartete, hatte ich keine Mühe, mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Ich wusste, dass sie kommen würde und dass wir reden würden miteinander, eine Zigarette rauchen, einen Kaffee trinken. In meinem Kopf war unsere Beziehung viel weiter gediehen als in Wirklichkeit. Ich begann schon, mir über sie Gedanken zu machen, hatte schon Zweifel, dabei hatten wir uns noch nicht einmal verabredet. Ich kam mit der Arbeit gut voran, las, machte mir Notizen. Als Agnes gegen Mittag erschien, nickte sie mir zu. Wieder legte sie ihren Schaumstoffkeil auf einen Stuhl in meiner Nähe, breitete ihre Sachen aus wie am Tag zuvor, nahm ein Buch und begann zu lesen. Nach vielleicht einer Stunde zog sie ihre Zigaretten aus dem Rucksack, blickte kurz darauf und dann zu mir herüber. Wir standen beide auf und gingen, den breiten Tisch zwischen uns, auf den Hauptgang zu, der die Mittelachse des Raumes bildet. Ich begleitete sie zum Kaffeeautomaten, wieder verschüttete sie etwas Kaffee, wieder setzten wir uns auf die Treppe vor der Bibliothek. Am Tag zuvor war Agnes eher scheu gewesen, jetzt sprach sie viel und mit einer Hast, die mich erstaunte, da wir über belanglose Dinge redeten. 16 17 »Stört dich das nicht? Bei dem Lärm kann man ja nicht schlafen.« »Nein, im Gegenteil«, sagte Agnes. »Es gibt mir das Gefühl, nicht allein zu sein, wenn ich nachts aufwache.« »Du bist nicht allein.« »Nein«, sagte Agnes, »jetzt nicht.« 9 »Ich habe nachgedacht«, sagte Agnes, als wir uns einige Tage später wieder trafen. Es war der Abend des dritten Juli, und wir spazierten am Ufer des Lake Michigan entlang. In Chicago beginnt die Feier zum Unabhängigkeitstag bereits am Vorabend mit Feuerwerk und Musik. Im Graut Park hatte es von Menschen gewimmelt, aber hier, etwas weiter nördlich, war die Uferpromenade fast leer. Wir setzten uns auf die Kaimauer und schauten hinaus auf den See. »Warum hast du aufgehört zu schreiben«, fragte Agnes, »richtig zu schreiben?« »Ich weiß nicht. Ich hatte nichts zu sagen. Oder ich war nicht gut genug. Ich habe einfach irgendwann aufgehört.« »Hast du keine Lust, wieder anzufangen?« »Lust? Lust reicht nicht... Warum fragst du? Möchtest du einen berühmten Freund?« »Freund«, sagte Agnes, »das klingt seltsam.« Sie zog die Beine hoch und stützte das Kinn auf die Knie. »Ich hatte das Gefühl, du warst eifersüchtig, als ich dir meine Geschichte gezeigt habe.« »Es tut mir leid, wirklich, ich war nicht gerecht. Ich habe mich geärgert.« »Schon gut. Du hast mir doch dieses Buch mit Kurz- geschicliten gezeigt.« 46 47 »Das Buch wurde hundertsiebenundachtzigmal verkauft. « »Das spielt keine Rolle. Aber du kannst Geschichten schreiben. Komm, wir gehen heim.« Als wir aufstanden und zurückgingen, hatte es schon zu dämmern begonnen. Die Wolkenkratzer der Innenstadt verschmolzen im Gegenlicht miteinander und wirkten wie ein einziges riesiges Gebäude, wie eine dunkle Burg. Unten am Strand hatte eine Gruppe von Hispanics, vielleicht eine Familie, ein Feuer angezündet und leierte. Agnes nahm meinen Arm. »Könntest du nicht eine Geschichte über mich schreiben?«, fragte sie. Ich lachte, und sie lachte mit. »Wenn du unsterblich werden willst, musst du dir einen Berühmteren suchen.« »Zweihundert Exemplare sind genug. Sogar wenn es nicht gedruckt wird. Es wäre wie ein Porträt. Du hast die Fotos von mir gesehen. Es gibt kein einziges gutes Bild von mir. Auf dem man mich sieht, wie ich bin.« »Soll ich ein Gedicht über dich machen?«, fragte ich. »So long as men can breathe, or eyes can see, so long lives this, and this gives life to thee. « »Kein Gedicht«, sagte Agnes, »eine Geschichte.« Wir waren zurück zum Doral Plaza gekommen. Der kleine Laden hatte geschlossen. »Bist du jemals die Treppe hinaufgegangen?«, fragte Agnes. »Nein«, sagte ich, »warum sollte ich?« »Woher weißt du dann, dass du wirklich in der siebenundzwanzigsten Etage wohnst?« Wir gingen die Feuertreppe hinauf und zählten die Stockwerke. Das Treppenhaus war eng und gelb gestrichen. Als wir im zwanzigsten Stockwerk stehen blieben, um uns auszuruhen, hörten wir weit entfernt Schritte. Wir hielten den Atem an, aber die Schritte hörten plötzlich auf, eine Tür schlug zu, und es war wieder still. »Ich mag Fahrstühle nicht«, sagte Agnes, »man verliert den Boden unter den Füßen.« »Ich linde sie äußerst praktisch«, sagte ich und ging weiter, »stell dir vor ...« »Ich möchte nicht so weit oben wohnen«, sagte Agnes und folgte mär, »es ist nicht gut.« Wrie erwartet, fanden wir meine Wohnung im siebenundzwanzigsten Stock. Erschöpft ließ ich mich aufs Sofa fallen. Agnes holte sich ein Glas Wasser und brachte mir ein Bier. »Ich habe nie Geschichten über lebende Personen geschrieben«, sagte ich, »am Anfang bin ich vielleicht von jemandem ausgegangen, den ich kannte. Aber in der Geschichte selbst muss man frei sein. Alles andere ist Journalismus.« Agnes setzte sich neben mich. 48 49 i iid die (»es< hichten, die du geschrieben hast, hat- ........Ins mehr mit den Personen zu tun, von denen 'In .nixgcg;uige 11 warst?« »Doch«, sagte ich, »mit. dem Bild, das ich mir von ihnen gemacht hatte. Vielleicht zu sehr. Meine damalige Freundin trennte sich von mir, weil sie sich in einer der Geschichten wiedererkannt hatte.« »Wirklich?«, fragte Agnes. »Nein«, sagte ich. »wir haben uns auf diese Version geeinigt.« Agnes dachte nach. »Schreib eine Geschichte über mich«, sagte sie dann, »damit ich weiß, was du von mir hältst.« »Ich weiß nie, was dabei herauskommt«, sagte ich, »ich habe keine Kontrolle darüber. Vielleicht wären wir beide enttäuscht.« »Mein Risiko«, sagte Agnes, »du musst nur schreiben.« Ich war verliebt, und es sprach nichts dagegen, ein paar Tage zu opfern und eine Geschichte zu schreiben. Agnes' Eifer hatte niich neugierig gemacht, und ich war gespannt, ob das Experiment gelingen würde, ob ich überhaupt noch fähig war, Geschichten zu schreiben. »Komm, wir fangen gleich an«, sagte Agnes, »eine Liebesgeschichte mit dir und mir.« »Nein«, sagte ich, »nicht wir. Ich schreibe die Geschichte, Und vorher möchte ich nur das Feuerwerk anschauen.« Agnes sagte, sie interessiere sich nicht für das Feuerwerk und ob ich nicht gleich mit dem Schreiben beginnen könne. Ich nahm ein Blatt Papier und schrieb. Am Abend des dritten Juli gingen wir auf die Dachterrasse und schauten uns gemeinsam das Feuerwerk an. Der Lift fuhr bis ins vierunddreißigste Stockwerk, von da aus führte eine schmale Treppe aufs Dach. Der Boden war mit Holzrosten belegt, die von der Sonne und vom Regen fast schwarz geworden waren. Wir gingen an die Brüstung und schauten hinunter. Tief unten sahen wir Autos vorüberfahren und winzige Menschen, die sich durch den Abendverkehr bewegten. Auch den See konnten wir von hier aus sehen und den Grant Park, wo Dutzende von Feuern brannten. »All die Menschen«, sagte Agnes. »Sie wissen nicht, dass wir sie beobachten.« »Es macht keinen Unterschied, ob sie es wissen.« »Sie könnten sich verstecken«, sagte Agnes. »Weißt du, wann das Feuerwerk beginnt?« »Ich weiß nicht. Wenn es dunkel genug ist. Frierst du?« »Nein«, sagte sie und legte sich auf eine der Holzbänke, die auf der Terrasse standen. »Bist du oft hier oben?« Ich setzte mich neben sie. »Am Anfang kam ich fast jeden Tag hier herauf. Jetzt nicht mehr oft. Eigentlich nie mehr.« 50 5/ »Warum?«, fragte Agnes. »Man kann die Sterne sehen .« Dann begann das Feuerwerk. Agnes stand auf, und wir gingen miteinander wieder an die Brüstung, obwohl die Raketen weit über uns explodierten und wir sie genauso gut von der Mitte des Daches aus hätten sehen können. »Wie lange ist die Schweiz schon unabhängig?«, fragte Agnes. »Ich weiß es nicht«, sagte ich, »das ist schwer zu sagen.« Als wir wieder in die Wohnung kamen, war uns kalt. »Jetzt musst du mit der Geschichte anlangen«, sagte Agnes. »Gut«, sagte, ich, »du musst mir Modell sitzen.« Wir gingen ins Arbeitszimmer. Agnes setzte sich in den Korbstuhl am Fenster, und als solle sie fotografiert werden, strich sie sich die Haare aus dem Gesicht, zupfte am Kragen ihrer Bluse und lächelte mich an. Ich setzte mich an den Computer und schaute sie an. Wieder erstaunten mich trotz des Lächelns der Ernst in ihrem Gesicht und ihr Blick, dessen Sprache ich nicht verstand. »Wie möchtest du denn aussehen?«, fragte ich. »Es muss schon stimmen«, sagte sie. »Aber nett soll es sein. Du hast dich ja schließlich in mich verliebt, nicht wahi?« Ich schrieb. Ich sah Agnes zum ersten Mal in der Chicago Public Library im April dieses Jahres. »Was hast du geschrieben?«, fragte sie. Ich las ihr den Satz vor, und sie war zufrieden. » Du musst mir n ich t Modell sitzen«, sagte ich, »ich wollte dich nur wieder einmal in aller Ruhe anschauen.« »Es macht mir nichts aus«, sagte Agnes. »Aber ich kann gar nicht schreiben, wenn du so dasitzt und mich beobachtest. Machst du uns einen Kaffee?« Agnes ging in die Küche. Als sie zurückkam, las ich ihr vor, was ich geschrieben hatte. Ich sah Agnes zum, ersten Mal in der Chicago Public Library im April dieses Jahres. Sie fiel mir gleich auf, als sie sich im Lesesaal mir gegenüber setzte. Ihre linkischen Bewegungen passten nicht recht zum schlanken, fast zerbrechlichen Körper. Ihr Gesicht war schmal und bleich, ihr Haar fiel dunkel auf ihre Schultern. Unsere Blicke trafen sich für einen Moment, und ich sah ihre erstaunten blauen Augen. Als sie den Lesesaal verließ, folgte ich ihr. Auf der Treppe vor der Bibliothek trafen wir uns wieder, und ich lud sie ein zu einer Tasse Kaffee. Unser Gespräch entwickelte sich seltsam rasch. Wir sprachen über Liebe und Tod, noch bevor wir unsere Namen kannten. Sie hatte strenge Ansichten. Mein Zynismus reizte sie, und wenn sie aufgeregt, war, wurde sie rot und wirkte noch verletzlicher als sonst. Mein Vater ertrug es nicht, dass ich ausgelacht winde.« »Und du? « "Man gewöhnt sich daran. Ich habe viel gelesen. Und ich war gut in der Schule.« »Soll ich es streichen?« •>fa, bitte. Ist es unbedingt nötig, dass du von meiner Kindheit schreibst? Es ist doch nur eine Geschichte. Kann ich nicht einfach in der Bibliothek auftauchen, wie ich bin? So wie ich jetzt bin?« »Gut«, sagte ich, »du wirst aus meinem Kopf neu geboren wie Athene aus dein Kopf von Zeus, weise, schön und unnahbar.« »Ich wall nicht unnahbar sein«, sagte Agnes und küsste mich auf den Mund. Agnes ärgerte sich. »Das brauchst du wirklich nicht so zu schreiben.« »Soll ich oder soll ich nicht? Es war deine Idee.« »Ich wurde als Kind immer rot. Und in der Schule haben sie mich ausgelacht und gehänselt deswegen. 54 55 \ { 999 JL. JL « • 9 In den folgenden Wochen vernachlässigte ich die Luxuseisenbahnwagen. Ich schrieb nun an Agnes' Geschichte, schrieb, wie alles gewesen war, und wenn wir uns trafen, las ich ihr die neuen Kapitel vor. Ich war erstaunt, wie vieles Agnes und ich anders erlebt oder anders in Erinnerung hatten. Oft konnten wir uns nicht darauf einigen, wie etwas genau gewesen war, und auch wenn ich mich mit meiner Version meistens durchsetzte, war ich mir nicht immer sicher, ob Agnes nicht vielleicht doch recht hatte. So konnten wir uns zum Beispiel lange nicht einigen, in welchem Restaurant wir zum ersten Mal zusammen gegessen hatten. Agnes behauptete, es sei im indischen, ich, es sei im chinesischen Restaurant gleich gegenüber gewesen. Ich glaubte sogar, mich daran zu erinnern, was ich gegessen hatte. Aber schließlich fiel Agnes ein, dass sie die Verabredung in ihren Taschenkalender notiert hatte, und der Eintrag bewies, dass ich im Unrecht war. Manches, was ich ausführlich beschrieb, empfand sie als belanglos. Anderes, was ihr wichtig war, kam in der Geschichte gar nicht vor oder nur kurz, wie die tote Frau, die wir an jenem Abend vor dem Restaurant gefunden hatten. Ich erwähnte den Vorfall, schrieb aber nichts weiter darüber, nicht, dass wir später die Geschichte der Frau erfahren hatten und sogar an ihrer Beerdigung gewesen waren. Agnes hatte großen Anteil an ihr genommen und den Angehörigen der Toten mehrmals geschrieben. Herbert erwähnte ich nicht in der Geschichte, und Agnes meinte, ich sei eifersüchtig, und schien sich darüber zu freuen. Die wenigen Male, die wir auf ihn zu sprechen kamen, wich sie meinen Fragen aus oder gab nur vage Antworten. Über ihre Kindheit sprach sie ungern, erzählte nur manchmal - wenn sie guter Laune war - die eine oder andere Episode und hörte jedes Mal so unerwartet wieder auf, wie sie begonnen hatte. Mein Text war schon viel zu lang geworden, als ich spät im August endlich die Gegenwart erreichte. Es war lange regnerisch gewesen, als Anfang September ein kühler, aber trockener Wind von Norden her über den See wehte und die Wolken vertrieb. Wir hatten beschlossen, den Tag draußen zu verbringen. Agnes war nach Hause gegangen, um sich umzuziehen, und als sie zurückkam, rief sie mich von unten aus der Eingangshalle an, damit wir nicht noch mehr Zeit verlören. Sie wartete in einem der schwarzen Ledersessel und wirkte seltsam fremd. Sie trug dunkelblaue Knickerbocker, ein weißes T-Shirt und schwere Schuhe, die aussahen, als seien sie noch nie getragen worden. 56 57 »Wir gehen in einen Park«, sagte ich, »nicht ins Hochgebirge.« »Es ist ein Wald, kein Park«, sagte Agnes. »Ich habe geineint, wir wollen wandern.« »Ja schon«, sagte ich, und als Agnes skeptisch auf meine Halbschuhe blickte: »Ich kann stundenlang gehen in diesen Schuhen.« Im Park gab es viele Kanäle und Seen, und wir gingen nie lange, bis wir uns wieder irgendwo ans Wasser setzten und redeten. Ich sagte Agnes, sie sehe heute anders aus als sonst, und sie sagte, sie habe ihren Pony geschnitten. Dann musste ich sie festhalten, damit sie sich über das Wasser des kleinen Sees beugen und ihr Spiegelbild betrachten konnte. »Ist es schlimm?«, fragte sie. »Ich glaube nicht, dass das der Grund ist.« Wir hatten eine Decke mitgebracht und Sandwiches, und am späten Nachmittag legten wir uns auf einer kleinen Lichtung in die Sonne. Nachdem wir gegessen hatten, schlief Agnes ein, aber ich war nichl müde und setzte mich auf, um zu rauchen. Die Sonne schien flach durch die Bäume und warf Lichtflecken auf Agnes' ruhenden Körper. Ich schaute sie an und erkannte sie nicht. Ihr Gesicht erschien mir wie eine unbekannte Landschaft. Die geschlossenen Augen waren zu zwei Hügeln geworden, die sich in den flachen Kratern der Augenhöhlen wölbten, die Nase war ein feiner Grat, der gleichmäßig emporstieg, um dann breit gegen den Mund hin abzufallen. Ich bemerkte zum ersten Mal die flaumigen Mulden seitlich der Augen, die Rundung des Kinns und der Wangen. Das ganze Gesicht schien mir fremd, unheimlich, und doch war es mir, als sähe ich es wirklicher als jemals zuvor, unmittelbar. Obwohl ich Agnes nicht berührte, hatte ich das beängstigende und zugleich berauschend schöne Gefühl, sie wie eine zweite Haut einzuhüllen, ihren ganzen Körper auf einmal dicht an mir zu spüren. Ich bewegte mich nicht. Die letzten Sonnenstrahlen waren von der Wiese verschwunden, und es wurde kühler. Agnes' Mund verzog sich unwillig, und ihre Stirn wellte sich einen Augenblick lang. Dann erwachte sie. Ich legte mich neben sie und drückte sie an mich. »Wras hast du?«, fragte sie und schaute mir erstaunt in die Augen. Ich wich ihrem Blick aus, aber ich ließ sie nicht los, drückte sie noch fester an mich und küsste ihren Hals und ihr Gesicht. Sie lächelte. »Ich hatte ein seltsames Gefühl«, sagte ich, »dass ich dir ganz nahe sei.« »Und bist, du es noch?«, fragte sie. Ich antwortete nicht, und auch Agnes sagte nichts mehr und hielt mich nur fest, als fürchte sie, ich entferne mich wieder von ihr. Später sagte ich zu ihr, dass ich sie liebe, aber es genügte nicht, und weil ich 58 59 nicht wusste, wie sonst ich das Gefühl beschreiben sollte, schwieg ich wieder, und wir sprachen den ganzen Abend kaum. 1 2 Meine Liebe zu Agnes hatte sich verändert, war nun anders als alles, was ich früher gekannt hatte. Ich fühlte eine fast körperliche Abhängigkeit, hatte das demütigende Gefühl, nur ein halber Mensch zu sein, wenn sie nicht da war. Während ich in früheren Beziehungen immer viel Zeit für mich alleine beansprucht hatte, konnte ich Agnes nicht oft genug sehen. Seit unserer Wanderung im Park dachte ich dauernd an sie und kam nur noch wirklich zur Ruhe, wenn sie bei mir war und ich sie anschauen, sie berühren konnte. Wenn sie aber bei mir war, fühlte ich mich wie berauscht, und meine ganze Umgebung, die Luft, das Licht, schienen mir schmerzhaft deutlich und nah, und selbst die Zeit wurde konkret und spürbar in ihrem Vergehen. Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, etwas dringe von außen in mich ein, etwas Fremdes, Unverständliches. Ich begann, Agnes zu beobachten, und merkte erst jetzt, wie wenig ich sie kannte. Mir fielen die kleinen Rituale auf, die sie scheinbar unbewusst zelebrierte. Wenn wir zusammen essen gingen und der Kellner oder die Kellnerin gedeckt hatte, rückte Agnes jedes Mal das Besteck zurecht. Wurde das Essen gebracht, hob sie den Teller mit beiden Zeigefingern kurz in die Höhe, balancierte ihn eine halbe Sekunde, als 60 öl 1 suche sie seinen Schwerpunkt, und stellte ihn wieder hin. Sie berührte nie fremde Menschen und vermied es, von ihnen berührt zu werden. Gegenstände jedoch berührte sie unentwegt. Sie streifte mit der Hand Möbelstücke und Gebäude, an denen sie vorüberging. Kleinere Gegenstände tastete sie oft richtiggehend ab, als könne sie sie nicht sehen. Manchmal roch sie auch an ihnen, aber wenn ich sie daraufhinwies, schien sie es nicht bemerkt zu haben. Wenn sie las, war sie so sehr in den Text versunken, dass sie nicht antwortete, wenn ich sie ansprach. Dann flackerten Andeutungen von Gefühlen, Echos des Gelesenen über ihr Gesicht. Sie lächelte oder presste die Lippen aufeinander. Manchmal seufzte sie oder runzelte ärgerlich die Stirn. Agnes schien zu bemerken, dass ich sie beobachtete, aber sie sagte nichts. Ich glaube, sie freute sich darüber. Manchmal erwiderte sie meine erstaunten Blicke lächelnd, aber ohne Eitelkeit. Wenige Tage nach unserem Ausflug an den See stieß ich in der Geschichte in die Zukunft vor. Jetzt war Agnes mein Geschöpf. Ich fühlte, wie die neugewonnene Freiheit meine Phantasie beflügelte. Ich plante ihre Zukunft, wie ein Vater die Zukunft seiner Tochter plant. Sie würde eine brillante Doktorarbeit schreiben und erfolgreich sein an der Universität. Wir würden glücklich miteinander werden. Ich ahnte schon, dass Agnes in meiner Geschichte irgendwann zum Leben erwachen würde und dass sie dann kein Plan davon abhalten könnte, ihre eigenen Wege zu gehen. Ich wusste, dass dieser Augenblick kommen musste, wenn die Geschichte etwas taugen sollte, und so erwartete ich ihn gespannt, freute mich darauf und fürchtete mich zugleich davor. Wir hatten uns einige Tage nicht gesehen, aber ich hatte dauernd an Agnes gedacht und an der Geschichte weitergeschrieben. Als mein Verleger mich anrief, um sich nach dem Fortschritt meiner Arbeit zu erkundigen, vertröstete ich ihn und behauptete, ich hätte Schwierigkeiten, gewisse Dokumente aufzutreiben. Er sagte, er habe das Buch für den Herbst des kommenden Jahres in das Verlagsprogramm eingeplant, und ich versprach, das Manuskript bis Weihnachten abzuliefern. Kaum hatte ich aufgelegt, rief ich Agnes an und lud sie zu mir ein. »Du kommst im dunkelblauen Kleid«, sagte ich. »Wie meinst du das?«, fragte sie erstaunt. »Ich habe die Gegenwart überholt«, sagte ich, »ich weiß schon, was geschehen wird.« Sie lachte. 62 61